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Für Fern, Jaq und Mallory war es aufgrund ihrer Queerness nie sicher, sie selbst zu sein. Verbunden durch ihr gemeinsames Schicksal, fanden die drei regelmäßig in einem alten verlassenen Haus in den Tiefen des Waldes Zuflucht. Was ihnen eigentlich Schutz bieten sollte, stellt sich jedoch als trügerisch heraus, denn eines Nachts kommen nur zwei von ihnen heil aus dem Wald zurück. Jaq und Fern erinnern sich an nichts mehr – und von Mallory fehlt jede Spur. Fünf Jahre später stehen die beiden, Jaq und Fern, kurz vor ihrem Abschluss, scheinbar glücklich in ihren heteronormativen Leben. Bis der Geist Mallorys auftaucht und sie daran erinnert, wer sie eigentlich sind, wen sie lieben und welch düstere Geheimnisse sie damals im Wald zurückgelassen haben.
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Seitenzahl: 455
Natalie Parker
Come out, Come Out
Natalie Parker
Come out, Come Out
IHR Geheimnis ist sicher, aber sie sind es nicht ...
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
Originalausgabe
1. Auflage 2025
© 2025 by Lago Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Die englische Originalausgabe erschien 2024 bei G. P. Putnam’s Sons, einem Imprint von Penguin Random House LLC unter dem Titel Come out, Come Out.
© 2024 by Alloy Entertainment LLC and Natalie Parker. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Veronika Dünninger
Redaktion: Annett Stütze
Korrektorat: Jara Dressler
Sensitivity Reading: Elisabeth Lehmann
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt, dem Original nachempfunden
Umschlagabbildung: Alex Campbell
Satz: abavo GmbH, Buchloe
ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95761-250-2
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-388-1
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.lago-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Für Tessa,meine Ehefrau und meinen Ehemann, alles in einem,denn wir überleben weiter,tauschen das Grauen gegen die Freude.
Brief der Autorin
Jene Nacht
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Danksagung
»Um das Licht einer Kerze zu sehen, muss man sie an einen dunklen Ort bringen.«
Ursula K. Le Guin
Früher habe ich den Leuten immer erzählt, dass es auf der Welt nur zwei Dinge gibt, die mir Angst machen: Zombies und Quallen. Es stimmt, dass ich mich vor beiden fürchte, aber es ist eine sanfte, beherrschbare Angst. Zombies sind nicht echt (hoffe ich zumindest), und ich bin mittlerweile ziemlich gut darin, das falsche Ende einer Qualle zu meiden. Meine Angst vor diesen Dingen geht mit einem gewissen Vergnügen einher – jener Art Nervenkitzel, den ich genieße, wenn ein Teil von mir weiß, dass etwas mich wohl kaum ernsthaft verletzen wird. Es ist der Nervenkitzel, dem ich nachjage, wenn ich einen neuen Horrorroman aufschlage.
Aber ich habe Come Out, Come Out nicht wegen des Nervenkitzels geschrieben. In diesem Buch gibt es ein paar Dinge, die mir wirklich Angst machen, weil sie mich verletzen können: Homophobie, Transphobie, Gender-Dysphorie, religiöser Extremismus und Konversionstherapie. Sie sind beängstigend, denn sie sind sehr echt, sie haben scharfe Kanten, und ich kann nicht kontrollieren, wann ich ihnen begegnen werde. Wenn Sie sich entscheiden, weiterzulesen, dann werden Sie sie hier finden, zusammen mit Schilderungen von grafischer Gewalt, Body-Horror und selbstverletzendem Verhalten.
Sie werden auch Freundschaft und gefundene Familie und Freude finden, denn Horror und Hoffnung gehen Hand in Hand.
Ich habe Come Out, Come Out geschrieben, da allein schon der Akt des Coming-out beängstigend sein kann. Ich habe es geschrieben, da unsere Angst manchmal ein Licht im Dunkel ist; sie entdeckt und enthüllt Gefahr und leitet diejenigen, die uns nachfolgen. Aber vor allem habe ich dieses Buch geschrieben, da ich die tagtäglichen Grauen, die es bedeutet, in dieser Welt queer zu sein, selbst erlebt habe. Aber ebenso oft, wie ich Angst hatte, habe ich auch exquisite Freude erlebt.
Respektvoll
Ncp
Come out, come out, wherever you are;
The Patron’s in the trees.
Find his house, make a wish.
He’ll do just as you please.
Come in, come in, whoever you were;
Receive your Patron’s gift.
The price is small and with it all,
You’ll never be adrift.
Come back, come back, wherever you roam;
Come see his deathly hue.
Ask him nice, don’t ask twice.
He’ll fix what’s wrong with you.
Drei Freund*innen sind heute Abend in den Wald gegangen, aber nur zwei von ihnen sind immer noch da.
Sie laufen. Rennen. Nicht länger eingeschüchtert von der bedrohlichen Dunkelheit. Ihre Augen geweitet, ihr Atem scharf und schnell, jeder Teil ihrer Körper entflammt von dem brennenden Verlangen zu leben. Hinter ihnen verschlucken hoch aufragende Hemlocktannen den Weg, den sie genommen haben, verwischen jede Spur ihrer Anwesenheit.
Eine*r von ihnen stolpert. Landet hart und schreit leise auf. Their Knie zerdrücken feuchtes Moos. Die andere schnellt herum, sucht mit den Augen die Schatten hinter ihnen ab. Irgendetwas bewegt sich von Baum zu Baum, ein huschender Geist, ein Jäger.
»Fern«, sagt Jaq und zieht they bestimmend am Arm. »Steh auf. Wir müssen weiter.«
Fern sieht auf. Tränen tropfen aus their Augen, hinterlassen Spuren in dem Blut, das their Haut befleckt.
Ein gequälter Schrei schallt durch die Dunkelheit. Die Stimme wird lauter, anstatt zu verhallen. In ihrem Echo steht der Wald schweigend und kalt. Nicht einmal ein Rascheln von Wind oder das Quaken eines Froschs ist zu hören.
»Jaq-« Fern stockt der Atem. Their Stimme ist zu laut. They greift nach Jaqs Hand und drückt sie, die Finger kalt und klamm.
Jaq macht eine Bewegung, als ob sie zurücksehen will, aber sie kann es nicht über sich bringen, danach zu suchen, wer – oder was – dieses Geräusch verursacht hat.
»Steh auf«, flüstert sie und zieht an Ferns Hand, aber Fern rührt sich noch immer nicht.
»Wir müssen für Mal zurückkehren«, schluchzt Fern. »Sie könnte noch immer beim …«
»Das ist sie nicht«, schneidet Jaq them das Wort ab. »Sieh uns doch an!«
Blutspritzer besprenkeln Jaqs blassrosa Kapuzenpulli, ziehen sich über die Unterseite ihres Kiefers. Im Mondlicht ist es ein grelles, grauenhaftes Braun. Aber Fern findet den Kontrast fast hübsch, their Verstand stets erfüllt von dem Drang, etwas Schönes zu erschaffen, selbst jetzt. Erst recht jetzt.
Benommen sieht they hinunter auf das Blut, das their Finger verfärbt, zu einer klebrigen Paste verdickt. They hebt eine Hand und gleitet damit über das Blut an their Wange hoch zu their Ohr. Fühlt die Nässe, die their blonden Locken anhaftet. Fragt sich, ob Blut Haare verfärben kann.
»Aber was, wenn …«
»Nein«, flüstert Jaq. Sie stehen schon zu lange still. Ihr Verstand rast. Das einzige Mädchen, das sie je geküsst hat, ist nicht mehr. »Nicht jetzt. Fern, wir müssen …«
WEGLAUFEN.
Die Stimme ist ein Donnerschlag zwischen ihnen.
Sie durchzuckt ihre Körper, zwingt Fern aufzuspringen, und Jaq loszusprinten. Sie brechen durch niedrige Farne und schlittern über morschen Windbruch. Sie wissen nicht, ob die Richtung, die sie eingeschlagen haben, die richtige ist, nur dass es besser ist, als kehrtzumachen, besser, als zu diesem Haus zurückzukehren, wo ihre Freundin nicht mehr als Blut ist, das in die Erde sickert.
Sie laufen Hand in Hand, ihre Herzen verwirrt und verängstigt, während sie weiterstürmen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Wie konnten sie sich so täuschen? Wie konnte der Ort, dem sie so tief vertraut hatten, sie mit einer solchen Boshaftigkeit verraten?
Der Rand des Waldes taucht vor ihnen auf. Die Bäume lichten sich, geben den Blick auf die Häuser dahinter frei, jedes Einzelne in friedliche Stille gehüllt, die Vorhänge zugezogen gegen die Kälte der Nacht.
Die Erleichterung, die die beiden Freund*innen bei dem Anblick verspüren, wird von dem Wissen gedämpft, dass es das ist, wovor sie ursprünglich weggelaufen sind. Dass Frieden immer nur eine Lüge ist. Aber in diesem Moment haben sie keine andere Wahl.
»Sie werden uns helfen.« Fern hält einen Moment inne. »Oder nicht?«
»Wir können ihnen nicht die Wahrheit sagen«, antwortet Jaq, die in erster Linie an ihre Eltern denkt. Sie würden lügen müssen. Weiterhin lügen. Nur, was für eine Lüge könnte erklären, warum sie mit dem Blut ihrer besten Freundin besudelt sind? Oder warum sie heute Abend in den Wald gegangen sind?
Aber während die beiden zwischen den Bäumen hindurch auf das struppige Gras ihrer Wohngegend treten, verschiebt sich irgendetwas. Das Gefühl ist ein bisschen, wie wenn man fällt, und ein bisschen, wie wenn man von den Gezeiten des Meeres fortgezogen wird. Eine Strömung fließt durch Fern und Jaq, schnell und kalt. Erfasst sie. Fern schwankt auf den Beinen. Jaq furcht die Stirn und blinzelt.
Und als sie einander wieder ansehen, ist das Blut auf ihrer Haut und ihren Haaren und Kleidern verschwunden.
Sie stehen unter dem fahlen Licht einer Mondsichel, nicht ganz sicher, wie sie an diesen Ort gekommen sind.
»Bist du, ähm …«, beginnt Fern, aber sie führt den Satz nicht zu Ende. Sie kann sich nur schwach erinnern, entschieden zu haben, sich heute Abend mit Jaqueline De Luca und Mallory Hammond zu outen. Sie kennt keine der beiden besonders gut. Aber Mal ist nie aufgetaucht.
»Ich sollte vermutlich gehen«, antwortet Jaq, verblüfft, dass sie je gedacht hatte, es sei eine gute Idee, sich mit Fern und Mallory wegzuschleichen. Leuten, mit denen sie nicht einmal befreundet ist. »Meine Eltern werden mich umbringen, wenn sie herausfinden, dass ich nicht da bin.«
»Ja, mich auch.«
Die beiden gehen schweigend weiter, bevor sich ihre Wege trennen.
Am nächsten Morgen aktivieren Mallorys Eltern die Telefonkette der Kirche. Jaqs Eltern bekommen den Anruf, und sie fragen Jaq, ob sie Mallory gestern Abend gesehen hat. Sie antwortet wahrheitsgemäß: sie hat es nicht getan. Sie hat Mallory seit der Schule am Freitag nicht mehr gesehen.
Fern hört erst am Montagmorgen davon, als sich die Nachricht in ganz Port Promise herumgesprochen hat: Mallory Hammond, das verschlossene, wütende Mädchen, ist weggelaufen. Jeder in der Stadt glaubt, dass es wahr ist.
Und obwohl irgendetwas in ihren Hinterköpfen kratzt, gedämpft, wie unter Schichten von Eis gefangen, glauben Fern und Jaq es ebenfalls.
Der Flur war erfüllt von Hoffnung, und es roch stark nach Honig-Zitrone-Halsbonbons. Fern war sich nicht sicher, ob sie je zuvor so viele Leute beim Vorsprechen für ein Schultheaterstück gesehen hatte. Fast die Hälfte der Schülerschaft stand vor dem Theater Schlange, jeder Einzelne mit Kopfhörern in den Ohren, leise vor sich hin summend. Oder in manchen Fällen, nicht ganz so leise.
Sie musste nicht überlegen, was der Grund für die plötzliche Popularität der Theatergruppe der Port Promise Highschool war. Es war nicht so, dass Grease: Das Musical heutzutage beliebter war als in der Generation ihrer Mom. Der Grund stand in großen Buchstaben in den Schaukästen neben dem Theatereingang:
GENDERNEUTRALES CASTING.
Die Ankündigung war ein Schock gewesen – für jeden, und ganz besonders für Fern. Nicht weil Port Promise, das sich an die Biegung eines Meeresarms am Puget Sound schmiegte, eine tendenziell eher konservative Stadt war. Das war es. Sondern weil es Ferns Oberstufenmusical war und sie erwartet hatte, dass der Prozess des Vorsprechens ein Kinderspiel sein würde.
»Nur zur Erinnerung, Leute! Falls ihr euch noch nicht angemeldet habt, die Liste liegt neben der Tür aus.« Cambria Colliers Stimme erhob sich über den Lärm. Sie war bei fast jedem Stück seit der neunten Klasse die Stagemanagerin gewesen, und jetzt hatte sie sich in ein Geschöpf verwandelt, das halb Mädchen, halb Exceltabelle war. Während Ms. Murphy im Theater war und das Vorsprechen managte, schmiss Cam hier draußen den Laden. »Wenn ihr für mehrere Rollen in Betracht gezogen werden wollt, dürft ihr Kostproben von zwei Songs aufführen, um euren Stimmumfang unter Beweis zu stellen. Nicht drei, nicht vier, nicht zweieinhalb. Zwei.«
Fern lenkte ihre Schritte zur Tür, vorbei an gerahmten Fotografien ihrer drei älteren Schwestern: Holly, Clover und Ivy. Jede von ihnen aufgenommen in der Hauptrolle des jeweiligen Oberstufenmusicals. Jede von ihnen mühelos schön und talentiert. Sie hatten es alle so weit gebracht, dass Ms. Murphy inzwischen gern behauptete, die Theatergruppe würde mehr Erfolgsgeschichten hervorbringen als jede andere Abteilung der Schule. Holly, die Tänzerin der Gruppe, hatte das College übersprungen und war gleich nach New York gegangen, wo sie bereits mehrere Shows am Broadway getanzt hatte. Clover war in die entgegengesetzte Richtung gegangen, nach Hollywood, wo sie wiederkehrende Rollen in nicht einer, sondern zwei Polizeiserien an Land gezogen hatte. Und Ivy studierte mit einem Stipendium Schauspiel an der Juilliard.
Fern war jahrelang an den Beweisen ihrer Erfolge vorbeigegangen, zunehmend bestrebt, ihr eigenes Bild neben den Bildern ihrer Schwestern zu sehen. Und jetzt war sie so kurz davor. Es hatte nie eine perfektere Sandy Dumbrowski gegeben als Fern. Sie sah nicht nur so aus, von ihrer zierlichen Gestalt und ihrer elfenbeinfarbenen Haut bis hin zu den blonden Haaren - einen auf süß und naiv zu machen war auch der älteste Trick der Welt. Letztes Jahr hatte sie die zweite Hauptrolle in Once Upon A Mattress gespielt, und im Jahr davor war sie die Liesl von Trapp in The Sound of Music gewesen. Schon als Neuntklässlerin hatte sie eine Rolle mit einem Soloauftritt ergattert, denn von allen Schwestern war sie die Sängerin. Die Hauptrolle in diesem Musical war für sie bestimmt.
Solange dieses genderneutrale Casting ihr nicht dazwischenpfuschte.
»Hey, Cam«, sagte Fern.
»Meine Freundin«, seufzte Cam, eine Hand über das Mikrofon ihres Headsets gelegt. Sie war hochgewachsen und breitschultrig, mit kupferbrauner Haut. Als sie den Kopf schüttelte, wippte ihr kurzer, buschiger Pferdeschwanz mit. »Kannst du dieses Chaos glauben? Ich schwöre, wenn ich noch ein einziges Mal erklären muss, was ein Callback ist, werde ich zu Gewalt greifen. Und dann werde ich sterben.« Cam richtete ihre großen braunen Augen auf Fern und schlug sie dann nieder. »Sag bei meiner Beerdigung irgendetwas Nettes über mich. Selbst wenn du es dir ausdenken musst.«
»Soll ich allen sagen, dass du gut in Mathe warst?«, zog Fern sie auf.
Cam kniff die Augen zusammen. »Bist du hier, um dich für irgendetwas anzumelden, oder versuchst du, aussortiert zu werden, bevor du auch nur durch diese Tür gegangen bist?«
»Ich bin hier, um mich anzumelden«, stellte Fern klar und trat an das Klemmbrett, das neben der Tür hing, während Cam die nächste Person in der Warteschlange aufrief.
Die Rollen waren in Solo- und Ensemblerollen aufgeteilt und dann wieder nach männlich und weiblich. Die Anmeldeliste fragte nach dem Namen, der Klasse, einer Telefonnummer, und dann gab es vier Kästchen zum Ankreuzen. Das erste für weibliche Solorollen, das zweite für weibliche Ensemblerollen. Ein drittes für männliche Solorollen und ein viertes für männliche Ensemblerollen.
Fern nahm den Stift, trug ihre persönlichen Daten ein und kreuzte das erste Kästchen an. Sie wusste, dass sie besser nicht andeuten sollte, dass sie sich mit irgendetwas Geringerem als einer Solorolle zufriedengeben würde. Vor allem jetzt. Nur ein einziges Kästchen anzukreuzen war ein klares Signal an Ms. Murphy. Es besagte, dass Fern ihre Fähigkeiten kannte und dass sie hier war, um die nächste Sandy Dumbrowski zu sein.
Aber ihr Blick blieb an dem dritten Kästchen hängen. An den Worten »männliche Solorolle«.
Wie wäre es wohl, fragte sie sich, als Danny Zuko auf der Bühne zu stehen? Das Haar nach hinten gegelt, das Gesicht zu harten Kanten anstatt weichen Kurven konturiert, ihre Brüste abgebunden.
Sie war gut darin, sich als jemand anders zu geben. Leute davon zu überzeugen, dass sie jemand anderes war – eine verrückte Königin, eine hoffnungsvolle Naive, eine verschmähte Geliebte. Aber die Vorstellung, als Danny aufzutreten, hatte irgendetwas anderes an sich.
Ihr Stift verharrte über dem Kästchen in der Schwebe, und sie verspürte ein leises Kratzen in ihrem Hinterkopf. Einen seltsamen Drang, das Kästchen anzukreuzen, obwohl sie wusste, dass sie es nicht tun sollte.
Trotzdem zögerte sie.
»Ich glaube nicht, dass dort irgendwelche Fangfragen stehen.« Eine Stimme brach in ihre Gedanken ein, und obwohl sie sanft war, ließ Fern den Stift unversehens fallen, und ihr Herz begann panisch zu hämmern, als wäre sie bei einem Fehltritt ertappt worden.
»Oh, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte nur meinen Namen dazuschreiben. Wenn du fertig bist, meine ich. Lass dich nicht hetzen.«
Es war Kaitlyn Birch. Fern hatte es sich zur Regel gemacht, keine Feinde zu haben, von denen irgendjemand wusste. Genau wie sie es sich zur Regel gemacht hatte, niemals die Zähne zu zeigen, wenn sie lächelte, und niemals mit ungemachten Haaren zur Schule zu kommen. Aber Kaitlyn Birch sorgte dafür, dass sie gegen ihre eigenen Vorschriften verstoßen wollte, dass sie die Leute wissen lassen wollte, wie sehr sie dieses Mädchen verabscheute.
Kaitlyn Birch war hinreißend, das musste sogar Fern zugeben. Ihre Haut war hellbraun, ihre Augen ein Kaleidoskop aus Sepia und Kupfer. Ihre schwarzen Ringellocken waren ständig in Bewegung, und ihre Bühnenpräsenz hatte ein Gewicht, das sich unmöglich vortäuschen ließ. Aber das Schlimmste war, dass sie in jeder Hinsicht ebenso talentiert wie Fern war.
Und drei Jahre in Folge hatten Kaitlyn und Fern um dieselben Rollen konkurriert. Fern hatte jedes Mal um Haaresbreite gewonnen. Aber letztes Jahr, nachdem Kaitlyn in Once Upon a Mattress als die Nightingale besetzt worden war, hatte sie Fern genau in die Augen gesehen, mit den Zähnen gelächelt und geschworen, dass sie im nächsten Frühjahrsmusical die Hauptrolle an Land ziehen würde.
Fern hatte nicht vor, das zuzulassen.
Sie setzte ein müheloses, entwaffnendes Lächeln auf, jenes, von dem ihre Mom immer sagte, sie würde damit süß und liebenswert aussehen.
»Ich habe mir nur einen Moment Zeit gelassen«, sagte sie und trat Kaitlyn aus dem Weg. »Du weißt schon, letztes Highschoolmusical und das alles.«
»Es ist wild«, pflichtete Kaitlyn bei und ergänzte ihren Namen auf der Liste. »Es könnte sogar unser letztes Musical überhaupt sein.«
Fern lächelte angespannt. Sie war Kaitlyns subtile Sticheleien zu sehr gewohnt, um sich von einer solch abgedroschenen wie dieser provozieren zu lassen, aber die hohe Beteiligung an dem Vorsprechen hatte sie schon jetzt aus dem Konzept gebracht, und alles, was sie als Antwort zustande brachte, war ein »Mm«.
»Na ja, Hals- und Beinbruch da oben«, sagte Kaitlyn, und ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, kreuzte sie alle vier Kästchen an. Dann wandte sie sich ab und nahm ihren Platz am Ende der Schlange ein.
»Ich könnte vergessen, ihren Namen aufzurufen«, flüsterte Cam Fern zu. »Gegen Gebühr natürlich.«
Fern lachte. »Ich muss nicht schummeln, um zu gewinnen. Ich muss mich fokussieren.«
Und um sich zu fokussieren, musste sie irgendwo anders sein.
Mit einem Wink verließ Fern den überfüllten Flur und schlüpfte ins Treppenhaus. Weit genug entfernt, um der allgemeinen frenetischen Energie vor dem Vorsprechen zu entkommen, aber nicht so weit, dass sie es nicht hören würde, wenn Cam ihren Namen aufrief.
Sie stieg zum ersten Treppenabsatz hoch, dann sackte sie unter dem Fenster zusammen und presste den Rücken gegen die kühle Betonwand.
Fern schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie auf der Bühne stand. Den zerschrammten schwarzen Boden unter ihren Füßen, die heißen Lichter auf ihrer Haut, die Art, wie ihre Stimme durch den weiten, offenen Raum hallen würde. Sie stellte sich vor, wie sie ihren Monolog – eine Auswahl aus A Chorus Line – vortrug, und sie stellte sich vor, wie sie den Nagel auf den Kopf traf, bevor sie ein paar Takte von »Summer Nights« sang. Dann stellte sie sich das Lächeln auf Ms. Murphys Gesicht vor, in dem Wissen, dass sie ihre Sandy gefunden hatte.
Ihre Mutter sagte immer: Wenn du Erfolg sehen willst, musst du ihn dir zuerst vorstellen.
Und sie konnte sich schon jetzt am Premierenabend sehen.
Ihr Telefon summte, und der Nachrichten-Thread, den sie mit ihren Schwestern teilte, leuchtete mit einer neuen Nachricht von Clover auf, stets diejenige, die wichtige Termine im Auge behielt. Hals- und Beinbruch, Fernling!, schrieb sie, begleitet von drei Theatermasken-Emojis.
Holly folgte prompt mit einem Daumen-drücken-Emoji und mehreren Herzen, vermutlich heimlich von irgendeiner Tanzprobe geschickt, und gleich darauf Ivy mit der Frage: Ist es schon Zeit für das Musical? Ooooooh! Kann es kaum erwarten, mehr zu hören!
Es war nicht immer leicht gewesen, die jüngste von vieren zu sein, vor allem wenn die drei anderen Geschwister sich altersmäßig so viel näher standen. Bis Fern in die zehnte Klasse kam, hatten die anderen bereits ihren Abschluss gemacht und waren von zu Hause ausgezogen. Das Leben der drei war von einem Augenblick auf den anderen eindrucksvoll und echt geworden, und alles, worum Fern sich Sorgen machte, schien im Vergleich dazu klein. Selbst ihre Zulassung zu dem hoch begehrten Musiktheater-Studiengang an der Baldwin Wallace University in Ohio schien bedeutungslos verglichen mit den Leistungen ihrer Schwestern. Aber die drei hatten sich immer bemüht, sie einzubeziehen, und in Augenblicken wie diesem war es das, was zählte.
Fern antwortete mit einer Reihe von Herzen und schaltete ihre Benachrichtigungen aus.
Dann hörte sie Cam ihren Namen aufrufen. Sie war an der Reihe.
Drinnen war das Theater dämmerig und still bis auf den Strahl des einzelnen Scheinwerfers, der auf die Bühne gerichtet war, und das leise Rascheln von Papier. Die Bühne selbst war schlicht, aber das Bühnenportal war mit roten Samtvorhängen und goldenen Quasten behängt, die elegante Umrahmung kunstvoll verziert mit Blättern, die in allen Farbtönen von Beige und Taubengrau und Roségold bemalt waren. Für Fern fühlte es sich an wie das schlagende Herz der Schule.
»Bist du das, Fern Jensen? Komm nur herunter«, rief Ms. Murphy von ihrem Platz in der Mitte des Zuschauerraums. Selbst aus dieser Entfernung konnte Fern ihre charakteristische Katzenaugenbrille und die karierte Stola sehen, die sie fast jeden Tag, seit Fern sie kannte, trug. Sie war klein und weißhäutig, mit einem sanft gewellten braunen Haarschopf, der von ein paar silbernen Strähnen durchzogen war. Sie hatte einen klassischen »Rockabilly trifft auf schottisches Mädchen«-Look, der ihr richtig gut stand. »Die Bühne wartet.«
Fern ließ sich von dem leicht abgeschrägten Boden den Gang hinuntertragen. Die Lichter im Zuschauerraum waren gedämpft, und der Scheinwerfer warf einen eineinhalb Meter großen Lichtkreis auf den zerschrammten schwarzen Boden der Bühne. Aber in der Beleuchtungskabine saß niemand, daher würde er keine Bewegungen verfolgen. Ein Teil der Herausforderung des Vorsprechens bestand darin, innerhalb der engen Grenzen dieses Kreises zu bleiben. Es war schwerer, als es aussah, aber Fern war ein Profi.
Als Fern ins Licht trat, war es, als würde sie eine andere Welt betreten. Eine, in der sie sich in etwas anderes als sich selbst verwandelte – ein unschuldiges Mädchen, das sich zum ersten Mal verliebte, oder eines, das ein paar schlimme Sachen erlebt hatte und im Begriff war, davon zu berichten. Sie konnte gut oder böse oder chaotisch sein, und niemand auf der Welt würde sie dafür verurteilen, denn es war alles nur Schein.
»Wir sind so weit, wenn du es bist«, sagte Ms. Murphy auffordernd, während sie bereits eine Notiz auf ihren Schreibblock kritzelte.
»Also dann«, begann Fern, streckte eine Hüfte vor und verschränkte die Arme vor der Brust. Trotzig, aber zurückhaltend, während sie in die Figur der achtzehnjährigen Valerie Clarke schlüpfte, fest entschlossen, eine Rockette zu werden.
Die Worte flossen, und sie fand entspannt in die Szene. Val war nicht ganz so unschuldig wie Sandy Dumbrowski, aber das machte sie nicht zu Gegensätzen. Beide waren sanfte Mädchen, verhärtet durch Ungerechtigkeit. Die verletzt worden waren und jetzt sicherstellten, dass es nie wieder passieren würde.
Der Monolog sprach Fern auf eine Art an, die sie sich nicht erklären konnte. Sie war nie so verletzt worden wie die beiden, aber irgendetwas an ihrer Entschlossenheit stieß bei ihr auf ein Echo.
Sie ließ ihren Augen Zeit, sich an die Helligkeit zu gewöhnen, fokussierte sich auf den einen Punkt am hinteren Ende des Theaters, den sie durch das grelle Licht immer erkennen konnte. Sie zuckte leicht verblüfft zusammen, als sie erkannte, dass dort jemand war.
Ms. Murphy bestand immer eisern darauf, dass das Vorsprechen in der ersten Runde hinter geschlossenen Türen stattfand. Es hatte noch nie eine Ausnahme von dem Open Call gegeben.
Aber dort war jemand. Der fast unmerkliche Umriss einer Person zeichnete sich im Schatten ab. Fern verlagerte ihre Haltung, stellte den leichten Aussetzer in ihrer Darbietung als absichtlich hin, während sie den Kopf auf die Seite legte, um besser sehen zu können. Die Gestalt erhob sich von ihrem Platz und begann, sich auf den Mittelgang zuzubewegen, mit langsamen, gestelzten Schritten.
Ein Schauder lief Fern über den Rücken, als die Gestalt am Ende der Reihe stehen blieb, ihr Umriss klein und tintenschwarz und reglos im Schatten. Als sie in den Mittelgang trat, konnte Fern sehen, dass es ein Mädchen war.
Die Augen geweitet. Haare im strahlenden Rot von Ahornblättern im Herbst. Der Mund zu einem stillen Schrei geöffnet.
Dann, auf einmal, bewegte sich die Gestalt wieder. Diesmal mit Blitzgeschwindigkeit. Sie schoss den Gang hinunter, eine Hand ausgestreckt. Stürmte an der Reihe vorbei, wo Ms. Murphy saß, auf die Bühne zu. Auf Fern zu.
Das Mädchen sprang auf die Bühne hoch, streckte seine bleichen Hände nach Ferns Kehle aus. Fern taumelte rückwärts, stolperte über ihre eigenen Füße, verzweifelt bemüht, dem beängstigenden, wilden Mädchen zu entkommen …
»Fern?«, rief Ms. Murphys Stimme. »Ist alles in Ordnung?«
Fern stöhnte schmerzverzeht auf. Sie war plötzlich wieder allein auf der Bühne, ihr Gesäß schmerzte von dem Sturz. Die Worte, die sie als Nächstes sagen sollte, verflüchtigten sich aus ihrem Kopf, so als wären sie nie dagewesen. Schweigen stieg um sie herum auf wie eine Flut, hallte so laut wie das Meer bei Sturm.
»Ich …« Sie verlagerte den Blick für einen Moment zu Ms. Murphy, die eine Miene besorgter Verwirrung aufgesetzt hatte. Sie hatte eindeutig nichts anderes bemerkt als Ferns kurzen Aussetzer. »Entschuldigung, da war eine Wespe, und ich bin allergisch.«
»Möchtest du noch einmal von vorn anfangen?«, fragte Ms. Murphy.
»Ähm, ja«, brachte Fern mühsam zustande. Schweiß perlte an ihren Schläfen, während sie verzweifelt versuchte, eines ihrer einstudierten Lächeln aufzusetzen. »Es tut mir so leid. Ja, bitte.«
»Okay, na dann, wann immer du so weit bist.« Ms. Murphy rückte ihre Brille zurecht und kritzelte noch eine Notiz auf ihren Block. Es konnte nichts Gutes verheißen, aber Fern war sich sicher, dass es gleich noch schlimmer werden würde, denn ihr Sprechvermögen war auf einmal verschwunden. Die Worte, die sie stundenlang auswendig gelernt hatte, waren einfach verflogen.
Alles, was blieb, war die Erinnerung an das Mädchen im Dunkel, ihr Mund weit geöffnet zu einem stillen Schrei.
Die Mittagspause außerhalb des Campus war Jaqs Lieblingszeit des Tages. Es war ein Privileg, das Oberschülern gewährt wurde, die einen Notendurchschnitt von mindestens einer Zwei hielten, was sie spielend schaffte, und ihr Freund, John, mit ein bisschen Hilfe von ihr ebenfalls. Sie waren schon so lange zusammen, dass sie bereits vor ihm wusste, mit welchen Schulaufgaben er zu kämpfen haben würde, und er hatte ihr die Zweitschlüssel zu seinem Wagen überlassen, da es ihnen beiden lieber war, wenn sie hinter dem Lenkrad saß.
Heute, wie jeden Freitag, saßen sie in der Deep Cut Pizzeria in ihrer Lieblingsnische am Wasser. Die Fenster waren mit roten Ginghamvorhängen verziert und boten Aussichten auf den Jachthafen, wo Dutzende von Freizeitbooten schaukelten und ein stahlgrauer Himmel mehr Sprühregen als Sonne versprach. Die Pizza war nur mittelmäßig, aber der Laden gehörte den Clarks, die allen Mitgliedern der Baptistengemeinde von Port Promise einen »Friends & Family«-Discount einräumten. Das, und die Nischen waren so klein, dass John sinnvollerweise so dicht bei ihr sitzen konnte, dass Jaq die Wärme seines Körpers an ihrem eigenen spüren konnte.
»Bist du fertig?«, fragte er mit einem Blick auf die Kruste des einzelnen Stücks Pizza, das sie gegessen hatte.
»Ja«, sagte sie, griff nach dem kleinen Kreuz, das an einem Goldkettchen um ihren Hals hing, und ließ es hin und her baumeln. Er hatte es ihr im vergangenen Jahr zu ihrem zweiten Jahrestag geschenkt. Ihr dritter stand kurz bevor, und sie brannte darauf zu erfahren, was er für dieses Jahr geplant hatte.
»Das dachte ich mir schon«, sagte John, schnappte sich die Kruste von ihrem Teller und tunkte sie in ein Schälchen mit Ranchdressing. Er grinste sie an. Jungenhaft und süß.
Als er lächelte, füllte es eine leere Stelle in ihr aus. Es brachte sie dazu, sein Lächeln erwidern zu wollen. Sie tat es fast immer. John hatte diese Wirkung auf sie. Von Anfang an, da war sie sich ziemlich sicher. Er sah unverschämt gut aus, mit honigblonden Haaren, die sich locker um seine Ohren ringelten, moosgrünen Augen, die mit bernsteinfarbenen Punkten gesprenkelt waren, und warmer, weißer Haut mit einer Handvoll Sommersprossen über Nase und Wangen.
Jaq würde den Rest ihres Lebens mit John Nichols verbringen, und alle wussten es. Sie waren beide im Herbst an der Baylor University angenommen worden, und vorausgesetzt, dass Jaqs finanzielles Hilfspaket durchkam, würden sie bald zusammen ans andere Ende des Landes ziehen. John würde einen Abschluss in Wirtschaft machen und danach Jura studieren; sie wusste noch nicht, was sie tun würde. Was sie wirklich liebte, war Kunst, aber das war eher ein heimliches Hobby, keine berufliche Laufbahn.
»Tommy sagt, die halbe Schule ist gestern zu diesem Vorsprechen gegangen«, bemerkte Susan Meachem, eine täuschend neutrale Miene aufgesetzt. Als Tochter des Predigers ergriff Susan selten Partei oder beteiligte sich an irgendetwas, das als Klatsch und Tratsch ausgelegt werden könnte, aber sie wusste immer, was sie sagen musste, um andere Leute zum Reden zu bringen.
Neben Susan stopfte Tommy Webber sich ein Stück Peperonipizza in den Mund und zuckte mit seinen breiten Schultern. Obwohl er wie ein Typ aussah, der jeden nur erdenklichen Sport trieb, bemühte er sich immer um das Musical. Außer in diesem Jahr. »Das ist ein verdammter Witz.«
»Dein Ausdruck«, bemerkte Susan auf eine Art, die irgendwie kommunizierte, dass sie es ernst meinte, aber auch, dass sie nicht erwartete, dass er sich fügte. Es war ein einzigartiges Talent, die Fähigkeit, im selben Atemzug verurteilend und es gleichzeitig irgendwie nicht zu sein.
Jaq selbst kam damit nie durch. Ihre Worte waren immer zu sehr das eine oder das andere. Zu ernst. Zu laut. Zu viel. Sie musste über ihre Worte nachdenken, bevor sie sie laut aussprach. Außer bei John. Er verstand sie immer.
»Entschuldigung«, sagte Tommy mit gespieltem Bedauern. »Ich hätte sagen sollen, das ist ein verdammter Zirkus.«
»Kein so großer Zirkus, wie die Show selbst sein wird«, warf John ein. »Ich bin fast in Versuchung, hinzugehen, nur um es zu sehen.«
Jaqs Wangen erwärmten sich, und ihre Eingeweide rumorten auf diese Übelkeit erregende Art, auf die sie es immer taten, wenn Themen wie diese aufkamen. Als ob ihre Organe sich gleichzeitig verflüssigten und zu festen Eisblöcken erstarrten. Es war das gleiche Gefühl, das sie jedes Mal hatte, wenn Prediger Meachem diverse Sünden in der Kirche verdammte. Als ob sie gefährlich nah dran war, für etwas verurteilt zu werden, was sie nicht einmal genau benennen konnte.
Die Glocke über der Eingangstür bimmelte, als Cole Clark hereinschneite, in einem alten blauen Kapuzenpulli und mit sichtlich angespannter Miene. Hinter dem Tresen hielt seine Mom einen Karton, der groß genug für zwei Stück Pizza war, und einen Pappbecher hoch.
»Warum wartest du immer bis zur letzten Minute?«, fragte sie betrübt, aber lächelnd.
»Entschuldigung«, antwortete Cole, ohne eine Erklärung anzubieten, und neigte den Kopf, um seiner Mom die Wange zu küssen. Als er sich zum Getränkespender umwandte, versuchte Jaq, seinen Blick aufzufangen, aber er vermied es, zu ihrem Tisch zu sehen.
Cole war ein Oberschüler, wie der Rest von ihnen, und bis vor nicht allzu langer Zeit waren sie alle fünf befreundet gewesen. Es hatte sogar eine Zeit gegeben, da hätte er sich zu ihnen gesetzt, sich einen Stuhl ans Kopfende des Tischs gezogen und den kleinen Raum mit seiner halben Pizza Hawaii noch kleiner gemacht. Immer mit Jalapeños.
Aber in letzter Zeit war er in seine eigene Welt abgedriftet. Hatte sich jeden Tag ein bisschen mehr zurückgezogen.
Susan tippte auf Drogen. Das vermuteten viele. Aber das war nie Coles Stil gewesen.
Jaq griff nach ihrem Becher. »Ich gehe mir nachschenken. Willst du auch noch was?«
»Ja, ein Ginger Ale mit Schuss«, antwortete John und presste sich mit dem Rücken gegen die Nische, damit sie über ihn krabbeln konnte. »Braucht ihr irgendwas?«
»Wir haben noch, danke«, flötete Susan, für sich selbst und Tommy antwortend.
Die Becher in der Hand, ging Jaq hinüber zum Getränkespender.
»Hey, Cole«, sagte sie leise, um ihn nicht zu erschrecken.
Er sah auf, seine Augen aufgeweckt und vielleicht ein klein wenig argwöhnisch. »Hey, Jaq«, murmelte er und senkte den Blick zu seiner Orangenlimonade, und dann stürzte er davon, bevor sie noch ein Wort sagen konnte. Eine Tür wurde ihr vor der Nase zugeschlagen.
Jaq sah ihm nach. Er schien wütend. Auf sie. Obwohl sie keine Ahnung hatte, womit sie das verdient hatte. Sie hatte seit Wochen nicht mit ihm geredet. Was vielleicht genau der Grund war, weshalb. Wenn er irgendetwas durchmachte und sie nicht für ihn da gewesen war, hatte er jedes Recht, wütend zu sein.
Sie schluckte schwer, füllte Johns Becher zur Hälfte mit Cola und dann den Rest mit Sprite auf. Er schwor, dass es wie Ginger Ale schmeckte, mit dem zusätzlichen Vorteil des Koffeins, aber sie war nicht überzeugt.
Als sie ihren eigenen Becher mit Cola light füllen wollte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel ein Aufblitzen roter Haare, als jemand neben sie trat.
Die Farbe wurde begleitet von dem überwältigenden Duft eines süßlich zarten Sonnenblumenparfüms, und ein Feuerwerk von Erinnerungen wurde in Jaq entfacht. Jede verschwommener als die davor. An ein Mädchen mit Haaren wie ein flammender Sonnenaufgang und einem dazu passenden Temperament. Ein Mädchen, das jeden Tag Sonnenblumenparfüm trug. Ein Mädchen, das Jaq nur für kurze Zeit und nicht sehr gut gekannt hatte.
Auf der Junior High war Mallory Hammond eine leicht bedrohliche Gegenwart in der Schule und der Kirche gewesen. Immer ein scharfes Wort oder eine bissige Bemerkung auf den Lippen, so leise und präzise vorgebracht, dass es niemand hörte bis auf die Leute, denen es galt. Jaqs Umgang mit ihr war freundlich, aber nicht freundschaftlich gewesen. Wie alle anderen war sie gleichermaßen schockiert und erleichtert gewesen, als Mal weggelaufen war.
Sie hatte seit Jahren nicht mehr an Mallory gedacht.
»Ist es kaputt?«, fragte das Mädchen neben ihr. »Bitte sag mir nicht, dass es kein Eis mehr gibt oder so. Ich brauche dringend eisgekühlte Chemikalien.«
»Hmm? Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung«, sagte Jaq und füllte hastig ihren Becher. Mittendrin erinnerte sie sich an das Eis und beging den entscheidenden Fehler, es in einen bereits vollen Becher zu geben. »Mist.«
Ein Lachen folgte. Das Geräusch so sanft und teilnahmsvoll, dass Jaq zum ersten Mal aufsah. Und ihr Atem stockte.
Windzerzauste mahagonirote Haare kontrastierten mit leicht gebräunter Haut. Augen von einem sanften Braun. Ein blassrosa Mund, der sich vor etwas wie Verblüffung teilte, als Jaq sich zu ihr umwandte. Auf einmal juckte es Jaq in den Fingern, ein paar Pastellstifte und ein Blatt Papier zu finden, um die Vollkommenheit dieser Züge festzuhalten.
»Wow«, hauchte das Mädchen. Sie starrte Jaq mit weit aufgerissenen Augen an. »Entschuldigung, ich bin … so unhöflich. Und auch Devyn.«
Jaqs Instinkte gingen mit einem Ruck in Aktion. Sie streckte eine Hand aus, um Devyns zu schütteln - und bespritzte sie stattdessen mit Cola light. Klebrige Flüssigkeit sickerte an Devyns schwarzer Jacke und Jeans hinunter.
»Oh mein Gott. Es tut mir so leid.« Jaq stellte ihren jetzt fast leeren Becher ab und schnappte sich so viele Servietten wie möglich aus dem Spender.
»Es ist schon gut, wirklich«, beschwichtigte Devyn sie und nahm die Servietten, die Jaq ihr hinhielt. »Das ist Leder. Und es ist alt. Das kann fast alles ab. Siehst du?« Sie schüttelte ihre Jacke, um ihren Punkt zu beweisen, und ein paar Tropfen Cola light perlten prompt von ihr ab.
»Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was ich mir gedacht habe! Ich schwöre, normalerweise bin ich nicht so ungeschickt.«
»Nur wenn du abgelenkt bist?« Der neckende Ton in Devyns Stimme war unmissverständlich.
Jaq errötete fast bei der Anspielung, aber im nächsten Augenblick legte sich ein Arm um ihre Schultern und zog sie nah an sich.
»Wer ist das denn?«, fragte John. »Abgesehen von dem Grund, weshalb ich noch nicht nachgeschenkt bekommen habe?«
Jaq spürte, wie ihr Blick zurück zu Devyns gelenkt wurde. Sie wollte John nicht ihren Namen sagen. Wollte diesen Moment nicht öffnen, um ihn hineinzulassen. Jaq wollte das hier, Devyn, ganz für sich allein haben.
Es ergab keinen Sinn.
»Ich bin Devyn«, sagte das neue Mädchen und nickte kurz, eine einzige scharfe Bewegung. »Ich bin eben erst hierher gezogen. Heute ist mein zweiter Tag, und ich dachte, ich probiere gleich mal die Oberstufenprivilegien aus.«
Ihr Blick landete wieder auf Jaq, als sei sie es, mit der Devyn wirklich reden wollte.
»Du hast mitten im Abschlussjahr die Schule gewechselt?«, fragte Susan, die in diesem Moment an Jaqs andere Seite trat. »Das ist hart. Wo warst du vorher?«
Devyn zuckte die Schultern. »Osten.«
»Osten wie Eastside? Auf Bainbridge? Ich habe dort drüben ein paar Freunde, vielleicht kennst du sie ja? In welche Kirche bist du denn gegangen?«, hakte Susan auf ihre unbekümmerte Art nach, aber Devyn machte sich nicht die Mühe zu antworten.
Sie füllte ihren Becher mit Cola light, warf die durchnässten Servietten in den Abfalleimer und sah wieder zu Jaq.
»Bis dann«, sagte sie, und dann ging sie.
Jaq sah ihr nach, nicht sicher, ob sie wollte, dass Devyn sich noch einmal umdrehte. Nicht sicher, warum diese letzten beiden Worte ein solch zischendes Gefühl in ihr hinterließen. Spritzig, wie Limonade.
»Meint ihr, sie hat sich für das Stück ausprobiert?« Tommy lachte über seinen eigenen Witz.
»Wir haben noch elf Minuten«, verkündete Susan. »John, du bist dran.«
»Ich mache ja schon«, sagte John und zückte seine Brieftasche, um zu bezahlen.
Draußen hatten sich die Wolken tief zusammengebraut, hatten einen sanften, anhaltenden Regen mitgebracht. Jaq fröstelte, als sie die Scheibenwischer und die Scheinwerfer einschaltete und zurück zum Campus fuhr. Die Port Promise High stand hoch oben auf den Hügeln, mit Blick über Old Town, und mit ihrer gotischen Architektur und der roten Backsteinfassade fühlte sie sich an wie ein Ort, der in eine andere Zeit gehörte. Und mit Sicherheit nicht wie ein Ort, der zu Jaq gehörte. In Nebel gehüllt, sah das alte Gebäude sogar noch bedrohlicher aus als sonst. Sie eilten vom Oberstufen-Parkplatz zum nächstgelegenen Eingang, gerade noch rechtzeitig für Jaq, um vor ihrem Französisch-Intensivkurs noch bei ihrem Schließfach vorbeizuschauen und ihre Bücher zu holen. Als sie die Tür zu ihrem Fach öffnete, fiel etwas heraus und landete neben ihren Füßen auf dem Boden. Sie bückte sich, um es aufzuheben, dann zögerte sie.
Ein dünnes Goldkettchen, befestigt an einer dreieckigen Fassung mit drei Steinen darin, jeder in einem etwas anderen Rotton, von dunklem Burgunder bis hin zu Blassrosa.
Es kam ihr irgendwie bekannt vor. Wie etwas, was sie vor langer Zeit verloren hatte.
Sie streckte eine Hand aus und nahm das Goldkettchen zögernd zwischen die Fingerspitzen.
Jaq!
Die Stimme war ein Schrei. Jaq fuhr mit einem Ruck hoch, schnellte herum, sah sich um, aber der Flur war fast leer. Ein Schauder durchlief sie. Sie presste die Augen fest zusammen, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, ballte die Hände zu Fäusten, und als sie die Augen wiederaufschlug, war die Halskette verschwunden.
Fern begann zu lügen, bevor sie am Freitagmorgen auch nur das Haus verlassen hatte.
Als Erstes gegenüber ihrer Mom, als sie fragte, wie das Vorsprechen gelaufen sei, und Fern antwortete: »Toll!« Es kam so schnell und so überzeugt, dass es keine Möglichkeit gab, es zurückzunehmen.
»Ich weiß nicht, warum ich überhaupt gefragt habe.« Ihre Mom strahlte sie an, strich mit einer Hand sanft über Ferns Wange und umfasste ihr Kinn. »Du bist schon jetzt ein solcher Star, und diese Stimme – du wirst jede Bühne, die du betrittst, erstrahlen lassen.«
Das war eine altbekannte Phrase. Eine, die Willow Jensen zu jeder ihrer Töchter gesagt hatte, seit Fern sich erinnern konnte. Und das nicht nur, weil sie dachte, dass ihre Töchter wundervoll waren. Sie kannte sich aus mit Theater. Sie kannte sich aus mit Schauspielerei und wusste, was es brauchte, um Schauspielerin zu sein. Sie hatte selbst eine kurze Broadway-Karriere gehabt, als sie jünger war. Aber so vielversprechend sie auch gewesen war, hatte sie doch fast so schnell geendet, wie sie begonnen hatte. Wie so viele andere hatte ihre Mom sich verliebt, war schwanger geworden, hatte geheiratet und war nach Port Promise zurückgekehrt, um ihre perfekte Familie zu gründen.
Und für eine Weile war es tatsächlich perfekt gewesen. Sie war Krankenschwester geworden, während Ferns Dad auf den Fischkuttern arbeitete, die jeden Morgen in aller Frühe hinausfuhren. Wenn es im Sound keine Arbeit gab, heuerte er als Deckhelfer auf einem der Ozeanschiffe an, die die Küste von Alaska hochfuhren, manchmal für Wochen am Stück.
Ferns Schwestern erzählten ihr Geschichten davon, wie sie sich alle in Schale schmissen und zum Hafen hinuntergegangen waren, wenn er nach Hause kam. Wie er immer eine Kühlbox voller Fische mitbrachte, die sie auf tausend verschiedene Arten zubereiteten. Wie er eine wunderschöne Gesangsstimme hatte und es nichts Magischeres gab, als wenn er und ihre Mom »You Are My Lucky Star« aus Singin’ in the Rain nachsangen.
Fern erinnerte sich an nichts von alledem.
Ihr Dad war kurz nach Ferns Geburt gestorben, bei einem Unfall auf See. Ihre Mom hatte sich nie wirklich davon erholt. Fern hatte keine Ahnung, wie die Gesangsstimme ihrer Mutter war, abgesehen von körnigen alten YouTube-Darbietungen, die Fern eines Sommers auf einem Bibliothekscomputer ausgegraben hatte. Ihre Mom ging nie mit ihr ans Wasser, und manchmal weinte sie spätabends, wenn sie dachte, dass niemand sie hören konnte. Das Einzige, was ihr Freude zu bereiten schien, waren ihre Töchter. Vor allem, sie auf der Bühne zu sehen.
»Aber du siehst ein bisschen erschöpft aus«, ergänzte ihre Mom besorgt.
Fern war die ganze Nacht von Erinnerungen an ihr Vorsprechen gequält worden. Nicht von der Erscheinung – das war offensichtlich eine wirklich entsetzliche Kombination aus Nervosität und Bühnenlicht gewesen, jene Art schlechter Theatermagie, die sie sofort vergessen musste. Worüber sie nicht hinwegkommen konnte, das war die Art, wie sie ihren Monolog vermasselt hatte. Das war ihr noch nie zuvor passiert. Nicht einmal annähernd. Ms. Murphy war freundlich gewesen, hatte ihr Zeit gegeben, sich zu sammeln und noch einmal von vorn anzufangen, aber selbst dann konnte man ihre Darbietung bestenfalls als glanzlos bezeichnen.
Die große Frage war: War das wichtig? Ms. Murphy kannte sie. Sie konnte nicht bestreiten, dass Fern die bestmögliche Sandy auf ihrer Kandidatenliste war. Es war nicht einmal egoistisch zu behaupten, dass sie besser als Kaitlyn war. Ferns Sopranumfang war objektiv betrachtet überragend.
Und was noch wichtiger war, Ms. Murphy kannte Ferns Familie. Hier ging es um mehr als nur ein einziges Stück. Hier ging es um ein Vermächtnis.
Für Ms. Murphy würde Erfahrung doch sicher mehr zählen als ein vermasseltes Vorsprechen.
Andererseits war sie Lehrerin, und Fern traute es ihr durchaus zu, dass sie das hier als Gelegenheit nutzen würde, um ihr eine schmerzliche Lektion über die wirkliche Welt zu erteilen und ihr den Rest des Abschlussjahres zu ruinieren.
»Es geht mir gut«, log sie wieder. Sie fand leicht in diese Version von ihr, der es immer gut ging. Die Augen ein bisschen mehr geweitet als nötig, ihr Lächeln leicht und freundlich.
»Lass mich ein Foto machen.« Ihre Mom holte ihr Handy aus ihrer Tasche. »Zur Feier des Anlasses.«
Fern umrundete ihre Mom, suchte nach einem schnellen Fluchtweg. »Es gibt keinen Anlass, Mom. Noch nicht. Bring mir kein Unglück.«
»Okay, okay« lenkte ihre Mom ein. »Dann eben dieses Wochenende. Ich bin sicher, ich habe irgendwo im Kostümschrank noch einen Tellerrock. Und Sattelschuhe. Wir könnten zum Salon gehen und dann für ein schnelles Shooting in den Park. Klingt das gut?«
Das Haus war zugekleistert mit Hochglanzfotos von Fern und ihren drei Schwestern. Kunstvollen Aufnahmen, um jeden Anlass zu feiern, bei dem ihre Mutter entschied, dass er gefeiert werden musste. Als Holly in Cinderella als Ella besetzt wurde, waren die drei jüngeren Schwestern böse Stiefschwestern gewesen, und als Clover in Ein Sommernachtstraum als Helena besetzt wurde, waren die anderen Feen gewesen. Im Laufe der Jahre waren sie alles von Prinzessinnen bis zu Schmetterlingen gewesen - alles, was die Laune ihrer Mutter beflügelte.
Als Holly vor fast sechs Jahren nach New York ging und die Schwestern nur noch zu dritt waren, schien die Besessenheit ihrer Mutter nur noch größer zu werden. Als ob dieses Gefühl von Verlust an dem noch schmerzlicheren Verlust ihres Ehemanns rüttelte. Sie brauchte mehr Fotos. Ließ sie ausdrucken und rahmen und hängte sie an die Wände, bis ihr ganzes Haus einem Mosaik ähnelte. Sie schien ein fast zwanghaftes Bedürfnis zu haben, jeden Moment einzufangen, bevor er verstrich. Wohin man auch sah, überall starrten blonde, braunäugige Schönheiten zu dem Betrachter zurück.
In den vergangenen drei Jahren war Fern als Einzige übrig geblieben, um die Bewunderung ihrer Mutter über sich ergehen zu lassen. Es hatte Fotos am ersten Tag des Abschlussjahres gegeben, am Tag jedes Vorsprechens, bei jeder Tanzaufführung, an jedem Feiertag, egal wie unbedeutend, selbst beim Schutzpatron-Festival von Port Promise. Es hatte keinen Sinn, sich gegen etwas zu sträuben, was immer nur die nächste Bitte in einer endlosen Flut von Bitten war.
»Na klar«, sagte sie, während eine unerwartete Welle von Übelkeit in ihrem Magen hochschwappte. »Dieses Wochenende.«
»Sehr schön. Ich rufe im Salon an und frage, ob sie uns am Sonntagmorgen vielleicht dazwischenschieben können.« Ihre Mom strahlte wieder, mit diesem verträumten Blick in den Augen. »Du bist so ein entzückendes Mädchen. Ich wünschte, ich könnte dich genau so für immer behalten.«
Fern lachte und schenkte ihrer Mutter ein beschwichtigendes Lächeln, während sie ihren Rucksack schulterte und ihre Wagenschlüssel aus dem Reißverschlussfach ihrer Handtasche fischte. »Du hattest vier Töchter auf der Highschool«, sagte sie. »Ich kann nicht glauben, dass du allen Ernstes eine für immer behalten willst.«
Aber während Fern an der Wand mit Fotos vorbeiging und Dutzende von Augen jedem ihrer Schritte folgten, fragte sie sich unwillkürlich, ob sie sich täuschte.
Das zweite Mal, dass Fern log, war beim Lunch.
»Ich habe gehört, dass Karima Jones morgen Abend eine Party schmeißt.« Cambria wickelte, während sie sprach, noch ein Starburst-Kaubonbon aus und steckte es sich in den Mund, das Papier legte sie auf einen wachsenden Berg von Abfall neben ihrem halb gegessenen Avocado-Hühnchen-Wrap. »Willst du hingehen?« Erwartungsvoll schaut sie Fern an.
»Natürlich!«, sagte Fern. Wieder war ihr die Lüge herausgerutscht, bevor sie es verhindern konnte.
Erst nachdem sie die Worte gesagt hatte, spürte sie, wie ihr der Magen in die Kniekehlen rutschte. Ein plötzliches flaues Rumoren, sodass ihr für einen Moment übel wurde. Denn Karimas Haus lag so nah am Wald, dass es fast schon darin lag, und Partys dort hinterließen bei Fern immer ein mulmiges Gefühl.
Es war grundsätzlich schwer, in Port Promise den Wald zu meiden. Die Stadt wurde ursprünglich für die Holzfällerei errichtet, und die Gründer ließen sich hier nieder, da es zwischen den Bäumen und dem Wasser gerade genug Platz gab, um das Holz für den Weitertransport herbeizuschaffen und vorzubereiten. Die Holzarbeiter schlugen den Wald zurück, fällten Hunderte von Bäumen und verwandelten Port Promise in die Klinge einer Sichel, die, vom Wasser kommend, bogenförmig in den Wald schnitt.
Heutzutage wurde die Stadt von Dutzenden Fuß- und Fahrradwegen zusammengehalten, die kreuz und quer durch den Wald verliefen und die Innenstadt und die Schulen genau darüber mit den Wohngegenden verbanden, die sich den Berg hinauf erstreckten. Es war normal, dass Häuser eine Beziehung zum Wald hatten, aber Karima lebte regelrecht in ihm, so weit entfernt von der Innenstadt wie nur möglich. Es war ein perfekter Ort für Partys – und ein schrecklicher Ort für Fern. Das lag zum Teil daran, dass es immer einen Moment gab, im Allgemeinen, nachdem der meiste Alkohol getrunken war, in dem irgendjemand verkündete, es sei an der Zeit, den Schutzpatron anzurufen, um zu sehen, ob heute der Abend war, an dem er sich zeigen und einen Wunsch gewähren würde. Der Schutzpatron war angeblich ein wohlwollender Geist, der im Promise Wood spukte, womit er eine Nummer besser war als so ziemlich jeder andere Geist, von dem Fern je gehört hatte. Aber sie hatte das Gefühl nie abschütteln können, dass mit dem Wald von Port Promise irgendetwas nicht stimmte.
Aber es gab keinen guten Grund, die Party sausen zu lassen. Und wenn Karima sie gab, dann würde sie auf jeden Fall witzig werden. Vielleicht war es also keine richtige Lüge zu sagen, dass sie hingehen wollte.
»Ich hatte gehofft, dass du das sagst. Kannst du fahren? Ich weiß, ich weiß, streng genommen bin ich an der Reihe …«
»Was soll das heißen, ›streng genommen‹?«, unterbrach Fern sie, ihre Übelkeit verscheucht von der Ungerechtigkeit des Moments. »Du bist absolut an der Reihe. Um genau zu sein, wenn ich richtig gezählt habe, schuldest du mir bereits einmal Fahren für die Party bei Leo Liu. Du bist an der Reihe.«
Fern warf einen hilflosen Blick über den Tisch auf Melissa Trang, die den Wortwechsel beobachtete, während sie durch einen Metalltrinkhalm Limonade schlürfte. Mit der geraden Linie ihres dichten Ponys sah sie immer aus, als sei sie leicht gelangweilt von einer Unterhaltung, was sie vermutlich auch war.
Die drei waren das perfekte Trio. Sie waren alle in der Theatergruppe, aber sie existierten in drei verschiedenen Sphären und konkurrierten nie miteinander. Cambria war imstande, Chaos zu beherrschen, ohne in Schweiß auszubrechen, womit sie perfekt für ein Leben voller Stagemanagement-Aufgaben war. Melissa war Künstlerin und hatte nie das Bedürfnis gehabt, irgendwo anders als in der Crew zu arbeiten. Sie war ein Genie in Sachen Beleuchtung und konnte Stimmungen mit extrem begrenzten Ressourcen erschaffen. Und Fern war ein geborener Bühnen-Star.
»Sieh mich nicht an«, sagte Melissa und hob die Hände, als wollte sie sich ergeben. »Ich habe nicht meine Eltern durch Zauberkraft überzeugt, dass ich alt genug bin, um einen Wagen zu besitzen. Ich brauche selbst eine Mitfahrgelegenheit. Aber ich stimme dir zu, dass Cambria an der Reihe ist, das heißt, wenn Fern sich bereit erklärt zu fahren, sollte eine Art Zugeständnis gemacht werden, um ihren mächtigen Zorn zu besänftigen.«
»Zugeständnis?«, fragte Cambria, dann richtete sie sich auf. »Ja, ich bezahle das Benzin!«
»Starbucks für eine Woche«, entgegnete Fern.
Cambria stöhnte auf, mit fassungsloser Miene. »Eine ganze Woche? Willst du mich ruinieren?«
»Also, wer spielt hier jetzt Theater?«, fragte Fern, dann wandte sie sich an Melissa. »Unabhängige Richterin?«
Melissa schob ihre Limonade beiseite und legte die Stirn in Falten wie ein alter Mann. Nachdenklich und herablassend. »Eine Woche Starbucks erscheint mir fair für dreimal hintereinander Fahrdienst. Ich entscheide zugunsten der Angeklagten.« Sie schlug mit einer Faust auf den Tisch, um den Punkt zu bekräftigen.
Fern lächelte, aber sie hatte nicht das Gefühl, irgendetwas gewonnen zu haben.
Bis zu ihrer letzten Unterrichtsstunde hatte sich dieses Gefühl noch verstärkt. Sie war fast überzeugt, dass ihr Name, wenn Ms. Murphy die Besetzungsliste aushängte, nicht darauf stehen würde. Da sie dummerweise nur ein einziges Kästchen auf der Anmeldeliste angekreuzt hatte, würde sie nicht einmal eine Nebenrolle bekommen, da sie nicht um eine gebeten hatte. Was würden ihre Mom und ihre Schwestern sagen, wenn sie als Rizzo besetzt wurde?
Und jetzt, da die ganze Schule ihre Aufmerksamkeit auf das Musical richtete, würden alle wissen, dass sie es nicht geschafft hatte. Selbst die jüngeren Schüler, die noch vor zwei Sekunden nichts für das Musical übriggehabt hatten, interessierten sich jetzt dafür. Alle redeten davon, wer für welche Rolle besetzt werden würde. Würde das Paar in den Hauptrollen letztendlich aus zwei Jungen bestehen? Zwei Mädchen? Einer Mischung beider Geschlechter? Die Möglichkeiten schienen endlos und aufregend, für alle bis auf Fern.
Sie war fast in Panik, als die Schlussglocke läutete. Der Flur rings um das Theater war brechend voll. Mindestens die Hälfte der Schule wartete darauf, einen Blick auf die Besetzungsliste zu werfen. Fern schluckte ihre Beklommenheit hinunter und setzte ein hoffnungsvolles und zugleich bescheidenes Lächeln auf, damit, wenn der schlimmste Fall eintreten sollte, niemand behaupten konnte, sie würde so aussehen, als hätte sie irgendetwas erwartet.
Als Ms. Murphy mit einem einzelnen Blatt Papier in den Händen erschien, wurde die Menge still und teilte sich, damit sie sich der Tür nähern konnte. Sie begann, das Blatt aufzuhängen, dann hielt sie inne und wandte sich zu allen um.
Ihre Katzenaugenbrille funkelte im Licht, und sie wickelte sich ihre karierte Stola etwas fester um die Schultern.
»Ich will sagen«, begann sie, wobei sie etwas lauter wurde, um bis nach ganz hinten gehört zu werden, »dass ich aufrichtig stolz auf euch alle bin. Ob das hier euer erstes oder euer einundneunzigstes Vorsprechen war, ich freue mich zu sehen, wie viele von euch gekommen sind, um eine Show wie diese zu unterstützen, und ich hoffe, dass ihr, selbst wenn ihr heute nicht besetzt wurdet, immer wiederkommen werdet. Wir denken manchmal, dass Geschichten, die schon einmal erzählt wurden, sich nicht ändern können, aber der Sinn und Zweck des Theaters ist es, Geschichten durch viele verschiedene Linsen zu reflektieren. Das ist es, was wir mit dieser Interpretation von Grease tun werden, und wenn ich nicht gefeuert werde …« Sie brach ab, mit einem leisen, schnaubenden Lachen.
»Wir lieben Sie, Murph!«, rief jemand in die Pause hinein, die entstanden war.
»Danke«, fuhr Ms. Murphy fort. »Und wenn ich nicht gefeuert werde, hoffe ich, dass wir das in Zukunft noch mit vielen weiteren Shows tun können. Okay, genug der Worte …«
Schließlich heftete sie die Liste an die Tür und zog sich zurück.
Die Menge drängte nach vorn, riss Fern mit sich mit. Sie zwang sich zu einer neutralen Miene, den Blick auf das Blatt Papier geheftet, während Leute vor ihr begannen, sich zu entfernen, in unterschiedlichen Stadien von Verzweiflung oder Jubel. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis sie nah genug sein würde, um es zu lesen.
Sie hielt den Atem an, ging die Liste weiblicher Rollen hinunter bis zu »Sandy Dumbrowski« und dann hinüber zu dem Namen: Fern Jensen.
»Oh mein Gott.« Sie atmete scharf aus. Zu erleichtert, um jetzt schon glücklich zu sein.
Sie entfernte sich von der Liste, in dem Bewusstsein, dass sie in wenigen Sekunden eine Flut von Glückwünschen entgegennehmen müssen würde.
Dafür würde sie ihr bescheidenes Lächeln benötigen. Das, das eher überrascht als glücklich war. Sie holte einmal tief Luft, und – da war es. Der Ausbruch von Lärm. Der Jubel ihrer Mitschüler, die ihren Namen sahen und ihren wohlverdienten Erfolg feierten. Aber als sie sich umwandte, war es nicht Fern, der der Rest der Besetzung gratulierte.
Es war Kaitlyn.
Die Menge hatte sich um sie geschart. Alle jubelten, klatschten, riefen im Sprechgesang ihren Namen.
Eine entsetzliche Sekunde lang dachte Fern, sie hätte die Liste falsch gelesen. War Kaitlyn als Sandy besetzt worden? Hatte Fern die Zweitbesetzung angesehen?
Bevor sie zurück zu der Liste gehen konnte, um noch einmal nachzusehen, stand Kaitlyn vor ihr, ein glückseliges Lächeln im Gesicht. »Herzlichen Glückwunsch, Sandy«, sagte sie. »Sieht so aus, als ob du und ich gemeinsam Port-Promise-Geschichte schreiben werden.«
Ferns Mund war auf einmal wie ausgedörrt, als ihr die Erkenntnis dämmerte. Sie war als Sandy besetzt worden, aber Kaitlyn würde Danny spielen.
»Sieht so aus«, brachte sie mit dünner Stimme zustande.
Kaitlyns Lächeln wurde etwas sanfter an den Rändern. Sie beugte sich näher zu Fern und sprach so leise, dass niemand sonst es hören konnte. »Geht es dir gut?«