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Juno Dawson

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Beschreibung

Ein Buch, das unter die Haut geht: scharfsinnig, scharfzüngig und schmerzlich realistisch! Lexi ist reich, cool, ein It-Girl – und heroinsüchtig. Nach einer Überdosis landet sie in der Clarity-Klinik. Ihr Entzug ist hart, die Therapie schier unerträglich, vor allem die Treffen mit den "Mitinsassen": Aufputschmittel-Junkie Saif, Trans-Mädchen Kendall, Guy mit der Zwangsneurose, Bulimikerin Ruby, Ex-Kinderstar Brady. Doch ausgerechnet diese fünf werden zu echten Freunden. Und Brady vielleicht mehr. Lexi öffnet sich vorsichtig, beginnt ihr zerstörerisches Leben zu hinterfragen. Aber ist ein anderer Weg überhaupt möglich?

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Juno Dawson: CLEAN

Lexi ist reich, cool, ein It-Girl – und süchtig. Nach einer Überdosis landet sie in der Clarity-Klinik. Ihr Entzug ist hart, die Therapie unerträglich, vor allem die Treffen mit den »Mitinsassen«: Aufputschmittel-Junkie Saif, Trans-Mädchen Kendall, Guy mit der Zwangsneurose, Bulimikerin Ruby, Ex-Kinderstar Brady. Doch ausgerechnet diese fünf werden zu echten Freunden. Und Brady vielleicht mehr. Lexi öffnet sich vorsichtig, beginnt ihr zerstörerisches Leben zu hinterfragen. Aber ist ein anderer Weg überhaupt möglich?

Liebe, Leid und das ganze verdammte Leben. »Clean« lässt einen nicht mehr los!

Wohin soll es gehen?

  Buch lesen

  Rat und Hilfe

  Danksagung

  Viten

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  Leseprobe

Vorbemerkung der Autorin

Clean ist eine fiktive Geschichte, Themen wie psychische Erkrankung, Essstörung, selbstverletzendes Verhalten, Abhängigkeit und sexuelle Gewalt sind hingegen ernst zu nehmen und real.

Rat und Hilfe bieten die hinten im Buch genannten Anlaufstellen.

Juno x

 

Für alle, die hingefallen und wieder aufgestanden sind.

SCHRITT 1

ICH GEBE ZU, DASS ICH EIN PROBLEM HABE

Leder unterm Gesicht. Neuwagengeruch. Kiefernaroma.

Ich kann mich nicht bewegen.

Ich werde entführt.

Und kann mich nicht bewegen.

Meine Arme und Beine fühlen sich an wie Fleisch ohne Knochen, wackeln vor sich hin wie Aal in Aspik. Eine Spucke- oder Kotzekruste verklebt mir Kinn und Wange. Nur mit großer Mühe bekomme ich mein Gesicht vom Polster los.

Meine Lippen und meine Zunge sind kreidetrocken. Als ich die Augen öffne, brennt helles Tageslicht sie mir fast aus den Höhlen. Das tut weh. Bevor ich sie schnell wieder zukneife, erhasche ich einen Blick auf Nikolai. Aus diesem Winkel kann ich ihn nur von hinten sehen. Seine High-Fade-Frisur und seine Hände auf dem Lenkrad. Ich erkenne seine Rolex wieder.

Ich verstehs nicht, was passiert hier?

Wo bin ich?

Wo war ich?

Die Nacht zurückspulen. Das Letzte, was ich vor mir sehe, ist das Hotel. Ja, genau. Eine der Penthouse-Suiten. Ich hatte mir an der Rezeption den Schlüssel geben lassen. Für Kurt, mich, Tütchen und dieses Mädchen. Die Fashion-Party … die Bar … und dann raus aus der Bar, um high zu werden.

Genau. Die blaue Chaiselongue. Eine Nadel.

Scheiße.

Fühlt sich so eine Überdosis an?

Ich wurde high und ab da weiß ich nichts mehr. Mit zitternder Hand fahre ich an mir herunter, ich stecke noch immer in dem silbergrauen Miu-Miu-Kleid von gestern Abend. Über mir liegt eine kratzige Wolldecke. Ich bin barfuß.

»Nik?«, krächze ich. Mein Hals fühlt sich an wie mit Stacheldraht vollgestopft.

»Alles gut, Lexi. Ich besorge dir Hilfe.«

Was?

Ach, scheiß die Wand an, eine Intervention soll das werden.

Ich will mich wehren, aber dann fangen meine Augen wieder Feuer. Ich kneife sie zu und lasse mich von Schwärze einwickeln wie Sushi.

_______________________________

Ich kann jetzt nicht schlafen.

Ich muss aufwachen.

Aus zähem Dämmer kämpfe ich mich zurück ins Auto.

Wo ich gerade in einem Affenzahn und mit dem Arsch zuerst von dem Zeug runterkomme. Ich friere, meine Haut juckt und schuppt sich. Normalerweise schlafe ich das weg oder nehme zum Abmildern noch ein kleines bisschen hinterher. Eine Pille funktioniert auch gut. Oxy, Vicodin, Tramadol oder Diazepam. Was halt gerade da ist.

Eine Männerstimme. Nicht die von Nikolai. »Was ist denn mit der los, Mann?«

»Sie hat vorhin ein Schlafmittel genommen«, sagt Nik. »Ist bestimmt noch eine Weile ausgeknockt.«

Wo sind wir? Ich will mich umdrehen, kann aber nicht. Ich rieche das Meer: Brackwasser, Salzluft und Algen. Möwen veranstalten einen Höllenlärm um uns herum. Schluss mit dem Gekreische, ihr geflügelten Arschlöcher. Mir hämmert der Kopf. Ich bin dehydriert. Mumifiziert.

Wo bringt er mich hin? Zur Küste? Wie weit sind wir denn gefahren? Wie kann es überhaupt schon wieder hell sein? Wie lange war ich weggetreten? Wo ist Kurt? Die vielen Fragen gellen noch lauter in meinem Kopf als das Möwengeschrei. Vielleicht kann dieser Mann mich retten. Ich sage ihm einfach, dass ich gekidnappt werde. Dass man mich vergewaltigt hat.

»Hilfe …«, fange ich an. Doch meine Lippen sind so aufgesprungen und meine Zunge ist dermaßen ledrig, dass ich tatsächlich kaum mehr als ein Nuscheln herausbekomme. »Hilfe …«, versuche ich es noch einmal.

»Das ist meine Schwester«, übertönt mich Nikolai. »Schwer verkatert. Wollen Sie unsere Ausweise sehen? Hier, bitte.«

Der BMW ruckelt auf und ab, als würden wir über einen Hubbel fahren. »Nik … Nik … wo bringst du mich hin?«

Er wirft einen schnellen Blick über die Schulter. »Dir gehts bald wieder besser. Ruh dich aus.«

_______________________________

Ich erinnere mich an das weiche Polster der Chaiselongue in meinem Rücken. An Kurt, der die Nadel in meinen Arm schiebt. Selbstverständlich mache ich das nie selbst, das wäre schräg. Ich erinnere mich an die Aussicht, an all die Lichter vor dem Fenster, all die winzig kleinen Lichter Londons. Gelb und Gold und Glitter. Themseschiffe, Scheinwerfer, die Silhouette des The Shard am Horizont. Alles verschwamm vor meinen Augen, wurde zu einem Schwarm Glühwürmchen.

Glühwürmchen.

Ich träume von Glühwürmchen.

_______________________________

Reifen knirschen auf Kies. Der Schlaf hat nicht geholfen. Ich fühle mich noch immer wie mit Angelhaken nach außen gestülpt. Meine Zähne kommen mir schwammig vor, porös.

Die Autotür geht auf und Nikolai steigt aus. Ich höre Schritte näher kommen. Viele Paar Füße.

Wo immer wir sind, wir sind angekommen.

Wo ist Kurt?

Mühsam bringe ich mich in eine aufrechte Position, indem ich mich am Türgriff und an der hinteren Ablage festklammere. Die Sonne blendet noch immer. Na toll, wie ich sehe, hat Nik an seine Ray-Ban gedacht. Kurz suche ich nach meiner Handtasche und dem Handy darin, aber dann fällt mir ein, dass ich es mit den Lautsprechern im Penthouse verbunden hatte. Da liegt es bestimmt immer noch. Scheiße.

Ich linse aus dem Fenster. Nik schüttelt die Hand eines riesigen Mannes mit Bart, der ein bisschen so aussieht wie Hagrids attraktiverer Bruder. Jackett, offener Hemdkragen, keine Krawatte. Neben ihm stehen zwei Frauen in futuristisch-schneeweißer Krankenhausuniform.

Die Scheiße wird gerade richtig real. O Gott. Er hat es mir schon öfters angedroht. Lex, du brauchst Hilfe. Ich dachte jedes Mal, dass er nur Spaß macht. Aber jetzt tut er es wirklich. Er steckt mich in eine Klinik.

Er setzt mich auf Entzug.

Nicht. Mit. Mir.

Ich raffe mein Kleid hoch, sodass ich zwischen Fahrer- und Beifahrersitz hindurch nach vorne klettern kann. Nachdem ich vors Lenkrad geplumpst bin, strecke ich die Hand nach dem Zündschlüssel aus. Er hat ihn mitgenommen. Verdammt. Dann muss ich wohl zu Fuß abhauen. Ich zerre am Türgriff, aber mein Körper funktioniert nur so halb. Eine Windböe reißt mir die Tür aus den Fingern, sodass sie auffliegt und ich auf den Asphalt krache. Ich strecke die Hände aus, um den Fall abzufangen, Schotter bohrt sich in meine Haut wie Piercings.

»Lexi, warte! Pass auf«, sagt Nikolai.

Die dunklen Schatten vieler Gestalten umzingeln mich. Hände greifen nach mir, Finger berühren mein Gesicht. Mit ungelenken Windmühlenflügel-Armen versuche ich sie zu verscheuchen.

»Bringen wir sie erst mal rein, ja?«, sagt Dr. McBärtig.

»Nein!«, heule ich. Mein Lautstärkeregler ist kaputt. Mir springt beim Schreien fast die Kehle aus dem Hals, es hallt auf dem ganzen Gelände wider.

Ich spähe durch den Beinwald um mich her. Wir befinden uns auf einer langen Auffahrt, an deren Ende ein pompöses Herrenhaus aufragt. Downton Fucking Abbey. Die grauen Wände sind verwittert und teils von Efeu überwachsen. Zwei stattliche Säulen flankieren den Haupteingang. Das Grundstück muss etliche Quadratkilometer groß sein. So weit ich gucken kann, sehe ich nichts als gepflegten Rasen und dahinter üppigen Baumbestand.

Jemand zerrt mich auf die Beine, wobei sich der Kies schmerzhaft in meine nackten Fußsohlen drückt. »Aaah!« Ich brülle wie am Spieß, dabei ist es gar nicht so schlimm. Halb schleifen, halb tragen die Krankenschwestern mich Richtung Haus. »Nik! Bitte!«

Ich drehe mich zu ihm um und reiße die Augen so weit und unschuldig auf, wie ich kann. Kleine Schwester Lexi. Süße kleine Lexi. Du musst sie doch beschützen, sie ist doch so ein zerbrechliches Mädchen, ein Porzellanpüppchen.

»Tut mir leid, Lexi … Du brauchst Hilfe.« Er sieht mich nicht an.

»Reden wir doch in meinem Büro weiter«, sagt McBärtig beruhigend. Ich bin ganz und gar nicht beruhigt. Ich kann jetzt keinen Entzug anfangen. Hauptsächlich deswegen nicht, weil ich in etwa vier Stunden dringend einen Kick brauchen werde. Verzweifelt schlage und trete ich um mich, und als das nicht hilft, mache ich mich so schwer wie ein bockiges Kleinkind im Supermarkt. Die Schwestern sind eindeutig auf Proteinshakes oder so was, denn sie hieven mich mit einer erstaunlichen Technik, die sie vermutlich im Schwesterndrillcamp gelernt haben, weiter vorwärts.

»Lasst mich runter, ihr Fotzen!«, schreie ich. »Lasst mich los!«

Als sie mich ignorieren, schreie ich einfach immer weiter FOTZEN, weil es das schlimmste Wort ist, das ich kenne.

_______________________________

Ich sitze mit angezogenen Beinen auf einem glänzenden hellbraunen Ledersessel in McBärtigs Büro. Das vorne auf meinem Kleid ist eindeutig Kotze. Sie stinkt. Er reicht mir eine Flasche Evian und ich nippe daran. Hilft gegen die Mundfäule.

Was jetzt noch besser wäre als Mineralwasser? – Heroin.

Nikolai sitzt belämmert neben mir. »Alles okay?«, fragt er leise.

»Verpiss dich.«

»Sie haben das Richtige getan, Mr Volkov«, sagt McBärtig und nimmt hinter dem wuchtigen Schreibtisch aus Kastanienholz Platz. Das gesamte Mobiliar gibt sein Bestes, um möglichst männlich zu wirken, und ich frage mich, ob er damit einen winzig kleinen Penis kompensiert. »Es freut mich, dich kennenzulernen, Lexi.«

»Verpissen. Sie. Sich.«

Der Arzt hat die selbstgefällige Dreistigkeit zu lächeln und legt die Hände um eine Tasse mit schwarzem Kaffee. »Sicher haben Sie eine Menge Fragen, Miss Volkov.«

»Nur eine: Würden Sie sich bitte verpissen und mich gehen lassen?«

»Genau genommen sind das zwei Fragen, und nein, das kann ich leider nicht tun. Jedenfalls jetzt noch nicht. Weder ist das hier ein Gefängnis, noch hat man Sie zwangseingewiesen. Sie können jederzeit gehen, aber ich hoffe, dass Sie bleiben werden.« Als ich einhaken will, redet er schon weiter. »Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin leitender Arzt hier an der Clarity-Klinik, mein Name ist Isaac Goldstein.«

»Das ist eine Entzugsklinik, oder?«

»Ein Zentrum für stationäre Suchttherapie.«

»Also: Entzugsklinik.«

»Ganz wie Sie möchten.«

»Lexi«, mischt Nik sich ein. »Das hier ist die beste von allen, okay? Die absolute Top-Adresse.«

»Ach ja?«, sage ich zu ihm und wende mich dann wieder an Goldstein. »Wer ist der berühmteste Promi, der je hier war?«

»Unseren guten Ruf haben wir uns auch durch Diskretion verdient, Miss Volkov.«

So viel Diskretion, dass ich noch nie von dieser Klinik gehört habe. Wenn schon, dann hätte Nik mich ja wenigstens ins Priory Hospital bringen können. »Eine der Kardashians vielleicht? Khloé? Kylie?«

Dr. Goldstein geht nicht darauf ein. »Verstehen Sie mich nicht falsch, wir sind kein Hotel, dennoch verfügen wir über eine erstklassige Ausstattung: Luxuszimmer und Suiten, beheizte Innen- und Außenpools, einen Fitness- und Wellnessbereich sowie eine von Sterneköchen zubereitete Speisenauswahl. Ihnen wird es während Ihrer Genesung an nichts fehlen.«

Netter Versuch. Genesung ist das Schlüsselwort. »Aber es ist und bleibt Entzug. Ich meine, kriegt man denn wenigstens Wodka-Tonic?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Großer Gott. Darf ich hier drin rauchen? Haben Sie eine Zigarette für mich?«

»Ja, rauchen ist erlaubt. Allerdings habe ich keine Zigaretten hier.«

Nik holt eine Packung Marlboro Lights und ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche. Ich reiße sie ihm aus der Hand und zünde mir eine an. Aah, gleich viel besser. Fast rauche ich sie in einem einzigen gierigen Atemzug bis zum Filter runter, bemerke dann jedoch, wie Nik mich mit einer Mischung aus Entsetzen, Mitleid und Ekel anstarrt. So wie man sonst nur den verdreckten Penner betrachtet, der gerade was aus dem Mülleimer isst. »Was denn?«

»Ich dachte schon, du wärst tot, Lexi.« Seine Augen beginnen zu glänzen und ich muss an glasierte Doughnuts denken.

»Buhu! Wir haben alle unsere Lektion gelernt und sind moralisch gewachsen. Können wir jetzt nach Hause gehen?«

»Nein.« Nik tupft sich die Tränchen mit einem Papiertaschentuch ab. »Ich fahre dich nicht zurück.«

Ich verdrehe die Augen. »Na schön. Dann rufe ich halt Kurt an, damit er mich abholt.«

»Die Clarity-Klinik befindet sich auf einer Privatinsel vor der South Coast«, sagt Goldstein. Daher also der Seegeruch. »Wir sind ein sehr erfolgreiches Therapiezentrum, Miss Volkov, wir lassen nicht einfach jeden auf unsere Fähre – jedes Fahrzeug braucht eine Freigabe. Wenn wir den Zugang verweigern möchten, tun wir das auch. Denn natürlich müssen wir genau prüfen, wem wir die Überfahrt erlauben und wem nicht.«

»Wollen Sie mich verarschen? Inwiefern ist das denn bitte kein Gefängnis?«

»Ich sagte es bereits: Wenn Sie möchten, können Sie uns jederzeit verlassen.«

»Wie denn? Soll ich schwimmen?« Ich drehe mich zu Nik. »Das ist doch verrückt. Ich kann hier nicht bleiben.« Ich schiebe entschlossen meinen Sessel zurück und gehe zur Tür. »Jetzt komm schon, Nik.«

»Kurt hat mich angerufen«, sagt Nik, und ich bleibe stehen. »Er sagte, du hättest womöglich eine Überdosis. Als ich bei euch im Penthouse ankam, waren deine Lippen blau, Lexi. Sie waren verdammt noch mal blau.« Er greift erneut in seine Jackentasche und holt mein Handy heraus. Er hat es mitgebracht! Allerdings schiebt er es jetzt über die Tischplatte zu Goldstein hinüber.

»Hey!«

»Ich bewahre das erst mal für Sie auf«, sagt Goldstein und lässt es in einer Schublade verschwinden.

»Das dürfen Sie nicht! Ich kenne meine Rechte!«

»Ist eine Standardmaßnahme.«

Ich falle neben Niks Sessel auf die Knie. Wenn wir jetzt losfahren, können wir wieder in London sein, bevor’s richtig schlimm wird. »Jetzt komm schon, Nikolai. Ich bin hundertprozentige Partykonsumentin. Ist doch alles keine große Sache.«

»Hörst du eigentlich, was du da sagst? In meinen Augen lief die Sache schon bei Pillen und Koks aus dem Ruder. Aber Heroin? Lexi, Heroin wird nicht einfach mal so auf Partys genommen!«

»O doch, das wird es! Und vertragen habe ich es genau deswegen nicht … weil ich ja sonst kaum was nehme. Ich wollte bloß ein bisschen Spaß haben, das schwöre ich. Ich bin nicht süchtig! Oder sehe ich für dich etwa aus wie ein Junkie?«

Mein Bruder macht große Augen. Eine weitere Träne fällt. Er schweigt einen Augenblick. »Ja«, sagt er schließlich. »Du siehst eindeutig wie ein Junkie aus.«

Ich habe ihn verloren. Es gibt nichts mehr, was ich sagen könnte. Ich bin auf mich allein gestellt. Also marschiere ich zur Tür und reiße an der Klinke. Abgeschlossen. »Lassen Sie mich raus! Lassen Sie mich sofort hier raus, Sie fetter Wichser!«

»Setzen Sie sich bitte, Miss Volkov.«

»Sieh es ein, Lexi. Du bleibst hier, Schluss, aus.«

»Du kannst mich nicht zwingen!«

Nik steht auf und stemmt die Hände in die Hüften. »Tja, mit mir fährst du jedenfalls nicht und deine schrägen Freunde lassen sie gar nicht erst auf die Fähre, also wirst du wohl Dad anrufen müssen. Dann darfst du ihm auch gleich erklären, warum ich dich hergebracht habe.«

Damit hat er mich. Daddy würde mich umbringen. Oder schlimmer noch: meine Kreditkarten sperren. »Das meinst du nicht ernst.«

»Todernst. Die Grenze ist erreicht. Ich werde diesen Scheiß nicht länger decken. Letzte Nacht hab ich Fotos gemacht, Lexi. Entweder bleibst du hier, oder ich zeige Dad seine süße kleine Prinzessin mit Kotze verschmiert und den Arm voller Einstichnarben.«

Ich kann nicht aufhören zu schreien. Vor meinen Augen wird alles blutrot. Als Erstes werfe ich das nächststehende Bücherregal um. Dann fege ich einen Haufen Mist vom Schreibtisch. Ich will einen der Sessel aus dem Fenster werfen, kann das schwere Teil aber nicht mal anheben und sehe im Endeffekt nur blöd dabei aus.

Zwei Muskelpakete im bereits bekannten gestärkten Weiß betreten das Büro und warten im Hintergrund des Zimmers auf Goldsteins Anweisungen. Inmitten des von mir veranstalteten Chaos bleibt er aufreizend ruhig. »Mr Volkov, als nächster erwachsener Angehöriger Ihrer minderjährigen Schwester können Sie uns bevollmächtigen, sie bei Bedarf zu sedieren.«

»Wagen Sie es nicht!«, schreie ich. »Das dürfen Sie nicht!«

»Tun Sie, was immer nötig ist«, sagt Nikolai, ohne zu zögern.

Die beiden Pfleger kommen auf mich zu und ich ducke mich in mein selbst gemachtes Durcheinander wie ein Tier, das in die Ecke getrieben wird. Der linke zückt eine Spritze. Schon schräg, aber beim Anblick der Injektionsnadel beruhige ich mich einen Moment lang, bevor mir einfällt, dass da ja gar kein Schuss drin ist. Trotzdem, eins habe ich gelernt: Droge ist Droge. So ein Beruhigungsmittel – das würds mir definitiv leichter machen. Andererseits müsste ich dann in diesem Höllenloch bleiben. Zwickmühle. Die Pfleger pirschen immer näher heran. Meine Zeit läuft ab. Ich muss mich entscheiden. Und ich entscheide, dass ich lieber bei Bewusstsein bleiben will. »Schon gut, schon gut. Sie müssen mich nicht sedieren. Sehen Sie? Ich bin ruhig. Ich bin Zen. Ich heb Ihnen sogar die Bücher auf. Himmelherrgott.«

Die Pfleger bleiben stehen. Ich werde mich erst mal kooperativ zeigen. So bekomme ich Zeit, um mir einen Plan auszudenken. Ich darf nicht riskieren, dass Daddy mir den Geldhahn zudreht. Besser spiele ich hier in der Entzugsfalle so lange das nette Mädchen, bis klar wird, dass das alles ein riesiges Scheißmissverständnis ist und ich keine Amy Fucking Winehouse bin.

Ich will das Bücherregal anheben und wieder hinstellen, aber es ist schwerer als gedacht. »Machen Sie sich keine Mühe, Miss Volkov. Ich lasse das nachher aufräumen«, sagt Goldstein. »Verabschieden Sie sich jetzt erst mal von Ihrem Bruder, dann bringen wir Sie in Ihrer Suite unter.«

»Ich soll gehen?«, fragt Nikolai. »Jetzt schon?«

»Es wird das Beste sein.«

_______________________________

Nikolai verschwindet noch auf die Toilette, danach begleite ich ihn zum Auto. Ich bin in eine Decke gewickelt und habe ein Paar brandneue weiße Vans für meine nackten Füße bekommen. Hinter uns lauern Goldstein und einer der Pfleger.

»Ich muss jetzt los und Tabitha vom Flughafen abholen«, sagt Nik. Wo war seine Freundin doch gleich? In Mailand diesmal? Sie macht ein Praktikum beim Tatler. »Aber ich geb denen vom Hotel Bescheid, dass sie dir Klamotten und so herschicken sollen. Und zwar diskret.«

Ich schlinge die Arme um mich, weil ich original das Gefühl habe, ich müsste mein Skelett beisammenhalten. Wie kurz ich tatsächlich vorm Zusammenbruch stehe, darf ich ihn auf keinen Fall sehen lassen. Junkies nennen so was »affig werden«, aber ich bin kein Junkie, also nenne ich es gar nichts. »Nik, das ist doch verrückt«, trällere ich Capri-Sonne-süß. »Ich muss doch nicht ernsthaft hier bleiben. Ich schwöre dir, wenn du mich jetzt nach Hause bringst, dann nehme ich nie-niemals wieder Braun oder Oxy oder Vicodin. Indianerehrenwort. Und ich geh dann auch zweimal pro Woche zum Therapeuten wie ein ganz braves Mädchen.«

Eine Sekunde lang gerät seine Entschlossenheit sichtlich ins Wanken, aber dann schüttelt er den Kopf. »Nein, Lexi. Du musst endlich von deinen bescheuerten Freunden loskommen. Und … diese Klinik ist ganz offenbar vom Feinsten, ehrlich. Gib der Sache einfach eine Chance. Bitte?«

»Nik … ich kann nicht hier bleiben!«

»Ist doch nur für ein paar Monate, Lexi.«

»MONATE?«

»Es ist ein Siebzig-Tage-Programm.«

»Da kannst du mich genauso gut gleich umbringen.«

Nik will mich umarmen, aber ich stoße ihn von mir. Den Scheißjudas. »Alles wird gut, Lexi. Dad erzähle ich einfach, du bist bei Mum. Er wird wohl kaum dort anrufen, um das nachzuprüfen.« Er steigt in den BMW. »Erhol dich in Ruhe. Ich komme bald wieder.«

Ich halte die Autotür fest. »Bitte …« Mittlerweile heule ich, tue nicht nur so.

»Lass die Tür los, Lex. Es ist nur zu deinem Besten.« Er reißt sie mir aus der Hand, knallt sie zu und startet den Motor.

»Wie kannst du mir das antun?!«, kreische ich und schlage mit der Faust auf das davonrollende Auto.

Dr. Goldstein und der Pfleger stehen bereits neben mir. »Kommen Sie, Miss Volkov. Wir bringen Sie in Ihre Suite.«

Ich schaue zum Herrenhaus hoch. Seine Fenster starren mich an. Herablassend, tadelnd.

Sie haben mich.

Diesmal haben sie mich verdammt noch mal gekriegt.

_______________________________

Wenigstens ist das Zimmer schön. Es liegt im Erdgeschoss, worüber ich mich normalerweise beschwert hätte, aber das hier ist ja kein Hotel, auch wenn es noch so sehr danach aussieht. Auf dem Weg zu meiner Suite bekomme ich einen ersten Eindruck von der Clarity-Klinik: flauschige Teppiche in Palliativ-Petrol, eierschalfarbene Wände, Walnussholzleisten, dezente Beleuchtung und pastellfarbene Orchideen in Goldfischgläsern. Eleganz für Anfänger.

Goldstein hat mich dem Bodybuilder-Pfleger anvertraut. Nach der Durchquerung einiger verwirrend verwinkelter Flure – damit sollte ich mich ja eigentlich auskennen – bleibt er vor Zimmer 11 stehen und öffnet die Tür. Da ich keine Sachen dabeihabe, schlurfe ich hinter ihm hinein wie die Kleine Waise Annie. »Das ist Ihr Zimmer«, sagt er schlicht. »Geben Sie uns Bescheid, wenn Sie irgendetwas brauchen. Neben dem Bett ist ein Rufknopf.«

»Vielleicht ein bisschen Vicodin?« Er ist ein Muckibuden-Schönling, mit Steroid-Schultern, Stiernacken und rötlichem Haar. Ich setze ein Lächeln für ihn auf.

Und bekomme ein höfliches, aber unechtes Lachen zurück. Als hätte er den noch nie gehört. Die Farbgebung hier drin ist ähnlich wie auf den Fluren: maritime Blaugrün- und sanfte Grautöne. Ist bestimmt alles sehr Feng-Shui. Auf dem kleinen Tisch neben der Tür steht sogar eine Deko-Glasschale mit Kieselsteinen drin. Abgeschmackte Arschlöcher. Absolut basic. Ich schwöre: Wenn ich jetzt noch eine beschissene Buddha-Statue finde, dann prügel ich irgendwen damit zu Tode. Kingsize-Bett mit wildlederbezogenem Kopfteil, kubistischer Schreibtisch, kubistisches Sofa, Glastür zu einer Art Terrasse … mit Außenpool, zurzeit abgedeckt. Dahinter sehe ich endloses, wogendes, silbergraues Wasser. Seeblick – ich Glückspilz. »Dr. Goldstein ist gleich mit Ihren Medikamenten zurück.«

»Wie heißt du?«

»Marcus, Miss Volkov.«

»Hallo, Marcus.« Ich fabriziere ein weiteres süßliches Lächeln und lege dabei den Kopf zur Seite, als entspränge ich einem feuchten Kinderficker-Traum. Es wird sich noch auszahlen, die Pfleger auf meiner Seite zu haben. »Darf ich die Terrasse angucken?« Vielleicht entdecke ich ja schon einen Fluchtweg für später.

Er schüttelt den Kopf. »Noch nicht. Nicht, solange Sie entgiften.« Er wendet sich zum Gehen. »Ich habe den ganzen Tag Dienst. Melden Sie sich, wenn Sie etwas brauchen.« Professionell uninteressiert. Und weg ist er.

Was jetzt?

Das ist doch alles total absurd. Zu Hause hätte ich nachher einen Mani-Pedi-Termin.

Auf dem Schreibtisch lehnt ein Clarity-Klinik-Willkommenspäckchen an den beiden Glasflaschen mit Mineralwasser – einmal mit Kohlensäure, einmal ohne. Großartig. Wird ignoriert.

Ich gehe ins Badezimmer. Marmorwaschbecken, Regendusche über großer Wanne. Auch hier gilt, es könnte schlimmer sein. Als ich das Licht anschalte, schrecke ich vor meinem Spiegelbild zurück. Kein Wunder, dass Nikolai ausgerastet ist. Ich sehe aus, als würde ich bei The Walking Dead mitspielen. Entweder ist das ein sehr unvorteilhaftes Licht, oder der Grünstich meiner Haut ist echt: wächsern, leichenähnlich. Scheiße. War das womöglich schlechte Ware? Meine Augen sind nicht nur blutunterlaufen, sondern auch schwarz umschmiert mit Mascara und Eyeliner von gestern Abend, und meine Haare bilden ein fettiges blondes Vogelnest.

Irgendwo muss es einen Gott geben, denn vor mir steht ein Glas mit einer eingeschweißten Zahnbürste und Zahnpasta. Nur mühsam bekomme ich die Folie auf, weil meine Hände zittern wie verrückt. Es geht los. Scheiße.

Es fängt an wie eine Grippe, dieses Fieber in den Knochen. Aber es wird um einiges schlimmer werden als Grippe.

Nachdem ich es geschafft habe, mir die Zähne zu putzen, entscheide ich, dass eine Dusche dabei helfen könnte, mich wieder mehr wie ein Mensch zu fühlen. Mit etwas Glück komme ich ja vielleicht doch noch ganz sanft und schwerelos runter – wie eine Daunenfeder im Frühling. Als das Wasser auf meinen Kopf herabdonnert, drehe ich die Temperatur bis zum Anschlag hoch, in der Hoffnung, dass die Hitze mir den Schmerz unter der Haut wegkocht.

Es funktioniert nicht. Sobald ich das Wasser abdrehe, fängt das Zittern wieder an. Mein Innerstes ist tiefgekühlt. Ich schlottere.

Nachdem ich mich abgetrocknet habe, ziehe ich den weißen Calvin-Klein-Pyjama an, der im Kleiderschrank bereitliegt. Ich finde keine Bürste, überlege, ob ich Marcus um eine bitten soll, entscheide mich aber dagegen und kämme meine feuchten Haare mit den Fingern.

Während ich im Schneidersitz auf dem Bett eine Zigarette rauche (Nik hat mir die ganze Packung dagelassen), klopft es an der Tür. »Miss Volkov, hier ist Dr. Goldstein.«

Ich mache ihm auf.

»Wie ist es richtig, Volkov oder Volkova?«

»Einfach Volkov.« Tatsächlich heiße ich Alexandria Volkova, aber den Namen benutzen wir nie. Das mit der Geschlechterendung verwirrt die Engländer bloß, außerdem kommt es Mummy und mir zugute, genau den gleichen Namen wie Daddy zu tragen.

»Wie fühlen Sie sich?«

»Beschissen.« Ich gehe zum Sofa und setze mich mit verrenkten Gliedmaßen hin. Die Dusche hat absolut nichts gebracht. Mich juckt es überall. Ameisen graben Tunnel unter meiner Haut. Schlimmer noch, mir wird allmählich schlecht, saurer Milchgeschmack auf der Zunge.

Goldstein setzt sich auf den Schreibtischstuhl. Er hat eine Medikamententüte dabei und ich kann mich nur gerade so davon abhalten, sie ihm aus der Hand zu reißen. »Zuerst müssen wir ein paar Dinge klären. Wann haben Sie das letzte Mal konsumiert, Miss Volkov?«

Konsumiert, das macht mich dann wohl zur Konsumentin. Ich verdrehe die Augen. »Himmel, muss das sein?«

»Bevor wir zum Eigentlichen übergehen, müssen wir erst einmal das Gift aus Ihnen herausbekommen. Solange noch Drogen in Ihrem Körper sind, werden Sie an nichts anderes denken können.«

Ich versuche, seine Worte wegzulachen, kann aber an nichts anderes als an Drogen denken. »Dr. Goldstein! Das ist alles ein Riesenfehler«, sage ich, wobei mein Kiefer sich verkrampft, als hätte ich etwa zwölf Pillen auf einmal geworfen. »Ich bin nicht heroinsüchtig. Ich nehme nur mal ein bisschen Braun, um am Ende von ’nem Abend mit Ecstasy oder Koks zu entspannen.«

Er reagiert ohne Zögern: »Ist das in Ihren Augen normal für eine Siebzehnjährige?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ja. Ich meine, wenn man so richtig einen draufmacht, na klar.«

»Lexi, das stimmt einfach nicht. Also: An der Clarity gehen wir nach einem modifizierten Zwölf-Schritte-Programm vor …«

Große Überraschung.

»Und beim ersten Schritt gilt es zuzugeben, dass man ein Problem hat.«

»Aber ich habe keins! Ich bin schließlich keine obdachlose Junkie-Tussi, die Blowjobs für Crack verkauft oder so.« Meine Wirbelsäule tut weh und ich rutsche auf dem Sofa hin und her.

»Wann haben Sie das letzte Mal konsumiert?«, wiederholt er.

Ich seufze. Mitspielen, umso schneller bin ich wieder zu Hause. »Letzte Nacht. Um etwa ein Uhr früh …«

_______________________________

Bei der Fashion Week gehts nicht um die Shows – obwohl ein paar davon sich immer noch lohnen, allein schon wegen der Bloggerinnen, die einfach alles tun, um einander im wildverrückten Styling-Poker zu überbieten (oooh, du trägst ein Spielhaus, wie innovativ, wie Fashion Week) –, nein, es geht um die Partys.

Burdock&Rasputin feierten ihre im Shoreditch-Hotel. Dem aus der V-Kette, die übrigens meinem Vater gehört, wie mittlerweile klar geworden sein dürfte. Genau, so siehts aus.

Ich trug Miu Miu zu einem Paar Jimmy-Choo-Stiefel und einer Vintage-Kunstpelzjacke. Burdock&Rasputin auf einer Party von Burdock&Rasputin zu tragen, wäre mir billig vorgekommen. Die Party war ziemlich cool. Miguel, unser Cocktail-Profi, mixte uns etwas, das zur Line passte und auf eine gute Art ein bisschen wie Mundwasser schmeckte. Der Laden war proppenvoll, klar. Und weder mit Reality-TV-Sternchen noch mit Girlband-Girls, es war nur die Crème de la Crème: Chloë Sevigny, Rihanna, Lupita, Karlie und Gigi. Ich liebe Gigi, ist eine ganz Süße.

Eigentlich keine Überraschung, aber ich hatte vergessen, dass Nevada gerade ihr Praktikum bei B&R machte und also natürlich auch da war. Wie unangenehm. Wir liefen einander im Raucherbereich in die Arme, null Chance, sich auszuweichen. »Süße!«, rief ich. Was blieb mir auch übrig, wenn ich mich nicht als mein erst kürzlich wiederentdeckter Zwilling ausgeben wollte.

»Lex! Ich hab mich schon gefragt, ob du auch hier bist.« Hallo? Ist schließlich mein Hotel. Nevada kommt ursprünglich aus Hongkong und war schon immer fürs Modebusiness bestimmt. An diesem Abend trug sie einen goldenen Turban auf dem geometrisch geschnittenen Bob, ein übergroßes Männerjackett zum paillettenbesetzten BH und Mom-Jeans im Acid-Washed-Look. Ihre Zigarettenmarke ist Djarum Black. Es muss anstrengend sein, sich ständig selbst zu inszenieren.

»Ich hatte völlig vergessen, dass du jetzt bei B&R bist! Wie lief die Show?« Draußen war der Bass nicht ganz so übermächtig. Man musste nicht schreien, um gehört zu werden.

»Mega! Und wie gehts dir? Du siehst … gut aus.« Das schlecht versteckte Zögern entging mir nicht.

»Ach, Süße, bei mir läufts allererste Sahne.« Ich wollte das Gespräch schnell zu Ende bringen.

»Ich muss wieder rein. Heut Abend bin ich für den offiziellen Insta-Kanal zuständig.« Sie hielt inne und streichelte mir über den Arm. »Du solltest zurück an die Schule kommen, Lexi. Ohne dich ist es nicht das Gleiche.«

»Erzähl mir was Neues!« Ich lächelte.

»Du weißt, dass dir niemand die Schuld daran –«

»Ich weiß«, schnitt ich ihr das Wort ab.

»Dann kommst du also zurück?«

Dass ich an der St. Agnes nicht länger willkommen war, konnte ich ihr nicht erzählen. Soweit es meine Freunde betraf, hatte ich einfach nur abgebrochen. »Weiß nicht. Vielleicht. Erst mal genieße ich meine Freiheit.«

»Was hast du denn stattdessen vor? Arbeiten?«

Was sollte das Verhör? »Ich bin noch nicht sicher. Werd während meiner Auszeit darüber nachdenken.«

Nevada huschte davon, um irgendwas zu hashtaggen oder so, und ich hing noch ein bisschen draußen rum. Fashion-Week-Partys gehen nie viel länger als zehn, weil sich am Abend davor alle mit den letzten Show-Vorbereitungen abquälen. Die After-Party zog dann weiter in eine Tequila-Bar unter einem mexikanischen Restaurant. Ich schloss mich einer Gruppe Models an, auch TT Burdock höchstselbst und ein Hipster-Arschloch, das sich Sylvester The Camera nannte, waren dabei. Im Uber gabs Koks für alle. In der Bar dann noch mehr Koks und Tequila-Shots. Der Laden strahlte trashige Coolness aus: rote Glühbirnen und Día-de-los-Muertos-Schädel. Es roch nach Hühnchen-Fajitas und Margaritas mit Salzrand.

Alle anderen wollten nach Hause, die hohläugigen Models mussten früh am folgenden Tag – also eigentlich am gleichen Tag – zum nächsten Fitting, ich hingegen wachte gerade erst auf. Tatsächlich bin ich mit ziemlicher Sicherheit ein geborenes Nachtwesen. Wenn ich bei Tageslicht unterwegs bin, fühlt sich mein Kopf an wie mit Bleiche vollgekippt. Das ist einfach unnatürlich und falsch. Viel lieber krieche ich im Vampirstil erst gegen zehn Uhr abends aus meinem Sarg.

Ich hatte mir geschworen, Kurt nie wieder anzurufen, es sei denn, er riefe mich zuerst an. Keine Ahnung, warum immer ich den ersten Schritt machen muss. Als dann aber TT und Sylvester sich verabschiedeten und ich für Bett und Kakao so ganz und gar nicht bereit war, löste sich meine Entschlossenheit in Luft auf. Ich rief ihn an.

»Hi, ich bins.« Sogar das klang schon erbärmlich.

»Babe! Wo zur Hölle steckst du?«

»In Hoxton. Im El Bandito.«

»Ach, in dem Tequila-Laden? Cool.«

»Und du?«

»Camden.«

»Was geht da ab? Kann ich noch vorbeikommen?«

»Ich häng mit Tütchen rum.« Der so heißt, weil er immer und überall sein kleines Plastiktütchen mit was drin dabeihat. »Wir warten nur noch auf Steve.« Den Dealer. Ich bekam Gänsehaut. Steve. Ich hasse den Widerling.

»Oh, cool. Feiern wir noch ein bisschen? Ich bin hellwach.«

»Klar doch. Komm vorbei. Hast du Bargeld da? Wir schulden Steve noch so zweihundert Tacken.«

»Was zur Hölle? Als ob.«

»Nichts ist umsonst, Babe.«

»Ich bestell mir jetzt erst mal ein Uber.«

Mustafa brachte mich in seinem Prius zu einer Cocktailbar bei Camden Lock, in der Guns n’ Roses und Metallica gespielt wurden – ohne jede Ironie. Das Publikum bestand hauptsächlich aus aufgeknöpften Finanzfuzzis mit ihren Tinder-Dates und aus Mädelscliquen, die sich an den Bezahl-einen-trink-zwei-Mojitos erfreuten. Kurt und Tütchen hatten sich schon in einer der Sitzecken niedergelassen, im Schlepptau irgendeine selbstmordgefährdete Emo-Tussi: rubinrote Kollagenlippen, Betty-Page-Pony und pechschwarzer Eyeliner. »Hi«, sagte ich, schlüpfte auf den Platz neben Kurt und hasste mich ein bisschen.

»Das ging ja schnell.« Er küsste mich auf den Mund und drapierte seinen tätowierten Arm um meine Schultern. Ich schmiegte mich an ihn. »Lexi, das ist Kitty Amour.«

»Hi.« Sie war schon bis an die Titten zugedröhnt und lehnte schlaff an Tütchens Seite. Als sie ihre lappige Hand mit den rot lackierten Kunstnägeln in meine Richtung bewegte, schüttelte ich sie. Die falschen Wimpern an ihrem einen Auge lösten sich und es sah so aus, als hätte sie ein Hängelid.

»Was trinkt ihr da?«, fragte ich.

»Hemingway Daiquiris«, erklärte Tütchen. Er ist ein Spaßvogel, nicht wirklich gut aussehend – ehrlich gesagt hat er was Krötenartiges –, gabelt aber trotzdem immer irgendein Mädchen auf. Was natürlich damit zusammenhängen könnte, dass sein Dad einen Fußballverein besitzt. Kitty Amour (ganz sicher ihr richtiger Name) stellte also nur die Neueste in einer langen Reihe dar.

»Cool«, sagte ich. »Dann hol ich mal die nächste Runde.«

Als ich mit den Getränken zurückkam, stand Steve der Dealer am Tisch. Ich gab Kurt das Geld, das wir ihm schuldeten, und die beiden gingen zeitversetzt aufs Männerklo: erst Steve, dann Kurt. Auf dem Rückweg bedachte Steve unseren Tisch mit einem Zwinkern und rauschte davon. Kurt kam eine Minute später. »Okay. Trinken wir aus und machen uns auf den Weg, ja?«

Er war hibbelig, brauchte anscheinend dringend einen Kick. Ich war noch ein bisschen high von dem Koks im Club und hatte entsprechend weniger Jieper. Zudem hatte ich mir beim Aufhübschen im Hotel schon eine kleine Diazepam reingeschummelt.

Kurt übernachtete vorübergehend auf dem Sofa von Freunden – bei irgendeinem Anwalt und seiner Verlobten –, deswegen nahmen wir wieder ein Uber und fuhren zum Vauxhall-Hotel. In dem wohnen Nikolai und ich meistens, denn es ist das größte. Wir haben ein ganzes Stockwerk für uns allein, wenn Daddy nicht da ist. Also fast immer.

Während Kurt, Tütchen und Kitty (diese Napfschnecke ließ sich nicht abschütteln) in der Lobby neben dem Springbrunnen warteten, ging ich ins Büro und buchte uns in eine der Penthouse-Suiten. Normalerweise ist da eh was frei, und eine reservieren wir grundsätzlich für den Prinzen von Oman oder so, von daher ist zumindest die fast immer zu haben. Ich nahm mir also die Schlüsselkarte und wir fuhren in einem der Glasaufzüge nach oben.

Unsere Hotels haben Weltklasse. Man fände sie zum Beispiel niemals auf lastminute.com oder so. Aus der Penthouse-Suite überblickt man kilometerweit die Themse. Auf der einen Seite The Shard und London Eye. Auf der anderen Battersea Power Station. Der Wind blähte die Vorhänge, als ich die Balkontüren öffnete. Es war nicht zu kalt dafür. Ich verband mein Handy mit den Bluetooth-Lautsprechern – was zum Chillen.

Ich kenne New York, L.A., Dubai, Hongkong, Moskau, Paris und Tokio, aber London hat einfach was. Dreck unter den Nägeln, britische Zähne und ein unerschütterliches Resting Bitch Face. Die Leute, die Clubs, die Mode, der Verkehr und das Wetter. London scheißt drauf, London gehts am Arsch vorbei, und ich liebe es.

Kaum waren wir im Zimmer angekommen, hatte Kurt schon den Ärmel von seinem Karohemd hochgerollt und sich den Gürtel um den Bizeps geschnallt. Ich tanzte betrunken zur Musik. Zu The Weeknd, glaube ich, weiß nicht mehr genau. Ich hatte das Stadium erreicht, bei dem man sich zehnmal sexyer fühlt, als man eigentlich ist. Ich kickte meine Stiefel weg, schwang meinen Hintern zum Beat, schob den Saum von meinem Kleid ein Stück hoch. »Lex, du bringst mich um, Mädel.« Tütchen drückte sich die Faust an den offenen Mund. »Heiß wie die Hölle, Mann.«

Weil Kurt gerade eh nur auf seine Venen konzentriert war, machte ich mit meiner Show für Tütchen weiter. Ich warf meine Haare zurück und winkte mit dem Zeigefinger Kitty heran. Sie kannte das Spiel und wir tanzten eng, rieben unsere Hüften aneinander. Irgendwann waren meine Lippen auf ihren und wir küssten uns. Mädchenlippen sind auf so subtile Art anders: voller, weicher.

Ich bin nicht lesbisch, nicht mal bi, albere nur manchmal ganz gerne mit heißen Mädels rum, und für die Jungs ist es das Größte überhaupt. Als ich mich von Kitty löste, fummelte sich Tütchen so verzweifelt im Schritt rum, als würde er gleichzeitig kommen und von uns gehen.

Während Kurt das Heroin im Löffel aufkochte, verbreitete sich ein wohlbekannter, säuerlich-warmer Geruch im Zimmer. Schon niedlich. Er hat einen Lieblingslöffel. Den nimmt er überall mit hin. Ich nenne ihn Löffelchen. Er tauchte die Nadel in die blubbernde braune Flüssigkeit und zog mit den Zähnen den Kolben heraus.

»Moment mal«, sagte ich. »Ich zuerst.« Als er protestieren wollte, erinnerte ich ihn daran, wer theoretisch dafür bezahlt hatte. Ich schwebte zur Chaiselongue hinüber, lehnte mich darauf zurück und bog den Rücken durch. »Sehe ich so wie Kleopatra aus?«

»Ich glaube kaum, dass Kleopatra ein weißes Mädchen mit blonden Haaren war«, versetzte er. Spielverderber.

Er kam herübergekrabbelt und band meinen Arm ab. Anschließend schlug er ein paarmal drauf, damit die Venen besser hervortraten. Drücken mag ich eigentlich nicht so gern – lieber inhaliere ich oder nehm es als Pille –, andererseits bekommt man das High so zehnmal schneller. Glitzernd schwimmt es einem durch die Venen. Ein Leuchten, das sich bis in die Finger und Zehen ausbreitet. Warm und wohlig. Flüssiges Gold.

»Hey«, murmelte ich. »Sag mir, dass du mich liebst.«

Seine Augen blickten direkt in meine. Seine atemberaubenden graublauen Augen unter diesen todernsten tiefschwarzen Brauen. »Du gehst mir übelst auf die Nerven«, sagte er. »Aber Scheiße noch eins, ich liebe dich.«

Ich küsste ihn. Er schmeckte nach Daiquiris. Mit einem scharfen Kratzen schob sich die Nadel in meine Vene. »Nicht zu viel«, sagte ich ihm und fühlte schon, wie es meinen Arm hinaufschwamm.

Ich nehme das Zeug zu selten, als dass ich davon nicht mehr high werde. Während es durch meinen Körper rauschte, fühlte ich mich von oben bis unten kribbelig. Ich prickelte wie Champagner. Sah durch die Fensterfront nach draußen und betrachtete die blinkenden Lichter der Stadt. Ein hübsches Minütchen lang war ich innen Erdbeersahne. Londons Lichter pulsierten um mich herum wie ein schlagendes Herz aus Glühwürmchen.

Als glitte ich in ein heißes Schaumbad.

Wie eine Umarmung.

Wie …

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Dr. Goldstein notiert sich etwas auf seinem Klemmbrett. »Und ab da waren Sie weggetreten?«

Weggetreten, das klingt so würdelos, allerdings … »Ich glaube, ja. Aber wie ich schon sagte: Wahrscheinlich war Kurt schuld. Ich hab ihm gesagt, er soll mir nicht zu viel geben.« Mittlerweile ist mir richtig übel. Kotzübel. Ich bräuchte dringend ein Klo in Reichweite.

»Um das noch mal klarzustellen: Innerhalb von vierundzwanzig Stunden haben Sie Diazepam, Kokain und Heroin genommen?«

Ich zucke mit den Schultern. Das Schlottern geht wieder los, dazu kommt Zähneknirschen – was denn als Nächstes? »Tja … ja. Ich meine, wenn Sie’s unbedingt so sagen wollen.«

Er schreibt noch etwas auf und klickt seinen Kugelschreiber zu. »Okay, Lexi. Folgendes werden wir jetzt tun: Damit Sie besser von den Opiaten runterkommen, verschreibe ich Ihnen Suboxone. Dieses Medikament hat zwei Wirkweisen: Zum einen ersetzt es das Heroin und zum anderen mildert es die Entzugsnebenwirkungen.«

Gott sei Dank. Einen schrecklichen Moment lang habe ich schon geglaubt, die würden mich hier auf kalten Entzug setzen. Und ich bin froh, dass es kein Methadon ist, denn das ist was für obdachlose Fixer. »Okay. Wie lange muss ich das nehmen?«

»Die Entgiftungsphase dauert normalerweise grob zwei Wochen. Wir reduzieren die Dosis von Tag zu Tag, um Sie langsam zu entwöhnen. Ich will ehrlich sein, Lexi, das wird nicht angenehm. Wann haben Sie das letzte Mal einen Tag ohne Opiat verbracht … ohne Heroin, Oxycontin, Vicodin oder Tramadol?«

Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich denke da schon gar nicht mehr drüber nach. Nicht mehr, seit … na ja. Ich zucke erneut mit den Schultern.

»Wie man so schön sagt: Ohne Schweiß kein Preis. Sie werden Schmerzen haben. Aber das wird es wert sein, glauben Sie mir.«

Ich halte ihm meine feuchte Handfläche für die Tablette entgegen und ziehe eine Augenbraue hoch. »Schätzchen, das ist nicht mein erster Kater.«

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Ich sterbe.

Ich verrecke.

Ich halte es nicht aus.

Bringt mich weg von hier.

Lasst mich einfach sterben.

Ich winde mich auf dem Bett. Mir ist so heiß. Ich schmelze. Liege in einer Schweißpfütze. Ich pule mir den Schlafanzug von der Haut. Pule mir versuchsweise auch die Haut von der Haut, weil mir ZU HEISS IST.

Ich platze gleich wie eine Bockwurst. Gleich reißt mir die Pelle und meine Organe glitschen raus.

Alles tut weh. Es tut innen weh. Es tut außen weh. Meine Knochen sind verkalkt, verkrümmt und steif, zerbiegen meinen Körper in hässliche Winkel. Ich bin ein in salzige Laken verknoteter Gargoyle.

Meine Nieren haben ihren eigenen pochenden Herzschlag.

Ich habe Glassplitter in der Harnröhre, sie schneiden mich, wenn ich pisse.

Ich taumle aus dem Bett und kotze auf den Teppich. Schwall um Schwall schießt hervor, bis mir nur noch multisaftfarbene Galle übers Kinn läuft, während ich weiter würge, mich weiter krümme, mich von innen nach außen stülpe. Ich kann nicht atmen. Als die Schwestern hereinkommen und mich vom Boden abkratzen, bemerke ich es kaum. Sie wollen mein Gesicht abwischen, aber ich trete aus mit meinen Elefantenbeinen. Überschwer und aufgedunsen fühlen sie sich an. »Geht runter von mir!« Ihre Berührungen tun weh. Ich bin ein Kaktusmädchen, alles sticht. Trotzdem versuche ich, mich wie ein Embryo zusammenzurollen. »Ich brauche mehr Tabletten …«

»Noch nicht.« Die freundliche Stimme einer schwarzen Pflegerin, ihr Gesicht ist mal verschwommen, mal scharf. »Morgen früh, mein Schatz. Wir müssen dich nur erst durch diese Nacht bringen. Aber etwas Ibuprofen gegen die Schmerzen kann ich dir geben.«

»Schiebs dir sonst wohin!« Ich heule los. »Bitte … bitte …«

»Hier, Liebes, trink einen Schluck Wasser.« Sie führt ein Glas an meine aufgeplatzten Lippen und ich bekomme ein bisschen was herunter, nur damit mein Magen es sofort wieder hochschleudern kann.

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Ich glaube, es ist Morgen. An den Vorhangrändern trieft graues Licht ins Zimmer. Ich bin in meinem Daunenkokon zu Eis gefroren. Kann mich nicht erinnern, überhaupt geschlafen zu haben. Nur an die Schmerzen kann ich mich erinnern. Es tut noch immer so weh. Als wollten meine Knochen aus ihrer Fleischschale schlüpfen und das Weite suchen. Dieser Körper fühlt sich nicht mehr wie meiner an, ist wie von Riesenhänden zur Brezel verknotet.

Pfleger Marcus kommt herein, stellt ein Frühstückstablett auf den Schreibtisch – und meinen Pillenbecher. »Guten Morgen. Sie sollten, wenn möglich, was essen, und eine Kanne Tee ist auch vorbereitet. Das wird Ihnen guttun, versprochen.« Ich könnte zwischen Toast, Croissants und Müsli wählen, allerdings wird mir vom bloßen Gedanken an Essen schon schlecht.

Ich kämpfe mich aus dem Bett und schlurfe gebeugt wie eine arthritische Neunzigjährige zum Schreibtisch. Gierig schnappe ich mir die Tablette und spüle sie so schnell ich kann mit etwas Orangensaft herunter. Ein Kontrollblick zum Flur. Marcus ist allein mit mir. »Gibst du mir bitte noch eine? Dr. Goldstein hat offensichtlich zu wenig verschrieben. Ich fühle mich grauenhaft.«

Er nickt verständnisvoll. »Die ersten paar Tage sind immer am schlimmsten.«

»Also kriege ich noch eine?«

»Noch nicht. Frühestens wieder gegen Mittag.« Er schaut prüfend auf seine Unterlagen. »Genau, die nächste bekommen Sie um eins, Miss Volkov.«

»Marcus, bitte.« Als ich mich an ihn heranzuschlängeln versuche, tritt er einen Schritt zurück. »Nenn mich doch Lexi. Ich verrats auch keinem. Das wird unser kleines Geheimnis bleiben!« Erneut gebe ich mir Mühe, möglichst süß auszusehen, aber ich weiß nicht so recht, ob die Masche in zerknittertem Schlafanzug und mit Kotzeatem funktioniert.

»Tut mir leid. Ich darf die Dosierung nicht verändern. Bin ja kein Arzt.«

»Aber du kommst doch an die Medikamente heran, oder nicht?« Meiner Schätzung nach wohnt er hier auf der Insel. Wie viel Action kann er da schon abkriegen? Ich rücke näher. »Komm schon, Marky Mark … tust du mir einen Gefallen, tu ich dir auch einen …«, gurre ich und kraule seinen prallen Bizeps.

Er verdreht nur die Augen und zieht sich Richtung Flur zurück. »Ruhen Sie sich aus. Ich komme später mit dem Mittagessen wieder.«

»Mach, was du willst, Schwuchtel.« Ich werfe das Glas Orangensaft gegen die sich schließende Zimmertür. Es stellt sich als Plastikbecher heraus, der den Aufprall unbeschadet übersteht. Etwas Fruchtfleisch kleckert am Türblatt hinunter.

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»Wenn du Kurts Gesicht im Ganzen wiedersehen willst, dann bläst du mir jetzt einen.«

»Fick dich selbst, Steve.«

»Ich meins scheißernst, Lexi. Er schuldet mir einen Haufen Geld.«

Ich schüttelte den Kopf. Steves Plattenbau-Sozialwohnung auf der hässlichen Seite der Chelsea Bridge stank nach Shit. Das war letztes Jahr an Weihnachten. Auf der Spitze seiner abgewetzten Plastikglitzertanne kippelte ein trauriges Engelchen. Aus zusammengekniffenen, rot geränderten Maulwurfsaugen sah Steve mich an.

»Ich habe dir gerade alle seine Schulden zurückgezahlt«, sagte ich.

Steve grinste wie ein weißer Hai in Richtung seines riesigen Schlägerkumpels. »Nennen wir’s halt Zinsen.«

Meine Mulberry wanderte vor meinen Körper wie ein Schild. »Dann lass dir doch von Kurt einen blasen.«

»Von so ’ner Scheiße wird man schwul. Du sollst es machen.«

»Steve, ich blas dir keinen, vergiss es.«

»Tja, dann kann Kurt seinen Zähnen Lebewohl sagen.« Er nickte seinem Schläger zu und der Koloss bewegte sich Richtung Tür.

»Warte«, sagte ich.

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Das Suboxone wirkt und ich dämmere langsam wieder weg. Mein Körper schüttelt sich unter Krämpfen. Meine Arme und Beine schlackern herum, als wäre ich eine Marionette an unsichtbaren Fäden. Wie kann ich mich nur so abgrundtief schlecht fühlen? Ich begreife das nicht.

Ich döse vor mich hin, bis ich etwas Warmes an den Oberschenkeln spüre.

Mit hellwachem Entsetzen wird mir klar, dass ich mich vollgeschissen habe.

Ich habe allen Ernstes ins Bett gemacht.

Mit Durchfall.

Innerhalb von Sekunden ist das Zimmer vollgestunken.

Ich will aufstehen, sacke jedoch neben dem Bett in mich zusammen.

Weil mir keine rechte Alternative einfällt und obwohl es mir alles abverlangt, strecke ich mich nach oben und drücke den Rufknopf. Als Marcus mit einer jungen, mir unbekannten Frau ins Zimmer kommt, finden sie mich mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich liegend vor. Die Frau hilft mir in die Dusche – ich bin so schwach, dass ich kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann – und schält mich aus meinem besudelten Schlafanzug. Offenbar fühlt es sich nur so an, als würde das herabstürzende Wasser mir die Haut vom Leib reißen, denn die Frau hält mich unbeirrt darunter fest.

Das ist so demütigend.

Ich bin nackt und voller Scheiße.

Ich fange an zu weinen, kauere mich in die Wanne, wiege mich unter dem Duschstrahl hin und her wie die Verrückte aus einer schlechten Teenie-Soap.

Die Frau wickelt mich in eines der flauschigen weißen Handtücher und manövriert mich zurück ins Schlafzimmer. Das Bett ist frisch bezogen und obenauf liegt ein neuer, sauberer Schlafanzug.

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Ich kann nicht schlafen. Es tut zu weh. Der Schmerz steckt tief im Mark von jedem einzelnen meiner Knochen. Wenn ich sie herauskratzen könnte, würde ich es tun. Ich hatte noch nie die Taucherkrankheit, aber ich verwette meinen Arsch drauf: So fühlt sie sich an. Als würde ich gleich bersten.

Mir reichts.

Es gibt da ein Mittel, ein ganz einfaches Mittel gegen den Schmerz.

Ich hau ab.

Ich schleppe mein Gerippe aus dem Bett und zur Terrassentür. Sie ist abgeschlossen, trotzdem ziehe und zerre ich am Griff, versuche die Scheiße irgendwie aufzubekommen. Irgendwann fange ich an zu schreien und gegen das Glas zu hämmern. Vielleicht kommt ja jemand und lässt mich raus. Wenn es sein muss, renne ich zur Fähre und verstecke mich da irgendwo.

Das hier können sie nicht mit mir machen. Das ist Folter. Das ist Menschenrechtsverletzung. Ich brauche verdammt noch mal mehr Pillen.

Suchend schaue ich mich um. Der Schreibtischstuhl ist für meine labbrigen Prosciutto-Arme viel zu schwer. Aber vielleicht kann ich irgendwas anderes werfen.

Die dekorative Kieselstein-Schale. Treffer.

Ich packe mir einen der Steine und schleudere ihn gegen die Schiebetür. Mit einem leisen »Ping« prallt er ab, ohne auch nur einen Kratzer zu hinterlassen. Ich versuche es weiter, pfeffere Stein um Stein, so fest ich kann. Wie scheißstabil ist dieses Glas denn bitte? Bevor die Schwestern hereingerannt kommen, bin ich bereits völlig ausgelaugt auf dem Boden zusammengeklappt. Doch als sie mich aufheben wollen, schlage ich nach ihnen mit der jetzt leeren Dekoschale. »Lasst mich raus!«, schreie ich. »Ich will nach Hause! Ihr könnt mich hier nicht festhalten!«

»Komm schon, Lexi, zurück ins Bett, bitte.«

»Fickt euch!« Ich rolle unter den Armen der Schwestern hindurch über den Teppich und krabbele in die Fensterecke. Verstecke mich hinter den schweren Vorhängen.

»Was ist hier los?« Von meinem Unterschlupf aus höre ich Dr. Goldsteins Stimme.

Schluchzend komme ich hervorgekrochen. »Bitte … Ich brauche mehr Pillen. Nur eine Diazepam oder so! Es tut echt weh!«

»Ich hatte dich vorgewarnt«, sagt er und geht in die Hocke, um mit mir auf einer Höhe zu sein.

»Aber ich schaffe das nicht!« Eine Rotzspur läuft mir übers Kinn. »Ich halte das einfach nicht aus! Ich habe eine extrem niedrige Schmerzgrenze!«

Er packt mich an beiden Armen. »Lexi, du kannst das. Bitte gib nicht auf.«

»Das will ich ja gar nicht … Ich brauche nur ein bisschen Hilfe … bitte. Unter meiner Haut … bewegt sich was.« Ich halte meine Arme höher, damit er sehen kann, wie es sich darin ringelt, wie es Blasen wirft.

»Tut mir leid, Lexi, ich werde dir keine weiteren Opiate geben. Wir müssen dich jetzt entwöhnen, sonst geht es dir niemals besser.«

Ich wälze mich zurück in die Ecke und fange an, an meinem Handgelenk herumzukauen. Wenn ich mich selbst verletze, müssen sie mich rauslassen. Die Idee ist so genial, dass sie mir eigentlich schon längst hätte kommen müssen. Ich reiße diese Klumpen einfach selbst heraus.

»Lexi, was tust du da?«

Mit abgesplittert-silbernen Fingernägeln kratze ich drauflos, fabriziere rote Striemen den ganzen Arm hinauf. »Lassen Sie mich hier raus, oder ich bringe mich um. Ich schwöre, dass ich’s tu. Wer will dann noch in Ihre Scheißklinik, hm?«

»Lexi, würdest du dich bitte beruhigen?«

»Hör auf mit deinem LexiLexiLexi, du selbstgerechte Fotze!«

Er richtet sich schwerfällig auf und wendet sich an Marcus: »Ich werde sie sedieren müssen. Bringen Sie sie dann bitte ins Sichere Zimmer.«

Mir gefällt ganz und gar nicht, wonach sich das anhört. Marcus und ein frisch eingetroffener Pfleger nehmen mich in ihre Mitte, ziehen mich hoch und klemmen mir die Arme an den Körper. Als ich nach ihnen treten will, zappeln meine Beine nur wirkungslos in der Luft herum. Goldstein kommt mit einer Spritze auf mich zu. »Nein! Nein! Bleib weg von mir!« Er schiebt die Nadel gekonnt in meinen Oberarm. Da spucke ich ihm mitten ins Gesicht. Entzückt sehe ich mit an, wie meine Spucke von seiner Brille tropft. »Fette Judenfotze.«

Zum ersten Mal sehe ich, dass er zusammenzuckt. Sehr gut. Er zieht die Nadel heraus und die Pfleger hieven mich auf den Flur. Schon wieder sacke ich in mich zusammen, mein Hals kann den Kopf nicht mehr halten und meine Fußnägel kratzen über den Teppichboden, während sie mich den Gang entlangschleifen.

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Ich lande in einem neuen Zimmer mit hohen Fenstern und einem (Doppel-)Bett, das etwas weniger großzügig ausfällt, dafür aber am grauen Fliesenboden festgeschraubt ist. Falls das hier ihre Version von Gummizelle sein soll, dann müssen sie sich mehr anstrengen. Der Raum unterscheidet sich kaum von einem günstigen Hotelzimmer. Hat sogar eine eigene kleine Nasszelle. Fühlt sich alles nicht so richtig nach Bestrafung an.

Mir ist schon ganz schwummerig von was auch immer Goldstein mir gespritzt hat. Als sie mich aufs Bett fallen lassen, bin ich für Protest schon zu müde. Mir tut immer noch alles weh, aber ich kann nicht mehr kämpfen. Mehr aus Prinzip sage ich: »Verpisst euch.« Dabei lalle ich, als hätte ich einen Schlaganfall oder so was. In meinem Mund rekelt sich eine Nacktschneckenzunge.

Ich lasse mich in den Schlaf sinken. Oh, das ist herrlich. Es fühlt sich genau wie Braun an, wie eine Umarmung.

Eine Umarmung … von einem bauchigen Bären.

Einem bauchigen braunen Bären.

Einem bauchigen, brummenden braunen Bären.

Einem bauchigen braunen

Bären.

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Als ich aufwache, ist mir schon wieder EISKALT. Ich wickle die Decke um mich und verkrieche mich darunter, tauche tief ins Dunkle wie in eine Höhle.

Mit einem Schlag wird mir klar: Ich sitze in der Falle. Stecke in einem Luxuskäfig. Niemand wird kommen und mir helfen. Ich bin eine Gefangene. Vielleicht ist es mittlerweile an der Zeit, Daddy anzurufen, aber was würde er sagen? Von Dr. Goldstein bekäme er sofort die Wahrheit präsentiert … bestimmt haben sie meine Pisse getestet oder so. Sie würden ihm zeigen, dass ich ein Junkie bin. Und zum vermutlich allerersten Mal glaube ich nicht daran, dass ich mit einem Wimpernflattern aus der Sache herauskomme. Was, wenn Daddy mich zu Mummy auf die Caymans schickt? Unerträgliche Vorstellung.

Sie würden ihm erzählen, dass ich heroinabhängig bin.

Meine Knochen klimpern herum wie ein Windspiel.

Mich schüttelts.

Vielleicht bin ich heroinabhängig.

Wann ist das passiert?

Scheiß auf mein Leben.

Ich ziehe mir ein Kissen über den Kopf. Mit ein bisschen Glück sterbe ich jetzt einfach.

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Die zweite Nacht ist noch schlimmer. Ich träume, dass Nikolai Mummy aufisst und mir Fleischstücke von ihr in den Mund schieben will. Dass der Boden in meinem Zimmer im Vauxhall-Hotel voller mausgroßer nackter Babys ist und ich ständig auf eines drauftrete. Ich träume, dass ich aufwache und mich besser fühle.

Ich träume von Kurt. Von faulen Sonntagmorgen mit Zimmerservice. Weich gekochte Eier mit Toaststreifen zum Dippen, stapelweise Pancakes mit Speck und Ahornsirup.

Ich träume von Antonella. Von Antonella, die mir in Latein Zettelchen zusteckt. Ich träume von ihrem Lachen. Auf den Zettelchen steht – in Schönschrift ausbuchstabiert –, was ich getan habe.

Ich träume, dass ich auf die Toilette gehe, und wache mit fiesem Harndrang auf, bin aber vor Kälte bewegungsunfähig.

Ich drücke den Rufknopf. Diesmal kommt ein älterer Mann mit Bart herein. Sein Kopf ist kahl rasiert, auf den Armen trägt er Tattoos. »Alles klar bei dir, Liebes?«, fragt er mit starkem Liverpooler Dialekt.

»Bitte, hilf mir … Ich glaube, ich sterbe.«

Er schmunzelt nur, aber mir gehts zu schlecht, um sauer zu sein. »Ach nein, du stirbst schon nicht, versprochen. Hab so was schon tausendmal gesehn. Ist immer besser am nächsten Morgen.«

»Bitte … ruf Nikolai an und sag ihm, dass ich sterbe.«

»Wie wärs damit: Ich hinterlasse der Frühschwester eine Nachricht und dann ruft ihr ihn an, wenn es nicht gerade zwei Uhr nachts ist.«

»Er ist bestimmt noch wach«, sage ich und eine Träne läuft mir über die Wange. Ich will Nikolai. Wenn ich schon sterben muss, soll er bei mir sein.

Der Pfleger hält mir eine Tablette hin. »Hier, Kleines, nimm die gegen das Fieber.«

Ich tue wie geheißen. Schmierig verfilzte Haare kleben mir im Gesicht. »Hilfst du mir ins Badezimmer?«

»Das mache ich doch gern.« Er trägt mich mehr oder weniger zu der kleinen Nasszelle hinüber. Indem ich mich an Wänden und Waschbecken abstütze, komme ich drinnen einigermaßen zurecht. Nachdem ich mein Geschäft erledigt habe, bin ich für alles andere zu müde und schlafe direkt auf der Schüssel wieder ein.

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