Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Die falsche Schwester - Juno Dawson - E-Book

Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Die falsche Schwester E-Book

Juno Dawson

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Beschreibung

Dunkle Geheimnisse, Freunde, die zu Feinden werden, und das drohende Ende der Welt In »Die falsche Schwester«, dem 2. Teil der Urban-Fantasy-Trilogie »Der Hexenzirkel Ihrer Majestät«, droht den magisch begabten Freundinnen aus allen Richtungen Gefahr. Nach den erschütternden Ereignissen rund um Helena, die Hohepriesterin des Hexenzirkels Ihrer Majestät, steht für die Hexen Niamh, Leonie und Elle alles auf dem Spiel: Während Niamh zur neuen Hohepriesterin aufsteigt, begibt Leonie sich auf die lebensgefährliche Suche nach dem Verräter Hale, der einst den Bürgerkrieg unter den Hexen angezettelt hatte. Für Elle bricht eine Welt zusammen, als sie herausfindet, dass ihr Mann sie seit Jahren betrügt. Doch weder Elle noch Leonie ahnen, dass mit Niamh etwas ganz und gar nicht stimmt. Und dann ist da noch die Prophezeiung der Orakel, die besagt, dass das magische Kind Theo das Ende der Welt einläuten wird … Die britische Own-Voice- und Nummer-1-Sunday-Times-Bestseller-Autorin Juno Dawson hat mit ihrer Urban Fantasy rund um Englands moderne Hexen eine pulsierende magische Welt erschaffen, die alle Fans von »Good Omens« und »Mr Parnassus' Heim für Magisch Begabte« begeistern wird. Der erste Band der Hexen-Fantasy ist auf Deutsch unter dem Titel »Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Das begabte Kind« erschienen.

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Juno Dawson

Der Hexenzirkel Ihrer Majestät

Die falsche Schwester

Roman

Aus dem Englischen von Constanze Wehnes

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Dunkle Geheimnisse, Freunde, die zu Feinden werden, und das drohende Ende der Welt

In »Die falsche Schwester«, dem 2. Teil der Urban-Fantasy-Trilogie »Der Hexenzirkel Ihrer Majestät«, droht den magisch begabten Freundinnen aus allen Richtungen Gefahr.

Nach den erschütternden Ereignissen rund um Helena, die Hohepriesterin des Hexenzirkels Ihrer Majestät, steht für die Hexen Niamh, Leonie und Elle alles auf dem Spiel: Während Niamh zur neuen Hohepriesterin aufsteigt, begibt Leonie sich auf die lebensgefährliche Suche nach dem Verräter Hale, der einst den Bürgerkrieg unter den Hexen angezettelt hatte.

Für Elle bricht eine Welt zusammen, als sie herausfindet, dass ihr Mann sie seit Jahren betrügt. Doch weder Elle noch Leonie ahnen, dass mit Niamh etwas ganz und gar nicht stimmt. Und dann ist da noch die Prophezeiung der Orakel, die besagt, dass das magische Kind Theo das Ende der Welt einläuten wird …

Die britische Own-Voice- und Nummer-1-Sunday-Times-Bestseller-Autorin Juno Dawson hat mit ihrer Urban Fantasy rund um Englands moderne Hexen eine pulsierende magische Welt erschaffen. Der erste Band der Hexen-Fantasy ist auf Deutsch unter dem Titel »Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Das begabte Kind« erschienen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Karte Manchester

Karte Europa

Wer ist wer

Zitat

35 Jahre zuvor

IM GEDENKEN

LEICHENSCHMAUS

MAKE-OVER

DER GRUPPENCHAT

SCHEISS SCHULDGEFÜHLE

WEBEN

DIE FRAU, DIE HOHE-PRIESTERIN WERDEN SOLLTE

ARRIVEDERCI

DAS LIED VON OSIRIS

HAUS HEKATE

MACHTLOS

HELLO KITTY

DIE VOODOO-LOUNGE

RASTLOS

BETTGEFLÜSTER

HERABSCHAUENDER HUND

DAS PUPPENHAUS

VON JUNGEN UND MÄNNERN

HARMSWORTH HOUSE HOTEL

DER WORKING MEN’S CLUB

SALOMOS SIEGEL

KORRIDORE DER MACHT

EINSAME SCHIFFE IN DER NACHT

ZOCKER

NORMALE MÄDCHEN

INTIMITÄTSPROBLEME

DER TEMPEL DER KÖNIGIN

DADDY ISSUES

TRENNUNG

DANGER ROOM

DIE KÖNIGIN VON SABA

TEENAGERTRÄUME

AUSZEIT

ZURÜCK IN DEN WORKING MEN’S CLUB

BROTKRUMEN

DIE HEXENINSEL

KURT UND COURTNEY, NIAMH UND CONRAD

GRABESSTIMMEN

KALTES ERWACHEN

HERZ AUS STEIN

VERHANDLUNGEN

BLUT

CORPSE REVIVER

DER SCHANDTANK

WEIBLICHE INTUITION

GENERALPROBE

WIEDERSEHEN

ZERFALL

MEHR FRAGEN ALS ANTWORTEN

DIE HEILIGE NIAMH

GEFANGENSCHAFT

BEICHTE

KRÖNUNG I

KRÖNUNG II

HEX

KRÖNUNG III

WÄHRENDDESSEN

TISCH FÜR ZWEI

WAS CIARA TAT

WAS CIARA ALS NÄCHSTES TAT

DAS ENDE DER WELT (WIE WIR SIE KENNEN)

DIE VERBLIEBENEN

SIE KOMMEN IN DER NACHT

DIE WAISE

WIEDER VEREINT

DIE GLOCKENBLUMENWIESE

Danksagung

Glossar

Jeder Person, die schon mal das Gefühl hatte, den Kürzeren gezogen zu haben.

Wer ist wer

Hebden Bridge

Niamh Kelly – Adeptin Stufe 5

Zuletzt gesehen, als sie ihre komatöse Schwester Ciara in einem Safehouse in Manchester besuchte. In einer Beziehung mit Luke Watts. Niamh verlor zehn Jahre zuvor ihren Verlobten Conrad Chen während der Hexerrebellion um Dabney Hale. Niamh kümmert sich derzeit um die Waise Theo Wells.

Ciara Kelly – Adeptin Stufe 5

Ciara verlor während der Rebellion einen grausamen Kampf gegen ihre Schwester Niamh und liegt seit fast zehn Jahren im Koma. Während der Unruhen unterstützte sie den abtrünnigen Hexer Dabney Hale.

Elle Pearson – Heilerin Stufe 4

Erst kürzlich gestand die Pflegerin Elle ihrem nicht-magischen Ehemann Jez, dass sie eine Hexe ist.

Theodora »Theo« Wells – Adeptin (Stufe noch unbekannt)

Theo identifizierte sich bereits als weiblich, dann jedoch wurde sie einer körperlichen Veränderung unterzogen, als sie ihre Kräfte mit denen ihres Adoptivvormunds Niamh vereinte. Theo wurde zuvor für das sagenumwobene »Gezeichnete Kind« gehalten, den Vorboten des Dämons Leviathan.

Holly Pearson – Feinfühlerin (Stufe noch unbekannt)

Elles jüngstes Kind fand erst vor Kurzem heraus, dass sie eine Hexe ist, und verknallte sich in Theo.

Helena Vance (verstorben)

Die ehemalige Hohepriesterin des Hexenzirkels Ihrer Majestät verriet ihre Schwestern, indem sie den Dämon Belial beschwor, um mit seiner Hilfe Theo zu töten und die Prophezeiung um das »Gezeichnete Kind« abzuwenden.

Snow Vance Morrill – Elementarin (Stufe noch unbekannt)

Helenas Tochter ist im Teenageralter. Um der Schande der Taten ihrer Mutter zu entfliehen, hat sie gemeinsam mit ihren Großeltern Hebden Bridge verlassen.

Luke Watts – profan

Luke führt einen Lieferdienst für Lebensmittel und ist mit Niamh liiert.

Jeremy »Jez« Pearson – profan

Elles Ehemann ist Automechaniker und hat – hinter dem Rücken seiner Frau – eine Affäre mit der Hotelrezeptionistin Jessica.

Milo Pearson – profan

Elles und Jez’ ältestes Kind hat keine magischen Fähigkeiten, besucht aber dieselbe Schule wie Theo und Holly.

Reverend Sheila Henry – Feinfühlerin Stufe 3

Die Pastorin ist Gründerin des Pride-Komitees im HIM und sitzt im Vorstand des HIM.

Annie Device (verstorben)

Helena ermordete Elles Großmutter Annie, um ihren geheimen Bund mit dem Dämon Belial zu verschleiern.

London

Leonie Jackman – Feinfühlerin Stufe 6

Gründerin von Diaspora, einem unabhängigen Zirkel für Hexen und Hexer of Color. Ihr Bruder Radley hat sich im Alleingang auf die Jagd nach dem in Ungnade gefallenen Hexer Dabney Hale gemacht.

Chinara Okafor – Elementarin Stufe 6

Leonies langjährige Partnerin arbeitet als Anwältin in einer gemeinnützigen Organisation. Sie möchte mit Leonie eine Familie gründen.

Der Hexenzirkel Ihrer Majestät (HIM) – Manchester

Moira Roberts – Feinfühlerin Stufe 5

Oberste Cailleach von Schottland und nach Helenas Hinrichtung stellvertretende Hohepriesterin.

Irina Konvalinka – Orakel Stufe 6

Das Oberorakel sah das »Gezeichnete Kind« voraus und verkündet Leviathans bevorstehende Ankunft.

Sandhya Kaur – Feinfühlerin Stufe 3

Assistentin der Hohepriesterin.

Die Hexer-Kabale – Manchester

Radley Jackman – Heiler Stufe 3

Der Hohepriester der Kabale ist Leonies Bruder und hat sich eigenmächtig auf die Suche nach Dabney Hale begeben, nachdem dieser aus Grierlings, dem Gefängnis des Zirkels, ausgebrochen war.

Dabney Hale – Adept Stufe 6

Der abtrünnige Hexer wagte einen Putschversuch, um eine magische Vorherrschaft zu etablieren. Er täuschte Helena, die ihm so zur Flucht aus Grierlings verhalf, und ist nun auf freiem Fuß.

Höhere Wesen

Gaia – Der Name wird von vielen Hexen im Westen benutzt, um eine göttliche Schöpferin zu bezeichnen. Hexen glauben, dass sie die irdischen Botschafterinnen Gaias sind.

Satan – Der mächtigste der Dämonen, die in Gaias Realität gefangen wurden. Vor Jahrhunderten spalteten Hexen dieses Wesen in drei schwächere Einheiten: Belial, Luzifer und Leviathan.

Belial – der Dämonenkönig des Hasses.

Luzifer – der Dämonenkönig der Begierde.

Leviathan – der Dämonenkönig der Furcht.

»Der Teufel zeichnet sie für gewöhnlich mit seinem persönlichen Mal, indem, wie Hexen selbst gestanden haben, der Teufel mit seiner Zunge über eine intime Stelle ihres Körpers leckt, ehe er sie zu seinen Dienerinnen macht, zu welchem Zweck ihnen ein Mal an einer Körperstelle unter dem Haar gegeben wird, weshalb es nicht leicht zu finden und zu sehen ist, obwohl gründlich danach gesucht wird.«

 

Aus Dämonologie von Jakob I., 1597

35 Jahre zuvor

Galway, Irland

 

Noch heute erzählt man sich von dem Sturm, der Irland heimsuchte, als Miranda Kelly nach Inishmaan fuhr. Man sagt, die See, der Himmel und die Klippen waren zu einer einzigen grauen Masse verschmolzen, und sollte die Sonne sich dazu herabgelassen haben, überhaupt aufzugehen, dann hatte es niemand bemerkt.

Die Scheibenwischer quietschten über die Windschutzscheibe und schoben das Regenwasser vor und zurück, während Miranda sich über das Lenkrad beugte und angestrengt hinaus auf die Straße blinzelte. Sie hatte nur neun Stunden Zeit, um zur Insel hinaus- und wieder zurückzufahren, bis Brendan aus Dublin zurückkam. Heute war ihre einzige Chance. Eigentlich hätte sie sich über seine Aufmerksamkeit freuen sollen, doch ihr idyllisches Fischerhäuschen in Galway fühlte sich zunehmend an wie ein Gefängnis.

Sie entdeckte das beleuchtete Schild zum Hafen von Rossaveel und bog von der Hauptstraße ab, wobei das Auto über die nasse Straße schlitterte wie ein unbeholfener Wasserläufer. Der Fähranleger war gut ausgeleuchtet, und sie ließ das Auto langsam auf den Parkplatz rollen. Ihr sank der Mut, als ihr Blick auf das geschlossene Tickethäuschen fiel. Ein Mann in einer leuchtend gelben Jacke winkte sie zu sich. Sie ließ das Fenster ein paar Zentimeter herunter.

Er sagte etwas auf Irisch und deutete zum aufgewühlten Himmel.

»Ich muss zur Insel«, sagte Miranda auf Englisch, denn ihr Irisch war nicht annähernd gut genug.

»Wird heute nix, Liebchen. Fahrn’se nach Hause.« Er sah sie an, als sei sie wahnsinnig, und eilte zurück ins Trockene.

Doch umkehren kam nicht infrage. Miranda parkte den Escort, nahm ihren Regenmantel von der Rückbank und steckte sich die roten Haare in den Ausschnitt ihres Pullovers. Dann stieg sie aus und wurde sofort von Wind und Regen bestürmt. Die vertraute, alte Fähre, die zu den Aran Islands hinausfuhr, lag schwankend und schaukelnd im Hafen wie ein Hund an der Leine. Miranda zog sich die Kapuze über den Kopf und rannte am Kai entlang zum kleinen Hafenbecken, in dem die Fischerboote lagen und immer wieder scheppernd gegen die Piers schlugen. Irgendwo musste doch jemand sein.

Da, in einer der Fahrkabinen schimmerte ein schwaches Licht, und die Silhouette eines Mannes bewegte sich hinter dem Fensterglas. Miranda rannte seitlich an dem Kutter entlang und wedelte wild mit den Armen. Der Mann im Innern wischte mit der Hand über das beschlagene Fenster, wie um zu überprüfen, ob er sich die merkwürdige Frau da draußen vielleicht nur eingebildet hatte. »Hallo?«, rief sie.

Der Fischer, dessen weißer Bart vom Nikotin vergilbt war, trat aus seiner Kabine. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Ich muss nach Inishmaan!«, schrie Miranda gegen den Wind. »Fahren Sie heute raus?«

»Bei dem Wetter?« Er sah sie vollkommen entgeistert an. »Sind’se verrückt?«

Miranda hätte ihn am liebsten gepackt und geschüttelt, ihm ins Gesicht geschrien, damit er verstand. Stattdessen zwang sie sich zu einem vernünftigen Tonfall. »Es ist wirklich wichtig.«

»Tut mir leid, aber ohne mich.« Mit einem ungläubigen Kopfschütteln duckte der Fischer sich wieder durch die Kabinentür.

Doch ohne seine Hilfe ging es nicht. Hinüberfliegen konnte Miranda nicht, dafür waren ihre Hexenkräfte nicht stark genug. Zumindest noch nicht. Denn mit jedem Tag, den ihre Babys heranwuchsen, wuchsen auch ihre Kräfte.

Sie hatte gehofft, dass es nicht so weit kommen würde. »Sie fahren mich zur Insel.«

Der Fischer blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich wieder zu ihr um. Regentropfen rannen von seiner Knollennase, kirschrot von der Kälte, oder von Alkohol, oder beidem. Er sah sie ausdruckslos an, mit einem fast schon lachhaft leeren Blick. »Ich fahr Sie zur Insel.«

Miranda trat vorsichtig auf das Boot, wobei sie schützend ihren runden Bauch umfasste. Sie las ihn. Er hieß Seamus. »Es wird uns nichts passieren, Seamus. Das verspreche ich. Los jetzt. So schnell Sie können.«

Da ihre Morgenübelkeit meist bis weit in den Nachmittag reichte, war sie an das schwummrige Gefühl im Bauch gewöhnt. Das Boot wurde im aufgewühlten, trüben Wasser hin und her geworfen. Mit geröteten, steifen Fingern klammerte Miranda sich an eine Stange im Innern der Kabine und versuchte nach Kräften, den Kutter festzuhalten. Seit sie schwanger war, hatten ihre Kräfte zugenommen. Früher wäre sie nicht in der Lage gewesen, ein Boot bei solchem Seegang zu stabilisieren. Es machte ihr Angst. Ihr kleiner Zirkel in Galway war ratlos, und selbst Brendans Kontakte bei der Cailleacha hatten ihr gesagt, dass man noch nie von übernormalen Kräften bei ungeborenen Kindern gehört hatte.

Wie also machen sie das? Was wächst da in mir?

Eine Welle krachte gegen den Bug, und Miranda lenkte ihre Konzentration wieder auf das Boot. Wenn dieser Ausflug zu einer Selbstmordmission wurde, was würde Brendan von ihr denken? Sie hatte keine Nachricht hinterlassen, hatte dem Zirkel nicht Bescheid gesagt. Niemand, nicht einmal ihre Freundinnen wussten von ihrem Plan. Aoife oder Laura könnten vielleicht etwas ahnen. Warum sonst würde eine Hexe nach Inishmaan reisen, und dann auch noch in ihrem Zustand?

Ihre Geistesgegenwart schwankte, und der arme Seamus schien zumindest zu ahnen, wo er war. »Weiterfahren«, befahl Miranda, obwohl die Entschlossenheit in ihrer Stimme fremd klang.

Sobald sie das Hafenbecken verließen, schienen die Wellen sich etwas zu beruhigen, stattdessen hob und senkte sich die See wie der Bauch eines gigantischen Monsters, das ein- und ausatmete, ein und aus. Der kleine Kutter stemmte sich tapfer gegen die Wassermassen.

Als die Lichter der Küste blass durch die Gischt schimmerten, ließ sich Miranda völlig erschöpft auf die Knie fallen. Sie hatten es fast geschafft, jetzt musste Seamus sie nur noch in den Hafen fahren. Noch einmal nutzte Miranda ihre Kräfte, um das Boot zu stabilisieren und Seamus zu helfen, es sicher durch die Wellen zu manövrieren. Der Rumpf ächzte und stöhnte. Sie hätte eine Elementarin mitbringen, jemanden in ihren Plan einweihen sollen.

Zwei Männer kamen aus einer Rettungsstation gelaufen, als sie das Boot entdeckten, und winkten sie an den Kai. Der eine mit silbernem Schopf warf ein Tau an Deck und zog sie heran. »Seamus, Mann! Bist du wahnsinnig?«

Miranda schob sich an Seamus vorbei an die Reling. »Geht«, sagte sie zu den Neuankömmlingen. Sie gehorchten und gingen scheinbar ungerührt zurück in ihre Hütte. Miranda wandte sich an Seamus. »Warten Sie hier auf mich.« Sie wischte sich den Regen aus dem Gesicht und trat vom Boot auf die Kaizunge, einen langen Betonsteg, der hinaus ins Meer ragte. Wellen brachen sich an der Kaimauer und schlugen hoch in die Luft. Miranda schritt entschlossen Richtung Land.

Bei viel besserem Wetter war sie einmal als Touristin mit Brendan auf die Aran Islands gefahren, vor vielen Jahren, nachdem sie endlich nach Galway gezogen war. Sie hatten sich auf Inishmaan am St Patrick’s Day das Cead-Spiel angesehen. Die Inseln waren weit abgelegen, wunderschön und besaßen noch einen Hauch dessen, was Irland einmal gewesen war, vor Hunderten von Jahren, und an einigen Orten noch heute war. Brendan hatte ihr erzählt, dass es auf Inishmaan erst seit den Siebzigerjahren Elektrizität gab.

Die Inselgruppe hatte ihre ganz eigene Kraft, selbst eine Hexe der Stufe 1 hätte das gespürt. Die Jahrmillionen im Kalkgestein sangen ihre uralte Arie, als Miranda die Straße erreichte – wenn man das so nennen wollte. Sie entdeckte einen heruntergekommenen Taxistand – eine Art verrostete Hütte – ein Stück die Straße hinauf, und darin brannte ein Licht. Der Göttin sei Dank. Inishmaan war die am wenigsten bevölkerte der drei Inseln, und sie hatte sich schon vor einem langen Fußmarsch gefürchtet.

Die Tür war verschlossen, doch sie hämmerte so lange dagegen, bis eine rotgesichtige Frau sie endlich einen Spaltbreit öffnete. »Was wolln’se?«, fragte sie. »Hafen ist heute geschlossen.«

»Ich muss zum Doolin Cottage«, rief Miranda gegen den Wind an.

Das Gesicht der Frau verzog sich in kaum verhohlener Abscheu. »Ihr Mädchen vom Festland. Aye, wir wissen, was ihr dort wollt. Eine Schande ist das, denk doch an das arme kleine Kind.«

Mirandas Hände legten sich automatisch auf ihren Bauch. Sie war nicht wegen einer Abtreibung hier. »Es ist nicht so, wie Sie denken.«

Eine Erkenntnis gefolgt von Angst huschten jetzt über das Gesicht der Frau. »Mit so was wollen wir hier nichts zu tun haben. Keiner auf dieser ganzen Insel wird dich dorthin bringen, Hexe.«

Miranda sammelte sich. »Sie werden mich zum Doolin Cottage fahren.«

Sie war gezwungen, diese Worte auf der ganzen Fahrt über die Insel zu wiederholen, um die verdrießliche Frau, Gráinne, von ihrem Platz auf der Rückbank des Taxis aus gefügig zu machen. Frauen waren in der Regel willensstärker als Männer, nicht so leicht zu lenken.

In den Hügeln waren die Straßen kaum mehr als Wege, von Trockenmauern flankiert, hinter denen sich endlose Wiesen erstreckten, aus silbrig glänzendem, vom Sturm zerzausten Gras. Gráinne hielt das Auto an, Regen schlug hart wie Kiesel auf das Dach. »Was ist los? Fahren Sie weiter.«

»Es ist da oben«, gab sie mit bleischwerer Stimme zurück. »Den Rest musst du laufen. Wo du hinwillst, führen keine Straßen hin.«

»In Ordnung. Warten Sie hier.« Der Befehl würde mindestens eine Stunde lang im Geist der Frau nachhallen. Das gab ihr etwas Zeit.

Miranda wickelte sich wieder in ihren durchnässten Mantel und trat hinaus in das unnachgiebige Wetter. Der Wind peitschte ihr den Regen ins Gesicht, während sie sich auf einem ausgetretenen, schlammigen Pfad den Hügel hinaufkämpfte. Sie war fast oben, als sie endlich eine bröckelnde Mauer entdeckte, und dann das halb verfallene Cottage dahinter. Es duckte sich wie ein strohgedeckter Gargoyle gegen den Hügel und war in Richtung der Klippen in der Ferne ausgerichtet. Niemand würde hier zufällig vorbeikommen, und vielleicht war das auch ganz im Sinne der Bewohnerin.

Ein rostiges Tor hing schief in den Angeln, und Miranda zog es vorsichtig auf, um es nicht ganz herauszureißen. Es gab keinen richtigen Garten, nur ein paar dürre, fast kahle Bäume. Hinter den Fenstern leuchtete schummriges Kerzenlicht – irgendjemand war auf jeden Fall zu Hause. Miranda klopfte an die gebrechlich wirkende Tür und wartete mit zugeschnürter Kehle.

Old Biddy Needles. Jede Hexe in ganz Irland kannte diesen Namen. Hexen kriegten es nicht so leicht mit der Angst, doch Biddys Türschwelle überschritt man nicht leichtfertig. Miranda klopfte noch einmal. »Mrs Cleary? Sind Sie da?« Sie hörte Schritte. »Mein Name ist Miranda Kelly. Ich bin eine Schwester. Zirkel Galway.«

Das Knarzen einer Holzdiele auf der anderen Seite der Tür. »Was führt dich hierher, Schwester?« Die Stimme war alt und zittrig.

Miranda hätte vor Erleichterung beinahe laut aufgeschluchzt. »Ich brauche Ihre Hilfe. Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll.«

Die Tür öffnete sich, und die willkommene Hitze eines Feuers schlug ihr entgegen, gefolgt von einem Hauch Salbei und Kaninchenfleisch. »Dann komm mal besser rein«, sagte Biddy und trat beiseite.

Die alte Frau war wirklich sehr alt. Sie ging gebeugt und unsicher. Ihr Kopf war von einem dichten, schwarzen Spitzenschleier verhüllt, doch Miranda konnte gerade noch eine Andeutung von Gesicht dahinter ausmachen. Ein Trauerschleier, so erzählte man sich, den sie trug, seit ihr damaliger Ehemann sie verraten hatte, und zwar – so erzählte man sich außerdem – schon seit beinahe hundert Jahren.

»Setz dich, Kind. Wärm dich am Feuer. Esche vor Eiche, das gibt Teiche.«

»Danke«, sagte Miranda. Das Cottage war winzig, eine Wand unterteilte es in zwei kleine Zimmer. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wo das Bad war. Tote Kaninchen und Fasane hingen in der Küchennische von der Decke, und auf der Arbeitsplatte lag ein Laib Sodabrot. Wenigstens war es warm. Sie ging an dem ausgebeulten, fadenscheinigen Lehnsessel vorbei und setzte sich stattdessen auf den steifen Holzstuhl.

Biddy kam zurück ans Feuer, ihr Nähzeug in den Händen, ein ordentlich zusammengeschnürtes Lederetui. »Du erwartest ein Kind?«

»Zwillinge«, sagte Miranda. Biddy sah sie erwartungsvoll an. »Irgendetwas stimmt nicht«, stieß Miranda hervor, wie in einem atemlosen Schluchzer, eine Mischung aus endlicher, herrlicher Erleichterung und völliger Verzweiflung. »Alle sagen, ich bin verrückt, mein Mann, die Ärztinnen und Ärzte, meine Freundinnen. Sie sagen, ich solle mich entspannen, und dass es den Babys gut geht, aber ich schwöre bei Gaia, irgendetwas stimmt nicht. Ich weiß es einfach.«

»Eine Mutter weiß immer«, sagte Biddy und öffnete ihr Etui. »Leg dich ans Feuer. Zieh deine Bluse aus.«

Die alte Frau breitete eine Wolldecke vor dem Kamin aus, und Miranda tat, wie ihr geheißen, und hängte ihre durchnässte Bluse ordentlich über die Stuhllehne. »Wird es wehtun?«

»Nicht mehr als die Ungewissheit«, sagte Biddy.

Miranda legte sich flach auf den Rücken und sah hoch zu den Löchern im strohgedeckten Dach. Warme, papierne Finger strichen ihr sanft über den kleinen Babybauch. »Wie weit?«

»Vierter Monat.«

»Also noch nicht zu spät«, sagte sie, und Miranda wusste, was sie meinte. Nicht nur Hexen suchten Hilfe bei Biddy. Frauen jeden Alters kamen aus ganz Irland, wenn sie in Schwierigkeiten waren. Die Gardaí wussten natürlich Bescheid, aber sie würden es nicht wagen, Biddy Cleary in die Quere zu kommen.

Miranda konnte nicht wegsehen, als Biddy ihre längste Nähnadel aus der Tasche nahm. Im Gegensatz zu allem anderen in der Hütte glänzte sie. Die Hexe hielt sie kurz über die Flammen, und dann, flink, wie eine viel jüngere Frau, stach sie Miranda die Nadel in den Bauch und zog sie sofort wieder heraus. Im Bruchteil einer Sekunde war es vorüber.

Dann lüftete Biddy ihren Schleier, gerade so weit, dass Miranda die gespannte, verbrannte Haut an ihrem Kinn sehen konnte. Mit der Zungenspitze leckte sie das Blut von der Nadelspitze. Miranda hörte, wie ihr der zittrige Atem stockte. Biddy zog die Nadel wieder durch die Flammen und stach noch einmal zu. Sie schmeckte erneut.

Und dann sagte sie nichts.

»Und?«, fragte Miranda schließlich, als sie die Stille nicht länger ertrug. Biddy stützte sich auf ihren Lehnsessel und kam auf die Füße. Miranda setzte sich auf. »Sagen Sie schon! Was haben Sie gesehen?«

Biddy ließ die Nadel in eine Schüssel mit heißem Wasser fallen und stellte sie beiseite. »Du wirst Zwillinge bekommen, Mädchen, die sich vollkommen gleichen werden, aber das wusstest du bereits.«

»Ja.« Obwohl sie am Feuer saß, war Miranda eiskalt, und sie schlang die Arme um ihren Körper. »Aber sind sie gesund?«

»O ja«, sagte Biddy, ohne zu zögern.

Miranda legte die Hände auf ihren Bauch. »Der Göttin sei Dank«, flüsterte sie.

Biddy Needles ließ sich in ihren Sessel sinken. »Sie werden ebenso schön wie mächtig sein, alle beide. Und zwar sehr. Adeptinnen.«

Einen kurzen, wundervollen Moment lang fühlte Miranda sich ganz leicht – die erste Sekunde Frieden seit Wochen. Vielleicht hatte Brendan ja doch recht und sie war einfach nur besorgt und paranoid wie jede werdende Mutter in ihrer ersten Schwangerschaft. In einem Jahr würde sie auf diesen Tag zurückschauen und lachen, vielleicht würde sie sogar ihren Freundinnen von ihrem Ausflug nach Inishmaan erzählen. Doch dann fuhr Biddy fort.

»Doch es tut mir sehr leid, Miranda, dir sagen zu müssen, dass Schönheit und Macht die einzigen Gemeinsamkeiten deiner Töchter sein werden. Denn während die eine freundlich, großzügig und liebevoll sein wird, wird die andere mit Teufeln verkehren.«

Miranda riss die Augen auf. »Was?«

»Ich sage es, wie es ist: Die eine wird gut sein, die andere böse.«

Roberts, Moira

an mich; Kaur, Sandhya

 

Morgen, Niamh,

 

wollte mich nur mal kurz bei dir melden und dir sagen, dass ich heute an dich denke. Ich hoffe, wir haben nach der Zeremonie nachher noch kurz Zeit, um über deine Amtseinführung zu sprechen. Ich muss wirklich darauf bestehen, dass wir jetzt einen Termin festlegen. Das Schattenkabinett in London wird langsam nervös, und die Amis mischen sich schon ein. Nach allem, was mit Helena passiert ist, denke ich, bestehen nachvollziehbare Bedenken hinsichtlich unserer Handlungsfähigkeit. Eine neue HP zu krönen, ist die einfachste Lösung, um zu demonstrieren, dass alles seinen gewohnten Gang geht.

Für Samhain gibt es zum Beispiel noch keine offiziellen Termine. Wie sieht es in deinem Terminkalender aus?

Bis später

 

M

 

Ach, und sorry, ich weiß, ich nerve, aber bitte gib Sandhya Zugriff auf deinen Kalender, damit sie deine Termine schnellstmöglich planen kann.

 

Moira Roberts

Oberste Cailleach von Schottland

Stellvertretende Hohepriesterin – der Hexenzirkel Ihrer Majestät

IM GEDENKEN

Ciara – Hebden Bridge, Großbritannien

 

Ding, Dong, die Hex ist tot.

Sie bekam es einfach nicht aus dem Kopf. Es machte sie wahnsinnig.

Natürlich war das erbärmlich, aber Ciara konnte nicht umhin, ein wenig enttäuscht zu sein. Die Trauergemeinde wäre wohl wesentlich größer gewesen, hätten die Teilnehmenden gewusst, wer tatsächlich da in dem Sarg lag. Doch so war es eine recht traurige Angelegenheit, nur eine Handvoll Gesichter aus ihrer Vergangenheit hatte sich um ihr offenes Grab auf der herbstlichen Lichtung der Glockenblumenwiese versammelt. So hatten sie – und sonst niemand – diesen Ort als Kinder genannt. Die Blätter verfärbten sich, eine Erinnerung an die Vergänglichkeit des Lebens – als ob man die bräuchte. Ciara hatte diese Waldwiese gewählt, weil sie hier wirklich ihre letzte Ruhe würde finden wollen. Es hatte eben auch Vorteile, die eigenen sterblichen Überreste zu Grabe zu tragen.

Trotz des tief hängenden, grauen Himmels war diese Wiese, versteckt in den Wäldern des Hardcastle Crags, auch heute noch genauso schön wie damals, wenn auch kleiner als in ihren nebligen Erinnerungen. Am Tag zuvor hatte es geregnet, und es roch nach Erde, Moos und feuchter Baumrinde, nach Spinnenweben und Nesseln. Der Wald begann mal wieder mit seinem jährlichen Kompostierungsvorgang.

Die wenigen Personen, die gekommen waren, trugen Schwarz, was sich falsch anfühlte. Sie hatten glückliche Stunden hier verbracht. Hier hatten sie gespielt. Verstecken und Feen-Kriege, als sie noch jünger gewesen waren, später konnten sie hier im Geheimen ihre Kräfte messen. Ewig lange Schulferien, Calippo-Eis und Gänseblümchenkränze. Sie hatten Dämme im Bach gebaut. Hatten alle Tanzchoreos von B*Witched auf MTV Hits auswendig gelernt. Was waren das für Zeiten gewesen.

Sie war froh, sie zu haben, diese Erinnerungen. Sie hatte so wenige.

Es ergab einfach keinen Sinn, dass diese alten Erinnerungen intakt waren, während die letzten Jahre vor ihrem Koma völlig ausgelöscht waren. Als hätte Niamh sich von Neu zu Alt vorgearbeitet. Alles war schwarz: endlose, gähnende Leere. Ciara hatte keine Erinnerungen an ihr Erwachsenenleben – bis auf das, was sie aus fremden Köpfen zusammengetragen hatte, sobald sie in Hebden Bridge angekommen war –, und das war angsteinflößend. Wie konnte es sein, dass sie das Wassereis von früher beinahe auf der Zunge schmeckte, aber nicht wusste, wie sie in diesem Krankenhaus gelandet war?

Ciara, wach auf, Schatz. Ich bin’s. Es ist endlich Zeit, aufzuwachen. Du musst aufwachen. Töte sie, töte sie jetzt gleich, und dann such mich.

Daran erinnerte sie sich sehr lebhaft. Sie erinnerte sich daran, wie sie plötzlich über ihrer Schwester stand, in diesem Krankenhaus, und dann …

An alles, was danach passiert war.

Sie erinnerte sich an Hales Stimme, so klar wie der Hebden Beck in ihrem Geist.

Such mich.

Eines wusste sie ganz sicher: Sie musste Dabney Hale finden. Aber wie? Und wo? Also war sie an den einzigen Ort gereist, an den sie sich erinnerte: scheiß Hebden Bridge. Das Zuhause ihrer Schwester. Und jetzt auch ihre letzte Ruhestätte.

Verdammte Niamh. Sie hatte ihr richtig eins reingewürgt. So viel wusste Ciara. Und deshalb würde Ciara sich auch nicht eine Sekunde lang in Schuldgefühlen ergehen, über das, was im Safehouse passiert war. Ganz sicher nicht.

Ciara atmete tief ein, hielt die Luft an und zählte. Reiß dich verdammt noch mal zusammen. Sie durfte jetzt nicht zerbrechen. Nicht hier. Sheila Henry nahm ihren Platz am Kopfende des Grabes ein. Ein Grab, in dem ihr eigener Körper lag. Ihr alter Körper. Sie hatte ihn eingetauscht.

»Wir überantworten unsere Schwester Ciara Kelly wieder der Erde.« Sheila Henry – seit ihrer Kindheit völlig unverändert – begann mit der Grabrede. Sie gehörte genauso sehr zu dieser Stadt wie die alte Brücke. Wahrscheinlich war die Pastorin schon als fünfzigjährige Butch zur Welt gekommen. »Sie wird in Gaia weiterleben, wieder vereint mit ihrer großen Schöpfung. Ihre Schwester, Niamh, möchte ein paar Worte sagen.«

Ciara brauchte einen Moment, ehe sie sich daran erinnerte, dass sie ja jetzt Niamh war. »O ja! Tut mir leid, ich war ganz woanders.«

»Natürlich, Liebes, lass dir Zeit.« So langsam wie sie eben noch wagte, ging Ciara nach vorne und stellte sich zu Sheila ans Grab. Begräbnisse waren einfach grundsätzlich affektiert, theatralisch und übertrieben, aber dabei eben auch furchtbar morbide. Hätte sie doch nur Zeit gehabt, sich einen Hut mit Schleier zu besorgen. Unter ihr, in dem Loch im Boden, lag eine einfache Holzkiste. Hexen hatten es nicht so mit teuren, lackierten Särgen, die ihre unvermeidliche Rückkehr zur Erde nur unnötig verlangsamten.

Sheila trat einen Schritt beiseite, um Ciara – beziehungsweise Niamh – Platz für ihren großen Moment zu machen. Wo sollte sie anfangen? Ich kann nicht verhehlen, dass ich es bereue, meine Zwillingsschwester erstickt zu haben, nachdem ich mich ihres Körpers ermächtigt hatte, aber es war nun einmal unvermeidbar.

Ciara erinnerte sich an den glühend weißen, blendenden Zorn, den sie in jenem Moment verspürt hatte. Der Vektorstein. Sie hatte keine Wahl gehabt. Sie ertastete den Rubin in ihrer Jackentasche, ließ ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her rollen. Er war kaum größer als ein Sandkorn. Jetzt, da der Fluch ausgeführt worden war, war er nur noch ein hübscher Edelstein, ganz harmlos. Aber, scheiße, wie er sie durchfahren hatte. Der Zauber, der den Seelentransfer ausgelöst hatte, war unheimlich mächtig gewesen. Er war wie eine Million Volt durch ihren Körper gejagt, hatte ihr die Kraft gegeben, um …

Leonie Jackman, die in der kleinen Gruppe stand, runzelte die Stirn, und Ciara vergrub das saure Gefühl schnell, so tief sie konnte. Sie durfte sich keine durchlässige Stelle erlauben.

Sie versuchte, ihr Zögern als einen Moment weiblich-weicher Trauer abzutun. Jetzt ruhten alle Blicke auf ihr, und in den Augen lag keine Trauer, sondern Mitleid – für Niamh. Sie trauerten nicht um die missratene Ciara Kelly, sie machten sich vielmehr Sorgen, wie ihr Tod die arme, liebe Niamh treffen würde. Schließlich beteten alle die wundervolle Niamh Kelly an, als wäre sie ein ganzer Korb voller Kätzchen und Hündchen. Leonie und Elle sahen sie voller Mitgefühl an, selbst jetzt noch Seite an Seite mit ihrer Schwester. Wenn sie wüssten, wer Niamh jetzt war.

»Meine Schwester war alles andere als perfekt.« Das war eine Untertreibung. »Aber sie war meine Schwester. Wir sind im selben Körper herangewachsen, haben uns ein Zuhause und eine Kindheit geteilt. Ich habe keine Erinnerungen in meinem Kopf, die meine Schwester nicht enthalten.« Und das stimmte ja auch. Niamh war immer da gewesen. Ciara hatte sie stets für eine Konstante gehalten.

Elle brach lautstark in Tränen aus. Ein Mädchen im Teenageralter mit pastellrosafarbenen Haaren an ihrer Seite reichte ihr ein Taschentuch. Holly, Elles Tochter. Ein Kind, an das sich Ciara überhaupt nicht erinnerte.

Natürlich hatte sie in den zwei Wochen, seit sie ihrem Gefängnis entkommen war, versucht, so schnell wie möglich ein paar Lücken zu füllen. Wann immer sie konnte, hatte sie Gedanken gelesen und so ein paar Fakten und Zahlen zusammengetragen. Noch im Krankenhaus hatte sie damit angefangen, direkt nachdem sie … na ja.

Die Macht des Rubins, die ihr noch immer heiß durch die Adern gejagt war, hatte Ciara desorientiert zurückgelassen, wie betrunken. Eine Weile hatte sie im Besuchersessel gesessen und den leblosen Körper im Bett angestarrt. Blass. Eine Haarsträhne hatte ihrem früheren Körper an der Lippe geklebt.

Gaia allein wusste, wie lange sie so dagesessen hatte. Das Einzige, dessen sie sich mit Bestimmtheit bewusst war, war Dabneys Nachricht, die wieder und wieder in ihrer Reverie widerhallte.

Such mich.

Warum? Wofür? Warum jetzt? Was habe ich getan?

Als ihre Herzfrequenz wieder einigermaßen menschlich vor sich hin pochte, hatte Ciara ihre Dachgeschosszelle verlassen.

Als Nächstes hatte sie die ältere Hexe gelesen, die sich im Safehouse um sie gekümmert hatte. Mildred, eine Frau, die leicht nach Desinfektionsmittel roch, hatte in einem anderen Schlafzimmer gerade ein Bett frisch bezogen, als Ciara sie auf dem Weg nach unten traf. Sie ergriff die Gelegenheit beim Schopf.

Von hinten schlich sie sich an die Frau heran und drückte ihr die rechte Hand auf den grauen Wuschelkopf. Die arme Mildred hatte nur ganz kurz aufgeschrien, dann war sie vornüber auf das Bett gekippt, ohnmächtig. Ciara spülte das Gedächtnis der alten Frau gründlich aus, suchte nach Hinweisen; wer, wo, warum, wann?

Die Tatsache, dass sie NEUN BESCHISSENE JAHRE in diesem Bett gelegen hatte, war – gelinde gesagt – ein Schock gewesen. Niamh schuldete ihr verdammt noch mal einen dreißigsten Geburtstag, die olle Kuh. Die Pflegerin hatte ein paar Leerstellen gefüllt, doch zu Ciaras persönlicher Vergangenheit hatte sie nichts beitragen können, denn Mildred hatte sie nicht selbst gekannt, wusste nur von den Gerüchten, die über Ciara in Umlauf waren, wie sie gemeinhin beschrieben wurde: verschlagen, mörderisch, dämonisch. Fremde Erinnerungen an das eigene Leben erzeugten bestenfalls unzuverlässige Erzählungen.

Natürlich würde die Pflegerin sich nicht an ihr Aufeinandertreffen erinnern. Ciara hatte ihr Gedächtnis gelöscht und sie mit der Anweisung zurückgelassen, die Leiche eine Stunde später zu entdecken, wenn sie selbst schon lange fort wäre.

Ciara wartete, bis Elle sich die Nase geputzt hatte, ehe sie mit ihrer Trauerrede fortfuhr. »Man kann getrost sagen, dass Ciaras und meine Beziehung nicht immer einfach war …« Ein trockenes Glucksen. »Doch jetzt empfinde ich vor allem … Schuldgefühle, um ehrlich zu sein. Immerhin habe ich selbst Ciaras Erinnerungen gelöscht und sie in der Blüte ihres Lebens zum Sterben in diesem Krankenhausbett abgeladen.« Leonie war da gewesen, an jenem Tag im Hotel Carnoustie. Ciara hatte alles in ihrem Kopf gesehen; die Brutalität ihrer Schwester, und wie Leonie eingegriffen hatte. Töten oder getötet werden.

Leonie riss die Augen auf. Ups. Vielleicht hatte sie es damit etwas zu weit getrieben. Erst durch Leonie hatte Ciara in Erfahrung bringen können, was ihre Katatonie ausgelöst hatte. Ein weiterer brutaler Schock. Es grenzte an ein Wunder, dass sie überhaupt überlebt hatte, und doch verehrten sie alle weiter die gute, gütige Niamh.

Eine umwerfende Frau namens Chinara hielt Leonies Hand. Daneben stand das neueste Mitglied in Niamhs Fanklub: das Mädchen Theo. Auch sie sah verblüfft aus. Ciara nahm sich vor, ihre Worte etwas im Zaum zu halten. »Na ja, ein richtiges Leben war das ja schließlich nicht, oder? Vielleicht ist es eine Gnade, dass sie jetzt frei sein kann. Wir alle.«

Theo sah sie besorgt an. Und dann kam sie auf sie zu und nahm sie an der Hand. Ist schon in Ordnung, übermittelte sie Ciara. Du musst das hier nicht machen.

Wie hatte ihre liebste, verschiedene Schwester das nur gemacht? Wie hatte sie solche Hingabe hervorgerufen? All diese Streuner, die sie umschwirrten, wie die kleinen, süßen Vögelchen auf Schneewittchens verdammtem Finger. Theo war nur der neueste in einer langen Reihe, seit Niamh ein kleines Mädchen gewesen war, hatte es stets einen armen, kranken Igel in einem Schuhkarton gegeben, ein neues Mädchen an der Schule, das eine Mentorin brauchte. Am Rande der Lichtung stand ein weiteres hilfloses Reh, das an ihrem nährenden Obstgarten knabberte: der Mann. Der gutaussehende Trampel, der sich nach ihren Fjorden sehnte. Luke. Er sah aus der Ferne zu.

Es war unbestreitbar nützlich, den Profanen in der Nähe zu haben. Sie konnte ihn jederzeit ungehindert lesen. Die Erinnerungen ihrer Schwester hatten sich schnell verflüchtigt, wie Zigarettenrauch. Nichts war zurückgeblieben. Wie ein Einsiedlerkrebs war Ciara einfach in ein neues Schneckenhaus gezogen.

Sie hatte in diesen neun Jahren so viel verpasst. In neun Jahren konnte eine Menge passieren, und vieles davon war erst in den letzten paar Monaten passiert. Der Krieg war lange vorbei, Helena Vance war tot – hingerichtet –, ihre Schwester bumste den Gemüselieferanten und hatte, wie es schien, eine trans Teenagerin adoptiert. Und dann war auch noch die verdammte Queen gestorben! Meine Güte, was für eine Achterbahn.

Noch immer high von dem Vektorstein war Ciara sofort nach Hebden Bridge geflogen. Hale hatte ihr keine Hinweise gegeben, keine Nachsendeadresse hinterlassen. Sie hatte angenommen, die Freundinnen ihrer Schwester – ihre Freundinnen, früher einmal – würden schon wissen, wo er war. Stattdessen war sie nichtsahnend in das totale Chaos hineingestiefelt – die Nachbeben von Helenas fehlgeleitetem Trip auf die Dunkle Seite und die Neuigkeit, dass Niamh die Rolle der Hohepriesterin erben würde. Das bedeutete, dass sie keine ruhige Minute mehr bekam und unter ständiger Aufsicht stand. Sie war gefangen. Fürs Erste.

Ciara spürte, wie ihre Aura rot wurde, und schluckte. Leonie war mächtiger als sie, und wenn sie etwas anderes als Trauer in ihr las, wäre Ciara geliefert. Doch es wurmte sie immens. Neun Jahre. Sie war fast fünfunddreißig. In der Schule hatte sie mit einem Jungen namens Kirk Gilhooly einen Pakt geschlossen: Wenn sie mit dreißig beide noch single waren, würden sie heiraten. Sie hatte ihn gegoogelt. Er war schwul und hatte mittlerweile sein Coming-out gehabt. Fuck.

Genug jetzt. Sie war so weit gekommen. Seit zwei Wochen sperrte sie die Feinfühlerinnen aus ihrem Kopf aus, und das würde sie auch weiterhin schaffen. Das Beste war, dass niemand hinterfragte, warum ihre Reverie so düster war; durch das Begräbnis ihrer Schwester war der fast salzige Beigeschmack von Kummer mehr als verständlich. Diese rührseligen Gedanken interessierten zwar ohnehin keine Schnüffler, doch sie schirmte ihre inneren Monologe trotzdem lieber ab, wenn sie Telepathie nutzte. Sie war nicht wie Theo oder Holly, deren schrille, jugendliche Sorgen vor allen offenlagen.

Sie konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart, lächelte Theo dankbar an und ließ sich von ihr zurück zu den anderen Trauernden führen. Wie bei Hexengräbern üblich, würde lediglich ein unbeschrifteter Stein Niamhs Ruhestätte kennzeichnen. Wieder einmal wurde Ciara plötzlich schlecht, ein panisches Flattern regte sich in ihrem Brustkorb. Nein. Keine Schuldgefühle. Niamh schuldete ihr etwas. Und zwar neun Jahre. Eigentlich noch viel mehr als das.

Ciara würde kein Mitleid für die Frau empfinden, die ihren Geist in eine Ruine verwandelt hatte. Keine Heilerin auf der ganzen Welt konnte diese Bruchstücke wieder zusammensetzen.

Und außerdem bekam man die Blutflecken mit Reue auch nicht wieder raus. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, in den Tagen nachdem … es passiert war, hatte Ciara sich selbst davon überzeugt, dass sie Niamh hatte töten müssen. Der Rubin war alt, dunkel und mächtig. Doch selbst die ältesten, dunkelsten und mächtigsten Dinge konnten den Fluss der Natur nicht aufhalten. Solange ihr alter Körper noch lebte und atmete, wäre ihre Seele unwiderstehlich von ihrem ursprünglichen Wirt angezogen worden. Und genauso hätte Niamh ihren eigenen Körper wieder zurückgefordert.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Hatte sie ihre Schwester wirklich töten wollen? Nein, natürlich nicht, sie war schließlich keine Soziopathin, was auch immer man sich über sie erzählte. Besser gefallen hätte es Ciara, Niamh neun Jahre lang in diesem Bett liegen zu lassen, das wäre wirklich ein Gedicht der Gerechtigkeit gewesen. Doch in dem entscheidenden Moment hatte sie überhaupt nicht nachgedacht. Alles, was sie empfunden hatte, war Mordlust. Reiner Instinkt, kein Fünkchen Verstand mehr.

Es war der Stein gewesen, nicht sie selbst.

Der Teufel hat mich gezwungen.

Was sie wieder einmal zu der Frage zurückführte, wie zur Hölle ausgerechnet Helena Vance zu diesem Stein gekommen war. Helena, die Einöde, die zum Ficken bestimmt ein Handtuch untergelegt hatte.

Die Begräbnisfeier war zu Ende, und die Elementarinnen und Heilerinnen traten vor. Sie hoben die Hände, und der Erdhaufen neben dem Loch rutschte langsam ins Grab und füllte es auf. Leonie schlang ihren Arm durch Ciaras und lehnte ihre Stirn an ihren Kopf. Ciara ließ es zu. Leonie war warm, und ihr Parfüm duftete nach Veilchenbonbons. Ciara sah zu, wie der Sarg unter der Erde verschwand. Sobald der Boden wieder eben war, stießen auch schon grüne Spitzen durch das Erdreich und verwandelten sich in sprießende Springbrunnen aus Fuchsschwanzgräsern. Niemand würde ahnen, dass sie hier war.

Dies war nicht Sheilas erstes Begräbnis, sie wusste genau, welchen Ton sie anschlagen musste. »Der Zirkel lädt euch alle ins Lamb and Lion in der Stadt ein, um Ciaras Rückkehr zu Gaia zu feiern. Ich freue mich, euch dort zu sehen.«

Ciara warf einen letzten Blick auf das Grab. Mach’s gut, Schwesterchen. Ich wünschte, alles wäre anders.

LEICHENSCHMAUS

Leonie – Hebden Bridge, Großbritannien

 

So etwas gab es in London nicht. Das Lamb and Lion, direkt am Fluss im Stadtzentrum von Hebden Bridge, war tröstlich vertraut: die tief hängenden Holzbalken und klebrigen Teppichböden, die biergetränkten Handtücher auf der Bar, die Hitze des prasselnden Feuers im Kamin.

Leonie erinnerte sich an damals, als sie etwa vierzehn gewesen war. Beim großen Boots in Leeds gab es eine Foundation in ihrem Hautton, endlich, und sie hatten sich in Helenas Schlafzimmer ausgehfertig gemacht, sich gegenseitig immer wieder vom Spiegel weggeschubst. Abgerundet hatte Leonie ihren Look mit bauchfreiem Oberteil, Caprihose und High Heels, in der Hoffnung, dass man ihnen in diesem schäbigen Pub ein paar Bacardi Breezer servieren würde. Leonie lächelte in sich hinein. Rückblickend echt bedenklich. Noch bedenklicher waren allerdings die Männer, die den damals sehr offensichtlich minderjährigen Mädchen Alkohol ausgeschenkt hatten.

Holly und Theo saßen am Kamin neben dem unbehaglich aussehenden Jez. Leonie fragte sich, ob Elles Ehemann ihren gut gemeinten Ratschlag von der Sonnenwende angenommen und seine außereheliche Tändelei beendet hatte. Sie wollte ihn gerade lesen, da hielt Elle ihr ein vollgeladenes Tablett unter die Nase.

»Du solltest etwas essen«, sagte Elle. »Käseschnecken? Sind vegan.« Sie hielt eine kleine, blasse Pastete hoch.

Leonie lächelte. »Danke, ich hatte schon genug Käseschnecken.« Sie sehnte sich vor allem nach einem Wodka Tonic. Chinara stand in der langen Schlange an der Bar an. Der Leichenschmaus war zwar eine geschlossene Gesellschaft, doch der Pub war trotzdem gut gefüllt. Bei den Anwesenden handelte es sich vor allem um Leute vom HIM, die Pflegerinnen, die sich im Safehouse um Ciara gekümmert hatten.

Mann, war das traurig. Sie hatte eigentlich gedacht, sie hätte nach dem Krieg um Ciara getrauert, aber offensichtlich hatte ein kleiner Teil in ihrem Innern insgeheim gehofft, sie würde noch ein wenig mehr Zeit mit Ciara Kelly verbringen. Hoffnung war gefährlich, machte so schnell abhängig. Im Moment war sie ganz high davon. Und das erinnerte sie daran, dass sie dringend mit Niamh über ihren Bruder sprechen musste. Es duldete keinen Aufschub, Begräbnis hin oder her.

Elle hatte richtig am Rad gedreht, um die Begräbnisfeier auf die Beine zu stellen, und Leonie fühlte sich ein bisschen schlecht, weil sie kaum geholfen hatte. Ihre Freundin schien die zentrale Rolle als Todesengel jedoch zu genießen. Manche Leute waren einfach geborene Organisationstalente, und Leonie kannte niemanden, der so gut darin war wie Elle. Wenn ihr das hier Spaß machte, wenn sie so mit ihrer Trauer umging, dann bitte.

Leonie entdeckte Niamh. Sie stand allein neben dem monströsen Büfett. »Meinst du, sie ist zufrieden?«, fragte Elle.

Leonie hob eine Augenbraue. »Ihre Schwester ist gerade gestorben.«

Elle wedelte mit der Hand zum Büfett hinüber. »Ich meinte das da!«

»Elle, damit könntest du ein kleines Land versorgen. Es ist perfekt.« Die gigantischen Blumengestecke mit weißen Lilien waren auch extra pathetisch. Genau richtig.

»Sie ist so still. Kannst du sie lesen?«

Leonie schüttelte den Kopf und senkte die Stimme. »Sie will mich nicht in ihrem Kopf haben, Elle. Sie … sie trauert. Wir werden ihr einfach etwas Zeit geben müssen.« Sie spürte Elles kindliches Verlangen, so schnell wie möglich alles wieder in Ordnung zu bringen. Verständlich und aus Güte geboren, aber auch naiv. »Komm«, sagte sie zu Elle. »Wir sollten einfach für sie da sein.«

Sie gingen in Niamhs stille Ecke. »Alles in Ordnung, Süße?«, fragte Leonie.

»Ja«, sagte Niamh, ohne ihr richtig in die Augen zu sehen. »Nein. Ich wünschte, die Leute würden aufhören, mich das zu fragen.« Sie schien ziemlich durch den Wind.

»Ich weiß, ich weiß.« Leonie schüttelte den Kopf, und der Knoten auf ihrem Kopf, zu dem sie ihre Braids gebunden hatte, verrutschte leicht. »Das ist echt scheiße. Ich habe irgendwie immer gedacht, es würde eine Art Epilog geben, weißt du? Eine Art Abschied? Es fühlt sich nicht richtig an, dass sie einfach so … weg ist. Ich will Ciaras letzten Monolog hören, das wäre einfach …« Sie küsste ihre Fingerspitzen, und Niamh grinste tatsächlich.

»Ja, das wäre es wirklich«, murmelte Niamh.

»Schon was gegessen?«, fragte Elle Niamh und hielt ihr einen Teller mit Mini-Samosas hin.

»Nein, danke«, sagte Niamh müde. »Aber danke für das alles hier, Ellie. Das ist wirklich schön.«

Elle zog die Stirn kraus. »Wovon redest du? Natürlich. Es ist ja wohl das Mindeste, das ich tun konnte. Du hast mir so geholfen, als Grandma …«

Leonie spürte die entsetzliche Leere unter Elles Rippen. Sie alle spürten diese Lücke. Nicht einmal Elle konnte diesen Schmerz unter einer Schicht Fröhlichkeit verstecken. Annies Verlust würden sie noch lange mit sich herumtragen. Und dann Helena, was noch einmal eine ganz andere, qualvolle Hirnverrenkung darstellte. Und jetzt auch noch Ciara.

Und Radley.

Nein. Ihren Bruder durfte sie nicht auch noch verlieren. Leonie wollte ihn verzweifelt ansprechen, wollte über nichts anderes reden.

»Radley?«, fragte Niamh plötzlich. Offenbar konnte Leonie ihre Gedanken nicht so gut abschirmen wie ihre Freundin. »Gibt’s was Neues?«

Leonie kämpfte gegen den Drang an, loszuschreien und jedes einzelne Bleifenster aus den Wänden des Pubs zu sprengen. Die höfliche Trägheit von Hexer-Kabale und Zirkel gleichermaßen war zum Verrücktwerden. Warum stellten sie nicht die ganze Welt auf den Kopf, um ihn aufzuspüren? »Nichts«, sagte sie knapp und in betont gelassenem Tonfall. »Ich hab noch immer nichts gehört.« Es war über drei Monate her, dass irgendjemand Kontakt zu ihrem kleinen Bruder gehabt hatte.

»Was ist mit Hale?«, fragte Niamh.

Leonie schüttelte den Kopf. »Ne.« Weder Dabney Hale noch ihr Bruder waren gesehen worden, seit Ersterer aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Wenn sie im Land waren, dann wurden sie von einer sehr mächtigen Magie abgeschirmt. »Ich habe mit Moira gesprochen.« Die stellvertretende Hohepriesterin unterhielt sich gerade mit Chinara, die endlich am Bartresen angekommen war. »Sie sagte, du bist morgen beim HIM?«

Niamh sah nicht aus, als würde sie sich darauf besonders freuen. Sie nahm einen Schluck von ihrem schwarzen Kaffee, und Leonie fragte sich, warum sie sich nicht einfach maßlos die Kante gab. An ihrer Stelle hätte sie sich so schnell wie möglich unter den Tisch getrunken. »Sieht so aus. Ich habe es so lange wie möglich aufgeschoben.«

»Kann ich mitkommen? Ich habe mir ein paar persönliche Sachen von Radley besorgt, vielleicht hilft das den Orakeln …«

»Natürlich«, unterbrach Niamh sie, ehe sie den Satz zu Ende bringen konnte. »Wir werden tun, was immer nötig ist.« Und dann fügte sie noch hinzu: »Immerhin steht Dabney Hale ganz oben auf meiner Liste.«

MAKE-OVER

Ciara – Hebden Bridge, Großbritannien

 

Wenn sie bei der Suche nach Lees Bruder auch Dabney Hale fanden, dann half Ciara doch gerne. Es war das Einzige, das sie ganz sicher wusste.

Such mich.

Auf der ganzen Welt fiel ihr niemand anderes als Dab ein, der wissen konnte, warum das alles passierte, warum Helena (oder vielmehr die Macht in ihrem Innern) sich so viel Mühe gegeben hatte, sie wiederzubeleben. Es musste doch einen Grund geben. Und warum ausgerechnet jetzt? Vor neun Jahren wäre nett gewesen.

Diese leere Höhle in ihrem Geist. Sie wusste, oder zumindest nahm sie es an, dass sie ihre letzten Jahre mit Hale verbracht hatte. Er konnte ihr helfen. Er konnte sie wieder zusammensetzen.

Chinara, Leonies Partnerin, kam auf sie zu, zwei Wodka Soda in den Händen. Sie war mächtig, das spürte Ciara durch den ganzen Pub. Chinara nickte zu Niamhs Kaffeetasse hinunter. »Sorry, Niamh, wenn du willst, hole ich dir auch einen richtigen Drink.«

Auf keinen Fall. Alkohol würde ihre Verteidigung schwächen, und sie befand sich in einem Raum voller Feinfühlerinnen. »Nein. Nein, danke. Ich glaube, dann falle ich endgültig auseinander.«

Ciara entdeckte Luke, der sich respektvoll im Hintergrund hielt und auf der anderen Seite der Bar mit Elles Ehemann sprach. An den erinnerte sie sich nicht. Sie unterhielten sich über Annie.

Die Nachricht von Annies Tod hatte Ciara wirklich getroffen. Sie erinnerte sich an sie, von ganz früher. Diese Frau war ein verdammter Schatz gewesen. Sie war immer mit diesem wissenden Blick durchs Leben gegangen, in dem ihr genialer Geist aufblitzte. Und wenn Helena sich früher mal wieder wie eine kleine Diktatorin aufführte, dann hatte sie Ciara aus dem Augenwinkel diesen kurzen Blick zugeworfen: ich weiß.

Anders als viele andere Leute, hatte Annie ihr immer einen Vertrauensvorschuss gegeben, denn sie vertrat die Meinung, dass die Zukunft nicht in Stein gemeißelt war –

Annie, in einem Konferenzraum, umgeben von anderen Hexen …

Fast wäre ihr die Kaffeetasse aus der Hand geglitten.

»Alles okay?«, fragte Leonie.

Ciara nickte. Fuck. Beinahe hätte sich ein Schnipsel ihrer Vergangenheit in ihrem Geist zusammengesetzt. Sie drängte vor, versuchte, das Bild wieder hervorzulocken.

Die Erinnerung war gräulich, körnig, verwischt. Sie war beim HIM – bei einem Komitee vielleicht, in irgendeinem förmlich aussehenden Raum: Mehrere ernst dreinblickende Frauen saßen um einen Konferenztisch herum, sämtliche missbilligende Blicke ruhten auf ihr. Ihre Grandma war da, und auch Annie, die sich für sie einsetzte.

Und dann war es wieder weg. Das war alles. Ein Zimmer und ein paar grimmige Gesichter.

Warum passierte das andauernd? Es war so unglaublich frustrierend! Schlimmer, als wenn die Nase kribbelt, man aber einfach nicht niesen kann.

Ciara wurde schwindelig und lehnte sich gegen den Büfetttisch. Leonie runzelte die Stirn. »Hey, nicht umfallen.«

»Alles okay?«, fragte Theo mit stummen Lippenbewegungen quer durch den Raum. Ciara nickte. Auch Luke stand die Sorge um seine arme, in Ohnmacht fallende Brontë-Heldin Niamh ins Gesicht geschrieben. Ihre Schwester hatte schon immer einen guten Männerge–

Plötzlich sank ihr das Herz in die Magengrube, und ihr schwamm der Kopf – schlimmer als zuvor. Sie hatte eine Aufgabe. Da war es wieder, dieses atemlose, panische Gefühl, das sie quälte, seit sie das Safehouse verlassen hatte. Diese schreckliche Ahnung, wenn einem plötzlich einfiel, dass man das Glätteisen nicht ausgeschaltet oder das Auto nicht abgeschlossen hatte. Es lag ihr auf der Zunge, irgendetwas hatte sie nicht vollendet, und das beunruhigte sie. Sie konnte nur hoffen, dass es eine Nebenwirkung des Seelenzaubers war und dass es abklingen würde, je mehr Erinnerungslücken sie füllte.

»Wirklich alles in Ordnung?«, fragte Elle.

»Ja«, log sie. »Nur müde. Ich schlafe nicht so gut.« Ihre Freundinnen waren voll des Mitgefühls. Aber wer fühlte mit Ciara? Der toten Schwester, soweit sie wussten.

»Wir können das mit dem HIM verschieben?«, bot Leonie an.

»Nein. Ehrlich, es geht schon.«

»Dein erster Tag als Hohepriesterin«, sagte Chinara, vielleicht in dem Versuch, die Unterhaltung auf etwas weniger bleierne Themen zu lenken.

»Nicht ganz«, berichtigte Ciara. Sie knabberte an einer Zwiebel-Pakora, was sie tatsächlich etwas beruhigte. Vielleicht war Essen doch keine so schlechte Idee.

»Du scheinst nicht gerade begeistert zu sein.«

Das stimmte nicht ganz. Einerseits bedeutete ihre neue Stelle, dass sie nicht die Tierärztin mimen musste. Das wäre sehr schnell sehr blutig geworden. Mithilfe von Luke und Theo hatte sie mittlerweile ein ganz gutes Verständnis von der Frau, die sie jetzt darstellte. Als sie Niamhs Praxispartner ihre Kündigung angeboten hatte, war er nicht besonders überrascht gewesen – die Anstrengungen der letzten paar Monate hatten sie ohnehin aus dem Alltag gerissen. Aber andererseits … »Sehe ich für euch etwa wie eine Hohepriesterin aus?«

Leonie grinste schelmisch. »Na ja, du bist weiß und hast geerbt, also …«

Trotz ihrer Umgebung lachte Ciara schnaubend. »Ich bin Irin! Aber wir wussten doch eigentlich alle, dass Helena mal Hohepriesterin wird, oder?«

»Und es stellt sich heraus, dass sie für den Job wortwörtlich über Leichen geht, ja«, sagte Leonie mit verschwörerisch gesenkter Stimme.

»Aber für mich selbst habe ich das einfach nie gesehen«, sagte Ciara und besiegelte damit die Untertreibung des Jahrhunderts. »Überhaupt nicht.« Der Unterschied zwischen den Kelly-Zwillingen: Sowohl Ciara als auch Niamh hatten sich auf den Posten der Assistentin in der Schulbibliothek beworben. Niamh wollte der Bibliothekarin helfen, Ciara wollte einfach nur das goldglänzende Abzeichen.

Vielleicht war es die Nähe zu Leonie, aber eine weitere, flüchtige Erinnerung tauchte wie zerschlissenes Treibgut in ihrem Geist auf. Ihre Hohepriesterin, Julia Collins in Hebden Bridge. Marktplatz. Die alte Schachtel hatte die damals sechzehnjährige Ciara am Ellbogen gepackt und von der jungen Leonie und einer Gruppe Typen mit Kappa-Caps weggezerrt, von denen sie einen gerade behext hatte.

Was glaubst du eigentlich, was du hier tust, Ciara Kelly?

Das sind Perverslinge. Die wollten Lee betatschen.

Sie erinnerte sich an die kleine Menge, die sich um den behexten Jungen versammelt hatte, der sich jetzt auf dem Gehweg vor der Metzgerei auf dem Boden wand wie in einem Krampfanfall. In ein, zwei Minuten war alles wieder vorbei, und er hatte es mehr als verdient. Er hatte Leonie angegrapscht. Sie erinnerte sich jetzt wieder.

Junge Dame, du hast dich überhaupt nicht unter Kontrolle, und ich werde mich mal mit deiner Großmutter unterhalten.

Und jetzt sollte sie selbst Hohepriesterin werden, allerdings nur vorübergehend. Zunächst einmal war der HIM untrennbar mit der Krone verbunden, mit der alten Kolonialherrschaft, und das war für sich gesehen schon widerwärtig. Davon abgesehen hatten Autoritätspersonen auch einfach keinen Chic. Warum Niamh, eine irische Hexe, überhaupt Hohepriesterin werden sollte, war ihr ein Rätsel. »Seine Majestät« war eben nicht ihre Majestät. Es hieß ja nicht ohne Grund Republik Irland. Als der Zirkel gegründet wurde, ja, da hatte Irland gezwungenermaßen noch zu England gehört. Heutzutage durften irische Hexen Britinnen sein, wenn es dem Zirkel in den Kram passte. Als ihre Eltern gestorben waren, konnte der Zirkel die beiden kleinen, außerordentlichen Adeptinnen gar nicht schnell genug ins Vereinigte Königreich importieren.

»Niamh: Ich, die diesen Laden bekanntermaßen auf wirklich spektakuläre Weise hingeschmissen hat … Also, ich kann nur sagen, dass ich niemanden lieber am Steuer sehen würde als dich.« Leonie nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küsste sie auf den Mund.

Chinara stimmte ihr zu. »Nimm dir diese alte Rostlaube vor, polier sie schön auf und mach was Neues draus. Was Gutes. Das ist mein voller Ernst, und ich wünsche dir viel Glück dabei.«

Ciara lächelte kurz. »Danke.«

Sie hatte nicht vor, ihren neuen Job ernsthaft auszufüllen. Er war ein Mittel zum Zweck, der effektivste Weg, Dabney zu finden. Die Frage war nur, wie lange es dauern würde, ihn aufzuspüren und ein paar Antworten aus ihm herauszubekommen.

So schön es auch war, wieder in der Vertikalen zu sein, Ciara konnte sich nicht entspannen. Abgesehen davon, dass die Welt sich während ihrer Abwesenheit vollkommen verändert hatte (Donald Trump war Präsident der Vereinigten Staaten gewesen, was zum Fick? Und welcher Vollarsch hatte sich diesen »Brexit« ausgedacht?), war es auch mehr als befremdlich, mit einer löchrigen Lebensgeschichte und jeder Menge Zukunftsfragen durch die Gegend zu laufen. Jemand hatte ihr Comeback inszeniert. Und sie konnte nicht so richtig darüber lachen, solange sie in den Streich nicht eingeweiht war. Es kam ihr so vor, als hätte Dab einen Plan für sie. Und es gefiel ihr nicht, selbst im Dunkeln zu tappen.

Mithilfe der Ressourcen des HIM konnte sie ihre Suche jedoch erheblich beschleunigen, weshalb sie fürs Erste mitspielen würde. Er würde nicht lange in Deckung bleiben; selbst mit ihren lückenhaften Erinnerungen wusste sie, dass das einfach nicht sein Stil war.

Was den Mann selbst anging, war sie hin- und hergerissen. Eine ölige Empfindung wirbelte tief in ihrem Bauch herum. Dieses Gefühl. Sie wollte ihn wiedersehen und auch wieder nicht. Begehren und Abscheu zu gleichen Teilen. Sie wusste, es wäre fürchterlich, aber auch wundervoll. Ciara hatte keine Ahnung, was sich zwischen ihm und ihr abgespielt hatte, doch geisterhafte Empfindungen waren davon zurückgeblieben. Sie erinnerte sich daran, dass sie ihn als Teenagerin kennenlernte, auf irgendeinem Festival, und später auf der Universität wiedertraf, zumindest glaubte sie das. Aber dieses Gefühl, das sprach Bände. Liebe und Hass waren einfach nur andere Ausdrücke für Besessenheit.

Plötzlich bemerkte sie Moira, die auf sie zukam. O nein, sicher nicht. »Entschuldigt ihr mich kurz?«, bat sie ihre früheren Freundinnen, wirbelte herum und marschierte in Richtung der Toiletten davon, nur um mit dem Gesicht voran in Lukes breite Brust zu krachen. »Autsch!«

»Fuck, tut mir leid.«

»Schon okay.« Sie fasste sich an die Nase, und Luke reichte ihr eine Serviette, damit sie sich den Kaffee abtupfen konnte, den sie sich beim Zusammenstoß über die Bluse gekippt hatte. »Danke.«

Luke sah definitiv gut aus, wenn auch ganz anders als … Conrad. Ja, das war sein Name, Conrad Chen. Endlich, das hatte sie schon ganz wahnsinnig gemacht. Sie hatte Niamhs früheren Partner in Elles Geist gesehen, er war muskulös gewesen, athletisch. Sie hätte nicht gedacht, dass ihre Schwester mit jemandem zusammen war, der so, na ja, haarig war. »Ist es okay, dass ich hier bin?«, fragte er. »Ich habe das Gefühl, dass du, ähm, vielleicht ein bisschen Abstand brauchst?«

Mit Mühe verbannte Ciara die leichte Abscheu aus ihren Gesichtszügen. Die meisten Männer waren die absolute Pest, das hatte sie schon als Teenagerin gelernt. Es war wirklich ein Fluch, dass sie sich sexuell von ihnen angezogen fühlte. Und obwohl Luke ein verdammt heißer Holzfäller war, ein Steak von einem Mann, würde sie sich ganz sicher nicht an Niamhs schludrigen Nachschlag ranmachen. Man hatte sie schon oft als völlig durchgeknallt bezeichnet, aber sie hatte ihre Ansprüche.

»Niamh?«, bohrte Luke nach.

Was wollte er nur von ihr? »Ich … sie war meine Schwester«, sagte Ciara und hoffte, damit alles gesagt zu haben.

»Ich verstehe schon«, antwortete Luke. Na klar. Tun sie das nicht alle? »Als meine Mum gestorben ist … na ja, es hat Jahre gedauert, bis ich mich wieder wie ich selbst gefühlt habe.« Er fasste sie an den Armen, und instinktiv schreckte sie vor seiner Berührung zurück. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, aber was hatte er erwartet? Ich trauere, du kranker Arsch. Außerdem kenne ich dich überhaupt nicht. »Was immer du brauchst, ich bin da, okay? Gerne auch aus der Ferne, aber ich bin für dich da.«

Sie umarmte ihn fest, damit er ihr Gesicht nicht sah. »Toll, Luke. Danke.« Sie löste sich von ihm und ließ den Blick durch den Raum schweifen, doch sie entdeckte niemanden, zu dem sie hätte fliehen können. Sie wünschte, Annie wäre hier, wirklich. »Weißt du was? Ich fühle mich ziemlich überwältigt, ich glaube, ich hau ab.«

Einen Moment lang sah Luke überrascht aus. »Ähm, klar. Was immer dir hilft. Soll ich dich nach Hause fahren?«

»Nein, ich fliege.« Ups, Record-Scratch. Er sah sie verständnislos an. »Laufe. Ich laufe natürlich. Weil es mitten am Tag ist.«

Aus irgendeinem Grund vertraute Niamh immer wieder irgendwelchen profanen Männern die Wahrheit über die Hexenwelt an. Aber das ging auf ihre Kappe. Wobei diese Kappe jetzt wohl auf ihrem Kopf saß.

»Okay«, sagte Luke. »Soll ich Theo holen?«

Theo saß noch immer am Kamin und unterhielt sich mit Holly. »Nein, lass sie noch bleiben.« Er runzelte erneut die Stirn. Warum hatten alle das Gefühl, sie beschützen zu müssen? Sie war verdammt noch mal eine mächtige Adeptin, aber so, wie die Leute um sie herumscharwenzelten, könnte man meinen, sie wäre eine besonders zarte Orchidee. Sie erinnerte sich daran, wie alle um sie und Niamh herumgeschwirrt waren, schon, als sie noch Kinder waren. Nur sehr wenige Hexen besaßen mehr als eine Gabe. Es kam ihr vor, als hätte man sie auf einen abscheulichen Schönheitswettbewerb vorbereitet: Britain’s next Top-Hexe.

»Ich muss einfach mal eine Weile allein sein«, sagte Ciara, und ihre Haut kribbelte leicht. Sie brauchte Freiheit, wollte endlich die Mauern um ihren Geist herunterlassen. »Ich frage Elle, ob sie sie später nach Hause fährt.«

Elle war natürlich mehr als einverstanden, und Ciara marschierte aus dem Pub.

Scheiß Hebden Bridge. Warum war sie wieder hier? Noch eine Erinnerung: Sie und Leonie schreien BESCHISSENE STADT, aber in der Melodie von Die Schöne und das Biest. Das Wort »provinziell« umfasste nicht ganz, wie sie diesen Ort sah. Erdrückend, das passte schon eher.

Nicht zum ersten Mal fragte Ciara sich, warum sie nicht einfach geflohen war, nachdem … nachdem sie das Safehouse verlassen hatte. Das war ihr erster Instinkt gewesen: Hales kleine Nachricht einfach zu ignorieren und sich an irgendeinen schönen Strand abzusetzen. Doch sie hatte dem Drang widerstanden. Sie verstand es selbst nicht ganz. Und als sie sich in Manchester in die Luft erhoben hatte, war sie ausgerechnet hierher gekommen.

Gemächlich ging sie durch das fast menschenleere Städtchen. Die Tourismussaison war vorbei. Der Brückenteil von Hebden Bridge war dank Leonie verschwunden, man hatte die eingestürzte Brücke vorläufig durch eine Metallkonstruktion ersetzt, ein hässliches Ding, wie eine Zahnspange auf fauligen Zähnen. Sie ging die Hauptstraße entlang, vorbei an den perfekten Modelldorfhäuschen – die meisten beherbergten Souvenirgeschäfte und Bäckereien –, und fragte sich, warum ihre Schwester nach dem College hierher zurückgekehrt war. War diese niedliche Spielzeugstadt wirklich der Höhepunkt ihrer Ambitionen?

Hebden Bridge war einfach so … süffisant. So selbstzufrieden. Oooh, wir sind ja hier das tiefste Yorkshire, aber wir sind auch total queer und künstlerisch und vegan, das hast du bestimmt nicht erwartet. Ich wurde nicht geboren, ich wurde aus Hafermilch gehäkelt. Theo hatte letztens erzählt, jemand habe eine Trans-Pride-Flagge auf eine Mauer auf der anderen Flussseite gesprayt, und das sagte ja wohl alles.

Sie machte sich auf den Weg die Straße hinauf nach Heptonstall und bereute sofort, Lukes Angebot, sie nach Hause zu fahren, ausgeschlagen zu haben. Sie hatte total vergessen, wie steil diese Miststraße war. Niamhs Körper hatte keine neun Jahre herumgelegen, und trotzdem musste sie nach der Hälfte des Wegs kurz stehen bleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Ciara sah hinunter ins Tal. Sie würde nicht abstreiten, niemals, dass Hebden Bridge atemberaubend schön war, die Bäume auf beiden Seiten umfassten die Stadt wie grüner Knautschsamt. Den ganzen Tag über hatte es immer mal wieder geregnet, und die Luft fühlte sich sauber und klar an, erdig. Aber es war auch so eng hier. In den Jahren, die sie hier verbracht hatte, schon als kleines Mädchen, hatte sie sich von allen Seiten eingequetscht gefühlt. Sie war größer als dieser kleine Schuhkarton.

Mithilfe einiger alter Schulunterlagen vom Dachboden hatte Ciara sich einen groben Zeitstrahl zusammengestückelt. Sie war aus Hebden Bridge geflohen, sobald sie konnte – in die Durham University. Niamh auch, aber sie hatte sich offensichtlich entschieden, zurückzukehren.

Die klagende Kirchturmglocke schlug sechs, als sie Heptonstall erreichte – das alte Dorf über Hebden Bridge. Die ersten Tropfen fielen, als sie das Gartentor zum Cottage ihrer Großmutter aufstieß. Tja, jetzt gehörte es wohl ihr. Ihr und Niamh, offenbar hatten sie es geerbt.