Codex Alera 2 - Jim Butcher - E-Book

Codex Alera 2 E-Book

Jim Butcher

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Beschreibung

»Eine einzigartige Fantasy-Saga!« Publishers Weekly

Zwei Jahre sind seit der gescheiterten Invasion der Marat vergangen. Und während Tavi, der noch immer keine Magie wirken kann, dem Ende seiner Ausbildung zum kaiserlichen Spion entgegenfiebert, droht Alera bereits neue Gefahr. Denn ausgerechnet als Kaiser Gaius Sixtus schwer erkrankt und das Reich ohne Führung ist, bewegen sich die Furcht erregenden Vord auf die Hauptstadt zu – uralte Schreckensgestalten, für deren Wiedererweckung nicht zuletzt Tavi mitverantwortlich ist …

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Seitenzahl: 889

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Prolog
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
 
Epilog
Danksagung
Copyright
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Book Two of the Codex Alera. Academ’s Fury« bei Ace Books, the Berkley Publishing Group, Penguin Group (USA) Inc., New York.
Für die alte Gang bei AmberMUSH und auf Too.Wir haben viel zu viel Zeit verschwendet,aber ich bereue keine Sekunde.
Prolog
Wenn der Anfang aller Weisheit in der Erkenntnis liegt, dass man nichts weiß, so besteht der Anfang allen Begreifens in der Einsicht, dass jedes Ding, das existiert, eine simple Wahrheit verkörpert: Große Dinge entstehen aus kleinen.
Aus Tintentropfen entstehen Buchstaben, Buchstaben bilden Wörter, Wörter häufen sich zu Sätzen, und Sätze schließlich geben Gedanken Ausdruck. So geht es auch mit Pflanzen, die aus einem einzigen Samen sprießen, und jede Mauer wird aus vielen Steinen zusammengefügt. Aber auch auf die Menschen trifft dies zu, denn die Sitten und Traditionen unserer Vorfahren bilden das Fundament unserer Städte, unserer Geschichte und unserer Lebensweise.
Ob nun toter Stein oder Lebewesen oder das wogende Meer; ob in Zeiten des Friedens oder während welterschütternder Ereignisse, an Markttagen oder in verzweifelten Schlachten, ein Gesetz gilt für alles gleichermaßen:
Große Dinge sind aus kleineren erschaffen.
Dabei wächst die Bedeutung mit der Größe, sie nimmt stets vom Kleinen zum Großen zu – doch nicht immer ist sie auf den ersten Blick ersichtlich.
Aus den Schriften von Gaius Secundus,Erster Fürst von Alera
Der Wind heulte über die sanft gewellten, nur spärlich bewaldeten Hügel im Lande der Marat, des Einen und Großen Volkes. Er trieb harte, raue Schneeflocken vor sich her. Der Eine ritt über den Himmel, doch verbargen die Wolken sein Antlitz.
Zum ersten Mal seit dem Frühjahr war Kitai kalt. Sie drehte sich blinzelnd um und schützte mit einer Hand die Augen vor dem Schneegestöber. Um die Hüfte trug sie einen knappen Schurz, einen Gürtel, in dem ihr Messer steckte, und einen Jagdbeutel. Sonst hatte sie nichts am Leib. Die Böen zerzausten ihr das dichte weiße Haar, dessen Farbe sich kaum von der des Schnees unterschied.
»Beeil dich«, rief sie.
Ein gewaltiges Schnauben ertönte, dann kam eine riesige Gestalt in Sicht. Wanderer, der Gargant, war selbst im Vergleich zu seinen Artgenossen ein Riese, seine Schultern ragten zweimal mannshoch auf. Er hatte bereits sein zotteliges schwarzes Winterfell bekommen, daher störte ihn die Kälte nicht. Die Krallen, länger als ein aleranischer Säbel, gruben sich mühelos und ohne Hast in den gefrorenen Boden.
Kitais Vater, Doroga, saß auf dem Rücken des Garganten und schwankte auf seiner geflochtenen Satteldecke hin und her. Er trug ebenfalls einen Lendenschurz, außerdem eine ausgeblichene rote Tunika aus Alera. Seine Brust, seine Arme und seine Schultern waren so stark mit Muskeln bepackt, dass er die Ärmel seines Gewands hatte abreißen müssen – doch da es ein Geschenk gewesen war, wäre es ihm unhöflich vorgekommen, sie einfach wegzuwerfen. Deshalb hatte er sich ein Stirnband daraus geflochten und das weiße Haar damit zurückgebunden. »Ich verstehe; wir müssen uns beeilen, damit das Tal nicht vor uns davonläuft. Vielleicht hätten wir im Windschatten bleiben sollen.«
»Du bist nicht so witzig, wie du denkst«, meinte Kitai und starrte ihren Vater finster an.
Doroga lächelte, was die Falten in seinem breiten, flachen Gesicht vertiefte. Er packte Wanderers Sattelseil und schwang sich mit einer Leichtigkeit, die man ihm bei seiner Körpermasse nicht zugetraut hätte, vom Rücken des Tieres. Unten klopfte er dem Garganten auf das Vorderbein. Wanderer hockte sich hin und käute gelassen wieder.
Kitai ging voraus in den Wind, und obwohl sie kein Geräusch hinter sich hörte, wusste sie, dass ihr Vater ihr folgte.
Kurze Zeit später erreichten sie den Rand einer Felswand, die jäh in die Tiefe abfiel. Wegen des Schneegestöbers konnte man nicht das ganze Tal einsehen, doch in den Pausen zwischen den Böen reichte der Blick wenigstens bis zum unteren Ende der Steilwand.
»Schau«, sagte sie.
Doroga trat neben sie und legte ihr abwesend den Arm um die Schultern. Kitai hätte sich niemals in Anwesenheit ihres Vaters anmerken lassen, dass sie zitterte, nicht bei diesem jämmerlichen Herbstschnee, dennoch schmiegte sie sich an ihn, dankbar für die Wärme. Sie beobachtete ihn, wie er hinunterspähte und auf eine kurze Windstille wartete, um den Ort sehen zu können, den die Aleraner den Wachswald nannten.
Kitai schloss die Augen und erinnerte sich. Damals waren die toten Bäume mit Kroatsch bedeckt gewesen, einer dicken, gallertartigen Masse. Deshalb hatte es so ausgesehen, als habe Der Eine den Wald mit dem Wachs vieler Kerzen begossen. Das Kroatsch überzog alles, den Boden und auch bis zu einer gewissen Höhe die Wände, die den Talkessel einschlossen. Hier und dort saßen Vögel und andere Tiere im Kroatsch gefangen, wie versiegelt; sie lebten noch und lagen reglos da, bis sie aufgeweicht waren und sich aufgelöst hatten wie Fleisch, das man über kleiner Flamme gart. Blasse Wesen, so groß wie wilde Hunde, durchscheinend und spinnenartig mit vielen Beinen, lauerten beinahe unsichtbar im Kroatsch, während andere leise und flink und fremdartig über den Waldboden huschten.
Diese Erinnerung jagte ihr einen Schauer über den Rücken, aber sie biss sich auf die Unterlippe und zwang sich, ihn zu unterdrücken. Als sie ihren Vater anblickte, gab der vor, nichts bemerkt zu haben.
Im Tal unten hatte, so weit ihr Volk zurückdenken konnte, niemals Schnee gelegen. Dort war es zu warm, selbst im Winter, als wäre das Kroatsch ein riesiges Tier, das die Wärme seines Körpers an die Luft abstrahlte.
Jetzt war der Wachswald mit Eis bedeckt, und überall herrschte Fäulnis. Die alten toten Bäume überzog eine Schicht aus braunem, widerwärtigem Teer. Der Boden war gefroren, auch wenn Kitai an der einen oder der anderen Stelle noch Flecken von moderndem Kroatsch entdeckte. Mehrere Bäume waren umgekippt. Und der hohle Hügel in der Mitte war eingestürzt und verrottet. Der Gestank drang sogar bis hier hoch, zu Kitai und ihrem Vater.
Doroga schwieg eine Weile, ehe er sagte: »Wir sollten hinuntersteigen. Und herausfinden, was geschehen ist.«
»Ich war schon unten«, erwiderte Kitai.
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Es ist töricht, so etwas allein zu unternehmen.«
»Wer von uns dreien hier hat es lebend wieder nach oben geschafft und war dabei am häufigsten unten?«
Doroga lachte grunzend und sah sie voller Zuneigung und Wärme an. »Vielleicht war es doch nicht so töricht.« Dann wurde er wieder ernst, und erneut verhüllten Wind und Schneeregen das Tal. »Was hast du entdeckt?«
»Tote Hüter«, antwortete sie. »Totes Kroatsch. Keine Wärme. Keine Bewegung. Von den Hütern sind nur leere Hüllen geblieben. Das Kroatsch zerbröselt bei der leisesten Berührung zu Asche.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und noch etwas.«
»Und zwar?«
»Spuren«, sagte sie ruhig. »Die zur anderen Seite führen. Nach Westen.«
Doroga brummte: »Was für Spuren?«
Kitai schüttelte den Kopf. »Sie waren nicht frisch. Vielleicht Marat oder Aleraner. Entlang der Fährte habe ich viele tote Hüter gefunden. Als hätten sie angegriffen und wären einer nach dem anderen gestorben.«
»Das Wesen«, knurrte Doroga, »bewegt sich auf die Aleraner zu.«
Kitai nickte besorgt.
Doroga blickte sie an. »Und was noch?«
»Seine Tasche. Den Rucksack, den der Taljunge während des Gerichts im Wachswald verloren hat. Ich habe ihn neben der letzten toten Spinne entdeckt, und sein Geruch hing immer noch daran. Dann begann es zu regnen. Ich habe die Spur verloren.«
Dorogas Miene verdüsterte sich. »Es genügt, wenn wir es dem Herrn des Calderon-Tals berichten. Vielleicht hat es nichts zu bedeuten.«
»Oder vielleicht doch. Ich gehe«, meinte Kitai.
»Nein«, entgegnete Doroga.
»Aber Vater …«
»Nein«, wiederholte er nachdrücklicher.
»Wenn es nun nach ihm sucht?«
Eine Weile lang hüllte sich ihr Vater in Schweigen, ehe er sagte: »Dein Aleraner ist schlau. Schnell. Er kann auf sich selbst aufpassen.«
Kitai blickte ihn finster an. »Er ist klein. Und dumm. Und lästig.«
»Tapfer. Selbstlos.«
»Schwach. Und er verfügt nicht einmal über die Zauberkräfte seines Volkes.«
»Er hat dich gerettet«, sagte Doroga.
Kitais Miene wurde noch finsterer. »Ja. Sehr lästig.«
Doroga lächelte. »Selbst ein Löwe beginnt sein Leben als Junges.«
»Ich könnte ihn in der Mitte entzweibrechen«, knurrte Kitai.
»Im Augenblick, ja.«
»Ich verachte ihn.«
»Im Augenblick, ja.«
»Er hatte kein Recht dazu.«
Doroga schüttelte den Kopf. »Nicht mehr als du.«
Kitai verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hasse ihn.«
»Und deshalb soll ihn jemand warnen. Ich verstehe.«
Kitai errötete, ihre Wangen und ihr Hals wurden heiß, doch ihr Vater schien es nicht zu bemerken. »Was geschehen ist, ist geschehen«, knurrte er. Er wandte sich ihr zu und legte Kitai die riesige Pranke auf die Wange, legte den Kopf schräg und betrachtete sie einen Moment lang. »Mir gefallen seine Augen bei dir. Wie Smaragd. Wie frisches Gras.«
Kitai spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie schloss die Augen und küsste die Hand ihres Vaters. »Ich wollte ein Pferd.«
Doroga lachte laut. »Deine Mutter wollte einen Löwen. Sie hat einen Fuchs bekommen und es nie bedauert.«
»Ich will, dass dieses Wesen verschwindet.«
Doroga ließ die Hand sinken. Er drehte sich zu Wanderer um, den Arm weiterhin um Kitai gelegt. »Wird es aber nicht. Du solltest beobachten.«
»Ich will nicht.«
»So ist es Sitte bei unserem Volk«, erwiderte Doroga.
»Ich will nicht.«
»Sturer Welpe. Du bleibst hier, bis du ein bisschen zu Verstand gekommen bist.«
»Ich bin kein Welpe, Vater.«
»Du benimmst dich wie einer. Bleib bei den Sabot-ha.« Sie erreichten Wanderer, wo Doroga Kitai ohne Mühe fast bis zum oberen Ende des Sattelseils hob.
Kitai kletterte auf den breiten Rücken des Garganten. »Aber, Vater …«
»Nein, Kitai.« Er stieg ebenfalls auf und schnalzte mit der Zunge. Das riesige Tier erhob sich gemächlich und wendete. Während es sich in Gang setzte, fügte Doroga hinzu: »Ich verbiete es dir, und damit Schluss.«
Kitai ritt schweigend hinter ihrem Vater, blickte sich jedoch nach Westen um und hielt das besorgte Gesicht in den Wind.
 
Wieder einmal setzte Miles die alte Wunde zu, als er die lange Wendeltreppe in die Tiefen der Erde unter dem Palast des Ersten Fürsten hinabstieg, aber er achtete nicht darauf. Das beharrliche Stechen in seinem linken Knie bereitete ihm kaum mehr Sorge als die müden Füße oder der Muskelschmerz in Schultern und Armen nach einem anstrengenden Tag auf dem Drillplatz. Seinem Gesicht, hart und glatt wie der Stahl seines Schwertes am Gürtel, war davon jedenfalls nichts anzumerken.
Denn diese Beschwerden beunruhigten ihn wenig, jedenfalls im Vergleich zu dem Gespräch, das er gleich mit dem mächtigsten Mann der Welt würde führen müssen.
Miles erreichte den Vorraum am Ende der Treppe und betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild in einem polierten Schild an der Wand. Er zupfte seinen Umhang zurecht – rot-blau, die Farben der fürstlichen Wache – und strich sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar.
Neben der geschlossenen Tür saß ein schlaksiger Junge auf der Bank, der erst kürzlich kräftig gewachsen sein musste, da Hosenbeine und Ärmel viel zu kurz waren und Knöchel und Unterarme freigaben. Das wuschelige dunkle Haar fiel ihm ins Gesicht, auf dem Schoß hielt er ein offenes Buch. Mit einem Finger zeigte er noch auf die Zeile, die er zuletzt gelesen hatte, obwohl er längst eingeschlafen war.
Miles blieb stehen und murmelte: »Akadem.«
Der Junge zuckte im Schlaf zusammen, das Buch rutschte vom Schoß und fiel zu Boden. Er richtete sich auf, blinzelte und stammelte: »Ja, Herr. Was, äh … Herr?«
Miles legte ihm eine Hand auf die Schulter, ehe der junge Mann aufstehen konnte. »Immer mit der Ruhe. Bald sind Prüfungen, wie?«
Errötend senkte der Junge den Kopf und hob das Buch auf. »Ja, Ritter Miles. Da bleibt mir nicht viel Gelegenheit zum Schlafen.«
»An die Zeit kann ich mich auch noch erinnern«, sagte der Ritter. »Ist er drin?«
Der Junge nickte. »Soweit ich weiß, Ritter. Soll ich hineingehen und dich anmelden?«
»Bitte.«
Der Akadem erhob sich, strich seine zerknitterte graue Tunika glatt und verneigte sich. Anschließend klopfte er leise an die Tür und öffnete sie.
»Mein Fürst?«, sagte er. »Ritter Miles wünscht dich zu sehen.«
Es folgte eine lange Pause, dann antwortete eine sanfte Männerstimme: »Danke, Akadem. Schick ihn herein.«
Miles betrat den Meditationsraum des Ersten Fürsten, und der Junge schloss die schalldichte Tür hinter ihm. Miles ging auf ein Knie nieder, senkte den Kopf und wartete, bis er begrüßt wurde.
Gaius Sextus, Erster Fürst von Alera, stand in der Mitte des Raums auf dem Fliesenboden. An dem großen Mann fielen als Erstes das ernste Gesicht und die müden Augen auf. Zwar sah er aufgrund seiner Wasserkräfte aus, als habe er gerade erst das vierzigste Jahr überschritten, dennoch wusste Miles, dass er doppelt so alt war. Sein einst dunkles, glänzendes Haar war im letzten Jahr noch grauer geworden.
Auf den Fliesen unter Gaius wirbelten Farben, die ständig wechselten, Muster bildeten, wieder verschwanden und sich immerfort veränderten. Miles erkannte einen Teil der Südküste von Alera in der Gegend von Parcia, die kurz zu sehen war, ehe sie sich in eine Gebirgswildnis verwandelte, die nur im fernen Norden nahe der Schildmauer liegen konnte.
Gaius schüttelte den Kopf, fuhr mit der Hand durch die Luft und murmelte: »Genug.« Die Muster lösten sich auf, und die Fliesen nahmen wieder ihre gewohnte trübe Farbe an. Gaius ließ sich seufzend auf einen Stuhl an der Wand sinken. »So spät noch auf, Hauptmann?«
Miles erhob sich. »Ich war zufällig in der Zitadelle und wollte dir meine Aufwartung machen, mein Fürst.«
Gaius zog die angegrauten Augenbrauen hoch. »Deshalb bist du fünfhundert Stufen heruntergestiegen?«
»Ich habe sie nicht gezählt, mein Fürst.«
»Und wenn ich mich nicht irre, sollst du im Morgengrauen die neue Legionskommandantur inspizieren. Viel Schlaf wirst du nicht mehr finden.«
»Richtig. So wenig wie du, Herr.«
»Ach«, sagte Gaius. Er nahm ein Glas Wein vom Tisch neben dem Stuhl. »Miles, du bist ein Soldat, kein Diplomat. Sprich aus, was dir auf der Seele brennt.«
Miles seufzte und nickte. »Danke. Du bekommst nicht genug Schlaf, Sextus. Bei der Eröffnungszeremonie zum Winterend-Fest wirst du aussehen wie Gargantenscheiße. Du musst ins Bett.«
Der Erste Fürst winkte ab. »Bald. Ganz bestimmt.«
»Nein, Sextus. Du brauchst gar nicht abzuwinken. Seit drei Wochen bist du nun schon jede Nacht hier unten, und das sieht man dir an. Was dir fehlt, ist ein warmes Bett, eine sanfte Frau und viel Ruhe.«
»Unglücklicherweise wird mir alles drei versagt bleiben.«
»Verflucht«, erwiderte Miles. Er verschränkte die Arme. »Du bist der Erste Fürst von Alera und kannst alles haben, was du willst.«
In Gaius’ Augen flackerte Überraschung. Und Zorn. »Mein Bett wird wohl nicht warm werden, solange Caria darin liegt, Miles. Du weißt, wie es zwischen uns steht.«
»Was hast du erwartet? Du hast ein Kind geheiratet, Sextus. Sie hat geglaubt, sich Hals über Kopf in eine Romanze zu stürzen, und stattdessen ist sie bei einer vertrockneten alten Spinne von einem Politiker gelandet.«
Gaius presste die Lippen aufeinander, und der Zorn in seinen Augen vertiefte sich. Der Steinboden kräuselte sich und ließ den Tisch klappern. »Du wagst es, so mit mir zu reden, Hauptmann?«
»Du hast es mir befohlen, Herr. Aber ehe du mich wegtreten lässt, denk noch einmal drüber nach. Wenn ich falsch läge, würdest du dich nicht so über meine Worte ärgern, oder? Und wenn du nicht so müde wärest, hättest du dir deine Wut auch nicht anmerken lassen, nicht wahr?«
Der Boden beruhigte sich, und Gaius wirkte nun noch erschöpfter, wenn auch weniger aufgebracht. Miles war ein wenig enttäuscht. Früher hätte sich der Erste Fürst nicht so rasch von der Müdigkeit besiegen lassen.
Gaius trank einen Schluck Wein. »Was soll ich denn tun, Miles? Sag schon.«
»Ins Bett gehen«, antwortete Miles. »Mit einer Frau. Schlafen. Das Fest beginnt in vier Tagen.«
»Caria lässt nie ihre Tür für mich offen.«
»Such dir eine Konkubine«, schlug Miles vor. »Verdammt, Sextus, du brauchst ein wenig Zerstreuung, und das Reich braucht einen Erben.«
Der Erste Fürst verzog das Gesicht. »Nein. Mag sein, dass ich Caria schlecht behandelt habe, aber ich werde sie nicht auch noch der Schande aussetzen, dass ich mir eine Geliebte nehme.«
»Dann gib Aphrodin in ihren Wein, und behandle sie einmal wie eine Frau, Mann.«
»Diese romantische Ader kannte ich noch gar nicht an dir, Miles.«
Der Soldat schnaubte. »Du bist so angespannt, dass die Luft knistert, wenn du dich bewegst. Das Feuer lodert zu doppelter Größe auf, wenn du durch den Raum gehst. Jeder Elementar in der Hauptstadt spürt es; gewiss sollte den Hohen Fürsten, wenn sie zum Winterend-Fest anreisen, dein Kummer verborgen bleiben, oder?«
Gaius runzelte die Stirn. Er starrte einen Augenblick lang in seinen Wein, ehe er erwiderte: »Ich werde wieder von Träumen heimgesucht, Miles.«
Die Sorge traf Miles wie ein Schlag, dennoch bemühte er sich, sich nichts anmerken zu lassen. »Träume! Du bist doch kein Kind mehr, das sich vor einem Traum fürchtet, Sextus.«
»Es sind keine gewöhnlichen Albträume. An Winterend droht uns das Verhängnis.«
Miles versuchte, spöttisch zu klingen. »Bist du jetzt ein Wahrsager, mein Fürst, der den Tod voraussieht?«
»Nicht unbedingt den Tod«, sagte Gaius. »Ich verwende das alte Wort. Verhängnis. Schicksal. Verderben. Unser Schicksal ereilt uns an Winterend, und ich kann nicht sehen, was darauf folgt.«
»Es gibt kein Schicksal«, widersprach Miles. »Die Träume hattest du vor zwei Jahren auch schon mal, und damals hat keine Katastrophe das Reich vernichtet.«
»Weil ein eigensinniger kleiner Hirte und ein Haufen mutiger Wehrhöfer sie abgewendet haben. Allerdings nur um Haaresbreite. Aber wenn dir das Wort Schicksal nicht zusagt, nenn es die Stunde der Verzweiflung«, meinte Gaius. »An denen ist die Geschichte reich. Augenblicke, in denen das Schicksal tausender in Waagschalen liegt, die sich durch leichtes Antippen zur einen oder der anderen Seite neigen. Je nachdem, wie die Betroffenen handeln. Es kommt. Jetzt, zu Winterend, wird sich die Richtung entscheiden, in die sich das Reich entwickelt, und ich will verflucht sein, wenn ich erkennen kann, in welche. Aber es kommt, Miles. Es kommt.«
»Dann werden wir uns damit befassen«, erwiderte Miles. »Wenn es so weit ist. Eins nach dem anderen.«
»Genau«, sagte Gaius. Er erhob sich, trat auf die Mosaikfliesen und winkte Miles zu sich. »Ich zeige es dir.«
Miles runzelte die Stirn und beobachtete, wie der Erste Fürst eine Geste machte. Er spürte die unterschwellige Macht, die durch den Boden strömte: Elementare aus allen Winkeln des Reiches, die dem Willen des Ersten Fürsten gehorchten. Da er neben Gaius stand, konnte er diese elementargewirkte Karte, die sich in vielen Farben um ihn erhob, in allen Einzelheiten bewundern, bis er das Gefühl hatte, als Riese über einem geisterhaften Abbild der Zitadelle der Hauptstadt Alera Imperia zu stehen. Ihm wurde schwindelig, als das Bild verschwamm, sich nach Westen bewegte, hinüber zum fruchtbaren Amarant-Tal und darüber hinweg, über die Schwarzberge bis zur Küste. Die Darstellung wurde nun wieder klarer und verwandelte sich in ein bewegliches Bild über dem Meer, wo riesige Wellen von einem heftigen Sturm aufgepeitscht wurden.
»Da«, sagte Gaius. »Der achte Wirbelsturm in diesem Frühjahr.«
Nach einem Moment ehrfürchtigen Staunens sagte Miles: »Er ist riesig.«
»Ja. Und das ist nicht einmal der schlimmste. Sie machen sie noch größer.«
Miles sah den Ersten Fürsten an. »Jemand wirkt diese Stürme?«
Gaius nickte. »Die Ritualisten der Canim, glaube ich. Nie zuvor hatten sie so viel Macht über das Meer. Natürlich leugnet Botschafter Varg jede Verantwortung.«
»Dieser verlogene Hund«, zischte Miles. »Warum bittest du nicht die Hohen Fürsten an der Küste um Unterstützung? Mit genügend Windwirkern sollten sie in der Lage sein, die Stürme zu besänftigen.«
»Sie helfen bereits«, antwortete Gaius ruhig. »Obwohl es ihnen nicht bewusst ist. Ich habe den Stürmen bislang das Rückgrat gebrochen und den Schutz ihres Landes den Hohen Fürsten überlassen, soweit sie dazu in der Lage waren.«
»Dann bitte um zusätzliche Hilfe«, schlug Miles vor. »Riva oder Placida könnten den Küstenstädten Windwirker borgen.«
Auf eine Geste von Gaius hin verschwamm die Karte abermals und verschob sich in den äußersten Norden des Reiches, zum massiven, glatten Stein der Schildmauer. Miles runzelte die Stirn, bückte sich und schaute genauer hin. Viele Meilen von der Mauer entfernt sah er Gestalten, die sich halb verborgen im Schneegestöber bewegten. Er begann zu zählen und schätzte dann rasch die Menge ab. »Die Eismenschen. Aber sie haben sich seit Ewigkeiten nicht gerührt.«
»Jetzt schon«, sagte Gaius. »Sie sammeln sich. Antillus und Phrygia haben bereits zwei Angriffe auf die Schildmauer abgewehrt, trotzdem wird es immer schlimmer. Die Schneeschmelze hat sich verzögert, es wird eine schlechte Ernte geben. Und so bekommen die Südländer Gelegenheit, den Schildstädten verteuerte Lebensmittel zu verkaufen, und das bedeutet weitere Unannehmlichkeiten.«
Die Falten auf Miles’ Stirn vertieften sich. »Falls im Süden jedoch weitere Stürme wüten, bedroht das auch dort die Ernte.«
»Exakt«, antwortete Gaius. »Die Nordstädte würden hungern, und im Süden wäre man gegen mögliche Einfälle der Eismenschen nicht gewappnet.«
»Machen die Canim und die Eismenschen vielleicht gemeinsame Sache?«, fragte Miles.
»Die großen Elementare mögen es verhüten«, entfuhr es Gaius. »Ich hoffe noch immer, dass es lediglich ein Zufall ist.«
Miles knirschte mit den Zähnen. »In der Zwischenzeit verbreitet Aquitanius überall, dass allein deine Unfähigkeit an allem schuld ist.«
Gaius lächelte schief. »Aquitanius ist ein eher angenehmer, wenn auch gefährlicher Gegner. Für gewöhnlich handelt er geradlinig. Rhodos, Kalare und Forcia beunruhigen mich mehr. Die bringen gar keine Beschwerden mehr in den Senat ein. Das erregt mein Misstrauen.«
Der Soldat nickte. Er schwieg einen Moment, während er spürte, wie seine Sorge wuchs. »Das war mir gar nicht aufgefallen.«
»Da bist du nicht der Einzige. Wahrscheinlich verfügt niemand über ausreichende Kenntnisse, um das wahre Ausmaß des Problems zu erfassen«, meinte Gaius. Wieder fuhr er mit der Hand über die Mosaikkacheln, und das geisterhafte Bild der Karte verschwand. »Und so muss es auch bleiben. Das Reich befindet sich in einer äußerst prekären Lage, Miles. Eine überhastete Reaktion und ein einziger falscher Schritt könnten zur Spaltung zwischen den Städten führen, und damit wäre Alera der Zerstörung durch die Canim oder die Eismenschen ausgeliefert.«
»Oder durch die Marat«, fügte Miles hinzu und bemühte sich nicht, die Verbitterung in seiner Stimme zu verbergen.
 
»In dieser Hinsicht mache ich mir keine so großen Sorgen. Der neue Graf von Calderon hat es geschafft, freundschaftliche Beziehungen zu einigen der Hauptstämme aufzunehmen.«
Miles nickte und sparte von nun an das Thema Marat aus. »Es ist wirklich sehr viel, um das du dich kümmern musst.«
»Um das alles und noch mehr«, bestätigte Gaius. »Dazu kommen die Belastungen von Seiten des Senates, der Dianischen Liga, des Sklavenhändlerbundes und des Handelskonsortiums. Manche betrachten es als Zeichen meiner wachsenden Machtlosigkeit, dass ich die Kronlegion reaktiviert habe, sogar als Hinweis auf mögliche Altersschwäche.« Er holte tief Luft. »Das ganze Reich befürchtet mittlerweile, ich hätte vielleicht meinen letzten Winter erlebt und trotzdem noch keinen Nachfolger ernannt – derweil sind Hohe Fürsten wie Aquitanius bereit, falls nötig durch ein Meer aus Blut zum Thron zu waten.«
Miles dachte schweigend einen Augenblick lang über das Gehörte nach. »Verflucht.«
 
»Hm«, meinte Gaius. »Wie gesagt, eins nach dem anderen.« Plötzlich wirkte er sehr alt und sehr müde. Der Erste Fürst schloss die Augen, fasste sich wieder und straffte die erschöpften Schultern. Auch seine Stimme klang schließlich wieder gewohnt schroff und sachlich. »Ich muss diesen Sturm noch ein paar Stunden im Auge behalten. Wenn ich kann, lege ich mich danach schlafen. Aber ich habe wenig Zeit.«
Der Soldat verneigte sich. »Ich habe vorlaut gesprochen, mein Fürst.«
»Immerhin ehrlich. Deswegen sollte ich keinen Groll gegen dich hegen. Entschuldige bitte, Miles.«
»Keine Ursache.«
Gaius seufzte. »Kannst du etwas für mich erledigen, Hauptmann?«
»Gewiss.«
»Verdoppele die Wache der Zitadelle für die Dauer des Festes. Ich habe zwar keinen handfesten Beweis für einen bevorstehenden Anschlag, aber es ist wohl nicht unvernünftig, davon auszugehen, dass mancher seine Politik mit dem Dolch fortführen möchte. Besonders, seit Fidelias uns verlassen hat.« Bei diesen Worten verdüsterte sich die Miene des Ersten Fürsten wieder, und Miles zuckte vor Mitgefühl zusammen. »Er kennt die meisten Gänge in der Zitadelle und in den Tiefen.«
Miles blickte Gaius Sextus in die Augen. »Ich kümmere mich darum.«
Gaius nickte und ließ den Arm sinken. Miles betrachtete dies als Aufforderung zu gehen und trat auf die Tür zu. Dort blieb er stehen und schaute über die Schulter zurück. »Ruh dich aus. Und denk darüber nach, was ich über einen Erben gesagt habe, Sextus. Bitte. Wenn die Nachfolge eindeutig geregelt wäre, hätten wir vielleicht einige Sorgen weniger.«
Gaius nickte erneut. »Ich werde mich darum bemühen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
Miles verneigte sich tief vor Gaius, wandte sich um und öffnete die Tür. Ein lautes, sägeartiges Geräusch erklang von draußen, und Miles meinte: »Dein Page schnarcht sehr laut.«
»Beurteile ihn nicht zu streng«, erwiderte Gaius. »Er sollte eigentlich Schafhirte werden.«
1
Tavi spähte um die Ecke des Schlaftraktes im Haupthof der Akademie und sagte zu dem jungen Mann neben sich: »Du hast schon wieder diesen Ausdruck im Gesicht.«
Ehren Patronus Vilius, kaum fünf Fuß groß und relativ mager, mit heller Haut und dunklen Augen, spielte am Saum seiner grauen Akademrobe herum. »Was für einen Ausdruck?«
Tavi zog sich von der Ecke zurück und zupfte selbst vergeblich an seiner Schulkleidung. Gleichgültig, wie oft er sein Gewand anpassen ließ, sein Körper behielt stets einen Vorsprung vor der Näherin. Die Robe war an Schultern und Brust zu eng, und die Ärmel reichten nie bis zum Handgelenk. »Na, du weißt schon, Ehren. Den du aufsetzt, wenn du jemandem einen Rat erteilen willst.«
»Eigentlich ist es der, den ich aufsetze, wenn ich jemandem einen Rat geben will, von dem ich weiß, dass ihn der Betreffende sowieso nicht annehmen wird.« Ehren spähte ebenfalls um die Ecke. »Tavi, sie sind alle da. Wir können genauso gut auch gleich abhauen. Es gibt nur den einen Weg in den Speisesaal, sie werden uns sehen.«
»Sie sind nicht alle da«, meinte Tavi. »Die Zwillinge fehlen.«
»Gut. Es sind nur Brencis und Renzo und Varien. Jeder von denen wird allein mit uns beiden fertig.«
»Wir könnten uns zur Abwechslung ja mal wehren«, erwiderte Tavi.
Der kleinere Junge seufzte. »Tavi, es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand zu Schaden kommt. Vielleicht sogar ernsthaft verletzt wird.«
»Das würden sie nicht wagen«, erwiderte Tavi.
»Sie sind Cives, Tavi. Wir nicht. So einfach ist das.«
»Aber so läuft das nicht.«
»Hast du zufällig mal im Geschichtsunterricht zugehört?«, konterte Ehren. »Natürlich läuft das so. Sie werden behaupten, es sei ein Unfall gewesen und es tue ihnen fürchterlich leid. Vorausgesetzt, die Sache kommt überhaupt vor Gericht, wird der Richter sie eine kleine Strafe an deine Verwandten zahlen lassen. Während du dein Leben lang ohne Augen oder ohne Füße herumlaufen musst.«
Tavi schob das Kinn vor und ging los – um die Ecke. »Ich werde nicht aufs Frühstück verzichten. Ich war die ganze Nacht in der Zitadelle, und er hat mich ein Dutzend Mal diese krähenbeschissene Treppe hinaufgeschickt. Wenn ich noch eine Mahlzeit ausfallen lassen muss, werde ich wahnsinnig.«
Ehren packte ihn am Arm. Seine Kordel, an der sich eine weiße, eine blaue und eine grüne Perle befanden, baumelte gegen seine Brust. Drei Perlen bedeuteten, dass die Elementarmeister der Akademie der Meinung waren, Ehren verfüge über so gut wie gar kein Talent zur Elementarbeschwörung.
Nun ja, immerhin hatte er drei Perlen mehr als Tavi.
Ehren blickte Tavi in die Augen. »Wenn du allein losgehst, bist du längst wahnsinnig. Bitte, warte doch noch ein bisschen.«
Genau in diesem Augenblick erklang die dritte Morgenglocke mit ihren drei langen Schlägen. Tavi sah mit grimmiger Miene zum Glockenturm. »Die letzte Glocke. Wenn wir jetzt nicht losgehen, haben wir keine Zeit mehr zum Essen. Mit ein bisschen Glück können wir uns an ihnen vorbeischmuggeln, wenn irgendwer anders herauskommt. Vielleicht sehen sie uns gar nicht.«
»Ich verstehe nicht, wo sich Max herumtreibt«, meinte Ehren.
Tavi blickte sich wieder um. »Ich habe auch keine Ahnung. Ich bin erst kurz vorm Abendläuten zum Palast aufgebrochen, aber bis heute Morgen hat niemand in seinem Bett gelegen.«
»Er war wieder die ganze Nacht unterwegs«, klagte Ehren. »Wie will er die Prüfungen bestehen, wenn er so weitermacht? Nicht einmal ich kann ihm dann helfen.«
»Du kennst doch Max«, sagte Tavi. »Planen ist nicht gerade seine Stärke.« Tavis Magen verkrampfte sich vor Hunger und gab ein Knurren von sich. »Also, wir müssen los. Kommst du mit oder nicht?«
Ehren biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »So hungrig bin ich gar nicht. Sehen wir uns im Unterricht?«
Tavi war zwar enttäuscht, legte Ehren jedoch die Hand auf den Arm. Er konnte den Widerwillen des kleineren Jungen verstehen. Ehren war bei seinen Eltern zwischen Büchern und Tabellen aufgewachsen, und sein hervorragendes Gedächtnis und seine Fähigkeiten in Mathematik machten den Mangel an starker Elementarbeschwörung mehr als wett. Doch diese armselige Grausamkeit, mit der manch junger Elementarwirker jene behandelte, die ihm nicht gewachsen waren, hatte Ehren nicht kennen gelernt, ehe er an die Akademie gekommen war.
Tavi hingegen hatte mit diesem Problem sein ganzes Leben zu kämpfen gehabt.
»Wir treffen uns im Unterricht«, erwiderte er.
Der kleinere Junge spielte mit den tintenfleckigen Fingern an der Kordel herum. »Bist du sicher?«
»Keine Sorge. Ich schaffe das schon.« Damit trat Tavi um die Ecke und ging über den Hof auf den Speisesaal zu.
Einige Sekunden später hörte Tavi eilige Schritte hinter sich, und Ehren gesellte sich schnaufend zu ihm, nervös zwar, aber entschlossen. »Ich sollte mehr essen«, sagte er. »Sonst wachse ich nicht mehr.«
Tavi grinste ihn an, und die beiden setzten den Weg gemeinsam fort.
Die Frühlingssonne erwärmte die kühle Luft aus den Bergen, welche die Hauptstadt Alera umgaben. Der Hof der Akademie war ein wunderbar bepflanzter Garten, durch den verschlungene, mit weißem Stein gepflasterte Wege führten. Überall sprossen mittlerweile auf dem grünen Rasen die Blüten und schmückten das Gelände mit ihrem Rot und Blau. Auf den Bänken saßen Akademe, redeten, lasen oder verspeisten ihr Frühstück. Alle trugen die gleiche Kleidung, eine graue Robe über grauer Tunika. Vögel flatterten durch den Sonnenschein und hockten auf den Dächern der Gebäude, ehe sie sich von dort in die Tiefe stürzten und sich auf die Jagd nach Insekten machten oder die Krümel aufpickten, die Akademe fallen gelassen hatten.
Hier schien einträchtiger Friede zu herrschen, wie man ihn sonst in der mächtigen Hauptstadt kaum zu finden vermochte.
Tavi war es zuwider.
Kalarus Brencis Minoris und seine Kumpane hatten sich an ihrem gewohnten Platz niedergelassen, an einem Brunnen nahe dem Eingang zum Speisesaal. Allein der Anblick des Jungen genügte, um Tavi den Tag zu verderben. Brencis war groß und stattlich gewachsen, hatte ein schmales Gesicht und benahm sich wie ein Fürst. Er trug sein Haar in langen Locken, was ein wenig verrucht wirkte und zurzeit im Süden als letzter Schrei galt, besonders in seiner Heimatstadt Kalare. Seine Akademrobe war aus feinstem Stoff und nach Maß geschneidert, dazu mit Goldfäden verziert. An seiner Kordel glänzten Halbedelsteine, kein billiges Glas, und sie lag mit mehreren Vertretern aller sechs Farben schwer auf seiner Brust. Jede Farbe verkörperte einen Bereich der Elementarbeschwörung: Rot, Blau, Grün, Braun, Weiß und Silber.
Während Tavi und Ehren sich dem Brunnen näherten, schienen die Akademe aus Parcia in eine Unterhaltung vertieft zu sein. Ihre goldbraune Haut leuchtete in der Sonne. Tavi ging schneller. Nur noch ein paar Schritte, dann wären sie an ihnen vorbei.
Was jedoch nicht gelang. Brencis erhob sich von seinem Platz auf dem Brunnenrand und grinste höhnisch. »Schau mal einer an«, sagte er. »Der kleine Gelehrte und sein Freund, die Missgeburt, machen einen Spaziergang. Ich bin nicht sicher, ob sie den in den Speisesaal lassen, wenn du ihm nicht eine Leine anlegst, Gelehrterchen.«
Tavi beachtete Brencis mit keinem Blick und ging einfach weiter. Immerhin bestand die Chance, dass der andere Junge sie dann in Ruhe ließ.
Ehren blieb jedoch stehen und starrte Brencis böse an. Der kleinere Junge fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und erwiderte scharf: »Er ist keine Missgeburt.«
Brencis grinste breiter und trat näher. »Und ob, Gelehrterchen. Das Äffchen des Ersten Fürsten. Einmal hat es ein Kunststück vorgeführt, und nun will Gaius es herumzeigen wie jedes andere dressierte Tier.«
»Ehren«, sagte Tavi, »komm.«
Plötzlich begannen Ehrens dunkle Augen zu glänzen, und seine Unterlippe zitterte. Dennoch hob der Junge das Kinn und blickte Brencis unverwandt an. »Er ist keine Missgeburt«, beharrte Ehren.
»Nennst du mich einen Lügner, Gelehrterchen?«, fragte Brencis. Sein Lächeln nahm einen bösartigen Zug an, und er ballte die Hand zur Faust. »Ich dachte, du hättest mittlerweile gelernt, Leuten die dir überlegen sind ein bisschen mehr Respekt zu zollen.«
Tavi knirschte mit den Zähnen. Es war einfach ungerecht: Idioten wie Brencis konnten sich aufspielen, wie sie wollten, während anständige Jungen wie Ehren ständig drangsaliert wurden. Brencis hatte offensichtlich nicht die Absicht, sie in Frieden ziehen zu lassen.
Daher warf Tavi Ehren einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Der kleinere Junge wäre nicht in diese Lage geraten, wenn er nicht Tavi hinterhergetrottet wäre. Also drehte sich Tavi zu Brencis um. »Lass uns doch in Ruhe. Wir wollen nur frühstücken.«
Brencis legte die Hand ans Ohr und spielte den Erstaunten. »Habt ihr etwas gehört? Varien, hast du etwas gehört?«
Hinter Brencis standen zwei seiner Kumpane auf und schlenderten hinzu. Varien war mittelgroß und stämmig gebaut. Seine Robe war nicht annähernd so fein wie Brencis’, aber immer noch deutlich teurer als Tavis. Wegen seines fetten Gesichts wirkte Varien wie ein trotziger, verzogener Bengel. Das feine blonde Haar hing ihm strähnig herab, es lockte sich nicht wie das von Brencis. An seiner Kordel tummelten sich mehrere weiße und grüne Perlen, die allerdings farblich gar nicht zu seinen schlammbraunen Augen passten. »Hat da gerade eine Ratte gequiekt?«
»Könnte sein«, meinte Brencis ernst. »Gut, Gelehrterchen. Schlamm oder Wasser, was ist dir lieber?«
Ehren schluckte und trat einen Schritt zurück. »Augenblick mal. Ich will keinen Streit.«
Brencis folgte dem kleinen Jungen, kniff die Augen zusammen und packte Ehren an der Akademrobe. »Schlamm oder Wasser, du feige Sau.«
»Schlamm, mein Fürst«, drängte Varien. Seine Augen funkelten hässlich. »Lass ihn bis zum Hals einsinken und sein kluges Köpfchen ein wenig in der Sonne schmoren.«
»Lass mich gehen!«, sagte Ehren schrill. Man hörte ihm die Panik an.
»Also Schlamm«, meinte Brencis. Er deutete mit einer Hand auf den Boden, und die Erde hob sich und bebte. Einen Moment lang geschah nichts, dann regte sich der Boden, wurde weicher, eine große Blase stieg durch die Mischung aus Erde und elementargerufenem Wasser auf und blubberte schmatzend.
Tavi blickte sich nach Hilfe um, aber von den Maestros war keiner in der Nähe, und außer Max wagte es keiner der anderen Schüler, sich mit Brencis anzulegen, wenn der sich auf Kosten eines Schwächeren amüsierte.
»Warte!«, rief Ehren. »Bitte, das sind meine einzigen Schuhe.«
»Na ja«, entgegnete Brencis, »es scheint, deine Freihöferfamilie hätte noch eine Generation lang sparen sollen, ehe sie jemanden herschickt.«
Tavi musste Brencis von Ehren ablenken, und ihm fiel nur eine Möglichkeit ein, wie er das bewerkstelligen konnte. Er bückte sich, nahm eine Hand voll nasser Erde und warf sie Brencis an den Kopf.
Dem jungen Kalarer blieb vor Überraschung die Luft weg, als ihm der Matsch ins Gesicht klatschte. Er wischte sich den Dreck von der Haut und betrachtete schockiert seine schmutzigen Finger. Einige Akademe, die einen Kreis um sie gebildet hatten, lachten, aber als sie Brencis’ Blick begegneten, verstummten sie und sahen zu Boden, wobei sie ihr Grinsen hinter vorgehaltener Hand verbargen. Brencis wandte sich wütend Tavi zu.
»Komm schon, Ehren«, sagte Tavi und schob den kleineren Jungen in Richtung Speisesaal. Ehren stolperte und eilte los. Tavi wollte ihm folgen, ohne dabei Brencis den Rücken zuzukehren.
»Du«, fauchte Brencis. »Wie kannst du es wagen?«
»Hör auf, Brencis«, sagte Tavi. »Ehren hat dir nichts getan.«
»Tavi«, zischte Ehren warnend.
Tavi spürte eine Bewegung hinter sich, noch während Ehren sprach, und duckte sich. Er sprang zur Seite, und zwar gerade noch rechtzeitig, um einem Schlag von Brencis’ zweitem Kumpan Renzo auszuweichen.
Renzo war einfach nur riesig. Riesig in der Höhe und riesig in der Breite, und er glich im Grunde einer Scheune oder einem Lagerhaus: Er war groß und simpel. Er hatte dunkles Haar, an seinem Kinn zeigten sich erste Ansätze eines Bartes, und die winzigen Augen starrten aus einem kantigen Gesicht. Renzos Akademtunika war aus einem außergewöhnlichen Stoff geschneidert, und schon allein der Größe wegen musste sie doppelt so viel gekostet haben wie eine normale. An seiner Kordel hatte Renzo ausschließlich schwere braune Perlen, dafür jedoch viele. Er trat einen weiteren Schritt auf Tavi zu, um ihn erneut zu schlagen.
Abermals wich Tavi aus und rief: »Ehren, such Maestro Gallus!«
Als Ehren aufschrie, blickte Tavi sich um: Varien hatte dem jungen Gelehrten die Arme um die Schultern geschlungen und drückte brutal zu.
Für einen Moment war Tavi abgelenkt, weshalb er Renzos nächsten Angriff nicht kommen sah, und der große schweigsame Junge packte ihn und stieß ihn ohne großes Aufhebens in den Brunnen.
Das Wasser spritzte, und die Kälte raubte Tavi den Atem. Er zappelte und versuchte, oben und unten zu unterscheiden, ehe er sich in dem zwei Fuß tiefen Brunnen aufrichtete. Prustend saß er da.
Brencis stand vor ihm, und Schlamm tropfte ihm vom Ohr auf seine kostbare Robe. Das hübsche Gesicht war zu einer zornigen Grimasse verzerrt. Er hob die Hand und vollführte eine Geste.
Das Wasser um Tavi begann zu brodeln. Dampf und Hitze wallten von der Oberfläche auf, und Tavi schnappte nach Luft und schirmte die Augen ab, während er sich mit der anderen Hand abstützte. Die Hitzewelle war so rasch vorbei, wie sie gekommen war.
Plötzlich konnte sich Tavi nicht mehr bewegen. Er blickte sich um, und nachdem der Dampf abgezogen war, sah er, dass das Wasser gefroren war. Die Kälte kroch ihm in die Knochen, und er versuchte, tief Luft zu holen.
»Wie«, murmelte er und starrte Brencis an. »Wie hast du das gemacht?«
»Eine Anwendung der Elementarbeschwörung, Missgeburt«, antwortete Brencis. »Beim Feuerwirken geht es schließlich darum, Hitze zu beeinflussen. Ich habe einfach alle Wärme aus dem Wasser entfernt. Das ist etwas für Fortgeschrittene, versteht sich. Allerdings wirst du so was ohnehin niemals begreifen.«
Tavi schaute sich im Hof um. Varien hielt Ehren immer noch fest. Der Junge keuchte vor Schmerz. Fast alle unbeteiligten Akademe waren eilig davon geschlichen. Nur ein halbes Dutzend stand noch herum, aber keiner blickte zum Brunnen; sie alle beschäftigten sich mit ihren Büchern, ihrem Frühstück oder mit den Besonderheiten eines Gebäudedaches auf der anderen Seite des Hofes.
Die Kälte begann zu schmerzen. Tavi spürte ein Reißen in Armen und Beinen, und er bekam kaum noch Luft. Die Angst drohte ihn zu überwältigen, sein Herz klopfte ihm bis zum Hals.
»Brencis«, sagte er. »Lass das lieber. Die Maestros …«
»… scheren sich keinen Deut um dich, Missgeburt.« Er betrachtete Tavi mit kühler Berechnung. »Ich bin der älteste Sohn eines Hohen Fürsten von Alera. Du bist ein Niemand. Ein Nichts. Hast du das immer noch nicht begriffen?«
Dieser Junge wollte ihn quälen, und er hatte seine Worte mit Bedacht gewählt. Brencis versuchte ihn unterschwellig zu beeinflussen, aber in Wahrheit machte das keinen großen Unterschied aus. Die Worte taten weh. Den größten Teil seines bisherigen Lebens hatte Tavi davon geträumt, den Wehrhof seiner Tante und seines Onkels zu verlassen, um die Akademie zu besuchen und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, obwohl er über keinerlei Fähigkeiten zur Elementarbeschwörung verfügte.
Das Schicksal hatte ihm diesen Wunsch erfüllt und ihn gleichzeitig grausam dafür bestraft.
Vor Kälte konnte Tavi kaum noch sprechen. »Brencis, wir werden beide einen Tadel bekommen, wenn die Maestros uns so sehen. Lass mich raus. Tut mir leid wegen des Sch-schlamms.«
»Es tut dir leid? Als würde mir das etwas bedeuten!« Brencis wandte sich um. »Renzo.«
Renzo holte mit der Faust aus und schlug Tavi auf den Mund. Schmerz schoss durch die Lippe, und Tavi spürte, dass sie aufgeplatzt war. Auf seiner Zunge lag der metallische Geschmack von Blut. Die Wut bekam die Oberhand über seine Angst, und er rief: »Sollen dich die Krähen holen, Brencis! Lass uns in Frieden!«
»Er hat immer noch Zähne, Renzo«, meinte Brencis.
Renzo sagte nichts, sondern schlug nochmals zu. Diesmal härter. Tavi versuchte, mit dem Kopf auszuweichen, aber das Eis hielt ihn fest. Vor Schmerz traten ihm die Tränen in die Augen, die er am liebsten unterdrückt hätte.
»Lass ihn los!«, schnaufte Ehren, doch niemand hörte auf ihn. Der Schmerz in Tavis Gliedern nahm zu, und er spürte, wie seine Lippen taub wurden. Er wollte um Hilfe schreien, brachte jedoch nur schwache Laute hervor.
»Also, Missgeburt«, sagte Brencis. »Du möchtest, dass ich dich in Frieden lasse. Wie du willst. Nach dem Mittagessen schaue ich wieder vorbei, vielleicht hast du dann ja noch etwas zu sagen.«
Tavi blickte auf und sah seine Gelegenheit kommen – aber nur, wenn Brencis weiter auf ihn konzentriert blieb. Also starrte er den Jungen an und stieß einen leisen Fluch aus.
Brencis legte den Kopf schief und trat einen Schritt vor. »Was war das?«
»Ich habe gesagt«, knirschte Tavi, »du bist mitleiderregend. Ein verzogenes Muttersöhnchen und ein Feigling. Du hast doch Angst vor jedem, der dir nicht hoffnungslos unterlegen ist. Weil du so ein Schwächling bist, suchst du dir Jungen wie Ehren und mich, um sie zu schikanieren. Du bist so armselig.«
Brencis kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. »Weißt du was, Missgeburt? Ich muss dich ja nicht unbedingt in Frieden lassen.« Er legte eine Hand auf das Eis, das sich daraufhin ächzend und knarrend verformte. Tavi spürte einen scharfen Schmerz in der Schulter.
»Wenn dir das lieber ist«, sagte Brencis, »kann ich auch bei dir bleiben.«
Varien rief: »Brencis!«
Tavi beugte sich vor und knurrte: »Mach doch, Muttersöhnchen. Mach schon. Wovor hast du Angst?«
Brencis’ Augen funkelten vor Wut, und das Eis bewegte sich stärker. »Das hast du dir selbst eingebrockt, Paganus.«
Tavi biss die Zähne zusammen, um nicht laut zu schreien.
»Guten Morgen!«, ertönte eine laute Stimme. Ein großer, muskulöser junger Mann mit dem Kurzhaarschnitt eines Legionare ragte hinter Brencis auf und packte ihn beiläufig am Kragen und im langen Haar. Ohne Vorwarnung schlug der junge Mann Brencis’ Kopf auf das Eis, das daraufhin laut krachte und brach. Daraufhin zog er Brencis zurück und stieß den jungen Fürsten rücklings auf das grüne Gras.
»Max!«, rief Ehren.
Renzo wollte Max einen Hieb in den Nacken verpassen, doch der große junge Mann duckte sich und versetzte Renzo einen Schlag in den Bauch. Renzo wich die Luft aus der Lunge, und er taumelte. Max packte einen seiner Arme und schob ihn neben Brencis.
Dann sah er Varien an und kniff die Augen zusammen.
Der junge Adlige erbleichte, ließ Ehren los, hob die Hände und wich zurück. Er und Renzo zogen den benommenen Brencis auf die Beine, und gemeinsam flohen die drei Schläger vom Hof. Überall tuschelten Akademe, die das Geschehen beobachtet hatten.
»Bei den Elementaren, Calderon«, rief Max Tavi zu, laut genug, damit jeder es hören konnte, der nicht taub war. »Ich bin heute Morgen so ungeschickt. Habe ich diese beiden womöglich aus Versehen angerempelt?« Sofort kam er zum Brunnen und sah sich an, wie Brencis Tavi gequält hatte. Max nickte, atmete tief durch und konzentrierte sich. Als Nächstes holte er mit der Faust aus und ließ sie neben Tavi aufs Eis krachen. Wie ein Spinnennetz breiteten sich Risse aus, und einige Splitter flogen auf Tavis taube Haut. Max musste mehrmals zuschlagen, aber bei seiner elementarverstärkten Kraft fiel es ihm nicht schwer, das Eis zu pulverisieren und Tavi aus seinem Gefängnis zu befreien. Nach einer halben Minute waren die eisigen Fesseln gesprengt, und Ehren und Max hoben Tavi gemeinsam aus dem Brunnen.
Einen Moment lang blieb Tavi still auf dem Boden liegen und biss die Zähne zusammen. Vor lauter Kälte konnte er nicht sprechen.
»Bei den Krähen«, fluchte Max. Er begann, Tavis Arme und Beine kräftig zu reiben. »Er ist ja fast erfroren.«
Tavis Glieder kribbelten schmerzhaft. Sobald er seine Stimme wiedergefunden hatte, keuchte er: »Max, lass nur. Bring mich zum Frühstück.«
»Frühstück?«, fragte Max. »Du machst Scherze, Calderon.«
»Ich möchte vernünftig frühstücken, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
»Oh. Dann kann es dir ja nicht so schlecht gehen«, meinte Max. Er half Tavi auf die Beine. »Danke übrigens, dass du ihn von mir abgelenkt hast, bis ich zuschlagen konnte. Was ist passiert?«
»Brencis«, zischte Tavi. »Mal wieder.«
Ehren nickte ernst. »Er wollte mich bis zum Hals in der Erde begraben, aber Tavi hat ihm eine Hand voll Schlamm ins Gesicht geworfen.«
»Ha«, sagte Max. »Da wäre ich zu gern dabei gewesen.«
Ehren biss sich auf die Unterlippe und schielte zu dem größeren Jungen hoch. »Wenn du dich nicht die ganze Nacht draußen herumgetrieben hättest, wärest du ja vielleicht hier gewesen.«
Der andere Akadem errötete. Antillar Maximus’ Gesicht konnte man nicht gerade hübsch nennen, dachte Tavi. Aber seine klaren Züge drückten Stärke aus. Max hatte die wolfsgrauen Augen der Hohen Häuser aus dem Norden, er war kräftig gebaut und dabei geschmeidig wie eine Katze. Für gewöhnlich rasierte er sich jeden Tag gründlich, doch heute Morgen hatte er dazu wohl keine Zeit gehabt, und der Bartschatten verlieh ihm einen schurkischen Hauch, der gut zu der krummen, bereits zweimal gebrochenen Nase passte. Max trug eine einfache, zerknitterte Robe, die sich um Schultern und Brust spannte. Seine Kordel, die eine große Zahl Perlen in verschiedenen Farben aufwies, war mehrmals mit Knoten geflickt, weil sie schon einige Male gerissen war.
»Tut mir leid«, murmelte Max, während er Tavi stützte und in Richtung Speisesaal führte. »War anders nicht machbar. Manche Dinge sollte ein Mann sich nicht entgehen lassen.«
»Antillar«, schnurrte eine weibliche Stimme im Dialekt von Attica. Tavi öffnete die Augen und sah eine hinreißende junge Frau, die das dunkle Haar zu einem langen Zopf geflochten über der linken Schulter trug. Sie war von unübertroffener Schönheit, und in den dunklen Augen glühte eine Sinnlichkeit, mit der sie längst beinahe jeden jungen Mann an der Akademie betört hatte. Ihre Akademrobe konnte den üppigen Schwung ihrer Brüste kaum im Zaum halten; kostbare Seide aus dem Süden schmiegte sich an die Hüften und deutete die Umrisse ihrer Beine an, während sie über den Hof stolzierte.
Max drehte sich zu ihr um und verneigte sich galant. »Guten Morgen, Celine.«
Celine lächelte verheißungsvoll und gestattete Max einen Kuss auf ihre Hand. Dabei ließ sie ihre Hand in seiner liegen und seufzte. »Oh, Antillar. Ich weiß, es gefällt dir, meinen Verlobten bewusstlos zu schlagen, aber du bist so viel … größer als er. Mir erscheint es nicht gerecht.«
»Das Leben ist eben ungerecht«, war eine zweite weibliche Stimme zu hören, und eine zweite Schönheit gesellte sich zu ihnen. Man konnte sie kaum von Celine unterscheiden, nur trug sie den Zopf über der anderen Schulter. Sie legte Max die Hand auf die Schulter und fügte hinzu: »Meine Schwester ist manchmal einfach zu romantisch veranlagt.«
»Verehrte Celeste«, murmelte Max. »Ich bemühe mich doch nur, ihm gutes Benehmen beizubringen. Zu seinem eigenen Besten.«
Celeste warf Max einen durchtriebenen Blick zu. »In dir steckt wirklich ein Tier von einem Mann.«
Max nahm den Arm zurück und verneigte sich galant vor der jungen Adelsfrau. »Celeste«, sagte er. »Celine. Ich hoffe doch, ihr habt wohl geruht heute Nacht? Beinahe hättet ihr das Frühstück versäumt.«
Beide Münder verzogen sich zu einem identischen Lächeln. »Was für ein animalischer Kerl«, erwiderte Celine.
»Ein Schurke«, fügte ihre Schwester hinzu.
»Meine Damen.« Max verneigte sich abermals und schaute zu, wie sie davongingen, während er bei Tavi und Ehren stehen blieb.
»Du treibst mich in den Wahnsinn, Max«, sagte Tavi.
Ehren blickte über die Schulter zu den Zwillingen, dann sah er Max verwirrt an. Blinzelnd fragte er: »Warst du dort die ganze Nacht? Bei beiden?«
»Sie teilen sich nun mal ein Zimmer. Es wäre wirklich unhöflich, sich um die eine zu bemühen und die andere einsam verkümmern zu lassen«, sagte Max fromm. »Ich kann doch nichts für meine gute Erziehung.«
Tavi schaute über die Schulter, unfähig, den Blick vom Hüftschwung der Mädchen abzuwenden. »Wahnsinn, Max. Du treibst mich in den Wahnsinn.«
Max lachte. »Gern geschehen.«
Die drei betraten den Speisesaal gerade rechtzeitig, um noch eine Mahlzeit aus der Küche zu bekommen, doch sie hatten kaum einen Platz an einem der runden Tische gefunden, da hörten sie eilige Schritte. Ein Mädchen in Tavis Alter, kurz, stämmig, unscheinbar und in grauer Robe, blieb neben ihnen stehen, und ein verirrter Sonnenstrahl ließ ihre kleine Sammlung grüner und blauer Perlen funkeln. Aus dem Zopf ihres feinen, braunen Haars hatten sich Strähnen gelöst. »Keine Zeit zum Frühstücken«, platzte sie heraus, »lasst alles stehen und liegen und kommt mit.«
Tavi blickte von seinem Teller auf, den er gerade mit Schinken und frischem Brot beladen hatte, und bedachte das Mädchen mit einem mürrischen Blick. »Du würdest nicht glauben, was ich für dieses Frühstück alles durchgemacht habe, Gaelle«, sagte er. »Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis dieser Teller leer ist.«
Gaelle Patronus Sabinus sah sich hastig um und beugte sich dann vor. Sie murmelte: »Maestro Killian sagt, unser großer Kampf wird gleich beginnen.«
»Jetzt?«, entfuhr es Ehren.
Max warf sehnsüchtig einen Blick auf seinen Teller und fragte: »Vor dem Frühstück?«
Tavi seufzte und schob den Stuhl zurück. »Verfluchte Krähen und blutige Aasfresser.« Er erhob sich, und dabei verspürte er ein schmerzhaftes Ziehen in Armen und Beinen. »Also gut, meine Lieben. Brechen wir auf.«
2
Tavi betrat das alte Studierzimmer aus grauem Stein – ein kleines eingeschossiges Gebäude im Westhof der Akademie, das selten benutzt wurde. Der Raum musste ohne Fenster auskommen, und das Moos führte einen stillen Krieg gegen den Efeu um die Besiedelung von Mauern und Dach. Das Gebäude unterschied sich kaum von einem Lagerhaus, doch auf einem Schild an der Tür stand in klaren Buchstaben geschrieben: MAESTRO KILLIAN – HEILENDE ELEMENTARBESCHWÖRUNG.
Mehrere abgewetzte, aber gut gepolsterte alte Bänke waren um ein Podest mit einer großen Schiefertafel platziert. Die anderen folgten Tavi hinein, Max als Letzter. Der große Antillaner schloss die Tür hinter ihnen und blickte sich um.
»Alle bereit?«, fragte Max.
Tavi schwieg, Ehren und Gaelle jedoch bejahten. Max legte die Hand flach auf die Tür und schloss kurz die Augen.
»Gut«, sagte er. »Wir sind allein.«
Tavi drückte fest auf eine bestimmte Stelle an der Schiefertafel, woraufhin ein Spalt erschien, der wie mit dem Lot gefällt gerade nach unten lief. Er stemmte sich mit der Schulter gegen den Schiefer und schob die Geheimtür auf. Kalte Luft strömte ihm entgegen, und er betrachtete die schmale Steintreppe, die sich hinab in die Erde wand.
 
 
1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung März 2010 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe 2005 by Jim Butcher Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Published by Arrangement with Longshot LLC. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Melanie Miklitza, Inkcraft, München Umschlagillustration: © Melanie Miklitza, Inkcraft, München Redaktion: Waltraud Horbas UH · Herstellung: RF
eISBN : 978-3-641-03843-4V002
 
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