Cleo & Leo - Rebecca Vonzun-Annen - E-Book

Cleo & Leo E-Book

Rebecca Vonzun-Annen

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Beschreibung

Cleos Eltern sind begeistert: Eine Forschungsreise nach Ägypten ist geplant! Wohin aber mit Cleo, während sie zwischen Mumien und Pyramiden im Sand buddeln? Kurzerhand verfrachten sie ihren Sohn ins Flugzeug. Er wird die Ferien bei seinem bis dahin unbekannten Großonkel Cornelius im Norden verbringen.Dort erwarten Cleo ein unheimlicher Verwandter, allerlei böse Überraschungen und nicht zuletzt eine neue Freundin. Ein haarsträubendes Abenteuer beginnt

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Cleo & Leo

Rebecca Vonzun-Annen

Text und Illustration

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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www.papierfresserchen.de

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© 2018 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2018

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

ISBN: 978-3-86196-777-4 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-162-6 - E-Book (2020)

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Impressum:

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*

1

„Cleopatra? Willst du mich veräppeln?“ Die Frau hinter dem Schalter musterte ihn mit schmalem, misstrauischem Blick durch ihre Lesebrille.

Cleo zuckte mit den Achseln. „Ich ...“, begann er und wollte seine übliche Erklärung abspulen. Innerlich seufzte er. Lange und tief. Es war immer dasselbe. Nur weil seine Eltern diesen blöden Ägyptentick hatten, musste er ständig allen Leuten erklären, was es mit seinem Namen auf sich hatte.

„Nun?“, forderte die Frau ihn auf und guckte streng durch ihre Brille.

Hinter Cleo hatte sich bereits eine lange Schlange von Leuten gebildet. Und aus der Schlange kamen die typischen Geräusche von wartenden Menschen: unruhiges Seufzen, Füßescharren, das Rascheln von Jacken, nervöses Fingertrommeln, das hektische Schnüffeln eines Hundes. Cleo hatte keine Zeit für lange Erklärungen, das merkte er. Dafür hätte die Menschenschlange kein Verständnis.

„Veräppeln? Nein, will ich nicht!“, sagte er also trotzig zu der Brillenfrau. „Cleopatra Ramses Goldberg.“ Dabei guckte er böse, damit sie gleich merkte, dass er über so was Ernstes wie seinen Namen ganz bestimmt keine Witze machte.

Die Postbeamtin schien das jedoch nicht zu verstehen. Sie zog ihre Augenbrauen in die Höhe. Freche Kinder konnte sie nicht leiden. Freche Kinder, die sich einen Scherz mit ihr erlaubten, noch weniger. „Ausweis!“, bellte sie also und guckte ebenfalls so böse, wie sie nur konnte.

Cleos Ohren liefen rot an. Mist, der Ausweis! Fieberhaft begann er, in seinen Taschen zu wühlen. Dabei hatte er ihn extra bereitgelegt ... verflixt aber auch!

Nun war die Geduld der Brillenfrau endgültig erschöpft. „Der Nächste!“, rief sie mit einem letzten genervten Blick auf Cleo und schon drängte sich ein dicker, ungeduldiger Mann an ihm vorbei zum Schalter und stieß ihn einfach zur Seite.

Cleo ließ die Schultern hängen. Sehnsüchtig wanderte sein Blick zu dem Stapel von Paketen hinter der Glasscheibe. Eines davon war seines. Betrübt trat er durch die Drehtür auf die Straße und steckte den Zettel mit der Paketnummer wieder in die Tasche. Das wäre sein Geburtstagsgeschenk gewesen ... Was für ein Quark!

Kurz überlegte Cleo, was er jetzt tun sollte. Dann schob er traurig die Hände in die Jackentaschen und machte sich im Zeitlupentempo auf den Heimweg.

Die Sonne schien angenehm auf Cleos dunklen Haarschopf und die Luft war erfüllt vom Gesang der ersten Frühlingsvögel. Eigentlich war es viel zu warm für die Jacke. Cleo öffnete den Reißverschluss.

Die Ferien standen vor der Tür: zwei Wochen ohne Hausaufgaben, zwei Wochen lang jeden Tag ausschlafen ... zwei Wochen Nichtstun.

Leider galt das nicht für Cleo. Nein, er hatte allen Grund dazu, mies gelaunt zu sein. Während alle anderen Kinder sich auf die freie Zeit freuten, wünschte Cleo sich, die beiden Wochen wären schon um. Ja, tatsächlich wäre er am Montag viel lieber zur Schule gegangen!

Die ganze Welt hatte ein leichtes Herz und freute sich über den zarten Frühlingsbeginn, doch Cleos Herz war schwer wie ein Stein. Am liebsten hätte er geheult. Und jetzt auch noch dieser Mist mit dem Geschenk!

Cleopatra Ramses Goldberg war gestern elf Jahre alt geworden. Ja, ganz recht, elf Jahre lang lebte er bereits mit diesem jämmerlichen Namen – kaum zu glauben.

Situationen wie diese gerade eben auf dem Postamt waren nicht selten. Eigentlich glaubte es nie jemand auf Anhieb, wenn Cleo seinen Namen nannte. Viele Leute kannten seinen vollen Namen noch nicht einmal. Denn wenn es nicht unbedingt nötig war, behielt Cleo den lieber schön für sich.

Warum jemand seinen Sohn Cleopatra taufte? Tja. Dazu musste man Cleos Eltern kennen.

***

Cecilia und Colin Goldberg liebten ihren Jungen über alles. Behaupteten sie. Cleo war auch ziemlich überzeugt davon, dass das stimmte. Er wusste jedoch in seinem Innersten untrüglich, dass es eine Sache gab, die seine Eltern noch ein kleines Stückchen lieber mochten als ihn: das vermaledeite Ägypten.

Bevor Cleo geboren worden war, hatten sich seine Eltern viele Gedanken über den passenden Namen für ihr Kind gemacht. Cecilia Goldberg verehrte die berühmte Cleopatra über alles. Weil sie die letzte ägyptische Pharaonin gewesen war, eine unglaublich elegante Königin noch dazu – und überhaupt. Cecilia hatte sich damals eingebildet zu spüren, dass in ihrem Bauch ein Mädchen heranwuchs.

„Unsere Tochter wird Cleopatra heißen“, hatten Cleos Eltern all ihren Freunden, ihren Verwandten und Bekannten voller Stolz verkündet.

Als dann Cleo zur Welt kam, waren sie völlig überrumpelt gewesen. Ein Sohn! Ach herrjemine! Damit hatten sie nicht im Traum gerechnet.

Cecilia war in Tränen ausgebrochen. Sie hatte sich so sehr auf ihre Cleopatra gefreut. Und Colin, der mit weinenden Frauen stets heillos überfordert war, hatte mit der einen Hand unbeholfen Cecilias Arm getätschelt und mit der anderen fieberhaft seinen struppigen Bart gezwirbelt. Dann war ihm Gott sei Dank der rettende Gedanke gekommen, wie so oft beim Zwirbeln seines Bartes. Er hatte Cecilia versichert, dass Cleopatra genauso gut ein Jungenname sein konnte.

„Schließlich gibt es sowohl Mädchen als auch Jungs, die zum Beispiel ... Kim heißen!“, hatte er erleichtert gerufen und Cecilia ein Taschentuch hingestreckt. „Oder Robin! Oooder ... Sascha!“

Leider hatten das die Behörden nicht ganz so gesehen. Also hatten Cleos Eltern für ihren Sohn nebst Cleopatra noch einen zweiten, typischen Jungennamen gebraucht. Deshalb hieß er jetzt Cleopatra Ramses Goldberg. Cleos Eltern waren furchtbar stolz auf den Namen ihres Sohnes. Denn noch ägyptischer ginge es wohl kaum.

Cecilia Goldberg war leidenschaftliche Ägyptologin und erforschte bereits ihr Leben lang das alte Ägypten. Colin Goldberg war Geschichtsprofessor an der Universität und lehrte die Studenten alles über die alten Ägypter. Cleos Eltern arbeiteten beide sehr viel und so war Cleo oft alleine. Das machte ihm aber nicht wirklich etwas aus.

Colins und Cecilias Haus war vollgestopft mit ägyptischen Büchern, Karten, Skulpturen, Bildern und allerlei anderem Schnickschnack. Auch in ihrer Freizeit erforschten und untersuchten Cleos Eltern die alten Ägypter. So war von ihnen – selbst wenn sie zu Hause waren – nie viel zu hören und zu sehen. Für Cleo war es also normal, dass er sich mit sich selbst beschäftigte.

In ihren Ferien fuhren Cecilia und Colin stets nach Ägypten. Meistens gemeinsam mit Cleo, um dort Urlaub zu machen. Dann schleppten sie ihn von Pyramide zu Pyramide und der arme Cleo musste sich Vorträge über die alten Pharaonen und deren Leben anhören. Oder sie ließen ihn im Hotel, übergaben ihn dem Kinderclub und besuchten in der Zwischenzeit irgendeine Ausgrabungsstätte oder ein Museum.

In diesen Ferien würden Colin und Cecilia nun zum ersten Mal seit elf Jahren ohne Cleo nach Ägypten fahren. Die nächsten zwei Wochen verbrachten sie in Kairo gemeinsam mit einer Gruppe Archäologen.

„Eine einmalige Chance!“, hatte Cecilia mit funkelnden Augen geschwärmt und war ganz hin und weg gewesen von diesem Angebot. Und Colin hatte sich bereits in ein dickes, ägyptisches Buch vertieft und war für viele Stunden nicht mehr ansprechbar gewesen.

An und für sich hatte Cleo überhaupt nichts dagegen, wenn seine Eltern allein nach Ägypten fuhren. Denn das bedeutete, er würde sich nicht zwei Wochen lang inmitten von Pyramiden und alten Steinen langweilen müssen. Leider fanden aber Cecilia und Colin, er sei noch zu jung, um zwei ganze Wochen alleine zu Hause zu verbringen. Und das war der Grund für Cleos finstere Laune.

Morgen früh würden seine Eltern ins Flugzeug steigen und erst in vierzehn Tagen zurückkommen: braun gebrannt, glücklich und schmutzig von der ägyptischen Erde und vom Sand. Und mit jeder Menge Steinen und anderem ägyptischen Krimskrams im Gepäck, mit tonnenweise Fotos und stapelweise Notizen und Plänen.

Ihn hingegen würden sie ins Flugzeug gen Norden setzen. Wo er die zwei Wochen Frühlingsferien bei seinem Großonkel Cornelius verbringen musste.

Cleo hatte seinen Großonkel noch nie gesehen. Ja, er hatte noch nicht mal gewusst, dass er überhaupt einen Großonkel besaß, geschweige denn dass dieser Cornelius hieß! Und nun musste er zwei Wochen lang bei diesem fremden Verwandten wohnen, mitten in der nördlichen Wildnis, weit weg von seinen Freunden und von jeglicher Zivilisation. Wenn das kein Grund für schlechte Laune war!

***

Cleo kickte einen Kieselstein weg. Mit lautem Scheppern knallte der an eine Autotür. Cleo zog den Kopf zwischen die Schultern und hoffte, dass der Autobesitzer nicht in der Nähe war.

Zu allem Übel hatte es jetzt auch noch mit seinem Geburtstagsgeschenk nicht geklappt. So lieb Cleo seine Eltern auch hatte, sie waren leider typische Professoren und demzufolge furchtbar verwirrt. Zwar waren sie Genies bei allem, was mit Ägypten zu tun hatte. Aber der ganz normale Alltag überforderte sie leider oftmals völlig. Bedauerlicherweise gehörten dazu auch ganz banale Dinge wie beispielsweise Cleos Stundenplan, regelmäßige Essenszeiten oder eben sein Geburtstag. Wie immer war es Colin und Cecilia auch in diesem Jahr erst wenige Tage zuvor siedend heiß eingefallen, dass ihr Sohn am Donnerstag elf Jahre alt wurde.

„Was wünschst du dir denn, Cleo?“, hatte Colin am Dienstag gefragt. Glücklicherweise hatten seine Eltern sich angewöhnt, ihn so wie alle anderen Cleo zu nennen. So wussten die meisten Leute – darunter auch seine Freunde – gar nicht, dass er eigentlich Cleopatra hieß. Was Cleo nur recht war.

Cleo hatte natürlich viele Wünsche. Wie jeder Elfjährige begeisterte er sich für Fußball und Videospiele, fürs Fahrradfahren und Abenteuerbücher. Einen guten Fußball besaß Cleo jedoch bereits und auch ein neues Fahrrad hatte er erst letztes Jahr bekommen. Videospiele und Bücher hatte er genug ... Was er sich in diesem Jahr wirklich von ganzem Herzen wünschte, war etwas völlig anderes: Cleo hätte gerne einen Hund.

Sein Vater war davon zuerst nicht so begeistert gewesen. „Einen Hund?“, fragte er verwirrt.

Cleo nickte ernsthaft. Es war wichtig, dass er aufrichtig guckte. Nicht, dass sein Vater den Eindruck bekam, es sei ihm vielleicht nicht ernst genug mit seinem Wunsch.

„Aber Hunde machen Dreck und Pipi ... und haben Haare“, sagte Colin und schauderte leicht. Der Gedanke, dass Hundehaare oder – Gott behüte! – Hundepipi an seine ägyptischen Schätze gelangen könnte, schien ihn ernsthaft zu erschüttern.

Cleo schüttelte eifrig den Kopf. „Nur einen kleinen“, versicherte er schnell. „Kleine Hunde machen nicht so viel Dreck und Pipi. Und haben viel weniger Haare als große.“

Das schien Colin einzuleuchten. Nachdenklich betrachtete er Cleo durch seine Brillengläser und nickte schließlich langsam. Die Augen des Jungen funkelten. Colins schlechtes Gewissen meldete sich fast augenblicklich. Was hatten sie nur für einen Prachtkerl als Sohn! Cleo hatte es nicht verdient, so schlechte Eltern zu haben. Eltern, die sogar den Geburtstag ihres einzigen Kindes vergaßen.

Cleo holte tief Luft. Er merkte, dass er seinen Vater an der Angel hatte. Es war Zeit für den Endspurt. Also kramte er in seinem Hirn schnell nach allen Argumenten, die er sich zurechtgelegt hatte. Cleo hatte sich gründlich informiert, bevor er seinen Wunsch ausgesprochen hatte. Und das würde ihm jetzt zum Sieg verhelfen!

„Nach der Schule werde ich jeden Tag mit ihm spazieren gehen“, begann er, seinen Plan zu erklären. „Während der Schule kann er im Garten auf mich warten. Ich baue ihm eine Hütte. Zudem habe ich bereits eine Rasse ausgesucht, die euch bestimmt gefallen wird ...“ Er holte tief Luft. Während Colin an seinen Lippen hing, holte Cleo aus zum Todesstoß. „Ich möchte einen Armant!“

Kurz unterbrach Colin sein Dauernicken und blickte etwas verwirrt drein. Aber Cleos Erklärung traf voll ins Schwarze, ganz so wie er es sich vorgestellt hatte.

„Armants sind Hirtenhunde, die von ägyptischen Urrassehunden abstammen und nach der oberägyptischen Stadt Armant benannt sind“, schloss Cleo seinen Vortrag und war unheimlich zufrieden mit sich.

Colin spürte, wie ihn ein warmes Gefühl durchströmte. Cleo war sein Sohn! Das war so was von offensichtlich! Die Faszination für das wunderbare Ägypten musste er ohne jeden Zweifel von ihm geerbt haben. Vielleicht auch noch ein bisschen von Cecilia ... aber hauptsächlich von ihm, dessen war sich Colin sicher. Schließlich war er der Vater.

Der Gedanke, dass sich bei Cleo allmählich dieselbe Begeisterung für Ägypten bemerkbar zu machen schien wie bei seinen Eltern, rührte Colin tief. „Armant! Was für ein fantastischer Name! Ein ägyptischer Hund! Wie wunderbar! Was für eine außergewöhnliche Idee!“, rief er aus und war auf einmal Feuer und Flamme.

Cleo musste sich mit aller Kraft das Lachen verbeißen. Das war ja einfacher gewesen, als er gedacht hätte. Angestrengt versuchte er, seinen ernsthaften Gesichtsausdruck beizubehalten.

***

Kurze Zeit später saßen die beiden Goldbergmänner höchst konzentriert vor dem Computer und durchforsteten gemeinsam das Internet nach Armants. Sie einigten sich darauf, den Hund gemeinsam zu kaufen, sobald im Garten eine Hütte für ihn bereitstehen würde. Dann bestellte Colin ebenjene Hundehütte. Eine, die man nur noch zusammenbauen musste.

„Das geht schneller, als zuerst Holz zu kaufen und alles zuzusägen“, erklärte er Cleo. „Außerdem ...“ Cleo wusste genau, was dieses „Außerdem“ zu bedeuten hatte. Colin war ein unheimlich gescheiter Mann und in seinem Kopf hatte er wohl mehr Informationen gespeichert, als man in einer ganzen Bibliothek finden würde. Wenn es jedoch darum ging, einen Nagel einzuschlagen, ganz zu schweigen davon, ein paar Bretter zuzusägen, war er, gelinde gesagt, restlos überfordert.

„Wenn wir sie jetzt bestellen, kommt sie bereits am Freitag mit der Post“, fuhr Colin fort. „Dann können wir sie, gleich nachdem wir von der Forschungsreise zurück sind, zusammenbauen und den Armant“, Colin nannte das Tier aus Prinzip nur Armant und nicht etwa einfach Hund, „abholen. Na, was meinst du?“ Colin strahlte, als ob er höchstpersönlich die Idee mit dem Hund gehabt hätte.

Ja, und Cleo hatte gehofft, dass sie vielleicht den Hund schon heute Abend holen konnten. Wenn er die Hütte bereits fertig zusammengebaut hätte, bevor Colin nach Hause kam, stünde seinem Plan nichts im Wege. Zudem wäre er ohne Colins Hilfe wahrscheinlich doppelt so schnell.

Deshalb war er aufs Postamt gegangen. Wegen seines dämlichen Namens hatte er das Paket jedoch ohne seinen Ausweis nicht gekriegt. Und jetzt war es zu spät. Wenn er nach Hause lief, um den Ausweis zu holen, zurück zum Postamt und dann wieder nach Hause mit dem schweren Paket, wären seine Eltern bestimmt schon bald daheim. Das würde nie im Leben reichen, um vorher noch die Hütte aufzubauen. Und ohne Hütte kein Hund, hatte Colin gesagt ...

Cleo traten bittere Tränen in die Augen. Er hatte sich so sehr gewünscht, seinen neuen Hund mit zu Onkel Cornelius nehmen zu können. Damit er nicht so schrecklich alleine wäre in der Fremde. Aber daraus würde jetzt nichts werden. Rein gar nichts. Er musste morgen mutterseelenallein ins Flugzeug steigen und erst nach zwei elend langen Wochen würde er seinen Hund bekommen. Das war leider die bittere Wahrheit.

*

*

2

Cleo wurde vom schrillen Kreischen der Bremsen geweckt. Der Schnellzug hielt mitten auf der Strecke und wurde allmählich vibrierend langsamer. Cleo klammerte sich an seinen Sitz und beugte sich zum Fenster, um nach der Ursache der Notbremsung zu sehen.

Leider war der Zug zu lang, um etwas erkennen zu können. Während Cleo angestrengt aus dem Fenster spähte, wurden Stimmen laut und eine Frau aus dem Nachbarabteil schrie aufgeregt mit hoher Stimme: „Das ist eine Katastrophe!“

Cleo musste ihr recht geben, es war tatsächlich äußerst wichtig, dass der Zug pünktlich war, denn er durfte unter keinen Umständen zu spät kommen. Dennoch, als Katastrophe hätte er das Ganze nicht gerade bezeichnet – jedenfalls noch nicht, denn der Zug war ja noch nicht einmal ganz zum Stehen gekommen.

Noch immer kreischten die Bremsen und die Frau fuhr mit lauter Stimme fort: „Dabei habe ich doch extra nachgeschaut, das verstehe ich nicht ...“

Cleo drehte sich verwirrt zum anderen Abteil um und im selben Augenblick vernahm er eine genervte Männerstimme, die antwortete: „Es ist immer, immer dasselbe! Grundgütiger, Cecilia ...“

„Lustig“, dachte Cleo, „die Frau heißt genauso wie meine Mutter.“

Das Kreischen der Bremsen nahm kein Ende, und gerade als Cleo sich wieder aus dem Fenster lehnte, um vielleicht doch etwas zu erkennen – eine rote Ampel, eine Schafherde auf den Gleisen oder eine Barriere vielleicht –, wurde die Tür seines Abteils mit einem Ruck aufgerissen.

„Aus den Federn, Cleo“, erklang die gehetzte Stimme seines Vaters und Cleo blinzelte, vom Traum noch ganz durcheinander.

Statt im Zug befand er sich in seinem Bett und durch die Fensterläden schien das schwache Licht der Dämmerung ins dunkle Zimmer.

Das Kreischen der Bremsen entpuppte sich als das Geräusch seines Weckers. Sein Vater hastete quer durchs Zimmer zum Fenster und zog die Vorhänge mit einem Ruck zur Seite. Cleo brachte den Wecker mit einem gezielten Schlag zum Verstummen.

„Deine Mutter hat mal wieder die Flugzeiten verwechselt, also beeil dich, wir müssten längst auf dem Weg sein!“, rief Colin aufgeregt, während er das Zimmer mit schnellen Schritten verließ und einen verzweifelten Seufzer ausstieß.

Cleo schloss entsetzt die Augen.

Die Reise nach Ägypten.

Der Flug in den Norden zu Onkel Cornelius.

Der Beginn zweier schrecklich langer und unendlich einsamer Frühlingsferienwochen.

Das war heute.

Heute!

Ein eisig kaltes Gefühl durchströmte Cleo von der Stelle, wo er sein Herz schlagen spürte, bis hinunter zu den Zehenspitzen. Liebend gerne wäre er zurück in seinen Traum geschlüpft, um mit dem Zug der grauenvollen Realität zu entfliehen.

Stattdessen musste er sich beeilen, weil seine Mutter mal wieder die Flugzeiten verwechselt hatte. Wahrscheinlich ging ihr Flug um acht Uhr zehn statt um zehn Uhr acht – oder etwas in der Art. Seine Mutter war eine Meisterin darin, Uhrzeiten zu verwechseln, und es war Cleo ein Rätsel, weshalb sich nicht einfach sein Vater um solche Dinge kümmerte.

Dann fiel ihm ein, dass dieser wahrscheinlich noch chaotischer war als seine Mutter und Colin womöglich nicht nur die Uhrzeit, sondern auch noch das Datum verwechseln würde. Also müsste sich wahrscheinlich am besten Cleo selbst darum kümmern, wenn alles reibungslos klappen sollte.

Was ihn auf einen ganz anderen – verlockenden – Gedanken brachte. Wenn es nicht klappte und sie den Flug verpassten, könnte er in den Ferien hierbleiben. Problem gelöst!

Das eiskalte Gefühl zog sich ein klein wenig zurück und seine Zehenspitzen fühlten sich bereits eine Spur wärmer an als noch eine Minute zuvor.

Da streckte seine Mutter den Kopf durch den Türspalt und machte schlagartig alles zunichte. „Cleo, du steigst jetzt schnurstracks aus diesem Bett und schnappst dir deine Tasche, das Taxi wartet schon!!!“, kreischte sie und klang dabei ganz ähnlich wie die Zugbremsen vorher.

Cleo, der sich bereits wieder in seine Decke gekuschelt hatte, fuhr vor Schreck hoch. Am Tonfall seiner Mutter erkannte er, dass es weit schlimmer sein musste als angenommen. Und tatsächlich ertönte in diesem Moment von der Straße her das ungeduldige Hupen eines wohl schon länger wartenden Taxis.

Cleo blieb nichts anderes übrig, als seiner Mutter zu gehorchen. Er wollte nicht daran schuld sein, dass sie womöglich einen Herzanfall erlitt vor lauter Aufregung.

In Windeseile schlüpfte er in seine Jeans und stülpte sich den blauen Kapuzenpulli über die zerzausten Haare. Dann ergriff er die bereitstehende Reisetasche. Als er in den Flur trat, drehte er sich um und warf einen letzten verzweifelten Blick in sein Zimmer: das zerwühlte Bett, den schiefen Bücherstapel neben seinem Wecker, das Notebook auf seinem Schreibtisch. Cleos Herz wurde tonnenschwer und der Kloß in seinem Hals drohte, ihn zu ersticken.

Bevor sich die ersten heißen Tränen in seinen Augen sammeln konnten, machte er auf dem Absatz kehrt und eilte die Treppe hinunter, wo sein Vater bereits ungeduldig mit dem Schlüsselbund rasselte. Sekunden später fiel die Tür hinter den drei Goldbergs ins Schloss.

***

Innerhalb einer halben Stunde erreichten sie den Flughafen. Trotz der Herrgottsfrühe wimmelte es hier bereits von Leuten und die unverkennbare Atmosphäre von aufgeregter Reisehektik lag in der Luft. Cleo stolperte wie betäubt hinter dem roten Trekkingrucksack seiner Mutter her.

Sein Vater eilte – die Flugtickets schwenkend und einen großen Reisekoffer schlingernd hinter sich her zerrend – voraus und brüllte in regelmäßigen Abständen: „Aus dem Weeeg, Platz da-haa!“

Cecilia folgte ihm mit kleinen, hastigen Schritten. Damit versuchte sie zu verhindern, dass ihr die ausgelatschten Birkenstockschlappen von den Füßen rutschten. Sie klammerte sich an den Trägern ihres Rucksacks fest, an dessen Außentasche wild ein Anch-Anhänger hin und her pendelte, der bei jedem ihrer Schritte mit einem feinen Pling gegen den Reißverschluss stieß.

Cleo, der den roten, auf und ab wippenden Fleck am Rücken seiner Mutter stets im Blick behielt, folgte seinen Eltern durch das Gedränge und versuchte angestrengt, nicht den Anschluss zu verlieren. Wäre er nicht so schrecklich traurig gewesen, hätte er sich wahrscheinlich in Grund und Boden geschämt. Denn selbst inmitten der unzähligen verreisenden Personen, die sich am Flughafen befanden, stachen die Eltern Goldberg aus der Menge hervor.

So mancher hielt kurz inne, um die einmalige Szene nicht zu verpassen. Der elfjährige Cleo in seinem Kapuzenpulli mit der schwarzen Reisetasche fiel zwar nicht weiter auf, er war nur ein normaler Junge, der mit seinen Eltern verreiste. Die ihm vorauseilende Frau mit dem langen braunen Zopf jedoch zog die Blicke der Leute auf sich. Aus ihrer Frisur hatte sich die Hälfte der Strähnen gelöst und wehte links und rechts neben ihren Ohren. Es war sonnenklar, dass dies nicht gerade eben passiert war, sondern dass Cecilia wohl bereits mehrere Nächte mit derselben Frisur geschlafen haben musste. Sie klammerte sich an ihren Rucksack, als ob ihr Leben davon abhinge, und trippelte mit seltsam schlurfenden Schrittchen hinter ihrem Mann her, wobei sie ein überraschendes Tempo an den Tag legte. Ihre nackten Füße steckten in uralten Lederlatschen. Es war nicht ganz sicher, ob dies vielleicht sogar ihre Hauspantoffeln waren, die sie vergessen hatte, gegen richtige Schuhe einzutauschen. Die Frau steckte in einer weiten Latzhose mit löchrigen Knien, die so gar nicht zu ihrem Alter passen wollte. Auf ihrem Gesicht lag ein leicht panischer Ausdruck.

Der zerzauste Vater mit dem grauen, verwilderten Bart, der krummen Drahtbrille auf der Nase und dem grünen, verwaschenen Pullover mit viel zu kurzen Ärmeln trug zwar Turnschuhe, steckte jedoch noch in seiner gepunkteten Pyjamahose, die ihm fröhlich um die Beine flatterte ...

Ja, wäre Cleo nicht viel zu sehr von der ihm bevorstehenden beängstigenden Reise abgelenkt gewesen, hätte er sich ganz fürchterlich geschämt für seine Eltern.

Glücklicherweise hatte er dafür im Moment gar keine Zeit.

Unglücklicherweise kam es jedoch noch um einiges schlimmer.

„Da wären wir ... oder?“, keuchte Colin auf einmal und blieb mit einem Ruck am Gate D34 stehen. Der Koffer, welcher von dem plötzlichen Stopp aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, schlingerte weiter und überschlug sich einmal, wobei er aufsprang und einige graue Herrenunterhosen herausquellen ließ.

Cecilia, die ebenfalls nicht auf die Vollbremsung gefasst gewesen war, trippelte in rasantem Tempo direkt in Colin hinein. Dieser machte einen Schritt nach vorne, rutschte auf seiner eigenen Unterhose aus wie auf einer Bananenschale und ruderte für einen gefährlichen Augenblick hilflos mit den Armen. Im letzten Moment bekam er Cecilias Latzhose zu fassen, was ihn vorerst vor einem Sturz bewahrte. Der Latz der Hose war jedoch keineswegs als Rettungsanker gedacht. Cleo beobachtete erstarrt, wie sich zuerst in Zeitlupe der eine und einen Augenblick später der andere Knopf von den Trägern löste. Dann stürzte Colin gemeinsam mit Cecilias Latzhose zu Boden und landete inmitten der verstreuten Unterhosen.

Das Bild, das sich Cleo bot, war haarsträubend.

Seine Mutter stand mitten in der Abflughalle ohne Hose da. Ihr ausgeleierter Slip hatte exakt dasselbe Grau wie die überall ausgebreiteten Herrenunterhosen.

Sein Vater rappelte sich soeben mit verdutztem Gesicht vom Boden auf. Eine der Unterhosen hatte sich in seinem filzigen Haar verfangen.

Sämtliche Leute in der Nähe waren stehen geblieben, um auch was von dem ungeheuerlichen Spektakel mitzukriegen.