ComeOn - Jens Kirsch - E-Book

ComeOn E-Book

Jens Kirsch

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Beschreibung

Stadt oder Land? Die Frage, wo die Menschen der Zukunft leben werden, tritt in der heutigen Zeit immer mehr in den Hintergrund. Wir versprechen Ihnen nicht nur eine Wohnung oder ein Haus. Nein, wir laden Sie ein, an einem Zukunftsprojekt teilzunehmen. Gut wohnen kann schließlich jeder. Aber sind die Wohnungen für jedermann nachhaltig gebaut? Und vor allem, sind sie auch sicher? Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen und genau hier setzt ComeOn an. Erleben Sie hier und jetzt, was die meisten Menschen dieser Welt vermissen: Gemeinschaft! Ihnen sind die Utopien verloren gegangen? Kein Problem, mit uns werden Ihre Träume Wirklichkeit!* *Werbung der ComeOn Wohngemeinschaften AG

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Die Figuren und Orte des Romans sind allesamt erfunden. Überschneidungen mit der Realität sind reiner Zufall und haben nichts zu bedeuten.

© Jens Kirsch

Cover: Mila in Gefahr – Gemälde von Jens Kirsch (frei nach ‚Geburt der Venus‘ von Sandro Botticelli)

Inhalt

Prolog

Das Nest

Vater, Mutter, Kinder

Das erste Haus

Eva wächst heran

Der Fuchs

Das zweite Haus

Ach unterm Dach

In Gefahr

Im Paradies

Das Angebot

Der Umzug

Leben im Paradies

Spiele

Vor den Toren

Sicherheit zuerst

Energie

Essen und Trinken

Obdach - los

Die Kinder

Maik

Verkapselung

Nadja

Mila

Exodus

Franka und Gode

Eva

Björn

Gode

Nacht

Eva

Nadja

Comingout

Eberhard

Eva, Eva, immer wieder Eva

Prolog

Eva lauscht. Sie liegt ganz still auf dem Rücken und versucht sich zu erinnern, was sie so abrupt aus ihrem Traum gerissen hat.

Eben noch wandelte sie auf einem Boot umher, an das Bild einer langen Liste erinnert sie sich; das Blatt lag auf dem Tisch einer holzverkleideten Bootskajüte. Hatte sie der Inhalt des Schreibens so schockiert?

Nichts zu machen, ihr fällt es nicht mehr ein. Sie hat nichts gegen Träume, denn sie ist der Meinung, dass die Menschen mehr auf ihre Träume achten sollten, weil ihnen das Unverarbeitete auf der Seele liegt. Na, mit solchen Sachen kennt sich ihr Mann schließlich aus. Wie auch nicht, als Psychologe. Sie wird Björn einfach fragen, wenn es wieder hell ist.

Plötzlich schießt es ihr siedend heiß durch das Bewusstsein: Sie ist allein. Das ist es, was sie geweckt hat!

An der Wand neben dem Bett spielen die Schatten, die der Baum wirft, den sie vor Jahren selbst gepflanzt hat. Es ist ein Eschenahorn. Die Schatten tanzen und die graue Wand wird dort, wo die Schatten nicht sind, gelb vom seltsam künstlichen Licht der Straßenlaternen. Vielleicht sollte sie einfach die Rollos herablassen?

Aber das mag sie nicht, denn dann fühlt sie sich ein wenig wie lebendig begraben. Darüber konnte Björn immer nur lachen. Ihm ist es egal, ob es hell ist oder dunkel, ob es laut ist oder leise: wenn er die Augen zu hat, dauert es keine zwei Minuten und er schläft den Schlaf der Gerechten! Ob er schnarcht? Na klar schnarcht er!

Eva lächelt, dreht sich auf die Seite und streckt den Arm aus. Dann streicht sie mit der Hand über das Laken. Kühl ist es, so ohne die Wärme des Menschen, den sie so liebt.

Ja, die Stille ist es, die sie auffahren ließ. Sonst lebt das Haus; irgendjemand ist immer unterwegs. Nadja musste jede Nacht raus und Mila mit ihrer Schlafwandelei erst! Wie oft hat sie das Kind beobachtet, wenn es vor der Treppe zum Erdgeschoss stand und anscheinend überlegte, ob der Weg hinab überhaupt lohnt. Das Kind? Was werden ihre Mädchen gerade tun?

Und Björn? Na, wenigstens ist es dort, wo er jetzt ist, sicher. Sicherheit war ihm schließlich immer wichtig. Wieder muss Eva lächeln.

In der Ferne hört sie das ewige Krachen auf der Autobahn. Himmlische Ruhe? Von wegen! Auch so ein Versprechen, welches gebrochen wurde. Aber waren sie nicht selbst daran schuld. Haben sie nicht jeden Mist geglaubt, den ihnen die Vertreter von ComeOn, der Wohngemeinschafts AG, zugesichert hatten? Dabei wussten sie doch, dass das Gemeinschaftsmodell der Firma noch ganz am Anfang stand, als sie sich entschlossen hatten, das Haus hier am Rande der Stadt bauen zu lassen.

Eva schlägt das Deckbett zurück. Da kann sie auch gleich aufstehen. Ihr Entschluss steht nun fest: Sie wird ComeOn wieder verlassen, koste es, was es wolle!

Das Nest

Es scheint einen Zusammenhang zwischen stabilen Familien und einem gesicherten Wohnumfeld zu geben. 1

Im Jahr 2020 wurden in Deutschland durch richterlichen Beschluss rund 143.800 Ehen geschieden. Die Zahl ist gegenüber 2019 um knapp 5.200 oder 3,5 % gesunken.2

1Aus einem Prospekt der Firma ‚ComeOn – Wohngemeinschaften AG‘

2Statistisches Bundesamt (Destatis)

Vater, Mutter, Kinder

Franka und Gode hatten richtig Glück. Weil Godes Vater Offizier war, und die Stadtoberen den Mitarbeitern der Militärmedizinischen Sektion der Universität gehörige Privilegien einräumten, bekamen sie eine Wohnung in der Straße des Friedens zugewiesen.

Zwei Zimmer in der vierten Etage waren es, mit einem kleinen Keller, in welchem die Briketts lagerten und einem Balkon, von dem aus zu sehen war, ob die Kaufhalle gegenüber gerade eine Fleischlieferung bekam. Diese Lieferung stand immer an den Montagen auf Frankas Terminplan, und sie stand bewaffnet mit einem Fernglas auf dem Balkon, um ganz genau sehen zu können, ob es die begehrten frischen Kochwürste gab, oder wieder bloß die einfachen Mettwürste, in denen mehr Fett als Fleisch verarbeitet war.

Frankas Schwangerschaft war fortgeschritten und Ende des Monats stand die Geburt ihres Kindes bevor. Die schweren Kohleeimer sollte Franka nun nicht mehr tragen. Godes Vater schleppte ihr gelegentlich mehrere Eimer hinauf, in die kleine Wohnung unter dem Dach, um sie im Bad abzustellen. Dort störten sie am wenigsten. Ihr Schwiegervater schleppte die Kohlen? Der Offizier?

Ja, Gode hatte sich das nicht ausgesucht, denn er leistete seinen Dienst ab, war eingezogen und ein Wehrdienstverweigerer war er nicht. Also stand er jeden Morgen auf, hampelte auf dem Kasernenplatz im Süden der Republik beim Sport umher, wenn er sich nicht drücken konnte.

Oft schwenkte sein Blick über die Mauern der Kaserne in Richtung Norden, denn hinter dem Hügel mit dem Holländer, so hieß der kleine Turm darauf, wusste er die einzelnen Bahnhöfe mit dem Namen zu nennen, die ihn von seiner Liebe trennten.

Gode hatte sich ein Motorrad mit Seitenwagen gekauft. Das Ding fuhr nicht schnell, aber zuverlässig, und wenn man das Verdeck über die Frontscheibe zog, hätten wenigstens die Kinder ein trockenes Unterkommen. So dachte er sich das, wenn er sich seine künftig vergrößerte Familie vorstellte.

Ihr Sohn Maik war schon etwas über ein Jahr alt und der kleine Kerl und sein Geschwisterchen sollten es schließlich trocken haben, wenn sie beim Papa in das Gefährt stiegen!

Im Frühjahr des Jahres 1978 würde Gode heimkehren.

Als der Geburtstermin näher rückte, stellte der künftige Vater einen Urlaubsantrag. Er war nicht gerade beliebt bei der oberen Heeresleitung, wie sie scherzhaft den Kompaniechef nannten.

Oberleutnant Stark freute sich über die Sehnsucht des Soldaten Gode und schickte ihn, als der Geburtstermin - es war ein Freitag - heran war, auf einen 24stündigen Wachdienst.

So konnte er dem verwöhnten, renitenten und dazu noch von oben geschützten Kerl endlich mal einreiben, wo der Frosch die Locken hatte.

Gode stand also in der Nacht, in welcher Eva geboren wurde, unter den Sternen und heulte. In den Siebzigerjahren war es absolut unüblich, dass Väter an der Geburt ihrer Kinder teilnahmen. Und so hatte er bereits die Geburt ihres Sohnes Maik verpasst. Aber dies nun, das war besonders doof! Selbst ein Anruf stellte ein Problem dar, denn die Telefonverbindungen im Arbeiter- und Bauernstaat waren ein Graus.

Die nächste Reise in den Norden konnte jedoch selbst der rachsüchtige Oberleutnant zwar verzögern, nicht aber verhindern.

Und so machte sich Gode auf den Weg, im Herzen ein Lied und den Rucksack voller Bier. Bis Berlin Lichtenberg ging alles glatt, dann war die flüssige Bahnfahrt zu Ende. Der nächste Zug würde erst am nächsten Morgen fahren. Geduld war in dieser Situation nicht Godes Stärke und er nahm den nächstbesten Zug in Richtung Norden. Dummerweise hielt der Zug nicht dort, wo er hin wollte, sondern am Bahnhof Rügendamm.

Kein Problem, dachte er sich und stieg in der Nacht, so gegen ein Uhr, in ein Taxi, welches ihn bis vor die Tür ihres Heims in der Straße des Friedens fuhr.

„Das macht einen Fuffi!“, sagte der Fahrer. Die Preise waren damals noch echt moderat! Gode grabbelte im Portemonnaie. Mehr als ein Zehner war nicht mehr drin.

„Ich klingel mal kurz, dann gebe ich Ihnen das Geld!“

Der Taxifahrer packte Gode am Arm.

„Nee, mein Freundchen, so geht das nicht! Dann gib mir mal den Ausweis als Pfand, verstehste?“

Gode rollte mit den Augen.

„Spinnst du? Ich gehe nur bis da rüber, siehst du da das Klingelbrett?“

Der Fahrer ließ nicht los, sein Griff wurde noch etwas härter.

„Weißt du, solche Arschlöcher in grau wie dich, fahre ich laufend vom Bahnhof weg. Und eins weiß ich: Ihr könnt unwahrscheinlich gut rennen… Also, her mit dem Ausweis, anders wird das nichts. Ich bin nicht so gut zu Fuß!“

Gode gab ihm also den Ausweis. Dann drückte er die Klingel; im Treppenhaus ging das Licht an.

Gode trat zurück und sah, wie Franka Etage um Etage herabstieg. Als er sie in den Arm nahm, ging das Licht wieder aus. Das machten Zeitschaltuhren, die schalteten sonst immer im falschen Moment. Aber diesmal passte es ganz gut.

Das Licht ging also aus und Gode schluchzte in Frankas Haare.

„Ihr habt mir so gefehlt… hast du mal einen Fuffi für mich?“

Sie mussten erst nach oben, dann rannte Gode wie der Wind mit dem Friedrich Engels Porträt wieder nach unten, riss dem Taxifahrer den Ausweis aus der Hand und verschwand mit einem freundlichen ‚Leck mich am Arsch!‘ wieder in der Dunkelheit.

Dann standen die beiden am Bettchen Evas, welches neben dem Sofa stand, das sie nun Nacht für Nacht aufklappen würden, damit es zu einer breiteren Schlafstatt würde. Schließlich sollte Maik nicht gestört werden.

„Kannst sie ruhig in den Arm nehmen!“

Gode hob das Mädchen vorsichtig an.

„Die ist aber leicht!“

Ja, gegen Maik war Eva ein rechtes Fliegengewicht. Mit 2500 Gramm Geburtsgewicht befand sie sich hart an der Grenze zur Untergewichtigkeit. Maik war dagegen als Siebenpfünder ein echter Brocken gewesen!

In dieser Nacht schlief das Mädchen zwischen den Eltern und am nächsten Morgen klapperte Maik im Nachbarzimmer umher. Franka drehte sich zu Gode und flüsterte:

„Der Mikki, der hat vorige Woche am Sonntag gaaanz lange geschlafen. Ich bin hier umhergegangen, wie ein Geist. Dabei hatte er sich die Kohlen mit ins Bett genommen und damit gespielt.“

Nun musste sie doch lachen und Eva spitzte die Lippen und rollte mit den Augen. Maik war also zu Mikki geworden. Während Franka die Brust aus dem Nachthemd holte und das Mädchen anlegte, streckte Gode die Hand aus und fühlte am Windelpaket.

„Das sieht irgendwie sehr zierlich aus … und nass ist es auch!“

Später wickelte Gode seine Tochter das erste Mal.

„Verdammt, die hat keinen Hintern!“

Die kleinen Beinchen schienen direkt aus dem Leib zu kommen.

„Ooch, so eine kleine Süße!“

Gode gab der Kleinen einen Schmatz auf den Bauch.

Als Gode schließlich seinen unfreiwilligen Dienst absolviert hatte, war er zwanzig Jahre alt. Franka hatte ein halbes Jahr Vorsprung. Und sie hatte eine abgeschlossene Berufsausbildung als Agrotechnikerin. Die Studienvermittler wollten Gode nach dem Abitur zum Berufsoffizier machen oder wenigstens eine Verpflichtung zu drei Jahren Wehrdienst erzwingen. Da schaltete Gode auf stur und meinte, dass er dann eben gleich überhaupt nicht studieren würde. Auf solche Art von Zwang reagierte er allergisch. Nach dem Wehrdienst war er ganz froh, dass er sich so entschieden hatte, denn die Armee war ihm von Herzen verhasst. Und so machte er sich voller Hoffnungen auf in den Norden, um mit Franka und den beiden Kindern ein selbstbestimmtes Leben zu beginnen. Zunächst musste er Geld verdienen. Gemeinsam mit Franka wurden die beiden jungen Eheleute in einer Genossenschaft vor den Toren der Stadt vorstellig. Der Vorsitzende zeigte sich hell begeistert, eine so qualifizierte Kraft wie Franka einstellen zu können. Den Abiturienten ohne Ausbildung nahm er wohl nur als notwendige Begleiterscheinung in Kauf.

Das Gute an den beiden Arbeitsverträgen war die gleichzeitige Zuweisung von Kindergarten und Krippenplätzen im Nachbardorf und bald schon arbeiteten Franka und Gode in der landwirtschaftlichen Produktion: Franka brachte im ersten Sommer die Ernte mit ein, während Gode noch vor der Ernte mit der Frauenbrigade Steine von den Äckern sammelte. Oftmals ließen ihn die derben Späße der Frauen erröten. Es ging recht drastisch zu, dort auf dem Lande.

Als er eines Tages eingeteilt wurde, um Mist mit dem Trecker auf einem Acker in der Nähe des Meeres auszubringen, sprang er aus seinem MTS 52, löste die Verriegelung der Klappe auf der Seite, auf welcher der Dung herunterrutschen sollte, und betätigte die Hydraulik. Was Gode nicht bedacht hatte war, dass bereits auf der anderen Seite die Kippvorrichtung ebenfalls gelöst worden war.

Er war schon ein rechter Stümper, was die Landwirtschaft anging. Jedenfalls rutschte ihm der Mist samt Hängeraufsatz vom Fahrgestell. Es dauerte mehrere Stunden, bis er ein Stahlseil geholt hatte und den Aufsatz wieder so auf das Untergestell gezerrt hatte, bis er die Verriegelung wieder einklinken konnte.

Auch als ihn sein Meister zum Walzen der Rüben schickte, machte er nur Unsinn, denn hinterher waren die Spuren nicht mehr zu erkennen. Meister Nürnberg rollte nur mit den Augen, als er sah, wie der junge Gode mit der vermeintlich einfachen Aufgabe umgegangen war. Die ganze Arbeit umsonst und das sagte er ihm auch:

„Also, min Jung, du hast ja wohl keine Ahnung von der Landwirtschaft!“ und er kratzte sich den Kopf.

Gode war eingeschnappt und als er seinen ersten Lohn bekam, fiel er aus allen Wolken. Das waren glatte 435,- Mark und die waren ihm echt zu wenig. Seinen Führerschein hatte er schon vor dem Wehrdienst gemacht, so dass er sich als Kraftfahrer bei der Post bewerben konnte.

Die nahmen ihn gern, und von da an fuhr Gode die Landkraftpostlinien am Bodden ab. Sein Gehalt stieg auf mehr als das Doppelte. Mit den Nachtzuschlägen verdiente er manchmal sogar darüber hinaus. Nicht unwichtig und noch viel besser war sein gemütlicher Chef, der Erwin.

Struppi, wie ihn die Kollegen nannten, war ein ruhiger Mensch, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Das musste auch so sein, denn die Arbeit, das Verteilen der Postsendungen auf den letzten Kilometern des Landkreises, war eine Herausforderung, wenn man bedachte, wie die Lastautos so aussahen!

Zu der Zeit kam Godes Mutter, die als Schuldirektorin genau in dem Dorf arbeitete, in welchem Mikki und Eva in den Kindergarten und die Krippe gebracht wurden, auf die Idee, Erweiterungsbauten für die viel zu kleine Schule im Umland zu suchen. Sie tat ein altes Haus nach dem anderen auf, denn zu der Zeit war Stadtflucht absolut kein Thema. Das Gegenteil war der Fall – alle Welt wollte die alten heruntergekommenen ehemaligen Tagelöhnerkaten loswerden, um mit Komfort in modernen Neubaublöcken zu wohnen.

Franka und Gode war es allerdings viel zu eng geworden und die Aktivitäten ihrer Kinder ließen sich schlecht ausleben in der kleinen Wohnung.

Als Godes Mutter erzählte, dass sie ein Bauernhaus mit Stall und Scheune aufgetan hätte, welches sie in irgendeiner Weise in den Schulbetrieb einbinden wollte, vielleicht als Schulgartengebäude mit zusätzlichen Unterrichtsmöglichkeiten, schauten sich Franka und Gode das Haus an. Es war gewaltig. Allerdings stürzte das riesige Gebäude auf der Scheunenseite schon ein und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich auch der leer stehende Stall wie ein krankes Tier zum Sterben niederlegen würde.

Im Hause wohnte eine alte Frau. Deren Kinder hatten schon neu gebaut und so hauste sie dort ganz allein. Als Franka mit der Frau sprach, kamen sie ganz von selbst auf einen möglichen Wohnungstausch. Das Haus wurde auf einen Einheitswert von zehntausend Reichsmark geschätzt und weil es bereits so furchtbar wurmstichig im Gebälk war und der Mond schon durch die Löcher in der Schilfeindeckung scheinen konnte, gab es noch einen Preisnachlass. Sie konnten das Haus für dreitausend Mark erwerben. Selbst diese vergleichsweise geringe Summe hatten sie zwar nicht, aber Godes Vater borgte ihnen das Geld gern.

Nach wenigen Wochen war der Wohnungstausch vollzogen. Die Möbel der jungen Familie reichten bei weitem nicht, um das große Haus zu möblieren. Aber das brauchten sie auch nicht, denn die alte Frau wusste mit ihren Möbeln nicht wohin. Was sollte sie noch mit dem großen Ehebett, den wurmstichigen Kleiderschränken und ihren alten Truhen? Manches Zimmer blieb also unverändert und die junge Familie zog aufs Land. Die Postautos der Landkraftpostlinien besaßen als Lastwagen an Transportkapazitäten genug.

Dann kam der Winter des Jahres 1978 und das Land versank unter einer dicken Schneedecke. Die Holzvorräte hinter der Tenne reichten locker aus, um das Haus zu heizen, und als in den Neubauwohnungen der Strom ausfiel, bekam das die kleine Familie nur gerüchteweise mit.

Gode machte sich mit Skiern auf den Weg, um Brot und Milch zu kaufen. Auf dem Rückweg kam er in ein dichtes Schneetreiben und die wenigen Kilometer bis nach Hause wurden zur Qual. Dann verfehlte er auch noch den kleinen Ort, weil er über den Acker abgekürzt hatte.

Erst als er die Lichter eines vorbeifahrenden Zuges sah, wusste er, dass er zu weit in Richtung Westen gelaufen war. Von da aus musste er nun gegen den steifen Ostwind zurück. Wie ein Polarforscher stapfte er durch das Schneetreiben, bis er die Silhouette ihres Hauses sah. Er hätte heulen können vor Erleichterung.

Am Abend kam die Nachbarin, deren Mann wie Franka bei der landwirtschaftlichen Genossenschaft arbeitete und bat um ein Brot, welches ihr die neu Hinzugezogene selbstverständlich gern gab. Gode jedoch motzte umher. Er war sauer. Der Nachbar arbeitete als Traktorist und der Traktor stand, mit einem Schiebeschild ausgestattet, direkt vor der Tür des Nebenhauses. Warum fuhr der Kerl denn nicht selbst los und holte Brot? Gode maulte also weiter umher, bis Franka schließlich die Tür zur Stube zuknallte.

Später blieben selbst die großen Traktoren im hohen Schnee einfach stecken und ihre kleine Ortschaft versank verkehrstechnisch im Dornröschenschlaf, ganz und gar von der Außenwelt abgeschnitten. Das war bei weitem nicht so schlimm wie in der Stadt, denn der Brunnen gab Wasser, die Feuer glühten in den Öfen und wenn der Strom ausfiel, war das nicht schlimm. Dann zündeten sie einfach Kerzen an.

Im Keller lagen Möhren und Kartoffeln und in den Regalen stapelte sich das gute Eingeweckte. Keiner im Dorf musste hungern. In den Nächten sahen sie, wenn die Schneetreiben nachließen, ob in der großen Stadt Strom da war oder auch nicht, denn dann lag die ganze Welt, der ganze Himmel in Richtung Süden, dunkel und still vor ihnen. Kein Zug fuhr mehr, kein Auto war zu hören, kein Vogelzug zeigte sich am Himmel. Es war, als wäre die Zeit um Jahrhunderte zurückgestellt worden.

In diesen Tagen starben mehrere Menschen; ein Besucher aus dem Westen Deutschlands rastete mit seinem Mercedes nur wenige hundert Meter entfernt, auf der nahen Fernverkehrsstraße. Niemand war dabei, als ihm das Benzin ausging und der arme Mann einfach erfror.

Jahre später starb an der gleichen Stelle ein Mann aus dem Nachbardorf, dem der ungesicherte Bierkasten um die Ohren flog. Bloß, der war schließlich selbst daran schuld.

Die Schneewehen wuchsen also bis in die erste Etage und Gode buddelte einen geräumigen Iglu in die Schneemassen. Mikki war begeistert.

Später standen die Bewohner des kleinen Ortes gemeinsam mit Gode an der Ausfahrtstraße und schaufelten Schnee. In der Ferne sahen sie ein gelbes Auto. Hier auf dem flachen Land, so hieß es, kann man den Besuch schon vier Wochen vorher kommen sehen.

Das Auto also bog in die Stichstraße ein und fuhr sich im Schnee fest. Gode stützte sich auf die Schaufel und sah ungerührt zu, wie sich sein Chef Erwin durch die Schneemassen kämpfte und schließlich leicht schnaufend vor ihm stehen blieb.

„Gode, warum kommst du nicht zur Arbeit?“ fragte er mit vorwurfsvollen Blicken.

Mit dem Trecker gelang es nach ewigem Hin und Her, das Postauto aus den Wehen zu zerren.

Einige Tage später schaffte Gode es schließlich, mit dem Seitenwagenmotorrad wieder in die Stadt vorzudringen.

Von da an fuhr er wieder Tag für Tag oder auch Nacht für Nacht durch den Landkreis und brachte die Post zu den kleinen Verteilzentren. Das öffentliche Leben kam wieder in Gang.

Die Menschen in der Stadt hatten eine schwere Zeit hinter sich, als der Strom nur gelegentlich da war und die Lebensmittel gehamstert wurden.

Selbst die Fernwärme fiel aus, weil die Bediener der Reaktoren im doch einige Kilometer entfernten Atomkraftwerk mit den dramatischen Umweltbedingungen kämpfen mussten. In eisiger Kälte fasste manchem in den Wohnzellen die nackte Existenzangst an das Herz. Alle, aber auch alle Provisorien wurden genutzt, um es wenigstens den Kindern hinter eisbedeckten Scheiben ein wenig warm zu machen.

Die Kinder! Mancher Mutter lag ein stummes Gebet auf den Lippen: ‚Mach‘, dass es wieder wärmer wird‘.

Mancher Vater schlich mit missmutigen Blicken durch die Stadt, um Ausschau zu halten, in welcher Kaufhalle Tauchsieder oder Warmluftgebläse angeboten wurden. Denn das war der Fluch der neuen Zeit: Durch Arbeitsteilung und Spezialisierung entstand eine völlig neue Verzahnung der Mitglieder der modernen Gesellschaft. Du selbst konntest zum Wohle aller im Lande aktiv werden, deine Arbeit wichtig und unerlässlich sein, aber ob die Früchte des Wirkens der anderen bei dir ankommen würden, blieb fraglich. Ein scheinbarer Widerspruch, denn die Arbeitsgebiete des Einzelnen spezialisierten sich zwar immer feiner, die Arbeitsumgebungen jedoch schmolzen gleichzeitig zu immer größeren Konglomeraten zusammen.

Die Familie, die Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft, verlor langsam aber sicher ihre bisherige soziale Funktion. Der Staat förderte die Entstehung neuer Industriezweige, deren Arbeit vorher still und leise in der Familie erledigt wurde. Die staatliche Übernahme der Kinder- und der Altenpflege gehörte dazu.

Warum noch einen Familienverband pflegen, wenn letztlich für jedes Individuum am Anfang und am Ende seines Lebens feststand, dass es aus der Familie am Anfang und am Ende ausgestoßen werden würde? Die Anzahl der Einpersonenhaushalte stieg mit der Industrialisierung rasant an. Die Zahl der vereinsamten Menschen, die am Ende ihres Lebensweges angekommen, klammheimlich in den Urnenfeldern der anonymen Bestattungsfelder verschwanden, ebenso.

Die modernen Menschen hatten mit dem Gewinn der Planungsmöglichkeiten für ihre Zukunft das Erleben der Gegenwart aus den Augen verloren.

Das erste Haus

Die Scheune musste abgerissen werden. Zuvor raus, alles raus! Es gab einen Interessenten, der sich aus den Eichenbalken ein Bootshaus bauen wollte. Franka und Gode verkauften also die Balken der Scheune für fünfhundert Mark an einen Kollegen von Godes Vater.

In der Scheune stand noch ein alter Hänger. Ein privater Fuhrunternehmer wollte das Ding gern nehmen. Weil der gleich neben der Mülldeponie vor den Toren der Stadt wohnte, schaufelten sie sämtlichen Müll aus dem Garten und der Tenne auf diesen Hänger.

Unter dem letzten Rest verbarg sich eine fette Ratte. Als sie verzweifelt fliehen wollte, schlug Gode mit der Schaufel nach ihr. Dummerweise war der Hund, den sie sich inzwischen zugelegt hatten, etwas schneller und die Schaufel traf das Tier am Kopf. Verblüfft ließ er die Ratte wieder los, die ihn daraufhin in die Nase biss.

Der Hund schrie auf, schüttelte das Tier ab und biss diesmal richtig zu. Es knackte und die Ratte erstarrte. Vorbei war es mit dem Leben des kleinen flinken Tieres, welches so lange so schön ungestört im Dreckhaufen leben durfte. Gode war ein wenig erschrocken, denn er wollte dem eigenen Hund selbstverständlich kein Leid zufügen.

Später, als ein noch etwas stattlicheres Exemplar Einzug unter dem Holzklappsitz ihres Toiletteneimers hielt, bekam diese Ratte den Namen Plato. Franka schaffte es schon nicht mehr, sich jedes Mal aufzuregen, wenn der glatte Rattenkörper ihr einfach gemauertes Toilettenkabuff zu ihren Füßen verließ, gerade nachdem sie Platz genommen hatte, um sich zu erleichtern.