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LEIDER VIEL ZU SEXY! von MARTON, SANDRA Als Aushilfs-Nanny ist Ana wunderbar - aber leider viel zu sexy. Ihre ständige Nähe ist für Lincoln eine erotische Herausforderung. Von Tag zu Tag begehrt er die aufregend sinnliche junge Frau mehr - und muss sich bezähmen. Eine Affäre kann er sich jetzt nicht erlauben … HEISSE KÜSSE - STRENG NACH PROTOKOLL von BANKS, LEANNE Eigentlich soll sie Daniel Conelly,den angehenden Fürsten von Altaria, in der strengen Hof-Etikette unterweisen - jetzt spielt plötzlich er den Lehrer. Und seine Lektionen zum Thema "Küssen" sind so aufregend, dass Erin beinahe ihren ganz speziellen Auftrag vergisst ... MIT DEM EX INS BETT? von OLIVER, ANNE Ist das wirklich Luke? Entgeistert starrt Melanie auf den attraktiven schlafenden Mann - und würde sich am liebsten sofort zu ihm legen, ihn streicheln, küssen, lieben. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Was hat ihr Exgeliebter jetzt noch in ihrem Bett zu suchen?
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Seitenzahl: 524
Sandra Marton, Anne Oliver, Leanne Banks
COLLECTION BACCARA, BAND 285
IMPRESSUM
COLLECTION BACCARA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1
© 2008 by Sandra Myles Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Roman Poppe
© 2007 by Anne Oliver Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Nicole Selmer
© 2002 by Harlequin Books S. A. Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Brigitte Marliani-Hörnlein
Fotos: Harlequin Books S.A.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe COLLECTION BACCARABand 285 - 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Veröffentlicht im ePub Format im 03/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86295-623-4
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Lincolns überraschender Kuss hat in Ana ein verzehrendes Feuer entfacht. Eine Mischung aus Wut über seine Frechheit und heißem Verlangen nach mehr. Nur zögernd nimmt sie das Angebot des gut aussehenden Unternehmers an, vorübergehend das Kindermädchen für seinen Neffen zu spielen – und stellt überrascht fest: Der impulsive Lincoln übt sich in Zurückhaltung …
Zu groß war die Kluft zwischen dem reichen Luke und Melanie, die als Kellnerin bei seinen Eltern die High-Society bediente. Die Trennung von ihr hat Luke nie verkraftet. Noch immer träumt er von der bezaubernden jungen Frau mit den aufregenden Kurven. Träumt? Nein – denn als Luke in dieser Nacht erwacht, blickt er direkt in Melanies wunderschönes Gesicht …
Über Nacht wird der Geschäftsmann Daniel Conelly zum Herrscher eines kleinen Fürstentums. Damit er auf dem glatten höfischen Parkett nicht ins Schleudern gerät, steht ihm die bezaubernde Erin zur Seite. Dass die junge Etikette-Lehrerin selbst durchaus lernwillig ist, spürt Daniel beim ersten Kuss. Dass sie noch einen Geheimauftrag hat, merkt er jedoch nicht …
Rio de Janeiro, im April
Der Karneval war bereits vor zwei Monaten zu Ende gegangen. Aber in Rio schien das niemanden zu interessieren.
Lincoln Aldridge wunderte sich nicht. Er war schon viele Male in der Stadt gewesen, die einem Mann mit Geld, gutem Aussehen und geschäftlichen Verbindungen viel bieten konnte.
Und obwohl er alles das besaß, stand ihm der Sinn absolut nicht nach Party und Zerstreuung. Er war nun schon seit fast zwei Wochen unterwegs. Zuerst war er nach Argentinien und Kolumbien geflogen, bevor er anschließend nach Brasilien weitergereist war, wo er sich im Moment aufhielt. Seine Geschäftstermine waren alle erfolgreich gewesen. Allerdings hatte er weitaus wichtigere Dinge im Kopf.
Er hatte schon lange nichts mehr von seiner Schwester Kathryn gehört, die vor fünf Monaten geheiratet hatte und sich nun auf einer verspäteten Hochzeitsreise um die ganze Welt befand.
Und obwohl New York auch ein Teil der Welt war, hatten Kathryn und ihr Mann es bisher nicht geschafft, ihn dort zu besuchen.
„Aber natürlich kommen wir vorbei“, hatte seine Schwester ihm versichert. „Am besten am Ende der Reise. Dann können wir auch noch etwas Zeit mit dir verbringen. Mach dich schon einmal auf eine Überraschung gefasst.“
Lincoln hätte es schon gereicht, sie einfach wiederzusehen. Kathryn war zweiundzwanzig, und Lincoln hatte sie großgezogen. Heute lebte sie in Los Angeles. Dort war sie auch Mark begegnet, mit dem sie durchgebrannt war, um in Las Vegas zu heiraten. Lincoln, der zehn Jahre älter als sie war, hätte es lieber gesehen, wenn sie ihren Mann vor der Hochzeit näher kennengelernt hätte. Aber immerhin würde er ihn nun treffen.
Deshalb konnte er es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen.
Doch zuerst musste er den Vertrag mit dem Unternehmer Hernando Marques abschließen. Es war bereits alles beschlossene Sache. Trotzdem bestand Marques darauf, dass Lincoln den Vertrag bei ihm zu Hause unterschrieb. Und auch wenn es ein ungewöhnlicher Wunsch war, so hatte er keine Sekunde gezögert, als der brasilianische Geschäftsmann ihn fragte. Denn immerhin ging es hier um ein jährliches Auftragsvolumen von fünfundzwanzig Millionen Dollar, den Lincoln für seine Firma Aldridge Inc. für die Überwachung aller Privathäuser und Geschäftsgebäude von Marques ausgehandelt hatte.
„Das ist mein Pokerabend, Lincoln“, hatte Marques gesagt. „Es werden ein paar alte Freunde von mir kommen, die Sie sicherlich gern kennenlernen würden.“
Lincoln hatte gelächelt und ihm geantwortet, dass er sich sehr auf den Abend freute. Kurz vor acht Uhr abends passierte sein Taxi das Tor zu Marques’ Anwesen.
Wie immer hielt Lincoln nach den Kameras Ausschau. Eines seiner Teams hatte vor wenigen Wochen das neueste Sicherheitssystem auf dem Gelände installiert. Dazu gehörten versteckte Kameras, Bewegungssensoren und Elektrozäune. Er konnte sie nicht alle ausmachen. Aber das war ja schließlich auch der Sinn der Sache. Was er jedoch sah, gefiel ihm sehr gut.
Das Taxi hielt vor einer weißen Marmortreppe. Bevor Lincoln klingeln konnte, öffnete ihm sein Gastgeber bereits die Tür.
„Lincoln!“ Marques lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich hatte schon befürchtet, dass Sie meine Einladung vergessen hätten, meo amigo.“
„Es gab viel Verkehr auf dem Weg“, sagte Lincoln und wunderte sich über Marques’ überaus herzliche Begrüßung. Die Brasilianer waren zwar schon von Natur aus freundliche Menschen, aber sein Gastgeber schien seine Landsleute an Herzlichkeit noch übertreffen zu wollen.
Marques führte ihn in einen Pokerraum, in dem sich mindestens fünfzehn Männer aufhielten und in kleinen Gruppen herumstanden. An der Seite befand sich ein riesiges Büfett, das keine Wünsche offen ließ.
„Kommen Sie, Lincoln. Ich stelle Ihnen meine Freunde vor.“
Lincoln schüttelte Hände, lächelte und bemerkte einige bekannte und viele unbekannte Gesichter. Es handelte sich um ein Treffen der reichsten Männer von ganz Südamerika. Vor acht Jahren, als er Aldridge Inc. gegründet hatte, hätte Lincoln alles dafür gegeben, um zu so einer illustren Runde eingeladen zu werden.
Nun waren es Marques’ Gäste, die sich geehrt fühlten, Lincoln kennenzulernen, da er sich mit seiner Firma einen hervorragenden Ruf erarbeitet hatte.
Er ging von einer Gruppe zur nächsten, machte Small Talk und nahm sich etwas vom Büfett. Während alle anderen Männer sich prächtig zu amüsieren schienen, konnte er es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen. Dabei hatte die Pokerrunde noch nicht einmal begonnen.
Am Ende des Abends kam Marques wieder zu ihm. Er lächelte, aber auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Der Mann wirkte sichtlich angespannt. Hat er etwa doch noch irgendwelche Einwände gegen den Vertrag, obwohl alles längst beschlossen ist?, überlegte Lincoln für einen Moment.
„Hernando“, sagte er freundlich. „Ich wollte Sie gerade aufsuchen. Der Abend war sehr anregend, aber …“
„Aber Sie haben einen langen Tag hinter sich und möchten früh ins Bett.“
„Ich bin froh, dass Sie Verständnis dafür haben.“
„Das habe ich. Vielleicht könnten wir … wenn Sie nichts dagegen haben, uns kurz in die Bibliothek begeben, um …“ Er machte eine kurze Pause.
„Um den Vertrag zu unterschreiben“, half Lincoln ihm auf die Sprünge.
„Genau. Das hatten wir ja heute Abend vor.“ Marques zögerte. „Außerdem würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten.“
Die Bibliothek war mindestens genauso beeindruckend wie der Pokerraum. Man betrat sie durch mächtige Holztüren. Auf der anderen Seite befand sich ein schmuckvoller Kamin, der den Raum wärmte und ihm eine gemütliche Atmosphäre verlieh.
Marques bot Lincoln einen Brandy, eine Zigarre und Kaffee an, doch dieser lehnte dankend ab. „Irgendetwas beschäftigt Sie, Hernando“, bemerkte er höflich. „Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie gleich zum Punkt kommen könnten.“
Sein Gastgeber nickte und legte Holz in den Kamin nach. „Das ist gar nicht so einfach für mich, Lincoln.“
„Aber?“
„Aber ich muss Sie etwas fragen.“ Er lachte kurz auf. „Ich habe keine Übung darin, jemanden um einen Gefallen zu bitten, und es fällt mir auch nicht leicht. Dabei handelt es sich nicht einmal wirklich um einen Gefallen, denn Sie werden auch davon profitieren.“
Lincoln fragte sich, worauf Marques hinauswollte. Wollte er die Bedingungen des Vertrages neu aushandeln? Oder ging es doch um etwas ganz anderes? „Worum handelt es sich bei dem Gefallen?“
Marques räusperte sich. „Sie sind doch unverheiratet, oder?“
„Wie bitte?“
„Ich meine, Sie sind Single, wenn ich mich nicht irre.“
Lincoln runzelte die Stirn. Was hatte sein Privatleben damit zu tun? „Ja, ich bin Single.“ „Und Sie haben keine Kinder, richtig?“ „Hernando, worauf wollen Sie hinaus?“ „Sie müssen wissen, dass nur ein Vater meine Gefühle nachvollziehen kann.“
„Wie meinen Sie das?“
Marques sah ihn an. „Ich habe eine Tochter. Sie ist jung, aber sehr reif für ihr Alter.“
„Ich verstehe immer noch nicht …“
„Außerdem ist sie intelligent und sehr gut erzogen. Sie ist gehorsam, hat gute Manieren und …“
… und Marques will, dass ich sie heirate, überlegte Lincoln. Druckste er deshalb herum?
„Ich bin ein moderner Mann, Lincoln. Aber wenn es um meine Tochter geht, befolge ich gern die Traditionen meines Landes.“
Also lag er doch richtig. Lincoln hatte schon davon gehört, dass man in Brasilien selbst in hohen Kreisen noch Ehen arrangierte.
„Ich würde sie nie einem Mann anvertrauen, den ich nicht schätze …“, fuhr Marques fort.
Auch in Lincolns Heimatland kam es hin und wieder noch zu arrangierten Hochzeiten, aber eben nicht so offensichtlich.
Er war schon mehrere Male das potenzielle Opfer von Verkupplungsversuchen gewesen. Immerhin war er Anfang dreißig, Single und wohlhabend.
Er brauchte sich für seinen Reichtum nicht zu schämen, denn er hatte sich alles selbst aufgebaut. Niemand hatte ihm jemals etwas im Leben geschenkt. Deshalb wusste er seine Häuser, die teuren Autos und die Privatflugzeuge viel mehr zu schätzen als andere reiche Menschen.
Außerdem sah er gut aus.
Die meisten Frauen behaupteten sogar, dass er unverschämt attraktiv war. Selbst als er kaum Geld auf dem Konto gehabt hatte, waren ihm die Frauen nicht abgeneigt gewesen.
Deshalb kam ihm diese Situation nicht neu vor. Er war schon von vielen reichen Müttern gefragt worden, ob er nicht ihre schönen Töchter heiraten wollte, um ihnen ihre Zukunft zu sichern.
Sie werden meine Emma lieben, hatten sie gesagt. Oder: Warum kommen Sie am Wochenende nicht nach Easthampton und lernen Glenna kennen? Sie erinnern sich doch noch an meine Tochter?
Aber noch nie hatte sich jemand getraut, direkt zu ihm zu sein. Das hier ist meine Tochter. Ich möchte, dass Sie sie heiraten.
„… sie ist eine charmante junge Frau, Lincoln. Wenn Sie mit ihr ausgingen …“
„Hernando.“ Lincoln holte tief Luft. „Ich weiß es zu schätzen, dass Sie nicht um den heißen Brei herumreden, sondern direkt zur Sache kommen. Das ist bestimmt nicht einfach für Sie.“
Marques lachte. „Bei so einem persönlichen Anliegen tue ich mich ziemlich schwer.“
„Das glaube ich Ihnen sofort. Aber …“
Es klopfte an der Tür. Ein Hausangestellter trat ein, lächelte entschuldigend und sagte etwas auf Portugiesisch.
Marques seufzte. „Meine Frau ist am Telefon, Lincoln. Ich gehe kurz in mein Büro, um mit ihr zu sprechen. Sie besucht gerade ihre Schwester. Aber Sie wissen ja, wie das mit den Frauen ist.“
Das wusste Lincoln eben nicht. Jedenfalls hatte er keine Erfahrungen mit Ehefrauen. Und so sollte es auch bleiben.
„Ich bin gleich wieder da“, fuhr Marques fort. „Schenken Sie sich ruhig einen Brandy ein, während Sie über meinen Vorschlag nachdenken.“
Nachdem Marques den Raum verlassen hatte, gönnte Lincoln sich ein Glas davon. In diesem Moment brauchte er tatsächlich einen Drink.
Wie konnte er seinem Gastgeber den Wunsch abschlagen, wenn dieser ein so guter Kunde von ihm war? Er wollte ihn schließlich nicht beleidigen und womöglich noch den Auftrag verlieren. Und wenn er dadurch endlich gehen könnte …
Was war das gewesen?
Hatte sich etwas hinter der angelehnten Tür bewegt? Obwohl es sehr dunkel im Flur war, konnte er einen Schatten hinter der Tür erkennen.
Jemand stand dort und beobachtete ihn.
Lincoln setzte das Glas ab und bewegte sich langsam auf die Tür zu. Während seiner Ausbildung in einer Spezialeinheit der Armee hatte er gelernt, wie er sich unauffällig dem Feind näherte.
Er war nur noch wenige Zentimeter von der Tür entfernt und streckte die Hand nach der Klinke aus. Noch ein Schritt …
Mit einem Satz riss er die Tür auf und legte die Arme fest um den Eindringling.
Es war eine Frau. Daran gab es keinen Zweifel.
Ihre langen Haare fielen ihm ins Gesicht. Und unter seinem Griff konnte er ihre Brüste spüren. Sie kämpfte mit aller Kraft gegen ihn an. Aber er war stärker.
Lincoln wusste genau, dass sie schreien würde, wenn er sie nicht davon abhielt. Deshalb legte er eine Hand auf ihren Mund, um sie zum Schweigen zu bringen.
Das machte sie noch wütender. Wild wand sie sich in seinen Armen.
Lincoln hob sie hoch und presste sie fest an sich, damit sie ihm nicht entwischen konnte.
Sie stöhnte und rammte ihm einen Ellbogen in den Bauch.
„Schluss damit!“, zischte er ihr ins Ohr.
Sie wehrte sich immer verbissener.
„Das reicht jetzt!“, warnte er sie.
Wieder spürte er ihren Ellbogen in seinem Magen. Er drückte sie noch fester an sich. Plötzlich hörte sie auf, gegen ihn anzukämpfen. Doch er war sich sicher, dass sie noch nicht am Ende ihrer Kräfte war, und hielt sie deshalb weiter fest. Wahrscheinlich wollte sie ihm nur etwas vormachen.
Sie duftete nach Rosen und Lilien. Trotzdem kämpfte sie wie ein Mann.
„Seien Sie still! Ansonsten kann ich für nichts garantieren“, warnte er sie erneut.
Nach kurzem Zögern nickte sie.
Langsam nahm er die Hand von ihrem Mund. „Wer sind Sie?“, fragte er. „Und was tun Sie hier?“
„Lassen Sie mich los!“
Es war zu dunkel, um sie richtig sehen zu können. Aber er konnte ihr anmerken, wie aufgebracht sie war. Die Situation war so absurd, dass er fast gelacht hätte. Doch wenn das beste Sicherheitssystem der Welt versagt hatte, dann war das nicht angebracht.
„Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Lady. Also, wie heißen Sie?“, beharrte er. „Und wie sind Sie durch das Tor gekommen?“
„Und ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Sie mich loslassen sollen! Sofort!“
Nun konnte er sich das Lachen nicht mehr verkneifen. Lange hatte er eine Frau nicht mehr so wütend erlebt.
Und dann fiel plötzlich aus einem anderen Raum Licht auf sie.
Ihm stockte der Atem.
Die Frau in seinen Armen war wunderschön. Sie hatte langes blondes Haar, große blaue Augen, einen sinnlichen Mund und einen Körper, der jeden Mann um den Verstand gebracht hätte.
„Wie können Sie es wagen, mich so anzustarren?“, herrschte sie ihn an.
Lincoln hatte schon viele Einbrecher in seinem Leben gesehen, aber noch nie so einen hübschen.
„Verflixt noch mal! Sind Sie taub?“, zischte sie. „Ich sagte …“
„Ich habe gehört, was Sie gesagt haben.“
Lincoln glaubte zu träumen. Hielt er wirklich diese umwerfende Frau in seinen Armen?
Sie begann, sich wieder zu wehren. Er presste sie enger an sich. Ihre Brüste berührten seinen Bauch. Und dann erstarrten sie plötzlich beide. Irgendetwas spielte sich zwischen ihnen ab. So kam es ihm jedenfalls vor.
„Wenn Sie mich nicht sofort loslassen, dann schwöre ich Ihnen, dass Sie das bereuen werden“, drohte sie ihm.
Damit konnte sie recht haben.
Wenn er sie zu Marques brächte, könnte er Lincolns Sicherheitssystem infrage stellen und den Vertrag zum Scheitern bringen.
Würde er dann wenigstens eine Entschädigung für all seine Mühen erhalten?
Dieser Gedanke gefiel ihm gar nicht – die Frau in seinen Armen allerdings schon. Sie brachte sein Blut in Wallung. Er konnte es kaum fassen, wie sehr er sich zu der Unbekannten hingezogen fühlte.
Und dann geschah es. Er legte einen Finger unter ihr Kinn und sah ihr in die Augen. Sie wusste, was kommen würde, und versuchte, sich von ihm zu lösen.
Davon ließ er sich nicht abhalten. Er senkte den Kopf und küsste sie.
Trotz aller Mühen schaffte sie es nicht, ihn davon abzuhalten. Seine Küsse wurden immer leidenschaftlicher und fordernder, und er spürte, dass sie nach einer Weile nicht mehr dagegen ankämpfte und seine Küsse erwiderte.
Sie schlang die Arme um ihn und stöhnte leise.
Wieder kam Licht aus einem anderen Raum.
Die unbekannte Frau erstarrte. Lincoln zog sie in eine dunkle Ecke.
„Nein!“, sagte sie entschieden und biss ihm in die Unterlippe.
Erschrocken löste er den Griff um sie und ließ sie entkommen.
„Lincoln?“
Es war Marques.
Lincoln erschauderte. Er holte ein Tuch aus der Tasche und hielt es sich an die blutende Unterlippe. Da er sich normalerweise immer unter Kontrolle hatte, wusste er keine Erklärung für das, was er gerade getan hatte. Er konnte seinem Gastgeber nicht erzählen, was passiert war. Deshalb würde er ihm bloß berichten, dass ein Eindringling auf seinem Grundstück war.
Die erniedrigenden Details würde er sich sparen.
Marques lächelte, als er ihn sah. „Da sind Sie ja. Ich dachte, dass Sie vielleicht …“ Sein Lächeln verblasste. „Was ist mit Ihrer Lippe passiert?“
„Nichts. Nur ein Insektenstich.“
„Ich werde eines der Dienstmädchen bitten, Ihnen Jod zu bringen.“
„Nein, danke. Es …“ Lincoln räusperte sich. „Es ist nichts weiter.“
„Unsinn! Kleine Wunden können in unseren Breiten schnell zu einem Problem werden. Kommen Sie, Lincoln.“
„Hören Sie, Hernando. Das Sicherheitssystem, das meine Mitarbeiter installiert haben …“
„Ich bin außerordentlich zufrieden“, unterbrach Marques ihn lächelnd. „Es ist das beste der Welt, wie Sie versprochen haben.“
„Das scheint es nicht zu sein. Ich meine …“
„Papa?“
Ein junges Mädchen stand plötzlich in der Tür, offenbar Marques Tochter.
„Komm herein, mein Kind.“ Marques winkte sie hinein.
Lincoln stöhnte innerlich auf. Verdammt! In was für eine Situation war er da bloß hineingeraten? Nun musste er Marques nicht nur erklären, dass sein Sicherheitssystem Lücken hatte, sondern ihm auch noch in Anwesenheit seiner Tochter weismachen, dass er kein Interesse an ihr hatte.
Als Marques’ Tochter den Raum betrat und Lincoln erkannte, dass es sich um die Frau handelte, die er vor Kurzem geküsst hatte, wurde ihm schlecht.
Obwohl sie sich mittlerweile eine Jacke angezogen und die Haare zusammengebunden hatte, bestand kein Zweifel daran, dass sie es war. Und an ihrer Miene konnte er erkennen, dass sie genauso überrascht war wie er.
„Anna“, sagte Marques. „Das ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe. Lincoln, das ist meine geliebte Tochter, Anna Maria.“
Zum ersten Mal in seinem Leben war Lincoln sprachlos. Was sagte man zu einem Mann, dessen „geliebte Tochter“ man vor wenigen Augenblicken noch für einen Eindringling gehalten und kurze Zeit später geküsst hatte? Wahrscheinlich war Marques nicht bewusst, dass seine Tochter gar nicht so unschuldig war, wie sie wirkte.
Lincolns Handy klingelte. Normalerweise hätte er es ignoriert. Doch in diesem Moment holte er es aus der Tasche, als ob es um Leben und Tod ging. „Aldridge“, meldete er sich.
„Lincoln“, antwortete sein Anwalt ernst. „Ich muss dir leider etwas Schlimmes mitteilen.“
Irgendwie wusste er, was nun kommen würde. Er entfernte sich von Marques und seiner Tochter. Sein Anwalt erzählte ihm verschiedene Dinge, kam aber nicht zur Sache. Deshalb fuhr Lincoln ihn ungeduldig an. „Komm endlich zum Punkt! Was ist passiert?“
In den Bergen hatte es einen Flugzeugabsturz gegeben. Die Piloten und alle Passagiere waren dabei ums Leben gekommen.
Lincoln bekam keine Luft mehr. Er hörte, dass Marques etwas im Hintergrund sagte, aber er konnte nicht verstehen, was es war. „Nein“, sagte Lincoln benommen. „Nicht Kathryn.“
„Es tut mir unendlich leid für dich, Lincoln“, sagte sein Anwalt. „Deine Schwester und ihr Mann haben den Absturz nicht überlebt. Aber wie durch ein Wunder gab es einen Überlebenden.“
Es handelte sich um ein Baby. Genauer gesagt, um ein zwei Monate altes Mädchen. Lincolns Nichte.
New York, zwei Monate später
Manche Klischees entsprachen tatsächlich der Wahrheit. Das Schicksal schlug ohne Vorwarnung zu, aber das Leben ging irgendwie weiter.
Man gewöhnt sich an die neuen Umstände, dachte Lincoln, nachdem das ohrenbetäubende Schreien des von ihm über alles geliebten vier Monate alten Babys, das nun sein Leben bestimmte, ihn wieder einmal aus dem Schlaf gerissen hatte.
Er griff nach seiner Uhr auf dem Nachtisch und starrte mit schläfrigen Augen darauf.
Du meine Güte!
Es war fünf Uhr morgens. Um halb neun hatte er ein Meeting in seiner Firma und ein weiteres um elf Uhr mit den europäischen Kunden, die er gestern Abend zum Essen eingeladen hatte. Diese Treffen erforderten Scharfsinn und hohe Konzentration. Aber wie sollte er das schaffen, wenn er nicht mal genug Schlaf bekam?
In den letzten zwei Monaten hatte er keine einzige Nacht durchgeschlafen. Dabei war es sehr wichtig, dass er ausgeschlafen zur Arbeit erschien.
Zuerst hatte er sich mit den schrecklichen Details von Kathryns Unfall auseinandersetzen müssen. Als er einigermaßen darüber hinweggekommen war, hatte das Baby sein Leben völlig auf den Kopf gestellt.
Am Anfang hatte Lincoln sich gefragt, warum seine Schwester ihre kleine Tochter vor ihm und allen anderen Angehörigen verheimlicht hatte. Doch mittlerweile war ihm das klar. Kathryn hatte sich nicht an die übliche Reihenfolge gehalten. Sie war zuerst schwanger geworden und hatte dann geheiratet.
Wahrscheinlich hatte sie befürchtet, dass man ihr Vorwürfe machen und schlecht über sie reden würde, und verheimlichte deswegen das Baby. Vielleicht hatte sie es Lincoln auch einfach nicht am Telefon erzählen können und hatte deshalb warten wollen, bis sie und Mark mit dem Baby nach New York kamen.
Was auch immer der Grund dafür war, jetzt zählte einzig und allein das Wohlergehen des Babys.
Gleich nachdem Lincoln von dem Unfall erfahren hatte, hatte er sich mit seinem Anwalt getroffen und sofort zugestimmt, seine Nichte bei sich aufzunehmen. Er wusste zwar überhaupt nichts über Babys, aber als er seine Firma gegründet hatte, war er genauso ahnungslos in der Leitung eines Betriebs gewesen.
Er würde das schon schaffen.
Wenn man keine Ahnung von etwas hatte, dann lernte man es eben. Oder man stellte jemanden dafür ein. Und das hatte Lincoln getan. Denn er musste die Sozialarbeiterin, die hin und wieder in sein Haus kam, davon überzeugen, dass es dem Baby gut ging.
Er hatte seine persönliche Assistentin damit beauftragt, Babykleidung, ein Babybett, einen Babykorb, Flaschen, Säuglingsmilch, Windeln und tausend andere Dinge zu besorgen, die ein Baby brauchte. Außerdem hatte sein Innenarchitekt die Gästesuite in Rekordzeit in ein Kinderzimmer umgewandelt. Die Suche nach einem geeigneten Kindermädchen hatte weitaus länger gedauert. Lincoln hatte eine Agentur kontaktiert, die ihm mehrere Kindermädchen vorgeschlagen hatte. Es war ihm sehr schwergefallen, aus den vielen Bewerberinnen die Richtige auszuwählen, und wie sich herausstellte, war selbst das ein Irrtum gewesen.
Letzte Woche war dann Kathryns Schwiegermutter plötzlich aufgetaucht. Bis dahin hatte Lincoln noch nicht einmal gewusst, dass sie existierte.
Nun kamen ihm einige unangenehme Fragen. Würde sie um das Sorgerecht für das Baby kämpfen? Und falls ja, sollte er sich ihr dann entgegenstellen? Oder wäre seine Nichte bei ihr in besseren Händen?
Lincoln konnte sich zu keiner Entscheidung durchringen. Ihm war klar, dass Frauen mehr über Kinder wussten, als er jemals lernen würde. Es lag ihnen im Blut. Allerdings war er der Onkel der Kleinen. Sie war seine einzige Verbindung zu Kathryn.
Er fragte sich, was seine Schwester gewollt hätte. Sie waren sich sehr nahe gewesen. Das hatte an ihren Lebensumständen gelegen. Ihren Vater hatten sie nie kennengelernt, und ihre Mutter war eine Trinkerin gewesen, die sich nie um sie gekümmert hatte. Und das hatte sie zusammengeschweißt. Trotzdem wusste er nicht, ob Kathryn gewollt hätte, dass er ihr Baby großzog. Deshalb erkundigte sein Anwalt sich über die Rechte und Möglichkeiten in dieser Angelegenheit.
Lincoln konnte es immer noch nicht fassen, dass Kathryn nicht mehr lebte und ihr Baby so plötzlich in sein Leben getreten war. Er musste jetzt in seiner Firma zurückstecken, denn das Baby brauchte ihn. Obwohl er wusste, dass die Geschäfte ohne ihn nicht liefen, blieb ihm keine andere Wahl, als seinen Mitarbeitern zu vertrauen, da er nicht immer im Betrieb sein konnte.
Ihm war bewusst, dass das nicht auf Dauer ging und er wieder zurück ins Geschäftsleben finden musste. Doch wenn man nachts kaum Schlaf bekam, war das nur schlecht möglich.
Die Schreie des Babys wurden immer lauter. Obwohl das Kinderzimmer nicht gerade in der Nähe seines Schlafzimmers lag, wirkte es, als ob sich das Baby direkt nebenan befand.
Wo zur Hölle war bloß das Kindermädchen?
Lincoln warf die Bettdecke beiseite und ging zur Tür. Auf dem Weg dorthin bemerkte er, dass er nur Boxershorts trug. So konnte er bestimmt nicht vor Miss Crispin treten, wenn er ihr Respekt einflößen wollte.
Sie war bereits das fünfte Kindermädchen, das er eingestellt hatte. Und bisher hatte sie einen ordentlichen Eindruck auf ihn gemacht.
Die erste Nanny hatte er keine Woche im Haus behalten. Lincoln war eines Abends früher nach Hause gekommen und hatte sie auf der großen Couch im Wohnzimmer wild küs
send mit einem Mann vorgefunden.
Lincoln hatte sie beide aus dem Haus geworfen.
Das zweite Kindermädchen war immerhin zehn Tage geblieben. Am elften Tag war der Geruch von Marihuana aus ihrem Zimmer gekommen.
Das dritte war einfach verschwunden. Ihre Nachfolgerin schien eine gute Wahl gewesen zu sein, bis zu dem Abend, an dem sie ihm lächelnd in seinen Boxershorts die Tür öffnete.
Dann hatte die Agentur ihm Miss Crispin geschickt.
Sie war um die sechzig, groß und schlank. Ihre Haare waren stahlgrau, und sie trug eine Metallbrille, die hoch auf ihrer Nase ruhte. Lincoln bezweifelte, dass sie jemals lachte, aber die Agentur hatte sie sehr empfohlen. Und wenn sie ihre Aufgaben zufriedenstellend erledigte, war ihm ihr Aussehen egal.
Das interessierte ein vier Monate altes Baby sowieso nicht. Es wollte bloß Nahrung, Wärme und Hygiene. Alles andere war zweitrangig.
Lincoln zog sich seufzend eine Hose an und eilte zum Kinderzimmer, wo das Schreien des Babys immer lauter wurde. Sein Oberkörper war immer noch nackt, aber wenn Miss Crispin überhaupt in der Nähe war, würde sie den Anblick seiner nackten Brust schon ertragen. Wieso ließ sie das Baby überhaupt so lange schreien?
Die Tür zum Kinderzimmer stand offen. Alle Lampen waren eingeschaltet, sodass das kleine Bett mit dem kreischenden Baby hell erleuchtet wurde. Miss Crispin saß in einen Morgenmantel gehüllt auf einem Sessel neben dem Bett und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
Lincoln räusperte sich. Ohne Erfolg. Bei dem Geschrei hätte man selbst einen tieffliegenden Düsenjet nicht gehört.
„Miss Crispin?“
Er ging langsam auf sie zu und wartete darauf, dass sie ihn bemerkte. Als sie nicht reagierte, tippte er ihr auf die Schulter. Sie zuckte erschrocken zusammen und sah ihn mit offenem Mund an.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken“, entschuldigte er sich.
Nun starrte sie auf seine nackte Brust.
„Ich sagte, dass ich Sie nicht …“ Er atmete tief ein und hätte am liebsten seinen Oberkörper bedeckt. Doch stattdessen beschloss er, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Was ist mit dem Baby los?“
„Besitzen Sie keinen Morgenmantel, Mr. Aldridge?“
„Wie bitte?“ Lincoln errötete. Plötzlich fühlte er sich wieder wie ein kleiner Junge. „Natürlich, aber ich habe das Baby gehört und bin sofort …“
„Ihr Verhalten ist mehr als unangebracht. Ich bin eine unverheiratete Frau, und Sie sind ein Mann.“
„Ja, aber …“
Sie musste verrückt geworden sein. Natürlich war er ein Mann. Doch ihre besten Tage lagen schon viele Jahre zurück. Außerdem war sie seine Angestellte. Selbst wenn sie ein Abbild von Marilyn Monroe gewesen wäre, hätte er in diesem Moment ganz sicher keine sexuellen Gedanken gehabt.
Lincoln warf einen Blick ins Bett. „Das ist jetzt vollkommen unwichtig. Ich möchte wissen, warum die Kleine so laut schreit.“
„Sie schreit, weil sie undiszipliniert ist“, antwortete Miss Crispin trocken.
„Undiszipliniert? Sie muss wohl …“ Lincoln zögerte. Undiszipliniert? Er runzelte die Stirn. Auch wenn er nicht viel über Babys wusste, so war es doch sehr verwunderlich, dass ein vier Monate altes Baby undiszipliniert sein konnte. „Sind Sie sich da sicher?“
„Ich bin nun schon seit vierzig Jahren Kindermädchen, Mr. Aldridge. Deshalb merke ich sofort, wenn ein Kind undiszipliniert ist.“
Lincoln musterte die Kleine. Ihr Gesicht war hochrot. Die Gelenke waren geschwollen. Er wurde immer besorgter. „Vielleicht ist sie hungrig.“
„Ich habe ihr einen Viertelliter Säuglingsmilch gegeben. Genauso viel, wie empfohlen wird.“ „Und was ist mit ihrer Windel? Vielleicht muss sie ja gewechselt werden.“
„Nein.“
„Oder ihr ist zu warm oder zu kalt. Könnte sie Schmerzen haben?“
Miss Crispin sah ihn verständnislos an. „Ihr fehlt bloß etwas Disziplin. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.“
„Und was bedeutet das?“
„Es bedeutet, dass wir einfach abwarten, bis sich ihr Wutanfall gelegt hat. Gute Nacht, Sir.“
Lincoln nickte. „Wie Sie meinen. Gute Nacht.“
Er drehte sich um und verließ den Raum. Als er auf halbem Weg zu seinem Zimmer war, blieb er stehen. Das Baby weinte immer noch. Aber aus dem Brüllen war nun ein Wimmern geworden, was ihn noch mehr beunruhigte.
Hätte Kathryn ihre Tochter so im Stich gelassen? Und hätte sie alles bloß als einen Wutanfall abgetan?
Lincoln drehte sich wieder um und ging zum Kinderzimmer zurück, wo Miss Crispin ihn missmutig empfing.
„Warum nehmen Sie Jennifer nicht auf den Arm?“, fragte er, worauf sie ihn ansah, als ob er Urdu spräche. „Sie wissen schon. Holen Sie sie aus dem Bett, und halten Sie sie auf dem Arm, damit sie sich beruhigt.“
„Man sollte schlechtes Benehmen nicht auch noch belohnen.“
„Nein, natürlich nicht. Ich meine nur …“
Was zur Hölle hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Plötzlich erinnerte Lincoln sich an längst vergangene Zeiten. Er sah Kathryn vor sich, wie sie weinend in einer Ecke kauerte. Damals war er etwa siebzehn und sie somit sieben Jahre alt gewesen. Sie hatte geweint, weil ein Kind sich über ihren übergroßen Wintermantel lustig machte, den Lincoln ihr von der Heilsarmee mitgebracht hatte. Und sie hatte erst mit dem Weinen aufgehört, als er sie in den Arm genommen und beruhigend auf sie eingeredet hatte.
Lincoln ging zum Bett. Er zögerte, hob das Baby hoch und nahm es auf den Arm. Es war das erste Mal, dass er seine Nichte hielt, seit die Sozialarbeiterin sie ihm in die Arme gelegt hatte.
Das ist die Tochter Ihrer Schwester, hatte sie gesagt.
In diesem Moment hatte er sich endgültig mit Kathryns Tod abgefunden. Er wusste, dass er sie nie wieder umarmen und trösten konnte. Aber für ihre Tochter konnte er das noch tun.
Nun musterte er seine unglückliche Nichte und wiegte sie in den Armen. Er streichelte ihre Wange und redete beruhigend auf sie ein.
Jennifer war so süß. Das war ihm vorher nie richtig aufgefallen. Aber in diesem Moment, während er seiner Nichte so nah war, beschloss er, dass er eine engere Beziehung zu ihr aufbauen wollte.
„Das kann ich nicht zulassen, Mr. Aldridge“, protestierte Miss Crispin. „Sie untergraben meine Autorität in Anwesenheit des Kindes.“ Ihre Miene sagte ihm, dass er ein unentschuldbares Verbrechen begangen hatte.
„Das Baby hat einen Namen“, sagte er entschlossen.
„Das ändert die Angelegenheit auch nicht.“
„Sie heißt Jennifer, falls Sie das vergessen haben sollten.“
„Ihr Name ist irrelevant.“
Das war er eben nicht. Aber auch Lincoln musste sich eingestehen, dass er seine Nichte noch nie mit ihrem Namen angesprochen hatte. Das würde er ab sofort ändern.
„Mr. Aldridge, das Baby muss seine Lektion lernen. Wenn Sie das Kind nicht zurück ins Bett legen, dann werde ich meine Kündigung einreichen müssen.“
Lincoln betrachtete Jennifer liebevoll. Sie weinte nicht mehr und sah ihn ruhig an.
„Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?“, vergewisserte Miss Crispin sich.
„Ja, das habe ich. Und ich nehme Ihre Kündigung an.“
Sie seufzte. Lincoln fühlte sich erleichtert. Er wollte sich nicht von Miss Crispin einreden lassen, dass er etwas Falsches getan hatte. Immerhin schien es Jennifer nun besser zu gehen.
„Warten Sie einen Moment“, sagte er, als sein Handy zu klingeln begann. Vorsichtig legte er Jennifer auf einen Arm und holte mit der freien Hand das Telefon aus der Tasche.
Es war sein Anwalt. Um sechs Uhr morgens? Was das wohl wieder zu bedeuten hatte …
„Ich konnte dich gestern Abend nicht erreichen, Lincoln.“
„Nun hast du es ja geschafft, Charles. Also, was gibt es Neues?“, fragte Lincoln ungeduldig.
Kathryns Schwiegermutter hatte das Sorgerecht für Jennifer beantragt. Lincoln wusste nicht genau, was er davon halten sollte. „Das haben wir uns ja schon gedacht.“
„Wir wussten bisher aber nicht, dass diese Frau ihr eigenes Kind verlassen hat, als es gerade einmal drei Jahre alt war. Und nun behauptet sie, dass sie damals eine hingebungsvolle Mutter gewesen sei, die mit vielen Problemen zu kämpfen hatte und deshalb ihre Familie verlassen musste.“
„Kaufst du ihr das ab?“
„Nein. Aber ich weiß, dass sie von dem Treuhandfonds erfahren hat, den du für Kathryn angelegt hast, und den nun das Kind erben wird, wenn es volljährig ist.“
Lincoln seufzte. „Na toll.“
Sie beschlossen, ihr Gespräch später am Tag fortzusetzen. Der Anwalt merkte noch an, dass die Sozialarbeiterin an diesem Nachmittag vorbeikommen würde.
„Sie möchte sich davon überzeugen, dass es dem Baby gut geht.“
„Sir?“
Lincoln drehte sich um und sah Miss Crispin angezogen und mit gepackten Koffern in der Tür stehen.
„Wir sehen uns später, Charles“, sagte er und beendete das Telefonat.
„Ich habe mir ein Taxi bestellt, Mr. Aldridge. Es sei denn, Sie haben es sich anders überlegt.“
Lincoln hatte den ganzen Tag über Termine. Sein Verstand sagte ihm, dass er all das ohne ein Kindermädchen nicht schaffen konnte.
„Ich wäre bereit, meine Kündigung zurückzuziehen, wenn Sie meine Autorität anerkennen“, fuhr sie fort.
„Schicken Sie mir die Rechnung für das Taxi“, sagte er nüchtern.
Er wartete, bis Miss Crispin das Haus verlassen hatte, und sah dann zu seiner Nichte. „Jetzt sind nur noch wir beide da, meine Kleine.“
Jennifer gähnte, schloss die Augen und schlief ein.
Was für eine gute Idee, dachte Lincoln. Doch für ihn lohnte es sich gar nicht mehr, ins Bett zu gehen.
Er musste nun seinen Tagesablauf neu planen. Sobald seine Haushälterin käme, würde er sie darum bitten, nur für diesen Tag auf das Baby aufzupassen. Anschließend würde er ins Büro gehen, seine Meetings abhalten und danach die Agentur anrufen, damit sie ihm ein weiteres Kindermädchen schickten. Morgen nähme dann wieder alles seinen normalen Lauf.
Vorsichtig legte er Jennifer ins Bett.
„Waaaah!“
Es nützte nichts. Er musste sie wieder auf den Arm nehmen, damit sie weiterschlief.
Vorsichtig setzte er sich auf den Sessel neben dem Bett und ließ das Baby schlafen.
Eine halbe Stunde später hörte er, wie die Haushälterin die Küche aufräumte. Er stand auf, legte Jennifer wieder zurück ins Bett und war froh, dass sie diesmal nicht aufwachte. Anschließend zog er sich aus, stellte sich unter die Dusche und genoss das heiße Wasser, das auf seine müde Haut prasselte.
Mrs. Hollowell konnte nicht babysitten.
Ihre Tochter war an diesem Tag in der Stadt, und die Haushälterin hatte sich den Nachmittag freigenommen, um ihn mit ihr verbringen zu können. Hatte Mr. Aldridge das etwa vergessen?
Ja, das hatte er. Mittlerweile gingen ihm so viele Dinge durch den Kopf, dass er sich kaum noch an seinen eigenen Namen erinnern konnte. Das geschah eben, wenn man nachts nur drei Stunden Schlaf bekam.
Um acht Uhr morgens ging er ins Büro. Seine persönliche Assistentin staunte, als sie Jennifer auf seinem Arm sah.
„Ich habe das Kindermädchen gefeuert“, teilte er ihr mit. „Bitte rufen Sie die Agentur an, und passen Sie in der nächsten Stunde auf das Baby auf.“
Seine Assistentin nickte. Doch als Lincoln ihr Jennifer übergeben wollte, fing diese sofort an zu schreien. Er verdrehte die Augen und lehnte Jennifer wieder an seine Schulter, worauf seine Assistentin lächeln musste.
Dann ging er in sein Büro zurück und hielt das erste Meeting mit Jennifer auf dem Arm ab. Seine Mitarbeiter taten so, als ob nichts Ungewöhnliches daran wäre, aber Lincoln konnte ihnen ihre Verwunderung ansehen.
Um halb zehn schlief Jennifer wieder ein. Lincoln schickte seine Assistentin los, um einen Babykorb und andere Sachen zu kaufen, die die Kleine im Büro brauchen würde.
Als sie zurückkam, legte Lincoln Jennifer in den Babykorb und war froh, dass sie sich nicht dagegen wehrte, sondern weiterschlief.
Seine Assistentin hatte mittlerweile versucht, die europäischen Klienten in ihrem Hotel zu erreichen. Leider waren sie nicht auf ihren Zimmern. Doch sie hatte ihnen eine Nachricht hinterlassen, dass das Treffen ins Peacock Alley, dem feinen Restaurant des Hotels, verlegt würde.
Wenn man eine Nachricht hinterließ, bestand das Risiko, dass sie den Empfänger gar nicht erreichte. Und genau das musste Lincoln feststellen, als er gerade zum Hotel aufbrechen wollte und seine Kunden ins Büro kamen. Sie entschuldigten sich für ihre verfrühte Ankunft, aber sie hatten auf Nummer sicher gehen wollen, um sich nicht zu verspäten.
Und genau in diesem Moment wachte das Baby auf.
Jennifers Gesicht rötete sich, und Lincoln wusste, dass sie gleich schreien würde. Deshalb nahm er sie auf den Arm und wiegte sie hin und her.
Zum Glück beruhigte sie sich und sabberte lächelnd auf seinen Arm. Seine Klienten schmolzen dahin. Während des gesamten Meetings verhielt Jennifer sich ruhig, und nachdem die Klienten gegangen waren, setzte Lincoln Jennifer in den Babystuhl, worauf sie zu wimmern begann.
„Sie ist hungrig“, stellte seine Assistentin fest.
Lincoln betrachtete Jennifer forschend, nahm sie aus dem Stuhl und reichte sie seiner Assistentin. „Dann füttern Sie die Kleine bitte!“
Seine Mitarbeiterin wollte etwas dagegen einwenden, ließ es aber doch sein und ging mit Jennifer in die Küche.
Plötzlich riss jemand die Tür auf und betrat Lincolns Büro.
Es war eine große blonde Frau. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug, hochhackige Schuhe und hielt eine dunkle Aktentasche in der Hand. Mit strenger Miene kam sie zu seinem Schreibtisch und knallte die Aktentasche darauf.
Lincoln traute seinen Augen kaum. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Nun stand ihm ganz bestimmt Ärger ins
Haus.
Die blonde Dame war Anna Maria Marques.
Er stand auf. „Was tun Sie denn hier?“
„Sie haben meinem Vater ein Versprechen gegeben, Senhor Aldridge“, antwortete sie. „Und er wird gar nicht begeistert sein, wenn Sie es brechen.“
Jennifer schrie nebenan in der Küche. Lincoln stieß einen Seufzer aus. Plötzlich schien er sich in einem Albtraum wiederzufinden.
Als Junge hatte Lincoln Tai-Chi gelernt.
Zugegeben, er hatte nicht aktiv am Unterricht teilgenommen. Der fand nach der Schule statt und kostete eine hohe Gebühr, die seine Mutter niemals hätte aufbringen können. Und selbst wenn sie das Geld gehabt hätte, wäre er der Letzte gewesen, für den sie es ausgegeben hätte.
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