Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Das begabte Kind - Juno Dawson - E-Book
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Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Das begabte Kind E-Book

Juno Dawson

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Beschreibung

Das Leben als moderne Hexe war nie einfach – jetzt wird es apokalyptisch! Der Nr. 1 Sunday Times Bestseller aus Großbritannien! »Der Hexenzirkel Ihrer Majestät – Das begabte Kind« ist der erste Teil der Urban-Fantasy-Trilogie »Die Hexen Ihrer Majestät« um vier starke Frauen mit magischen Kräften – und ein begabtes Kind, das die Welt verändern wird. Nach einem Bürgerkrieg unter den Hexen versuchen die Freundinnen Niamh, Leonie, Helena und Elle, in ihr »normales« Leben zurückzukehren. Doch Niamh trauert um ihre große Liebe und hadert mit ihren Gefühlen für den Gemüselieferanten Luke; Leonie kämpft für ihren eigenen Zirkel aus Hexen of Color; Helena muss als Hohepriesterin des Hexenzirkels ihrer Majestät die magische Behörde am Laufen halten; und Elle ist mit einem Nicht-Magier verheiratet, der nichts von ihren Kräften ahnt – bis ihre Tochter sich als Hexe entpuppt. Als die Orakel das Ende aller Hexen vorhersagen, gerät ein magisch begabtes Kind in den Fokus der vier Freundinnen. Jetzt müssen die Hexen Entscheidungen treffen, die ihre Freundschaft für immer verändern werden … In Großbritannien herrschen die Hexen: Die britische Autorin Juno Dawson, die selbst Teil der LGBTIQ-Community ist, hat eine großartige, moderne Urban-Fantasy-Welt für alle Fans von »Good Omens« und »Mr Parnassus' Heim für Magisch Begabte« geschaffen. 

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Juno Dawson

Der Hexenzirkel Ihrer Majestät

Das begabte Kind

Roman

Aus dem Englischen von Constanze Wehnes

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Das Leben als moderne Hexe war nie einfach – jetzt wird es apokalyptisch! Der Nr. 1 Sunday Times Bestseller aus Großbritannien!

»Der Hexenzirkel Ihrer Majestät – Das begabte Kind« ist der erste Teil der Urban-Fantasy-Trilogie »Die Hexen Ihrer Majestät« um vier starke Frauen mit magischen Kräften – und ein begabtes Kind, das die Welt verändern wird.

Nach einem Bürgerkrieg unter den Hexen versuchen die Freundinnen Niamh, Leonie, Helena und Elle, in ihr »normales« Leben zurückzukehren. Doch Niamh trauert um ihre große Liebe und hadert mit ihren Gefühlen für den Gemüselieferanten Luke; Leonie kämpft für ihren eigenen Zirkel aus Hexen of Color; Helena muss als Hohepriesterin des Hexenzirkels ihrer Majestät die magische Behörde am Laufen halten; und Elle ist mit einem Nicht-Magier verheiratet, der nichts von ihren Kräften ahnt – bis ihre Tochter sich als Hexe entpuppt.

Als die Orakel das Ende aller Hexen vorhersagen, gerät ein magisch begabtes Kind in den Fokus der vier Freundinnen. Jetzt müssen die Hexen Entscheidungen treffen, die ihre Freundschaft für immer verändern werden …

In Großbritannien herrschen die Hexen: Die britische Autorin Juno Dawson, die selbst Teil der LGBTIQ-Community ist, hat eine großartige, moderne Urban-Fantasy-Welt für alle Fans von »Good Omens« und »Mr Parnassus’ Heim für Magisch Begabte« geschaffen. 

Inhaltsübersicht

Triggerwarnung Hinweis

Widmung

Zitat

25 Jahre zuvor

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Kapitel neunundzwanzig

Kapitel dreißig

Kapitel einunddreißig

Kapitel zweiunddreißig

Kapitel dreiunddreißig

Kapitel vierunddreißig

Kapitel fünfunddreißig

Kapitel sechsunddreißig

Kapitel siebenunddreißig

Kapitel achtunddreißig

Kapitel neununddreißig

Kapitel vierzig

Kapitel einundvierzig

Kapitel zweiundvierzig

Kapitel dreiundvierzig

Kapitel vierundvierzig

Kapitel fünfundvierzig

Kapitel sechsundvierzig

Kapitel siebenundvierzig

Kapitel achtundvierzig

Kapitel neunundvierzig

Kapitel fünfzig

Kapitel einundfünfzig

Kapitel zweiundfünfzig

Kapitel dreiundfünfzig

Kapitel vierundfünfzig

Kapitel fünfundfünfzig

Kapitel sechsundfünfzig

Kapitel siebenundfünfzig

Kapitel achtundfünfzig

Kapitel neunundfünfzig

Kapitel sechzig

Kapitel einundsechzig

Kapitel zweiundsechzig

Kapitel dreiundsechzig

Kapitel vierundsechzig

Kapitel fünfundsechzig

Kapitel sechsundsechzig

Danksagung

Glossar

Magische Begriffe

Erläuternde Begriffe

Ausspracheanmerkungen

Triggerwarnung

Liebe Leser*innen,

 

»Der Hexenzirkel Ihrer Majestät« ist zwar ein fiktives Werk, behandelt jedoch Themen aus dem realen Leben, die bei manchen Menschen ungewollte Reaktionen auslösen können. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Triggerwarnung.

 

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

 

Wir wünschen euch gute Unterhaltung mit »Der Hexenzirkel Ihrer Majestät«!

 

Juno Dawson und Verlag

Für meinen Zirkel, die »Adult Lady Helpline«

Dämonen bringen mit größerer Leichtigkeit besonders junge Mädchen zu Fall, die sich in Muße und Neugier ergehen und dadurch umso leichter von Hexenvetteln verführt werden können.

 

Der Hexenhammer, 1486

25 Jahre zuvor

 

Am Abend vor der Sommersonnenwende saßen fünf Mädchen versteckt in einem Baumhaus. Die Hütte, die zu stabil und eigentlich auch viel zu schön war, um als solche bezeichnet zu werden, wurde von den knorrigen Armen einer dreihundert Jahre alten Eiche gehalten. Unten, in Vance Hall, wurden die letzten Vorbereitungen für die Feierlichkeiten des nächsten Tages getroffen. Viel geplant wurde allerdings nicht mehr, die Erwachsenen schienen die Zusammenkunft eher zum Anlass zu nehmen, zwei Tage in Folge einige der besonders staubigen Weinflaschen aus dem Keller zu holen. Beschwipst war noch eine Untertreibung für den Zustand der Ältesten, die deshalb die Abwesenheit der Mädchen gar nicht bemerkt hatten.

Oben im Baumhaus war die Jüngste, Leonie, wütend, weil die Älteste, Helena, gesagt hatte, sie könne nicht Stephen Gately von Boyzone heiraten. »Dann spiele ich nicht mit«, maulte Leonie.

Im Fenster des Baumhauses standen einige brennende Kerzen, darunter wuchsen klumpige Stalaktiten aus Wachs. Bernsteinfarbenes Licht tanzte an den Wänden und warf flüchtige Schatten auf Leonies Gesicht. »Warum darf Elle immer als Erste aussuchen?«

Elles Unterlippe zitterte, ihre babyblauen Augen füllten sich mit Tränen. Mal wieder. Darum durfte Elle immer als Erste aussuchen.

»Sie könnten doch beide Stephen heiraten«, schlug Niamh Kelly vor, die schon immer die Diplomatische von ihnen gewesen war.

»Nein, können sie nicht!«, sagte ihre Zwillingsschwester laut. »Wie soll das denn gehen?«

Niamh warf ihr einen finsteren Blick zu. »Wir werden ja auch nicht wirklich jemanden von Boyzone heiraten, oder, Ciara? Wir sind erst zehn!«

»Wenn Elle zwanzig ist, ist Stephen dreißig, das ist okay«, sagte Helena bestimmt.

Mit geballten Fäusten stand Leonie auf, als wolle sie das Baumhaus verlassen.

»Na schön, bevor du wegrennst wie ein Baby!«, lenkte Helena ein. »Dann nehmt eben beide Stephen. Armer Keith.«

Leonie stieß die Luke mit dem Fuß auf. »Darum geht es doch gar nicht, Helena. Es ist nur ein Spiel. Ein dämliches Spiel. Außerdem habe ich doch eh schon gesagt, dass ich den Prinz von Bel-Air heiraten werde.«

Einen Moment lang schwiegen sie, denn alle wussten, was Leonie eigentlich auf der Seele lag – ihnen allen. Die Kerzen flackerten, und ein betrunkenes Johlen schallte vom Haus zu ihnen herauf.

»Ich will das morgen nicht machen.« Endlich sprach Leonie aus, worum es wirklich ging. Sie trat zurück zu den anderen und setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich. »Mein Dad will nicht, dass ich es mache. Er sagt, es ist böse.«

»Dein Dad ist ein Hohlkopf«, blaffte Ciara.

Niamh, die dreieinhalb Minuten älter war als ihre Zwillingsschwester, sagte: »In Irland gelten wir als Glückskinder.«

»Findet er etwa auch meine Großmutter böse?«, fragte Elle. »Sie ist die netteste Person auf der ganzen Welt!«

Für Leonie war es schwerer als für die anderen. Sie war die Erste in ihrer Ahnenlinie (zumindest soweit sich jemand erinnern konnte), die die Gabe hatte. Wie sollte Helena das verstehen? Ihre Mutter, die Mutter ihrer Mutter und alle Vance-Mütter davor waren ebenfalls gesegnet gewesen. »Leonie«, sagte Helena mit der absoluten Gewissheit, die nur eine rechthaberische Dreizehnjährige an den Tag legen konnte, »das wird ein Kinderspiel, nicht schwieriger als das Morgengebet in der Schule. Wir stellen uns auf, schwören unseren Eid, Julia Collins wird dich segnen und fertig. Eigentlich ändert sich überhaupt nichts.«

In das eigentlich legte sie besonders viel Überzeugungskraft, doch im Grunde ihres Herzens wussten sie alle, dass es eine Lüge war. Es gab nur noch wenige von ihnen, und mit jeder Generation wurden es weniger. Dieses Leben, dieser Eid, war eine andere Sache als Ciaras zweifelhafte Entscheidung, sich mit einer Nagelschere einen Pony zu schneiden. Der war bald wieder rausgewachsen, doch nach morgen würde es kein Zurück mehr geben. Dabei war Leonie erst neun.

»Ich bin auch aufgeregt«, sagte Elle sanft und griff nach Leonies Hand.

»Ich auch«, sagte Niamh und sah ihre Schwester auffordernd an.

»Irgendwie schon«, stimmte auch Ciara widerwillig zu.

Helena holte eine der Kerzen und stellte sie in die Mitte des fleckigen, alten Teppichs. »Los, bildet einen Kreis«, sagte sie. »Wir üben den Eid.«

»Muss das sein?«, ächzte Ciara, doch Helena brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Sie ließ sich von den Zwillingen nicht einschüchtern, auch wenn die Ältesten nicht müde wurden, sie und ihre Fähigkeiten zu loben.

»Wenn wir ihn auswendig kennen, müssen wir keine Angst haben, oder?«

Niamh wusste, dass es Leonie helfen würde, und wies ihre Schwester zurecht. Die Mädchen stellten sich im Kreis um die Kerze und hielten sich an den Händen. Schwer zu sagen, wie viel davon ihrer Fantasie geschuldet war, doch später sollten alle fünf schwören, dass ein Energiestoß durch ihren menschlichen Kreis strömte und ihre verborgenen Kräfte teilte und verstärkte.

»Alle zusammen«, sagte Helena, und sie begannen:

Der Mutter schwöre ich

Der heiligen Schwesternschaft die Treue zu halten

Ihre Kraft will ich führen

Das Geheimnis wollen wir wahren

Die Erde wollen wir schützen

Der Feind einer Schwester ist auch meiner

Die Gabe ist göttlich

Unser Bund immerwährend

Kein Mann soll uns entzweien

Der Zirkel ist Hoheit

Bis zu meinem letzten Atemzug.

Sie kannten jedes einzelne Wort.

 

Am folgenden Abend durften sie zum ersten Mal ihre mitternachtsschwarzen Samtumhänge anlegen. Sie rochen ganz neu, nach dem Plastik, in dem sie geliefert worden waren. Sie waren zu lang (»ihr werdet schon noch hineinwachsen«), also hielten sie sie hoch, damit der Saum nicht im Gestrüpp hängen blieb, während sie Pendle Hill hinaufstiegen.

Die Prozession schlängelte sich den Hügel hinauf ins Herz des Waldes, der das Tal wie ein dichtes Fell bedeckte. Jede von ihnen trug eine Laterne in der Hand, doch bei Nacht war dieser unwegsame Pfad trotzdem ein richtiger Knöchelkiller. Endlich gaben die dunkelgrauen Schemen der Bäume den Blick auf eine vom Mondlicht beschienene Lichtung frei, in deren Mitte ein flacher Felsen lag. Eine Kraft umgab diesen Ort – das hätte auch der unempfänglichste Mensch gespürt.

Den Mädchen war es unheimlich, inmitten der Ältesten zu stehen. Einhundert Frauen, die Gesichter halb unter den Kapuzen verborgen. Noch unheimlicher war, wie jede Einzelne, eine nach der anderen, an die steinerne Tafel trat und ihr Opfer brachte. Mit einer silbernen Klinge stachen sie sich in den Finger und ließen einen winzigen Tropfen Blut in den Eibenholzkessel fallen. Julia Collins, deren würdevolles Gesicht unter ihrer Kapuze hervorlugte, rief die Mädchen nacheinander auf. Sie tranken aus dem Kelch, und als ihre Augen schwarz wurden, tunkte sie den Finger in die Schale aus Eibenholz und zeichnete ihnen das Mal des Pentagramms auf die junge Stirn.

Und als um eins aus dem Dorf in der Ferne der einsame Uhrenschlag erklang, waren sie keine Mädchen mehr und zu Hexen geworden.

___________________ ZIR.UK ___________________

Der Hexenzirkel Ihrer Majestät

 

 

Hallo und danke für Ihr Interesse am Hexenzirkel Ihrer Majestät. Dies ist unsere offizielle Webseite im Darker WebTM.

 

Mein Name ist Helena Vance, Hohepriesterin des HIM. Es ist mir eine große Ehre, Großbritanniens größtem Zirkel vorzustehen, der als Einziger der globalen Ein-Zirkel-AllianzTM angeschlossen ist.

 

Mit Ihrem Beitritt zum HIM können Sie Teil eines ruhmreichen Hexenerbes werden, das bis zu unserer Gründerschwester Anne Boleyn zurückreicht. Wir dienen Gaia, indem wir uns um den Planeten, unser Land, Ihre Majestät der Königin und die Menschen verdient machen. Wir arbeiten im Team, um die Regierung Großbritanniens in der Handhabung von übernormalen Ereignissen und Vorfällen zu unterstützen, die Tradition der Hexerei in Großbritannien fortzuführen und unser Erbe zu bewahren.

 

Der HIM bietet Frauen und Mädchen einen Ort, an dem sie ihr volles Potenzial entfalten und ihre Kräfte weiterentwickeln können. Außerdem erfahren sie hier den Schutz und die Schwesternschaft, die nur ein offizieller Zirkel bieten kann.

 

Klicken Sie hier, um sich zu bewerben. Bewerberinnen unter 16 Jahren benötigen die Zustimmung eines Erziehungsberechtigten.

 

Helena Vance

Hohepriesterin

Kapitel eins

Höhere Wissenschaften

Niamh

In ihren Träumen war Conrad noch am Leben.

Es waren banale, kleine Alltagsausschnitte: Sie hatte den Duft des Abendessens in der Nase, das er gekocht hatte, und spülte das Geschirr, als er an sie herantrat und ihr die Arme um die Taille schlang. Sie spürte seine Lippen in ihrem Nacken, im Hintergrund lief leise The Archers im Fernsehen. Vollkommen unerwartete Fragmente waren plötzlich wieder da: die sonntagmorgendlichen Toastkrümel im Bett, die sie abends heimsuchten. Wie sie sich über ihn lehnte, um während des Landeanflugs aus dem Flugzeugfenster auf Dublin zu blicken. Spaziergänge mit dem Hund in den Hardcastle Crags an trägen Samstagnachmittagen – dieser Duft nach feuchter Erde und Bärlauch.

Manchmal träumte sie einfach nur davon, ihm beim Atmen zuzuhören. Wie ein Narkoleptiker war er immer sofort eingeschlafen, sobald sein Kopf das Kissen berührte, und Niamh, die bestenfalls unruhig schlief, hatte sich deshalb oft auf das friedliche Ein- und Ausströmen seines Atems konzentriert, um ihr rastloses Hirn zum Schweigen zu bringen.

Noch nicht ganz wach, streckte sie jetzt den Arm nach ihm aus, doch sie fand nur die kalte Seite des Bettes.

Als würde sie mit dem Daumen auf einen Bluterguss drücken, jedes Mal aufs Neue.

Warum bin ich wach?

Ihr Handy. Ihr Handy klingelte. Jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie Bereitschaft hatte. Mist.

Sie warf die Bettdecke zurück und schob sich eine verfilzte Strähne ihres rotbraunen Haares aus dem Gesicht. Ihr Handy vibrierte auf dem Nachttisch, auf dem Display stand BARKER FARM. Es war 00:53 Uhr. Immer noch Hexenstunde, dachte sie. Eine weitverbreitete Fehlannahme – jede Stunde eignete sich hervorragend fürs Hexen.

Niamh räusperte sich. Sie fand es unprofessionell, mit verschlafener Stimme ans Telefon zu gehen, wenn sie Bereitschaft hatte, obwohl nur selten jemand so spät anrief.

»Hallo? Mrs Barker?«

»Oh, hallo, Dr. Kelly«, sagte Joan mit ihrer besten Telefonistinnenstimme. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt?«

»Nein, nein«, log Niamh. »Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Es ist Pepper …« Mehr musste sie nicht sagen. Das Pferd war alt. Alt und müde.

»Ich bin in zehn Minuten da«, sagte Niamh.

Sie schlüpfte in die erstbesten Klamotten, die über einer Stuhllehne hingen, und band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz. Tiger rührte sich nicht in seinem Korb, als sie auf Zehenspitzen durch die Küche tapste, er ließ nur ein nasales Äff verlauten, offensichtlich verärgert darüber, geweckt worden zu sein. Der Border Terrier war daran gewöhnt, dass sie zu nachtschlafender Zeit kam und ging.

Für Ende März war es kalt, kein Frost mehr, aber fast. Schade, Niamh hatte schon gehofft, den Winter für dieses Jahr abhaken zu können. Sie wickelte sich einen Schal – ein Geschenk einer Kundin – um den Hals und ging auf ihren Land Rover zu. Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen und betrachtete sich im Rückspiegel. Kurz presste sie sich die Daumen auf die Augen, um nicht ganz so verschlafen auszusehen, allerdings mit wenig Erfolg.

Bis zur Farm der Barkers war es nur eine kurze Fahrt, sie wohnten auf der anderen Seite von Hebden Bridge. Niamh hätte den Weg im Schlaf gefunden, doch sie schaltete trotzdem lieber das Radio an und drehte die Lautstärke auf, nur für den Fall. Die Straße vom Dorf Heptonstall nach Hebden Bridge ganz unten im Tal war gewunden und gefährlich steil, außerdem rutschig vom Regen. Sie fuhr vorsichtig und mit weit geöffneten Fenstern, um endgültig wach zu werden.

In den Straßen von Hebden Bridge, gewöhnlich so belebt, herrschte nahezu gespenstische Stille. Die Pubs, Bars und Restaurants hatten schon vor Stunden die letzte Kundschaft rausgeworfen, und die Market Street lag im Dunkeln. Niamh fuhr weiter, bis die Cottages und alten Fabrikgebäude verschwanden und sich vor ihr das in Dunkelheit liegende Cragg Vale auftat. Das Farmhaus war meilenweit das einzige Licht am Horizont.

Das Tor stand offen, und Niamh fuhr den Land Rover die unebene Schotterstraße hinunter bis zur Reitschule. Joan Barker wartete auf sie, eine Wachsjacke über dem Flanellschlafanzug und die schottengemusterten Hosenbeine in Gummistiefel gesteckt. Niamh drehte den Zündschlüssel und stieg aus dem Auto, wobei sie ihre Tasche vom Beifahrersitz hievte. »Wie geht es ihr, Joan?«

»Oh, Dr. Kelly, gar nicht gut.«

Eine vertraute Vorahnung in ihrer Magengrube. »Dann sehen wir doch mal nach, ja?«

Als sie den Stall betraten, musste Niamh keine geheimnisvollen Fähigkeiten anwenden, um zu erkennen, dass es um Pepper schlecht bestellt war. »Oje«, sagte sie und kniete sich neben die alte Clevelandstute, die im Stroh lag und nur flach atmete.

»Brauchen Sie irgendetwas, Doktor?«, fragte Joan.

Es war wohl besser, wenn Joan einen Moment aus dem Stall verschwand. Niamh käme garantiert in Erklärungsnot, wenn die Frau sah, was gleich passieren würde. »Ich habe alles, was ich für Pepper brauche, aber hätten Sie vielleicht einen schwarzen Kaffee für mich? Normalerweise bin ich keine Nachteule.«

»Natürlich. Gleich wieder da.« Joan machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zum Farmhaus. Es stimmte schon, was man über die Leute aus Yorkshire sagte: Sie würden alles für dich tun, und der Wasserkessel war niemals kalt.

Als die Luft rein war, legte Niamh ihre Hände auf Peppers Flanken. »Ach, mein armes, liebes Mädchen.«

Bei Tieren hörte sie nicht so sehr ganze Gedanken wie bei Menschen. Gedanken waren Wellen, genau wie Licht und Klang, und Niamh konnte sich in eine Frequenz einklinken, wenn ihr danach war. Tiere jedoch kommunizierten auf einer rein emotionalen Ebene. Niamh spürte Müdigkeit und unglaubliche Erschöpfung. Pepper hatte einfach genug. Es war so, wie in einen Spiegel zu blicken und es auf dem eigenen Gesicht zu erkennen.

Niamh war eine viel bessere Feinfühlerin als Heilerin. Sie konnte das Problem ausfindig machen, das rote Wüten im Körper eines Tieres erspüren, doch sie war nicht begabt genug, um es selbst ganz und gar zum Verschwinden zu bringen, wie eine begabtere Heilerin es konnte. Immerhin vermochte sie ein wenig von dem Schmerz zu absorbieren, es dem Tier ein wenig zu erleichtern.

Niamh sandte ihre Gedanken aus: Du hältst immer noch fest, nicht wahr? Lass einfach los, mein Mädchen, du kannst jetzt gehen. Ruh dich aus. Du hast das so gut gemacht, du warst so ein braves Mädchen.

Sie spürte eine letzte, trotzige Kraftanstrengung von Pepper und ein Zucken in ihren Hinterbeinen. Sie wieherte leise. Niamh verstand. Pepper wollte Joan nicht enttäuschen.

Aber das tust du doch nicht. Sie liebt dich und will nicht, dass du leidest. Lass es zu, lass dich mitnehmen, altes Mädchen. Hier gibt es nichts mehr zu tun, und Joan ist hart im Nehmen. Am Anfang wird es schwer sein für sie, aber am Ende bleibt nur Liebe zurück.

Und damit spürte sie Peppers wundersame Erleichterung. Als ob man ihr eine Erlaubnis gegeben hätte. »Ich kann dir helfen«, sagte Niamh laut. Sie langte in ihre Tasche und holte eine Ampulle Ewige Ruhe hervor, eine Tinktur aus Baldrian und geflecktem Schierling. Die Rezeptur hatte Annie ihr kurz nach ihrem Abschluss beigebracht. Pepper hatte Schmerzen, die sie mit der Tinktur lindern konnte. Es würde sein, wie bei eingeschalteter Heizung einzuschlafen. Sie schraubte den Deckel von dem kleinen, braunen Fläschchen. Weit aufmachen, wies sie Pepper an, und das Pferd gehorchte. Niamh ließ ein paar Tropfen auf ihre Zunge fallen. »So, mein Mädchen.« Sie legte ihren Kopf an Peppers und glaubte ihre Dankbarkeit fast zu hören, so groß war sie.

Joan kam mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand zurück. »Wie geht es ihr, Doktor?«

Niamh erhob sich und nahm ihr die Tasse ab. Das war das Schlimmste. »Sie stirbt, Mrs Barker. Es tut mir so leid. Das wird ihre letzte Nacht sein.«

Ihre Unterlippe zitterte. »Sie können gar nichts tun?«

»Ich habe es ihr ein wenig angenehmer gemacht, sie wird keine Schmerzen haben.« Niamh legte ihr einen Arm um die Schulter und führte sie in Peppers Box. »Wir sollten bei ihr bleiben, während sie einschläft. Sie weiß, dass wir da sind.«

Niamh und Mrs Barker knieten an Peppers Seite, während der Atem der Stute langsam abebbte.

Kapitel zwei

Der Stachel

Helena

Die Decke war löchriger als ein Sieb. In dem verfallenen Lagerhaus, ihrem Überwachungsstandort, war es furchtbar kalt, und Helena stand seit der Dämmerung auf einer verkrusteten Schicht Taubendreck. Sie beschwerte sich nicht. Nicht vor den anderen. Sie musste schließlich mit gutem Beispiel vorangehen.

In einer Organisation, die fast ausschließlich aus Frauen bestand, musste sie jedes noch so kleine Feuer der Unstimmigkeit im Keim ersticken, bevor es Rauchsignale an die Hexer aussandte, oder – noch schlimmer – an die Regierung. Also kein Geläster, kein Gezicke und vor allem kein Gejammer. Der Hexenzirkel Ihrer Majestät war stark, undurchdringlich und vereint.

Helena dachte immer wieder an Eva Kovacics Vortrag auf der CovCon 2018 zurück. Sie hatte unglaublich wortgewandt dargelegt, dass sich das Patriarchat vor allem vor einer Sache fürchte: der Verbündung von Frauen. Spaltungen unter ihnen würden die Maschinerie nur zusätzlich ölen. Helena hatte das zu ihrem persönlichen Mantra gemacht.

Sie hob das Fernglas an die Augen. Die Straße war ruhig, der Morgenverkehr klang langsam ab. Einzelne Vorbeieilende mit Kaffeebechern in den Händen passierten das rot verklinkerte Safehouse auf der anderen Straßenseite, doch sonst war nicht viel los. Helena wandte sich an Sandhya und unterdrückte – ihrem eigenen Credo folgend – ihre Verärgerung. »Haben wir irgendetwas?«

Sandhya legte die Finger an die Schläfen und sprach lautlos mit den Feinfühlerinnen, die draußen im Van saßen. »Bisher nicht, Ma’am.«

Sie spürte, wie etwas an ihrer Nase vorbeizischte, und trat einen Schritt zurück. Vogelscheiße landete etwa einen Zentimeter vor Helenas Pradaslippern. Die Tauben im Gebälk gurrten höhnisch. »Um Gaias willen«, fauchte sie und drehte sich zu Ella um, dem jungen Orakel ihres Teams. »Ella, hat sich die Information geändert?«

»Nein, Ma’am. Er wird heute kommen. Wir haben es gesehen.« Wie viele der jüngeren Orakel versteckte sie ihren kahlen Schädel nicht unter einer Perücke, sondern trug ihn mit Stolz. Alles schön und gut, aber wo blieb er dann?

»Habt ihr denn einen Zeitpunkt gesehen? Kann ich mir vielleicht kurz ein Croissant holen?«

»Ma’am«, unterbrach Sandhya sie. »Wir haben da vielleicht was. Jemand auf der Straße benutzt einen Glamour.«

Primitive Magie, dachte Helena. War er so tief gesunken? Wenn er sich die Mühe machte, seine Erscheinung zu ändern, bedeutete das aber auch, dass er von seiner Überwachung wusste. »Wissen wir, wer?« Sie sah wieder durch ihr Fernglas. Gegenüber der alten Schokoladenfabrik spielte sich ein ganz normaler Tag in Manchester ab. Helena sah eine Frau mit einem Kinderwagen, ein paar ältere Damen mit überquellenden Einkaufstaschen, einen Mann, den seine lachsfarbene Krawatte und der glänzende Anzug eindeutig als Immobilienmakler kennzeichneten, und ein paar chinesische Studierende, vermutlich auf dem Weg zur ersten Vorlesung des Tages. Die Manchester Metropolitan University lag nur ein paar Straßen entfernt.

»Wir arbeiten dran«, sagte Sandhya und berührte wieder ihre Schläfe. Helena wünschte, sie würde das lassen. Sie fand es furchtbar nervig, schließlich mussten sich Feinfühlerinnen nicht ständig im Gesicht herumstochern, um Nachrichten zu übermitteln. Ihre Assistentin machte das nur, um ihr zu signalisieren, dass sie arbeitete, doch stattdessen sah es aus, als hätte sie Kopfschmerzen.

Helena schaute wieder hinunter auf die Straße. Einer der Studierenden – ein junger Mann mit blondiertem Haar – ließ sich hinter die Gruppe zurückfallen und spielte auf seinem Handy herum. Er sah aus wie diese austauschbaren Typen aus den K-Pop-Bands, auf die ihre Tochter so stand. Gehörte er zu der Gruppe? Oder versuchte er, in der Menge zu verschwinden?

Der Junge schlenderte gemächlich weiter, dann sah er an dem unauffälligen Townhouse hoch, das sie bewachten. Einen Moment später blickte er über seine Schulter und dann wieder zurück zu dem Safehouse. Er gehörte nicht zu den anderen.

»Das ist er«, sagte Helena und warf das Fernglas einer ihrer Assistentinnen zu. Manchmal musste man gar keine Hellseherin sein, sondern nur aufmerksam. »Der Typ mit den blondierten Haaren. Bereit machen und die gesamte Straße verhüllen.«

Helena krümmte die Finger, stieß die Luft im Raum vor und sprengte damit die letzten verbliebenen Glasscherben aus den skelettartigen Fensterrahmen. Sie formte sich ein Luftkissen unter den Füßen und ließ sich davon hoch- und aus dem Fenster tragen. Sie würde Travis Smythe nicht noch einmal entkommen lassen. Sie hatte lange auf diese kleine Abrechnung gewartet.

Ihr Herz raste, fast schon schwindelerregend schnell.

Nein. Sie durfte sich jetzt nicht von persönlichen Rachegelüsten leiten lassen. Das war unprofessionell.

Während sie mit wehendem Mantel auf die Straße zuflog, sah sie, wie ihr Team aus dem falschen DPD-Van sprang und auf das Ziel zulief. Sie hatte recht gehabt. Sobald Smythe sah, was passierte, ließ er den Glamourzauber fahren und nahm wieder sein gewöhnliches Äußeres an: geschmeidige und schlaksige Gestalt, Locs, die ihm fast bis zur Taille reichten.

Das Abfangkommando, das aus drei ihrer Hexen bestand, war fast bei ihm, doch mit einer flinken Bewegung aus dem Handgelenk schleuderte er ihnen ein geparktes Auto entgegen. Es überschlug sich in der Luft und wirbelte auf sie zu. Seit dem Krieg war er mächtiger geworden. Glücklicherweise waren Jen Yamatos Telekinesekräfte noch mächtiger, und sie fing das Fahrzeug mithilfe ihrer Gedanken mitten in der Luft ab, bevor es die drei Frauen treffen konnte. Sie hielt das Auto, einen Fiesta, knapp über dem Boden, und ermöglichte es Robyn und Clare so, sich zu ducken und darunter hindurchzurollen. Smythe nutzte abermals seine Kräfte, um Clare von den Füßen zu reißen und sie gegen die Stufen des Safehouse zu schmettern. Mit einem Schmerzensschrei traf sie auf.

Hinter ihm, ein Stück weiter die Straße hinunter, landete Helena leichtfüßig. Einige Personen gingen gelassen an ihr vorbei, vollkommen blind für die Geschehnisse. Sandhyas Verhüllungszauber schien also zu wirken. Sie waren nicht wirklich unsichtbar, aber Profane konnten sie nicht sehen. Sandhya, hoch über ihnen, pflanzte ihnen eine simple Anweisung ein, wieder und immer wieder: Hier gibt es nichts zu sehen. »Gib auf, Smythe!«, rief Helena gebieterisch. »Wir haben dich umzingelt. Du bist geliefert.«

Gleichzeitig beschwor sie so viel Wind herbei, wie sie nur konnte. Bald fegte ein eisiger Luftstrom die Bombay Street hinunter. »Fick dich, Vance!« Smythe schrie gegen den Wind an und stolperte rückwärts.

»Warum bist du hierhergekommen? Direkt in unser Gebiet?« Helena manipulierte gekonnt die Luft, die sie umgab, und lud die Ionen auf. Ein Unwetter brodelte an ihren Fingerspitzen.

Smythe entriss Jen das Auto und schleuderte es in einem großen Bogen auf Helena. Sie entlud ihren Blitz, und einhundert Millionen Volt zuckten aus ihren Händen und schlugen in den traurigen kleinen Fiesta ein. Er explodierte direkt über ihr, doch sie spürte nichts. Sie kühlte die Luft, die sie umgab, auf Frosttemperatur herunter und hüllte sich so in einen schützenden Kokon. Unbeeindruckt schritt sie durch das Feuer und sah, wie Smythe zusammenzuckte. Auch sie war seit dem Krieg mächtiger geworden.

Er versuchte zu fliehen, doch Robyn hielt ihn auf. »Bleib, wo du bist«, sagte sie ruhig, worauf er wie angewurzelt stehen blieb, als klebten seine Füße plötzlich am Asphalt fest. Sie war eine Feinfühlerin der Stufe 4, und er war nur ein Mann.

»Raus aus meinem Kopf, Fotze«, schnarrte Smythe.

»Ich mag dieses Wort nicht«, sagte Helena und trat an seine Seite. Sie lud erneut die Luft um sie herum auf, nur für den Fall. Robyn konnte einen anderen Feinfühler nicht lange festhalten, selbst wenn es ein männlicher war. »Warum bist du zurückgekommen, Travis? Du hättest dich doch für den Rest deines jämmerlichen Lebens in Italien verkriechen können.« Bologna hatte mittlerweile den Ruf einer wahren Brutstätte für Widerständige erlangt, die Stadt war zu einem Zentrum für die wachsende Unzufriedenheit geworden, die sich in ganz Europa ausbreitete.

Etwa alle zehn Jahre hatte eine Hexe oder – was wahrscheinlicher war – ein Hexer die glorreiche Idee, sich gegen die Unterdrückung durch die MEF aufzulehnen, als hätte das noch niemand zuvor versucht. Helena hielt in ihren Gedanken inne. Durfte man Profane noch MEF nennen? Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten. Snow hatte ihr mal gesagt, dass dieses Akronym überhaupt nicht mehr politisch korrekt sei. Profane hatten schließlich viele Fähigkeiten, sie waren nur einfach nicht besonders interessant.

Dem Zirkel waren einige schwelende Inseln in Osteuropa und Russland bekannt, wo der Unmut immer größer wurde, aber niemand hatte es besonders eilig, Dabney Hales Bürgerkrieg zu wiederholen. Und jetzt hatte sie Hales gefährlichsten Komplizen in Gewahrsam. Das sollte allen eine Warnung sein, die versucht waren, das Boot ein wenig zum Schaukeln zu bringen. Smythe hatte so viel Hexenblut an den Händen. Für das, was er getan hatte, verdiente er die Orgelpfeifen.

»Ich warte«, zischte Helena, und blaue Blitze knisterten zwischen ihren Fingern.

»Du weißt, warum ich hier bin …«

Sie warf einen Blick auf das Safehouse. »Wegen ihr?«

»Wegen ihr.«

Helena lachte. Sie konnte nicht anders. »Glaubst du im Ernst, sie hätte dasselbe getan?«

Smythes bernsteinfarbenen Augen funkelten, Hass brannte darin. Er wollte etwas erwidern, doch da griff Helena in ihre Manteltasche und blies ihm ein wenig Sandmann ins Gesicht. Sie wollte ohnehin nichts von dem hören, was er womöglich zu sagen hatte. Er atmete das rosa Pulver ein, und nur eine Sekunde später verdrehten sich seine Augen nach innen. Robyn ließ ihn los, und er sackte auf dem Boden zusammen.

Insgeheim war Helena ziemlich beeindruckt von ihrer eigenen Zurückhaltung. Für das, was er getan hatte, hätte er den Flammentod verdient. Hale hatte die Befehle gegeben, doch Smythe – und andere – hatten sie willentlich ausgeführt.

Stattdessen sah Helena nach der armen Clare, die es ziemlich schwer getroffen hatte. Doch ihre Kollegin erhob sich selbst aus dem Rinnstein, offensichtlich hatte ihre Würde mehr Schaden genommen als ihr Körper. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es Clare gut ging, erteilte Helena ihrem Team ein paar Anweisungen: »Sichert den Gefangenen, beordert das Aufräumkommando hierher und macht ausfindig, wen wir für das Fahrzeug entschädigen müssen.« Sie nickte in Richtung des Townhouse. »Ich werde mal nach Dornröschen sehen, und dann muss ich wohl doch einmal nach Hebden Bridge …«

Mit einem Fingerschnipsen hob Jen Smythes Körper hoch, der schlaff wie ein Fisch war, und ließ ihn zum Van hinübergleiten. Helena schirmte ihr Gesicht vor dem dichten Rauch ab, der noch immer vom Autowrack aufstieg. Dann hielt sie beide Hände über das Feuer, und einen Moment später war es erloschen.

Travis Smythe in Ketten, noch vor zehn Uhr morgens. In jeder anderen Woche wäre dies ein Anlass für eine ausgiebige Party gewesen, doch heute war diese Ratte das geringste ihrer Probleme.

Als Hohepriesterin hatte sie noch nie einem Problem gegenübergestanden, das sie nicht lösen konnte. Sie verglich ihre Tätigkeit gern mit der einer Jongleurin, die jede Menge sich drehende Teller in der Luft hielt. Bisher hatte sie jahrelang Hunderte davon vom Fallen abgehalten, doch das hier war etwas Neues und Beunruhigendes. Es war unerträglich, doch sosehr sie es auch verabscheute, es zugeben zu müssen, sie brauchte Hilfe. Sie brauchte Niamh.

Kapitel drei

Der andere Zirkel

Leonie

Zeit zum Aufstehen, meine Liebe.

Chinaras Worte fanden ihren Weg bis in Leonies tiefsten Schlaf. Dabei hatte sie so wundervoll geträumt: Mädelsurlaub auf Jamaica mit Rihanna. Acht Stunden vollkommene Zufriedenheit, doch beim Aufwachen glitt sie ihr durch die Finger. Fort, Staub im trockenen Wind. Wie frustrierend.

Ächzend kam Leonie zu sich, streckte sich quer auf dem großen Bett aus und ließ widerwillig den Morgen zu. Herrlich weißes Licht fiel durch die Jalousien, der Tag versprach Frühling. Momentan probierten sie dieses Minimalismus-Ding aus: weiße Bettwäsche, nackte, weiße Böden, weiße Orchideen, alles weiß. Es gestaltete sich als schwierig, alles so schön sauber und ordentlich zu halten.

Chinara kniete sich auf die Bettdecke und beugte sich für einen Kuss herunter. »Aufwachen, Schlafmütze.«

»Wie spät ist es?«

»Spät. Ich war schon im Fitnessstudio.«

»Natürlich.« Leonie setzte sich auf, zog sich die Schlafhaube vom Kopf und befreite ihre Haare. So betrunken konnte sie also auch nicht gewesen sein, wenn sie vor dem Schlafengehen noch daran gedacht hatte, sie aufzusetzen. Sie sah auf die Uhr, es war erst halb zehn. Spät? Waren Hexen nicht angeblich nachtaktiv? Ihre Zunge fühlte sich an wie ein Teppich.

»Schönen Abend gehabt?«, fragte Chinara und wand sich mühelos aus ihrem Sport-BH – ein Kunststück, das Leonie nie gelang. Der Körper ihrer Freundin war durchtrainiert und stramm wie eine Trommel. Winzige Schweißperlen glitzerten auf ihrer Haut. Irgendetwas in ihrem Bauch fauchte, und Leonie konnte wirklich nicht sagen, ob sie geil war, Hunger hatte oder ob ihr schlecht wurde.

»Dragqueen-Bingo und dann Tequilashots in Brixton.« Mehr Erklärungen hielt sie nicht für notwendig. Der Brummschädel konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Chinara glaubte an Grünkohlsmoothies und Paleo, sie gehörte der »Mein Körper ist ein Tempel«-Lehre an und trank nur selten Alkohol, fand es aber nicht (besonders) schlimm, dass Leonie trank.

»Kaffee, Babe?«

»Ja.« Dann fiel ihr wieder die Verabredung ein. »Oh, nein, warte. Ich treffe mich mit meinem Bruder. Mist. In einer Stunde. Fuck.«

Chinara runzelte die Stirn. »Radley ist in London?«

Leonie versuchte, den Nebel aus ihrem Gehirn zu vertreiben. Alkohol trübte ihre Gabe gewaltig, sie sollte ihren Konsum vielleicht doch etwas einschränken. »Ja. Irgendein langweiliger Hexer-Scheiß. Babe? Meinst du, du könntest die Dusche zu mir bringen?« Das sollte ein Witz sein, doch sie zweifelte nicht daran, dass Chinara das Wasser vom Bad ins Schlafzimmer leiten konnte – vorausgesetzt, sie hatte Lust dazu.

Mit einer sanften Handbewegung manipulierte Chinara die Luft um Leonies Körper, sodass sie einfach von der Matratze schwebte. »So, du bist raus aus dem Bett. Besser?«

Leonie lachte. Sie fühlte sich vollkommen sicher in ihrem Griff. »Das ist geschummelt.«

Leicht wie eine Feder ließ Chinara sie durch das Zimmer und in ihre Arme schweben. Sie küssten sich zärtlich, obwohl Leonie sich lieber nicht vorstellen wollte, wie ihr Atem roch – wahrscheinlich wie ein vollgeschissenes Katzenklo. Ach ja, die Katze brauchte ihre verdammten Wurmkurtabletten. Sie musste dringend eine neue Assistentin einstellen. Die letzte war »auf Reisen« gegangen, die egoistische Ziege.

»Beweg deinen heißen Arsch unter die Dusche.« Chinara gab ihr einen Klaps auf den Hintern. Leonie schlurfte aus dem Zimmer, als ihre Freundin ihr hinterherrief: »Ach, Lee – du solltest vielleicht mal in den Diaspora-Gruppenchat schauen.«

Leonie steckte den Kopf wieder durch den Türrahmen. »Warum?«

»Bri sagt, beim HIM geht irgendetwas vor sich.«

Bris Visionen waren stets makellos. Unpräzise Andeutungen konnte Leonies Kater, ein fieser kleiner Schlafparalysekobold, der auf ihrem Hirn hockte, jetzt gar nicht gebrauchen. »Was denn?«

Chinara schüttelte den Kopf. »Irgendetwas Großes.«

HIM kann mich mal.

Chinara kicherte, denn sie hatte sie laut und deutlich gehört.

 

Sabrina – Bri – war nicht besonders auskunftsfreudig. Leonie schrieb ihr aus dem 68er eine Nachricht, während sie sich die Nase zuhielt, weil einer ihrer Mitfahrenden offensichtlich keine Dusche besaß. Vielleicht war es auch der Bus selbst, der wie ein Mülleimer stank. Bei den Londoner Bussen konnte man sich da nie ganz sicher sein. Sie drehte sich im Schoß eine Zigarette und wünschte mit aller Kraft, der Verkehr würde nicht ganz so zäh dahinfließen.

Bri, so stellte sich heraus, hatte gespürt, dass die Orakel beim HIM in Manchester mal wieder vollkommen von der Rolle waren. Das war nichts Neues. Deshalb fand Leonie es so angenehm, mit nur einem Orakel direkt hier in London zu arbeiten. Die Mädels beim HIM machten sich nur gegenseitig kirre und fingen bei jeder Kleinigkeit an zu gackern wie aufgeschreckte Legehennen. Alle paar Wochen gab es eine neue Prophezeiung. Leonie war durchaus ihrer Meinung – die Welt war am Arsch –, doch für diese Erkenntnis brauchte man keine zwanzig Orakel, Zuckerpuppe.

Radley stand bereits vor dem Brockwell Lido, als ihr Bus hielt. Die Freibadsaison hatte gerade erst begonnen, und ein paar tapfere Schwimmerinnen hatten sich ins Wasser gewagt. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagte sie und rannte zumindest die letzten paar Meter auf ihn zu.

»Schon okay«, sagte er und lächelte fast. »Ich bestelle dich immer fünfzehn Minuten früher her.«

»Komm her, Schattenspender«, sagte Leonie und umarmte ihren jüngeren Bruder, der sie um einiges überragte. »Radley … wirst du etwa grau?« Sie stocherte mit ihrem Finger in seinem ordentlich gestutzten Bart herum, der von vereinzelten, drahtigen Silberfäden durchzogen war.

Er schlug ihre Hand weg. »Danke für den Hinweis. Ich freu mich auch, dich zu sehen.«

Sie lachte und steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen. Gott, er war so spießig, so steif, als hätte er vor dem Anziehen das Stück Pappe nicht aus seinem Hemd genommen. Kaum zu glauben, dass sie beide aus demselben Genpool gestiegen waren. »Na los, ich brauche einen Kaffee. Sonst bin ich die verkaterte Tussi, die morgens schon über dem Mülleimer hängt.«

Sie schlenderten durch den Park – der von Glockenblumen übersät war, was für ein schöner Zufall – zum Brockwell Hall Café, holten sich einen Kaffee und gingen damit zum Teich, um die Enten zu füttern. Eine Tüte Vogelfutter für 50 Pence, Schnäppchen.

Sie sprachen über Belanglosigkeiten ihrer profanen Familie: Tante Louisa hatte sich endlich wieder ganz erholt, was gut war (obwohl sie ihre Mutter wie einen Fußabtreter behandelte), und ihr Cousin Nick musste wohl wegen Versicherungsbetrugs ins Gefängnis. Hoch spannende Geschichten. Die Familie ihrer Mutter stammte aus Barbados, und sie hatte vier Geschwister, also gab es immer genug Gesprächsstoff. Und so wurden sie regelmäßig mit Neuigkeiten versorgt, natürlich immer von ihrer Mutter, die zufrieden in ihrer Wohnung in Leeds hockte. In Chapel Allerton – dem »Notting Hill des Nordens«, wenn man den Immobilienmaklern glauben wollte – reihten sich süße Cafés und Bioläden aneinander, kein Vergleich zu der Gegend, in der sie aufgewachsen waren.

Beide Jackman-Kinder hatten ihre Arbeitsmoral von der Mutter geerbt. Um dieser Siedlung zu entkommen, hatte diese Büros geputzt, Näharbeit angenommen und auf Kinder aufgepasst, bis sie endlich einen anständigen Verwaltungsjob in der Yorkshire Bank bekommen hatte. Dort arbeitete sie noch heute und wartete darauf, in den Ruhestand versetzt oder verzichtbar zu werden, je nachdem, was zuerst kam.

Esther Jackman tat nicht so, als würde sie den Lifestyle – wie sie es nannte – ihrer Kinder verstehen, doch sie fragte immer nach ihren jeweiligen Zirkeln.

Keiner der beiden erwähnte ihren Vater. Warum auch? Er war kaum mehr als eine blasse Erinnerung. Mit etwas Glück hätte Leonie ihm vielleicht eine Fußnote in ihren Memoiren gewidmet.

Leonie beobachtete eine Stockente, die mit weiß aufblitzendem Hinterteil auf den Grund des Teichs tauchte, und lachte laut auf. Sie musste wirklich ziemlich verkatert sein. Vanillefarbene Sonnenstrahlen fielen durch die Blätter und verliehen dem Wasser die Farbe von Erbsenpüree. Leonie und Rad setzten sich nebeneinander auf eine Bank, und einen Moment lang herrschte angenehmes Schweigen, während er seine E-Mails las. »Sorry«, sagte er. »Arbeitskram.«

Leonie entschied, anzubeißen. »Dann erzähl mal. Wie läuft’s bei der Kabale?«

»Offiziell sind alle Angelegenheiten geheim, aber inoffiziell läuft es sehr gut, danke der Nachfrage.«

Leonie schnitt eine Grimasse. »Meine Güte, bist du jetzt den Torys beigetreten?«

»Ganz im Gegenteil, die Hexer-Kabale handelt selbstverständlich nicht im Interesse einer einzelnen Partei.«

»Ach, mach dich mal locker!«, sagte Leonie lachend. »Du sitzt hier nur deiner Schwester gegenüber. Und ich bin ganz bestimmt nicht verkabelt.«

Irgendwie brachte er es fertig, sich noch gerader hinzusetzen. »Kannst du mir denn einfach so von deinem kleinen Zirkel berichten?«

Warum konnte er nicht einfach mal nur ihr Bruder sein? Nahm er sich denn nie einen Tag frei? »Na klar! Ich erzähle dir alles, was du wissen willst! Weißt du, genau darum haben die Leute keinen Bock mehr auf dich und deinen Scheiß, Rad. Auf dich und auf HIM. Immer muss alles so verdammt mysteriös sein. Was soll das? Und außerdem, liebstes Bruderherz, würde ich es sehr begrüßen, wenn du mein Lebenswerk nicht als kleinen Zirkel abtun würdest. Misogynoir. Schlag das mal nach.«

Er grinste verschlagen. »Na, da hab ich aber einen Nerv getroffen.«

Sie nahm sich einen Moment Zeit zum Schmollen. Ein Zirkel sollte eine Gemeinschaft sein, kein hochnäsiger Elitenverein. Es gab überhaupt keinen Grund für diesen ganzen geheimnisumwaberten Schnickschnack.

»Tut mir leid«, lenkte Rad ein. »Was du mit Diaspora angestellt hast, ist wirklich beeindruckend. Das denken alle.«

»Ist mir wohl bewusst.« Leonie ersetzte ihre Schnute durch ein verschmitztes Lächeln. »Du könntest beitreten, weißt du? Anders als andere Organisationen, die ich jetzt nicht nennen werde, sind wir vollkommen inklusiv und nehmen sowohl Hexen als auch Hexer of Color auf.«

»Leonie …«

Sie drehte sich zu ihrem Bruder um, sodass sich ihre Knie berührten. Sie meinte es ernst. Ehe sie für ihre Ausbildung an unterschiedliche Häuser geschickt worden waren, waren sie unzertrennlich gewesen. Als Kind war er eine richtige Klette gewesen. Vielleicht lag es daran, dass ihr Vater einfach verschwunden war, oder dass es in der Belle-Isle-Siedlung damals nicht viele andere Kinder unterschiedlicher Herkunft gegeben hatte, aber sie standen sich näher als die meisten Geschwister. Leonie hatte einmal einen Stein nach Gavin Lee geworfen, weil er Radley eine Schwuchtel genannt hatte. Gavin musste mit drei Stichen am Kopf genäht werden, und später war es dann doch Leonie, die queer war. »Nein, im Ernst! Das wäre so cool. Ich wäre, na ja, das Gesicht der Revolution, und du könntest den langweiligen Papierkram erledigen, die Meetings und den ganzen Scheiß. Wir wären voll das krasse Team!«

Dieses Mal lachte er richtig. »So verlockend das auch klingt, ich habe die Kabale endlich wieder auf Kurs gebracht. Darauf kann man jetzt endlich wieder stolz sein.« In seiner Stimme klang unheimlich viel Scham mit. Dabney Hale hatte die Kabale unter dem Tarnmantel des Hohepriesters als trojanisches Pferd für seinen Aufstand benutzt. Nach dem Krieg hatte Helena die gesamte Organisation eigentlich auflösen wollen.

Es war nicht deine Schuld, Rad.

»Ich weiß.« Sofort schirmte er seine Gedanken vor ihr ab, indem er seinen Kopf mit Erinnerungen an ihren Vater füllte. Eine niederträchtige, richtig miese Nummer.

»Radley …«

»Bitte bleib aus meinem Kopf raus, das ist nicht fair.« Ihr Bruder war ein Heiler der Stufe 2, doch seine eigentliche Stärke war seine Überkorrektheit und endlose Geduld – beides Merkmale, die sie so was von gar nicht besaß. Er senkte den Blick wieder auf sein Handy und ignorierte die Blüten und Enten und Bienen. »Aber im Ernst, ich will die Kabale nicht verlassen. Und über etwas Anerkennung würde ich mich sehr freuen, Leonie. Erstes Schwarzes Oberhaupt. Und das jüngste aller Zeiten …«

»Ich bin stolz«, sagte Leonie leise. Und das stimmte auch. Auf ihn und auf sich selbst. Sie hatten sich ganz gut geschlagen, wenn man bedachte, welche Erfahrungen sie in ihrer Kindheit in Leeds geprägt hatten – als Kinder einer mixed-race Familie, die letztendlich zerbrochen war. Leonie zog ihre Tabakdose aus der Tasche. Ihre Lungen fühlten sich sumpfig an, Nachwirkungen des vergangenen Abends. Sie hatte sich dazu hinreißen lassen, eine Packung Marlboro zu kaufen. Am nächsten Tag merkte sie das immer.

»In der Kabale kann ich mehr bewirken als … das glaube ich jetzt nicht!«, brach er mitten im Satz ab und schreckte eine Gruppe Entenküken auf, die sich eilig watschelnd in Sicherheit brachten.

»Du hast die Enten erschreckt, du Arsch!«, schnappte Leonie. »Was ist denn? Du solltest das Teil da mal in den Flugmodus schalten. Du kriegst noch Fingerkrebs oder so etwas.«

»Einfach unglaublich!« Er knallte sein Handy auf die Bank. »Ich muss gehen.«

Ihr Interesse war geweckt. Ihr Bruder war für gewöhnlich schwer aus der Fassung zu bringen. Sie hatte es oft genug selbst probiert. »Was ist denn passiert?«

Er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass an seinem Hals eine Ader pulsierte. Klarer Kopfschmerz-Kandidat, dachte Leonie. Einen Moment lang glaubte sie, er würde sie nur wieder mit »das ist geheim« abspeisen, doch die Wut löste seine Zunge. »Diese verdammte Helena Vance ist passiert.«

»Oh, oh. Und jetzt?«

»Wir haben es gerade erst erfahren. Sie haben Travis Smythe festgenommen.«

Jetzt war Leonie ehrlich überrascht. Die letzten Spinnweben ihres Katers waren wie weggeblasen. War das der Ärger, den Bri gespürt hatte? Das war eine große Sache, vor allem für Helena. Leonie hatte die Flut in Somerset selbst erlebt, hatte die schlaffen Körper gesehen, die auf dem Wasser trieben. Sie hatte neben ihr gestanden, als Helena erkannte, dass eine dieser Leichen die von Stefan war. Ihren gepeinigten Schrei würde sie niemals vergessen. Ihr verzerrtes Gesicht. Wie sie sich zusammengekrümmt hatte, für den Rest ihres Lebens. »Oh, wow … Okay. Das ist gut, oder?«

Radley blähte die Nasenlöcher und stand auf. »Er hat seinen Eid gebrochen, den er der Hexer-Kabale geschworen hat. Wir waren für ihn zuständig.« Er hob das Handy an sein Ohr und sagte: »Ich muss nach Manchester. Das sollte mein Fall sein.«

Auch Leonie erhob sich. »Radley, warte. Das ist nicht wichtig. Überleg doch mal, er ist der letzte Verräter, der noch übrig war … es ist vorbei.«

Radley sprach in sein Handy. »Hier Jackman. Ich brauche dringend einen Teleport zurück ins Büro. Jetzt gleich, bitte. Danke.«

Leonie zupfte an seinem Ärmel. »Rad. Der Krieg ist vorbei.«

Er sah sie ernst an. »Aber der Kampf geht weiter.«

Und ehe er ein weiteres Wort sagen konnte, löste er sich in Staub auf, den der Wind davontrug. Leonie blieb allein mit den Enten zurück.

Kapitel vier

Unerwarteter Besuch

Niamh

Elle sah nervös aus, ihre Wangen waren rosa, und sie fächerte sich mit der Speisekarte Luft zu. Niamh, wie immer zehn Minuten zu spät, eilte durch die Tür ins Tea Cosy, entschuldigte sich und setzte sich an den Tisch.

»Schon okay«, erwiderte Elle. »Ich bin völlig fertig, dabei ist es noch nicht mal elf.« Sie sah an diesem Morgen nicht ganz so durchgestylt aus wie sonst und hatte ihre Haare zu einem für sie untypischen, unordentlichen Dutt hochgebunden.

Niamh fühlte sich ebenfalls nicht ganz wie sie selbst. Sie war erst gegen drei Uhr morgens von der Barker Farm nach Hause gekommen. Es war einer dieser umnebelten Morgen, die nur zäh dahinflossen und an denen man nie ganz sicher sein konnte, ob man wirklich wach war.

»Ich nehme auf jeden Fall das große English Breakfast, und niemand wird mich dafür verurteilen«, sagte Elle.

»Man gönnt sich ja sonst nichts.« Niamh überflog die Speisekarte, obwohl sie immer das Gleiche bestellte: Avocado auf Sauerteigbrot. Ziemlich basic, ja, aber sie hatte sich selbst davon überzeugt, dass sie sich damit etwas Gutes tat, weil es grün war.

Hebden Bridge hatte die »Foodie«-Kultur mit offenen Armen empfangen. Niamh selbst sträubte sich gegen dieses Label, aber die Snacks fand sie super. Zweimal die Woche gab es auf dem St. George’s Square einen bunten Markt, und schon allein für die Churros lohnte sich ein Besuch. Doch auch ohne Markt hatte der Platz einiges zu bieten, hier gab es genügend Lokale für jeden Tag der Woche: leicht abgeranzte Imbissbuden, von warmem Glühbirnenlicht erleuchtete Hipsterbäckereien und niedliche Cafés. Das an der Market Street gelegene Tea Cosy auf der anderen Seite der Brücke war Niamhs persönlicher Lieblingsladen: An den Wänden hingen gebatikte Wandbehänge und Regale voller zerfledderter Taschenbücher. In der Plattensammlung fanden sich Kate Bush, Fleetwood Mac und Blondie, und die Gerichte lagen irgendwo zwischen rustikal und fancy.

»Also, was ist los? Du hast es ja ganz schön spannend gemacht, Süße.« Elle hatte ihr am vergangenen Abend geschrieben und gefragt, ob sie Zeit für Brunch habe. Sie trafen sich alle paar Wochen – wenn das Leben ihnen nicht in die Quere kam –, doch dieses Mal spürte Niamh deutlich, dass ihre Freundin bedrückt war. Sie hatte ihren Kummer schon draußen auf der Straße erkannt, wie trübe Wellen war er ihr entgegengeschlagen.

Elle seufzte tief und nippte an ihrem Wasser. »Ich will dich nicht so überfallen«, sagte sie zurückhaltend. »Hol dir erst einmal einen Kaffee. Den wirst du brauchen.«

Niamh streckte die Hand über den Tisch und fasste Elles. »Worum geht’s denn, Süße?«

»Was ist das Schlimmste, was passieren könnte?«

Niamh rutschte das Herz in die Hose. »Dämonen?«, flüsterte sie.

Elle riss die blauen Augen auf. »O nein! Das nicht! Nein, es geht um Holly …«

Niamh rekalibrierte ihr inneres Katastrometer. »Ach so …« Die Kellnerin trat an ihren Tisch, und sie unterbrachen das Gespräch kurz, um ihre Bestellung aufzugeben. »Also …?«

Elle schüttelte niedergeschlagen den Kopf, und Niamh verstand. Dies war der Tag, vor dem Elle sich seit fünfzehn Jahren fürchtete. »Es ist passiert.«

Niamh musste nicht fragen, was. Sie lehnte sich näher zu Elle herüber und senkte die Stimme. Es war noch zu früh für die Touristensaison, das Café war fast vollständig mit jungen, heißen Mamis besetzt, die gerade vom Pilateskurs kamen, und sie waren alle profan, soweit Niamh das nach einem flüchtigen Rundumblick sagen konnte. »Na ja, wir wussten immer, dass das passieren könnte …« Tatsächlich bestand eine fünfzigprozentige Chance, wenn eine Hexe ein Baby mit einem Profanen zeugte.

»Ich weiß«, seufzte Elle. »Aber als bei Milo nichts passiert ist, dachte ich, bei Holly wäre auch nichts. Ich dachte, ich hätte das Schlimmste abgewendet.«

Niamh entschied, dass dies ausnahmsweise nicht der richtige Moment war, Elles Einstellung herauszufordern. Internalisierte Hexenphobie vom Feinsten. Niamh hielt ihr Erbe nicht für etwas Schlimmes, das man abwenden musste. Klar, das Leben war manchmal kompliziert … aber wenn es einen magischen Heiltrank gäbe, würde sie sich ganz bestimmt nicht gegen ihre Gabe entscheiden. »Woher weißt du es denn? Welche Kräfte hat sie?«

Der Kaffee kam, und schnell verstummten sie wieder. Was mochte die Kellnerin wohl denken, worüber sie sprachen? »Ich halte es für möglich, dass sie eine Feinfühlerin ist«, erwiderte Elle. »Manchmal weiß sie, was einer von uns denkt, wenn wir gar nichts gesagt haben und …« Sie brach ab.

»Und was?«

»Oh, Niamh, das ist so peinlich. Versprichst du, mich nicht zu verurteilen?«

Niamh lächelte. »Weder für deine Würstchen noch für sonst irgendetwas.«

»Sie …« Elle machte eine Pause. »Sie kann durch meinen Glamour sehen.«

Niamh sah sie verdutzt an. »Und was für ein Glamour soll das sein?«

Elle wich ihrem Blick aus. »Na ja, das Übliche … Nur ein paar Zauber, damit ich für Jez ein bisschen dünner aussehe … ein bisschen jünger … ein bisschen blonder …«

Niamhs Unterkiefer klappte herunter. »Elle Pearson!«

»Du hast versprochen, mich nicht zu verurteilen!«

»Ich habe gelogen! Hiermit verurteile ich dich! Das ist ein unglaublicher Missbrauch deiner Kräfte, und das weißt du ganz genau.«

»Ach, komm schon. Das machen doch alle.«

»Ich nicht.«

»Du siehst ja auch aus wie ein Supermodel.«

Niamh schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Wohl kaum!« Sie waren immer lauter geworden, und schnell senkten sie wieder ihre Stimmen. »Ich glaube einfach nicht, dass du deinen Ehemann verhext«, flüsterte Niamh. Sie war nicht gerade Jez Pearsons größter Fan, und das war noch untertrieben. Aber er war profan, und dass Elle ihre Kräfte auf ihn anwendete, ging gar nicht.

»Darum geht’s jetzt doch gar nicht«, sagte Elle. »Meine Tochter kann hindurchsehen.«

Niamh biss sich auf die Zunge. Es gab eine Menge, was sie ihrer Freundin gerne über ihren Ehemann gesagt hätte, aber jetzt war nicht der richtige Augenblick. Niamh spürte, wie angespannt Elle war. »Okay, fang ganz vorne an. Woran hast du es gemerkt?«

»Letztens habe ich nebenbei erwähnt, dass ich Größe M trage. Und sie sah an mir herunter und sagte dann: ›M? Mum, bitte!‹ Die kleine Göre. Sie hat natürlich recht, aber sie sollte das gar nicht sehen.«

Am liebsten hätte Niamh Elle an den Schultern gepackt und sie ordentlich durchgeschüttelt. Elle Pearson war hinreißend, ja, wirklich, und zwar so hinreißend, dass sie jederzeit als Flugbegleiterin um die Welt jetten oder im Fernsehen die Wetteransage übernehmen könnte. Wie konnte sie es wagen, so schlecht über sich selbst zu denken? »Wenn wir hier nicht in der Öffentlichkeit wären, würde ich dir ein wenig Verstand einprügeln, Pearson. Du bist in jeder Größe wunderschön, du Knallfrosch.« Elle sah nicht überzeugt aus. »Weiß Holly denn, was sie ist?«

»Nein«, sagte Elle, und das Gewicht der ganzen Welt schien sie in ihren Stuhl zu drücken. »Ich muss es ihr sagen, kurz und schmerzlos.«

»Ja, Elle, das musst du wirklich. Und zwar schnell. Es ist so gruselig, wenn man es nicht weiß.« Bei Mädchen, so lautete die Faustregel, zeigten sich die Kräfte normalerweise um die erste Periode herum – obwohl es bei ihr selbst viel früher angefangen hatte. Niamh hatte Holly schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, doch beim letzten Mal hatte sie geglaubt, die ersten Züge einer jungen Frau in ihr erkannt zu haben.

»Ich weiß, ich weiß. Deshalb wollte ich ja auch mit dir sprechen – wenn ich es jemandem erzähle, dann habe ich keine Ausrede mehr. Ich brauchte einfach einen Tritt in den Hintern. Ich mache es heute Abend«, sagte sie. »Na toll, jetzt habe ich auch keine Lust mehr auf mein Frühstück.«

Niamh liebte Elle Pearson, geborene Device, von ganzem Herzen. Von allen Frauen aus der alten Truppe war sie am leichtesten zu verstehen: Sie war eine einfache Frau, die sich einfache Dinge wünschte. Und die meisten davon hatte sie auch bekommen: einen gut aussehenden Ehemann, zwei kleine Engelchen, einen Teilzeitjob in der ambulanten Pflege. Tatsächlich hatte sie nie beim HIM gearbeitet, nur während des Krieges hatte sie kurz ausgeholfen. Im Prinzip war sie nur dem Namen nach eine Hexe. Aber was für ein Name: Frauen der Familie Device waren während der Hexenprozesse hingerichtet worden. Und dieses Erbe würde jetzt in Holly weiterleben.

Vielleicht war dieses Familienprestige schuld, dass Niamh einige von Elles Entscheidungen nie so recht passen wollten – ihre Geheimniskrämerei, die Scham, die sie für ihr wahres Selbst empfand –, dafür verurteilte sie Elle schon ein wenig. Und dafür wiederum verurteilte sie sich selbst.

Sie stellte eine dornige Frage: »Wirst du es auch Jez und Milo sagen?«

Elle sah sie an, als sei sie übergeschnappt. »Was? Nein. Warum?«

Niamh legte den Kopf schief, denn sie musste es nicht erklären.

»Du meinst also, ich soll meinem Ehemann, mit dem ich seit fast achtzehn Jahren verheiratet bin, erzählen: ›Hör mal, ich bin eine Hexe und habe dich die ganze Zeit angelogen‹?«

»Aber so verlangst du von Holly, ebenfalls zu lügen.«

»Niamh, bitte. Ich fühle mich so schon furchtbar.«

»Wäre es dir lieber, wenn ich dir immer nur sage, was du hören willst?«

Elle deutete ein Lächeln an, doch dann zog sie eine Schnute. »Hätte ich die Brechstange gewollt, hätte ich Helena angerufen.«

Niamh lachte laut. »Stimmt. Aber du solltest Jez etwas mehr zutrauen. Conrad hatte kein Problem damit.« Beim Aussprechen seines Namens schrumpelte ihr Herz zusammen wie ein alter Ballon. Sie war zwanzig gewesen und hatte am University College in Dublin studiert. Sie hatten sich in einer Bar an der Grafton Street kennengelernt. Nach einem sehr intensiven Monat, in dem sie sich ganz ihrer Studentenliebschaft hingaben, hatte sie sich »geoutet«. Er war überraschend locker damit umgegangen, obwohl sich später herausstellte, dass er dachte, als »Hexe« wäre sie einfach nur besessen von Kerzen und Kristallen. Was, wie man fairerweise sagen musste, absolut stimmte.

Elle nahm ihre Hand. Sofort spürte Niamh, wie ein wenig ihrer Traurigkeit auf ihre Freundin, die Heilerin, überging. »Das musst du nicht tun«, sagte Niamh.

»Ich will aber«, sagte Elle einfach und sog weiter ihre melancholische Stimmung auf, als sei sie ein Schwamm. »Conrad war ein ganz besonderer Mann. Ich liebe Jez wirklich sehr, aber – seien wir ehrlich – er ist nun mal ein Mechaniker aus Yorkshire. Wenn er wüsste, was wir wissen, ich glaube, dann würde sein Kopf explodieren.«

Niamh lachte wieder. Das Herz an einen Profanen zu verlieren, war wirklich ein Fluch, doch wahrscheinlich war es immer noch besser, als sich in einen Hexer zu verlieben. An besonders dunklen Wintertagen hatte sie schon erwogen, sich selbst zur Lesbe zu verhexen, doch das erschien ihr etwas zu viel Aufwand, nur um Männern aus dem Weg zu gehen. »Ich denke, Holly sollte es von dir erfahren«, sagte sie. »Aber ich kann mit ihr gerne ein bisschen nach der Schule üben.«

»Ehrlich?« Elles Gesicht leuchtete auf.

»Natürlich. Mach ich gerne.« Während ihres, wie sie es nannte, »Dienstes« beim HIM nach dem College war das ihre Aufgabe gewesen: mit heranwachsenden Hexen zu arbeiten, hier und da auch mal mit einem Hexer. Eine unausgebildete Hexe war eine Zeitbombe, die nur darauf wartete, loszugehen. Die Orakel sahen sie in ihren Visionen und stellten ihnen dann ältere Mentorinnen wie Niamh an die Seite.

Wenn es mehr von ihnen gäbe, hätte man vielleicht eine Schule oder Akademie eingerichtet, aber in den letzten hundert Jahren war die Zahl von Hexen und Hexern immer weiter zurückgegangen. Viele Hexen wollten keine Kinder, einige verliebten sich in Profane, und niemand – bis auf einige wenige, vollkommen abgedrehte rechtskonservative Traditionalistinnen (vor allem in den Staaten) – wollte anderen Hexen vorschreiben, mit wem sie Kinder machen durften. Natürlich gab es auch Hexen wie Leonie, bei denen die Gabe nach Generationen wieder aus dem Dornröschenschlaf erwachte, doch solche Fälle kamen nur äußerst selten vor.

»Du bist die Beste, danke«, sagte Elle, als ihre Teller vor ihnen abgestellt wurden. Während sie aßen, sprachen sie über alltäglichere Dinge. »Was hast du an deinem freien Tag vor?«

»Eine Menge langweiliges Zeugs. Bisschen putzen, und um eins kommt meine Gemüsekiste …«

»Ach ja?«, sagte Elle, und ihre Augen funkelten verschmitzt. »Und die bringt Luke vorbei?«

»Vielleicht«, sagte Niamh. »Na und?«

»Nichts. Aber wie viel frisches Obst und Gemüse kann eine einzelne Frau eigentlich essen?«

Niamhs Gesicht wurde warm. »Ballaststoffe. Die sind gesund.«

Elle lachte so laut, dass der Tisch wackelte.

 

Da Niamh heute nicht in die Praxis musste, kehrte sie nach dem Frühstück nach Hause zurück und widmete sich ihrer täglichen (na ja, täglich war das Ziel) Meditationssession im Garten. Wie immer meditierte sie nackt. Sie mochte nichts zwischen ihrer Haut und der Erde haben, wollte spüren, dass sie eins waren.

Eine Natursteinmauer und ein paar Bäume und Büsche schirmten sie von den Blicken etwaiger Vorbeigehender ab, die sich in die Nähe des Hauses verirrten – obwohl sie den Garten natürlich auch jederzeit verhüllen konnte. Das Webercottage aus dem achtzehnten Jahrhundert, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, thronte halb versteckt hinter dichtem Efeu über dem Dorf Heptonstall kurz vor Midgehole.

Leute, die nicht aus Yorkshire kamen, bezeichneten diesen Teil der Welt gerne als »Brontë Country«, obwohl sie eigentlich »windig, rau und hügelig« meinten. Dort oben auf dem Hügel hatte das robuste Cottage irgendwie die Jahrhunderte überdauert und nahm es noch immer mit allem auf, was die Hochmoore ihm entgegenpeitschten. Mit vierundzwanzig hatte sie sich natürlich etwas ganz anderes vorgestellt, doch die vierunddreißigjährige Niamh genoss die Abgelegenheit und Ruhe, nicht zu vergessen die atemberaubende Aussicht. Das Dorf Heptonstall unter ihr schien sich schwindelerregend weit über das Tal zu lehnen.

Hier oben fand sie Zufriedenheit und beobachtete das Leben unter sich – genau wie Gaia, so stellte sie es sich zumindest vor. Die perfekte Balance zwischen Alleinsein und Einsamkeit zu finden, war ein regelrechter Tanz auf dem Drahtseil.

Sie spürte den leichten Wind auf der nackten Haut und verband sich mit der Quelle. Die Kraft in ihrem Blut kam aus den Wurzeln, kam aus der Erde, kam aus dem Regen, kam aus der Luft; ein einziger, großer Kreislauf. Eine Hexe hatte lediglich die Fähigkeit, diesen Fluss nach ihrem Willen zu lenken. Sie spürte die Ionen, die sie umschwirrten, durch ihre Knochen pulsierten und dann vollkommen unschädlich wieder in der Erde versickerten. Sie fühlte sich erneuert, erfrischt.

Die Klingel hörte sie nicht, dafür aber Tigers Gekläffe im Haus. Frauchen. Komm. Schnell. Jetzt. Hunde. Immer gleich so aufgeregt. »Mist«, sagte sie laut, packte ihr T-Shirt und zog es sich hektisch über den Kopf. Sie stieg in ihre Yogaleggings und hüpfte auf einem Bein auf das Haus zu. Wie sie befürchtet hatte, ging Luke bereits um das Haus herum. »Niamh?«, dröhnte seine tiefe Stimme. »Bist du da? Ich bin etwas früh dran.«

Sie zog sich die Hose über den Hintern und blickte noch einmal an sich herunter, um Luke kein Cameltoe zu präsentieren. »Schon okay! Ich bin im Garten, Luke!«

Lukes breite Schultern erschienen über dem Zaun, in den Armen eine große Kiste. Niamh öffnete das Tor und ließ ihn herein. »Küche?«, fragte er, und sie ging ihm voran ins Haus.

Er stellte die Holzkiste auf der Küchenplatte ab und wischte sich die Prankenhände an seiner Schürze ab. »Eine Menge schöne, frische Sachen haben wir heute: Chicorée, Radieschen, Mangold … oh, und Rhabarber, der erste des Jahres.«

»Toll, danke, Luke.« Niamh brachte es nicht übers Herz, ihm zu gestehen, dass sie keine große Köchin war und oft nicht wusste, was sie mit den Sachen anfangen sollte, die er ihr brachte. Sie musste ständig Elle nach Rezepten fragen. »Wie läuft’s?«

»So wie immer, kann mich nicht beklagen … Sieht aus, als würde die Sonne heute mal durchkommen.« Sein Yorkshire-Akzent war so breit wie seine Brust. Niamh gefiel beides. Er schob die Hände in die Taschen, offensichtlich unbehaglich. Das tat Niamh leid, denn zumindest teilweise war sie dafür verantwortlich. Ihre Unterhaltung, die früher einmal ein unbeschwerter Tanz gewesen war, hatte plötzlich zwei linke Füße.

»Viel zu tun?«, fragte sie, um ihn noch einen Moment länger in der Küche zu halten.

»Ja, ziemlich.« Seine Augen waren blau, blau wie das Meer in einer Reisebroschüre. Unübersehbar. »Ich bin nur am Rennen, aber wie gesagt … Ich sollte mich nicht beschweren. Viele haben es deutlich schwerer.« Luke hatte Green & Good vor fast drei Jahren gegründet, nachdem er während der Wirtschaftskrise seinen Job am Flughafen in Manchester verloren hatte. Er hatte ganz klein angefangen, sich einen Van gekauft und damit alle Hofläden und Metzgereien abgeklappert. Er lieferte die Bio-Lebensmittel direkt an die Haustür. In einem Ort wie Hebden Bridge, wo alle ihren Teil beitragen und vor allem auch dabei gesehen werden wollten, lief das Geschäft bald wie von selbst.