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Iva Markulin, Staatsanwältin in Zagreb, hängt ihren Job an den Nagel, als ihr Mann bei einem Attentat ums Leben kommt. Mit ihrem kleinen Sohn Matteo zieht sie zu ihrem Großvater, der auf dem Familiengut Terra Rossa in Istrien Olivenöl produziert. Sie genießt es, wieder in der Heimat zu sein, umgeben von malerischen Städten, Stränden mit türkisem Wasser und köstlichem Essen. Doch sie gönnt sich keine Ruhe und ruft eine Sonderkommission ins Leben, als deren Leiterin sie die Mörder ihres Mannes ausfindig machen will. Als erfolgreiche «Mafiajägerin» ist sie keine Unbekannte und macht schnell Bekanntschaft mit einflussreichen Personen. Sie erfährt von der bratstvo – einer Bruderschaft, die die schützende Hand über jedes ihrer Mitglieder hält, egal, wie tief diese in Korruption und Betrug stecken. Doch Iva lässt sich nicht einschüchtern und gräbt tief. Als sie bedroht wird, ist sie sicher, dass sie auf der richtigen Spur ist. Sie setzt alles daran, den Fall zu lösen – Iva will Gerechtigkeit, keine Rache.
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Seitenzahl: 468
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ines Calic
Ein Istrien-Krimi
Mord am Mittelmeer: Iva Markulin ermittelt in ihrem ersten Fall.
Iva Markulin liebt ihre Heimat Istrien, die malerischen Städte, die Strände mit türkisem Wasser und die mediterrane Küche. Mit ihrem kleinen Sohn zieht sie zu ihrem alten, aber unerschütterlichen Großvater Nikola, der auf dem Familiengut Terra Rossa noch immer Olivenöl produziert und hofft, dass Iva die Familientradition fortführt. Iva aber kehrt nur aus einem Grund zurück an die Adria: Sie will die Mörder ihres Mannes finden! An ihren neuen Kollegen Miro Baban muss sie sich erst gewöhnen. Doch der eigenwillige Kroate kennt Land und Leute wie kein anderer und steht Iva entschlossen zur Seite. Sie setzen alles daran, den Fall zu lösen – Iva will Gerechtigkeit, keine Rache.
«Istrien mit seiner wechselvollen Geschichte, seiner landschaftlichen Schönheit, seinem kulturellen Reichtum, seiner Toleranz und seiner mediterranen Lebensart zieht seit jeher Menschen aus aller Welt an. Welche Szenerie könnte für einen Krimi spannender sein als dieses Spiel von Licht und Schatten?» Ines Calic
Ines Calic wuchs in Berlin, Paris und Istrien auf und studierte in Salzburg Jura. Journalistische Erfahrungen sammelte sie beim Aktuellen Dienst des ORF, ehe sie am Institut für Europäische Rechtsgeschichte zur Zeitgeschichte und zur nationalsozialistischen Gesetzgebung forschte. Brisante Themen aus Wissenschaft und Politik liefern Stoff und Hintergrund für ihre Bücher, sie schreibt Krimis und Thriller. Ines Calic ist Mitglied der International Thriller Writers und der Internationalen Liga für Menschenrechte.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung bürosüd, München
Coverabbildung 500px/Getty Images
ISBN 978-3-644-02322-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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«Wir sind Tote, die noch leben.»
Paolo Borsellino, Mafiajäger, geboren 19.1.1940 – ermordet 19.7.1992
«Jeder von uns ist verantwortlich für alles vor allen.»
Fjodor Dostojewski
Den ganzen Tag schon war in Zagreb Regen gefallen, ein Mairegen, sanft und warm, wie die Tränen eines kranken Kindes. Gegen Abend hatte der Wind aufgefrischt, jetzt jagten dunkle Wolken über den Nachthimmel, und von fern rollte der Donner. Vor dem Restaurant Stari Zagreb in der Altstadt fielen schwere Tropfen. Das Reiterdenkmal des Ban Jelačić glänzte metallisch. Den Säbel hielt der Feldherr über den Kopf erhoben, sein Mantel wehte für immer im Wind. Der Regen klatschte auf die Kruppe seines Pferdes und lief auf das Pflaster des Platzes hinunter, wo er zu schwarzen Tümpeln gerann.
Iva, die neben ihrem Mann unter dem Portal des Restaurants stand, warf einen missmutigen Blick hinaus. «Schon ziemlich spät.» Sie knöpfte ihren Trenchcoat zu.
Ein paar Nachtschwärmer eilten, einzeln oder zu zweit unter Regenschirme geduckt, vorbei. Irgendwo hinter den Regenschleiern sang ein Mann mit nicht ganz sicherer Stimme ein Partisanenlied. Es war der 7. Mai, Titos Geburtstag.
Igor starrte in den Regen. «Immer dieses Scheißwetter in Zagreb, irgendwann halte ich das nicht mehr aus.»
Iva sah ihn von der Seite an. «Was ist denn mit dir los? Du hast schon den ganzen Abend schlechte Laune.»
«Unsinn, es ist nichts.»
«Sogar in den Tripe hast du nur herumgestochert.» Zart gekochte Kalbskutteln mit Tomaten und Pancetta waren Igors Leibspeise und die Spezialität des Stari Zagreb.
«Ich habe doch gesagt, es war zu viel Knoblauch dran.»
«Hast du Sorgen?»
«Natürlich nicht.»
Iva überlegte. «Wer hat eigentlich heute Nachmittag bei uns zu Hause angerufen?» Für gewöhnlich benutzten sie ihre Handys. Der Anschluss in der Wohnung war nur für den Notfall gedacht und hatte zudem eine Geheimnummer.
«Keine Ahnung.» Lass mich in Ruhe, sagte sein Ton.
«Warum hast du dich am Telefon nicht gemeldet?»
Igor sah auf sie hinunter. «Bist du etwa eifersüchtig?»
Iva gab keine Antwort.
«Der Anrufer hat gleich wieder aufgelegt.» Igor zuckte die Schultern. «Wahrscheinlich hatte er sich nur verwählt.»
«Woher weiß er das, wenn du keinen Namen nennst?»
«Kannst du nicht einmal aufgeben, du Sturkopf?»
«Irgendwas stimmt seit Wochen nicht mit dir, Igor.»
«Ach, Iva.» Igor zog sie an sich. «Es ist Samstag. Da bin ich fast nur am Wochenende da – und du verdirbst es uns.»
Iva lehnte die Stirn gegen seine Brust. «Tut mir leid.»
Igor lachte und küsste ihr Haar. «Ich liebe dich.» Er versuchte, in ihre Manteltasche zu greifen. «Aber du hast einen Schwips, mein Herz. Gib lieber mir die Autoschlüssel.»
An diesem Wochenende war Igor mit dem Zug aus Pula gekommen, sein blauer Audi stand mit einem Motorschaden in der Werkstatt. Ivas roter Alfa Romeo Giulia parkte ein paar Meter weiter in der Reihe der abgestellten Autos. Sie zog den Autoschlüssel aus der Tasche und drückte ihn ihrem Mann in die Hand. Ertappt – Staatsanwältin Markulin betrunken am Steuer. Die Schlagzeile konnte sie ihren Beruf kosten.
«Dann hole ich mal den Wagen.» Igor schlug den Jackenkragen hoch. «Stell dich lieber weiter unters Dach.»
Igor sprintete los, mit ausholenden, kraftvollen und doch mühelosen Schritten. Als läge vor ihm der Istrien-Marathon, für den er das ganze Jahr trainierte und an dem er immer teilnahm. Oder als trügen ihn an diesem Abend Flügel.
Iva blickte auf ihre Armbanduhr. Zehn vor zwölf. Bis sie zu Hause waren, war es halb eins, und Luisa, Matteos Babysitterin, längst über ihren Studienbüchern oder vor dem Fernseher eingeschlafen. Sie hörte, wie der Motor des Alfa ansprang, und sah hoch. Die roten Rücklichter malten Blutseen auf das nasse Pflaster. Igor gab Gas, das Motorengeräusch schwoll an, und der Alfa rollte aus der Parklücke.
Die Explosion schleuderte Iva zurück gegen die Wand.
Der Schlag auf ihr Herz und die Hitzewelle im Gesicht trafen sie gleichzeitig. Sie stürzte zu Boden, fiel auf alle viere. Brennende Trümmer wirbelten vor ihren Augen.
«Igor!»
Der Alfa war ein leuchtender Feuerball. Er drehte sich in der Luft, stürzte zu Boden, blieb auf dem Dach liegen. Türen und Kotflügel flogen über den Platz. Eine unerträgliche Hitze breitete sich aus, verbrannte ihre Haut, biss in ihre Augen. Iva hörte ihre eigenen Schreie wie von weit her.
«Igor – nein! Igor …!!»
Ein weiteres Auto fing an zu brennen. Dicker schwarzer Rauch stieg auf, verbiss sich in Ivas Lungen, nahm ihr den Atem. Sie hustete, würgte.
Iva sah dunkle Schemen vor dem hoch lodernden Feuer, Passanten rannten in Panik kreischend an ihr vorbei.
Jemand packte Iva unter den Achseln und zerrte sie in das Foyer des Lokals zurück, legte sie auf dem kalten Marmorboden ab wie auf einer Grabplatte.
Von draußen hörte sie immer noch Entsetzensschreie.
Dann das Heulen von Sirenen.
Dann nichts mehr.
Viktor Rodin sog den süßen Duft seiner Red Yesterday ein. Er liebte ihre karminrote Farbe, die weiße Mitte der ungefüllten Blüten, die in großen, kugeligen Büscheln wuchsen. Endlich einmal eine Rose, die reich und dauerhaft blühte und auch mit dem Klima in Zagreb zurechtkam. Er hatte sie letztes Jahr versuchsweise als Solitär gesetzt, aber nachdem sie in diesem Juni schon fast achtzig Zentimeter hoch und ein imposanter Busch war, überlegte er ernsthaft, auch vor die hohe Hecke, die seinen Garten vor den Blicken der Spaziergänger im Ribnjak-Park schützte, ein paar Red Yesterday zu setzen. Außerdem zog diese Rose Unmengen von Bienen an, deren Summen ihn an seine Kindheit in Motovun, einem mittelalterlichen Städtchen in den Hügeln von Istriens Hinterland, erinnerte.
Viktor streckte den rechten Arm aus, visierte mit der Rosenschere ein paar dünne Ästchen an und zwickte sie mit Zartgefühl ab, weniger, weil es nötig war, als um der Pflanze seine Zuwendung zu schenken. Er warf das Schnittgut auf den Rasen und ging weiter zu seiner eineinhalb Meter hohen zitronengelben Ruselda, die er im Frühjahr wie immer um zwei Drittel gekürzt hatte, die aber dieses Jahr nur spärlich blühte. Um die Vögel, die gut geschützt zwischen den starken Stacheln brüteten, nicht zu stören, konnte er sein Sorgenkind jedoch nur aus angemessenem Abstand betrachten.
Die Glocken der Kathedrale hinter dem Ribnjak-Park schlugen drei Uhr. Kaum war ihr Geläut verklungen, ertönte eine Frauenstimme hinter Viktor.
«Onkel Viktor, guten Tag!»
Viktor Rodin drehte sich um.
Seine Nichte Iva Markulin, gepflegt und professionell gekleidet wie immer, in blauem Kostüm, weißem T-Shirt und hochhackigen Schuhen, winkte von der Terrasse der gelben Biedermeiervilla, die sich so gut in sein Rosenparadies fügte, zu ihm herüber. Handtasche und Aktenkoffer hatte sie bereits auf einem der Rattan-Sessel, die sich im Spiel von Licht und Schatten der Pergola um einen runden Tisch gruppierten, abgestellt. Hinter ihr stand Jelena, seine Haushälterin, in der Terrassentür. Obwohl der Tod ihres Mannes nun schon über zwanzig Jahre zurücklag, trug sie wie jeden Tag ein schwarzes Witwenkleid. Mit ihrem sorgfältig frisierten weißen Haar hätte sie auf dem Weg zu einer Beerdigung sein können, wenn sich nicht um ihre runde Mitte eine Küchenschürze gespannt hätte.
«Iva! Wie geht es dir?»
Viktor steckte die Rosenschere in die Bauchtasche seiner Gartenschürze, zog die dicken Handschuhe aus und ließ sie neben sich auf den Rasen fallen. Iva war nicht wirklich seine Nichte, aber die Enkelin von Nikola Pavić, dem besten Freund seines verstorbenen Vaters. Sie hatte nicht nur bei ihm Strafrecht an der Zagreber Universität studiert, sondern auch nach ihrem Studium, das sie summa cum laude abgeschlossen hatte, in seiner Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet. Inzwischen war sie leitende Staatsanwältin der Behörde gegen Korruption und organisierte Kriminalität. Er hatte guten Gewissens ein Empfehlungsschreiben abgeben können. Iva hatte bereits Karriere in der Justiz gemacht, ihr Weg würde sie noch bis in ein Ministeramt führen. Viktor hätte gerne Kinder gehabt. Irgendwie hatte es sich nicht ergeben. Mittlerweile, mit über sechzig, war es zu spät dafür.
Er eilte auf die Terrasse, fasste Ivas Hände und begrüßte seine Nichte – links, rechts – mit Wangenküssen. «Iva, meine Liebe, lass dich anschauen.» Viktor hatte immer gefunden, dass das Mädchen, blond, mit sportlicher Figur und mit Grübchen in den Wangen, ein hübsches Ding war. Umso mehr fiel ihm auf, wie blass und schmal, ja, geradezu spitz ihr Gesicht geworden war. «Gut siehst du aus, Kleine.» Er nickte anerkennend. «Schön wie immer.»
Sie lächelte matt. «Keiner lügt so gut wie du, Onkel Viktor.»
«Ich bin schließlich Anwalt, da kann man nichts machen. Setz dich doch.» Er deutete auf die Sitzgruppe und ging zu einem Sessel. «Was hörst du von Barba Nikola?» Trotz seines eigenen Alters und seines Berufes wählte er stets diese ehrerbietige Anrede für einen angesehenen älteren Mann. «Noch immer jeden Tag im Olivenhain, der alte Löwe?»
Iva wartete, bis er Platz genommen hatte, dann setzte sie sich ihm gegenüber auf die andere Seite des Tisches, neben ihre Handtasche und den Aktenkoffer.
«Ich war letztens auf Terra Rossa. Großvater ist wie immer bei bester Gesundheit.» Ein schmales Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. «Dreiundneunzig und völlig klar im Kopf. Nur das Gehen fällt ihm zunehmend schwer.» Sie faltete ihre Hände vor sich auf dem Tisch. «Ich habe eine Bitte an dich, Onkel …»
«Bestell ihm meine Grüße, Liebes.»
Iva sah auf ihre Finger hinunter. «Er weiß nicht, dass ich hier bin. Und ich wäre dir dankbar, wenn mein Besuch vorerst unter uns bleiben könnte.» Sie blickte auf.
Viktor stützte die Ellenbogen auf die Armlehnen seines Stuhles und verschränkte die Finger vor dem Kinn. «Aha.»
Jelena kam mit einem schweren Silbertablett, auf dem zwei Tassen mit Espresso, zwei Tellerchen mit Spitzenservietten und Kuchengabeln und ein Teller mit Nussstrudel standen. Sie servierte den Kaffee, strich mit den Händen ihre Schürze glatt und verschwand nach einem letzten prüfenden Blick über den Tisch wieder im Haus.
Viktor reichte Iva eine Espressotasse und sah sie fragend an. Iva schüttelte den Kopf, kein Gebäck, danke.
Er lehnte sich zurück, wartete ab.
Iva rührte in der Crema ihres Espressos herum, dann stellte sie die Tasse auf den Tisch zurück und holte tief Luft. «Ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche, Onkel.»
Viktor nickte, das war der übliche Besuchsgrund seiner Gäste. Nur nicht für Iva. Sie hatte ihn noch nie um etwas gebeten. «Natürlich. Was kann ich für dich tun?»
«Ich habe meinen Rücktritt eingereicht.»
«Du hast …? Das ist nicht dein Ernst!»
«Lies mal das hier.» Iva beugte sich zu ihrem Aktenkoffer hinüber, ließ die Schlösser aufschnappen und zog ein Nachrichtenmagazin hervor. Sie blätterte kurz, schlug dann eine Seite auf und schob Viktor die Zeitschrift hin. «Ein Nachruf auf Igor.»
Viktor nahm das Magazin.
Der Artikel stammte von einer Journalistin namens Ana Matić und war mit einem Porträt von Igor und einem Foto des zerstörten Autos geschmückt. «Hochgeschätzt», las er laut vor. «Starb in Erfüllung seiner Pflicht … hatte wichtige Ermittlungen durchgeführt.» Viktor hob den Kopf. «Das Übliche eben. Die haben anscheinend schon einen Vordruck in den Redaktionen.»
«Es klingt vor allem, als wäre der Fall klar.»
Viktor warf das Magazin auf den Tisch. «Allerdings.»
Iva beugte sich vor. «Klar ist nur, dass eine Autobombe meinen Mann getötet hat. Mehr wissen wir nicht.»
Viktor konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er bewunderte ihre Fähigkeit, selbst in dieser Krise einen kühlen Kopf zu bewahren. «Du bist eine gute Juristin.» Schließlich hatte er sie selbst ausgebildet.
«Igor war Leiter der Antikorruptionsabteilung in Pula. Ich vermute, der Anschlag hatte mit seiner Arbeit zu tun.»
«Du vermutest? Was hat Igor gesagt?»
«Igor …» Iva warf einen Blick auf die roten Rosen, die jenseits der Rasenfläche zwischen dunkelgrünem Blattwerk leuchteten. «Igor war in letzter Zeit sehr verschlossen.»
«Natürlich – er wollte seine Familie schützen.»
Ivas Blick kehrte zu ihm zurück. «Ja, wahrscheinlich.» Sie nahm die Kuchengabel von ihrem leeren Teller und fing an, mit den Zinken Linien auf das Tischtuch zu ziehen. Vier parallele und eine fünfte quer, dann wieder vier und eine fünfte quer. Das Muster wirkte wie eine Grafik, war vollkommen symmetrisch. Aber es erinnerte auch an einen Kalender aus Strichen an einer Gefängniswand. «Und wenn die Bombe nun für mich bestimmt gewesen ist?» Iva warf die Gabel auf den Tisch und sah Viktor ins Gesicht. «Ich habe zuletzt einige wichtige Leute hinter Gitter gebracht. Wenn die auspacken, führt die Spur bis ganz nach oben.»
Diese fromme Hoffnung teilte Viktor nun nicht. «Die Schlagzeilen waren voll des Lobes für dich: Die Mafiajägerin mit dem Engelsgesicht.» Trotz der schmeichelhaften Worte war sein Ton scharf und drängend. «Hör auf mich und lass die Finger von der ganzen Sache. Kümmere dich lieber um deinen Sohn.»
«Ich will Igors Mörder finden, ehe mein Sohn Vollwaise wird.»
Die Glocken der Kathedrale schlugen halb vier. Eine Biene summte um den Teller mit dem Nussstrudel, ließ sich darauf nieder und begann zu fressen. Ihr Leib wippte auf und nieder, ihre Fühler bewegten sich, und ihre Flügel schillerten im Nachmittagslicht. Viktor beobachtete sie. Bestimmt war es eine von den Bienen, die sonst seine RedYesterday umschwirrten. Warum konnte sein Leben nicht so einfach wie das dieses Insekts sein? Er wappnete sich innerlich gegen das, was Iva von ihm fordern würde. Ihr Mann hätte eben an seine Familie denken sollen, ehe er sich in Schwierigkeiten brachte. Verantwortungslos nannte man das.
Viktor blickte auf. «Denk an Falcone und Borsellino», sagte er ruhig und bemerkte, dass seine sonst so beherrschte Iva blass wurde. Worte waren die Waffen eines Anwalts. «Eine Autobombe als Warnung sollte dir wohl reichen.»
Im Mai 1992 hatte eine gewaltige Explosion drei gepanzerte Wagen auf der Autobahn zwischen Messina und Palermo erfasst und den berühmten Mafiajäger und Direktor der Strafrechtsabteilung im römischen Justizministerium, Giovanni Falcone, seine Frau und seine Leibwächter zerrissen. Zwei Monate später wurde der Konvoi des Staatsanwaltes Paolo Borsellino und seiner Leibwächter bei Palermo von einer Autobombe in die Luft gesprengt.
Viktor stand auf, zog die Rosenschere aus der Bauchtasche und machte sich auf den Weg über den Rasen. Er musste nachdenken. Hinter sich hörte er Sesselbeine über die Steinplatten kratzen, dann ein zweimaliges Klappern.
«Onkel – bitte, du musst mir helfen!»
Viktor drehte sich um.
Iva kam barfuß über den Rasen auf ihn zugelaufen. Dicht vor ihm blieb sie stehen und sah zu ihm auf. Ihre Augen hatten einen intensiven Blick. Viktor erinnerten ihre aquamarinen Augen stets an die Farbe des Meeres in einer stillen Bucht. Heute war ihr Ausdruck hart. Ja, Wellen ließen einen schweben und konnten an schönen Tagen weich und zärtlich sein wie die Umarmung einer Geliebten. Hatte nicht Odysseus in ihrem Rauschen den Sirenengesang der Göttin Kalypso vernommen und war ihr verfallen? An anderen Tagen jedoch waren sie unberechenbar und tödlich wie die Hand eines Mörders. Nichts spiegelte das Leben so schön wie die griechische Mythologie, fand Viktor. Er beschloss, dieser unerquicklichen Diskussion zum allseitigen Besten ein Ende zu bereiten.
«Einer von Falcones Mördern hat den elfjährigen Sohn eines Verräters entführt», sagte er. «Wusstest du das?»
Iva zwinkerte, dann schüttelte sie den Kopf. «Nein.»
«Er hat das Kind getötet. Um sich für höhere Aufgaben zu empfehlen.» Er machte eine Pause, ließ seine Worte wirken. «Für den Mord an Borsellino.»
Iva starrte ihn an. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos, nur auf einer Wange zuckte ein Muskel.
Viktor fand, dass es an der Zeit war, Gnade walten zu lassen. «Aber wir sind ja hier zum Glück nicht in Italien, nicht wahr? Hvala bogu – Gott sei’s gedankt.»
Seine Familie hatte im letzten Jahrhundert unter der italienischen Besetzung Haus und Hof verloren, Verwandte waren in Lager verschleppt oder ermordet worden. Die Binsenweisheit, dass Zeit alle Wunden heilt, hatte Viktor nie geteilt. Er drehte sich um und ging zu seiner Fantin Latour – zartrosa, blutrote Mitte, dicht gefüllt und stark duftend – und schnitt eine große Blüte ab. Sie war wirklich eine Schönheit. Und dabei gar nicht anfällig für Krankheiten.
«Wo war Matteo auf Igors Beerdigung?» Iva stand neben ihm. «Hast du ihn irgendwo gesehen? Mit ihm gesprochen?»
Viktor überreichte ihr die Rose. «Ehrlich gesagt …»
«Nein!» Iva wedelte mit der zarten Blüte. «Er war nicht da. Ich habe ihn nicht mitgenommen, weil ich nicht wollte, dass am nächsten Tag Bilder von meinem Sohn überall in der Presse auftauchen.»
Viktor spielte mit der Rosenschere, gab keine Antwort.
«Ein Sohn, der nicht zu der Beerdigung seines Vaters gehen kann.» Iva gestikulierte so wild, dass sich die Rose in ihrer Hand auflöste. Ein Regen von Blütenblättern fiel auf den Rasen und sprenkelte das Gras wie mit Blutstropfen.
Viktor fühlte beim Anblick dieses Sakrilegs einen schmerzhaften Stich im Herzen. «Was für eine Schande!»
«Das kann man wohl sagen. Also, Onkel, um was ich dich bitte: Mein Antrag auf Entlassung muss so schnell wie möglich bearbeitet werden», fuhr Iva, nun in sachlichem Ton, fort. «Ich ziehe nach Istrien und ermittle selbst in Igors Fall. Die Untersuchung verläuft sonst im Sand, wie immer.»
«Das ist nicht dein Ernst.»
«Mein voller Ernst.»
Viktor tippte mit dem Zeigefinger gegen die schnabelförmige Spitze der Rosenschere. «Die Einrichtung einer Behörde gegen Korruption und organisierte Kriminalität war 2006 eine Bedingung der EU für den Beitritt Kroatiens», sagte er und wählte seine Worte mit Bedacht. «Wenn du deine Stelle als leitende Staatsanwältin aufgibst, dann wird sie unmittelbar nachbesetzt. Möglicherweise auf Lebenszeit.»
«Das muss ich riskieren.»
«Das ist das Ende deiner Karriere.»
«Ich denke vor allem an Matteo.»
«Außerdem bist du durch und durch ein Stadtmensch.»
«Sobald ich mit meiner Arbeit fertig bin, kommen wir zurück nach Zagreb. Ich behalte unsere Altstadtwohnung hier. Wenn ich auf Terra Rossa lebe, kann ich mir die Ratenzahlungen leisten.»
Viktor seufzte. «Du darfst nicht privat ermitteln.»
«Man wird eben eine Sonderkommission bilden müssen.» Viktor ließ die Rosenschere sinken und sah in Ivas Gesicht, das ihm seit ihrer Kindheit vertraut war. Der Blick der blauen Augen war scharf, ihre Miene entschlossen. Nicht mehr Kalypso, sondern Artemis, die Göttin der Jagd, die im Mondenschein durch den Wald pirscht, den silbernen Bogen und den Köcher mit den Silberpfeilen an ihrer Seite.
«Weißt du, was du da von mir verlangst, mein Herz?»
«Weiß ich.»
«Ich fürchte, du überschätzt meinen Einfluss.»
«Du musst mir helfen, Onkel.»
Viktor wog die Schere in der Hand. Es war eine vermaledeite Situation. Gerade jetzt wollte er nicht in der Schuld gewisser Kreise stehen. Aber Iva würde einen Weg finden, mit oder ohne ihn. Und wer konnte vorhersagen, in welches Wespennest sie dabei stach. Die Konsequenzen waren nicht abzusehen. Vielleicht war es besser, Iva erst einmal nachzugeben und sie in Zukunft gut im Auge zu behalten.
«Dein Großvater hat meinem Vater damals bei den Partisanen das Leben gerettet.» Viktor schenkte Iva ein Lächeln. «Glaub nicht, dass ich das vergessen hätte. Ich fühle mich für dich verantwortlich.» Er blickte zur Red Yesterday hinüber. Wie rote Münder. Oder wie Schusswunden. Er verdrängte den Gedanken und wandte sich wieder Iva zu. «Also gut, ich werde alles versuchen, was in meiner Macht steht. Der Justizminister ist mein Parteifreund, und außerdem sitzen wir gemeinsam im Vorstand des Fördervereins der Zagreber Oper. Ich rede morgen mit ihm, am Rande unseres Fundraising-Abendessens ergibt sich vielleicht eine Gelegenheit …»
«Ich muss so schnell wie möglich bestellt werden.»
Viktor breitete die Hände aus. «Iva, mein Herz, ich kann den Minister nur bitten, aber ich kann keinen Druck auf ihn ausüben.» Er seufzte. «Vielleicht, wenn es demnächst zu der Kabinettsumbildung kommt, von der gewisse Kreise munkeln, dann hat meine Stimme bestimmt mehr Gewicht.» Er hatte sich bei der letzten Bestellung des Justizministers für den Posten ins Gespräch gebracht, aber seine Stimme war ungehört verhallt. «In ein paar Wochen sieht die Sache möglicherweise anders aus.»
«Ich kann nicht warten, bis du Premierminister bist.»
«Premierminister – wo hast du denn das her?» Hatten sich seine politischen Ambitionen also schon bis in Justizkreise herumgesprochen. Leider war er von einer politischen Karriere noch weit entfernt. Es würde noch harte Arbeit und so manches Opfer kosten. Das Ansinnen seiner Nichte kam wahrlich zur Unzeit. «Du bist eine harte Nuss, warst du schon immer. Unbeugsam wie dein Großvater.»
«Hier geht es um die Familie, Onkel!»
Die Familie. Dagegen konnte man nichts sagen. Er würde ihr helfen müssen. Möglicherweise konnte ja auch ein größerer Schaden für alle Beteiligten abgewendet werden, wenn er ihren Zorneseifer in die richtigen Bahnen lenkte.
«Na schön, ich werde sehen, was ich tun kann.» Er tätschelte ihre Wange. «Aber ich verspreche nichts.»
«Ich danke dir, Onkel.»
«Man sagt, wen die Götter strafen wollen, dem erfüllen sie seine Wünsche. Also danke mir nicht, Herzchen. Ich hoffe, du bereust deinen Entschluss nicht allzu bald.»
Viktor blickte Iva nach, als sie über den Rasen zur Terrasse zurückmarschierte. Mit erhobenem Kopf, gestrafften Schultern und geradem Rücken. Athene, die Göttin des Krieges und des Friedens. Nicht wie Mars, der Krieg um jeden Preis führt, sondern die Schirmherrin der Kampfstrategie. Iva, so hatte Viktor das ungute Gefühl, hatte sich ihre Strategie zurechtgelegt. Jetzt zog sie in den Kampf.
Er seufzte und wandte sich um.
Wenige Meter vor ihm blühte der halbhohe Strauch der Schneeflocke, fünf weiße halb gefüllte Blüten wie aus Eis gefroren. Weiß,die Farbe der Unschuld. In ihrer kühlen Makellosigkeit stach sie unangenehm aus dem vielfarbigen Blumenmeer hervor. Diese Rose passte nicht hierher. Viktor zückte die Rosenschere, ging zu dem Strauch, bückte sich und fing an zu schneiden.
«Hallo?»
«Hier Professor Rodin, den Justizminister bitte.»
«Am Telefon! Mein lieber Viktor, was verschafft mir die Ehre? Sehen wir uns etwa morgen Abend nicht?»
«Doch, natürlich, Drago. Heute rufe ich nicht als Vorstandsmitglied an, sondern als Freund.»
«Dragi prijatelj, lieber Freund, was darf ich für Sie tun?»
«Sie haben doch von dem Anschlag letzten Monat auf Doktor Igor Markulin gehört? Eine Autobombe. Der Mann hinterlässt Frau und Kind.»
«Grauenhaft, ganz grauenhaft. Ich bin sicher, unsere erfahrene Exekutive wird schnellstmöglich …»
«Ich denke, die Untersuchungen in Pula – die ja zweifellos stattfinden werden, nicht wahr? – sollten von einer besonders tüchtigen Person geleitet werden.»
«Ohne Frage – aber leider sind mir die Hände, was dortige Personalentscheidungen betrifft, gebunden.»
«Der Anschlag war an Titos Geburtstag.»
«Ein politisches Motiv?! Großer Gott …»
«Die Witwe, Iva Markulin – die Staatsanwältin –, will sich nach Pula versetzen lassen und die Ermittlungen vor Ort selbst in die Hand nehmen.»
«Lieber Freund, diese Personalentscheidung ist im Bereich der Polizei angesiedelt und daher Sache des Innenministeriums. Das müssten Sie doch wissen.»
«Staatsanwältin Markulin ist, das nur ganz nebenbei gesagt, die Enkelin von Nikola Pavić, ehemaliger Partisan und – Weggefährte von Tito.»
«Weggefährte von Tito? Was Sie nicht sagen!»
«Ich würde es als Ihr Freund sehr bedauern, wenn ich nicht auf Ihre Unterstützung zählen könnte. Und Sie nicht mehr auf meine. Oder die meiner Freunde.»
«Aber was reden Sie da, mein Lieber? Wo kämen wir denn hin, wenn Freundschaft nichts mehr zählte?»
«Von den Partisanenverbänden gar nicht zu reden. Ihr Einfluss ist nicht zu unterschätzen, mein Lieber, genau wie der meiner Freunde.»
«Aber ich bitte Sie! Dragi prijatelj! In so einem tragischen Fall – ein vaterloses Kind, sagten Sie? –, da tut man doch selbstverständlich, was man kann.»
«Daran hatte ich keinen Zweifel.»
«Sie hören heute noch von mir, lieber Freund.»
«Kabinett des Innenministers, Referent Stjepan Bekić am Apparat.»
«Hier Dragutin Miletić! Den Innenminister bitte!»
«Ist heute in Belgrad, Herr Justizminister.»
«Dann müssen Sie mir eine Bitte erfüllen, Herr …»
«Bekić. Bereits erfüllt, Herr Minister.»
«Sie haben doch von der Autobombe auf dem Jelačić-Platz vor drei Wochen gehört? Also – gerade eben hat mich ein lieber Freund angerufen und Bedenken geäußert, die Mordermittlungen in Pula könnten, nun ja, vielleicht nicht mit der gebotenen Eile und dem nötigen Engagement vorangetrieben werden.»
«Pula? Da bin ich, ehrlich gesagt, überfragt.»
«Doktorica Iva Markulin, die Witwe des Opfers, die bekannte leitende Staatsanwältin hier in Zagreb, will sich der Polizei in Pula zuteilen lassen. Kurz gesagt, ich würde Ihre Versetzung sehr befürworten.»
«Da werden die da unten wenig Freude haben.»
«Ich hoffe für Sie, Bekić, dass der Innenminister nicht allzu ungehalten ist, wenn ich ihn nach einem Arbeitstag in Belgrad spätabends zu Hause anrufe.»
«Ich bitte Sie, Herr Justizminister! Ich werde sofort alle notwendigen Schritte einleiten. Ich notiere … Doktorica Iva Markulin, hatten Sie gesagt?»
«Genau, dragi prijatelj, und sollten Sie mal das Büro wechseln wollen – vielleicht als Kabinettschef? –, flexible junge Männer kann ich immer brauchen.»
«Danke, Herr Minister, danke, ich melde mich!»
«Petrović!»
«Kabinett des Innenministers, Referent Stjepan Bekić am Apparat. Herr Polizeidirektor, wir haben hier eine delikate Personalagenda, deren Erledigung keinen Aufschub duldet.»
«Muss ja wichtig sein, wenn Zagreb extra anruft.»
«Es geht um die Einrichtung der Sonderkommission zur Untersuchung des Mordes an Doktor Igor Markulin.»
«Welcher Sonderkommission? Etwa hier in Pula?»
«Die hochgeschätzte Staatsanwältin Doktorica Iva Markulin wird von uns mit der Leitung dieser Kommission betraut. Dienstantritt ist der erste Juli. Das Generaldirektorat der Polizei in Zagreb ist von unserer Entscheidung bereits informiert.»
«Hören Sie, Zagreb, wir machen hier unten in der Provinz schon unsere Arbeit – ganz ohne eure Hilfe.»
«Der Herr Innenminister ersucht Sie darüber hinaus, für Doktorica Markulin Räumlichkeiten und die nötige personelle Unterstützung bereitzustellen.»
«Ja was glaubt ihr Städter eigentlich, was hier los ist? Wir haben Hochsaison! Die Gegend ist voller Ausländer – und zwar nicht nur Touristen! John Malkovichs Hotel hat uns vorinformiert, dass er wie jedes Jahr in Savudrija ist, Kylie Minogue und Johnny Depp kommen anscheinend auch wieder. Die sind im letzten Sommer mit irgendwelchen Bodyguards über den Markt in Rovinj spaziert – eine Einladung für jeden Entführer. Und gerade haben militante Umweltschützer angekündigt, gegen die Beckhams zu demonstrieren, sollten die einen Fuß nach Istrien setzen, weil sie letztes Jahr in Dalmatien für Fotos körbeweise Seeigel in der Sonne haben krepieren lassen und so ein Seeigel sonst hundert Jahre alt wird. Dazu noch das übliche Tagesgeschäft. Also, Bekić, meine Männer haben keine Zeit, Ihre Gnädige an der Hand zu nehmen.»
«Hören Sie, Petrović, wenn Sie mit Ihren Aufgaben als Polizeidirektor überfordert sind – ein Burnout in einer so verantwortungsvollen Position wie der Ihren ist keine Schande, dafür hat der Herr Minister Verständnis –, dann wird es Sie freuen zu hören, dass demnächst ein Polizeiposten im Hinterland von Gorski Kotar frei wird. Ruhiges Bergdorf, gute Luft und eine Handvoll Bauern. Die einzigen Delikte sind Alkohol am Steuer und Schafdiebstahl.»
«Andererseits können wir immer Hilfe gebrauchen.»
«Man lässt die Karriere Karriere sein und schiebt eine ruhige Kugel. Wenn Sie also lieber …»
«Aber ich bitte Sie! Wir freuen uns natürlich, Doktorica Markulin jede Unterstützung zu gewähren.»
«Der Herr Innenminister war sich dessen sicher.»
«Zwei prachtvolle Seespinnen – schau her!» Der Fischer hockte neben der Bordwand des Trawlers auf dem Kai und klappte einen großen Deckelkorb auf, aus dessen Ritzen Meerwasser sickerte. Er packte mit jeder Hand einen der mit kleinen Hörnern bewehrten Panzer, stand auf und hielt seinen Fang an ausgestreckten Armen von sich weg. «Das sind Monster, was?»
Die gut einen halben Meter langen Riesenkrabben ruderten mit ihren Beinen, als wollten sie einen letzten verzweifelten Fluchtversuch unternehmen. Ihre Scheren bewegten sich wie in Zeitlupe.
«Das Valsabbion in Pula kann sie morgen auf die Speisekarte setzen.» Im Lachen des Fischers schwang das Glück mit, einen so wertvollen Fang gemacht zu haben. «Die feinen Leute sind verrückt danach – mit etwas Zitrone, Olivenöl, Pfeffer, dazu ein Glas Weißwein … Aber für Barba Nikola – das ist was anderes. Nimm sie nur.» Seine Augen waren verquollen, seine Schnapsfahne mischte sich in den Geruch des Hafenbeckens. «Ich mache dir einen guten Preis.»
«Das ist sehr großzügig, Andrija, aber ich wollte nur meinen Sohn überraschen und ein paar Sardinen zum Frittieren fürs Abendessen kaufen», sagte Iva. «Hast du deinen ganzen Fang heute Morgen zum Fischmarkt gebracht? Nichts übrig?»
Andrija schüttelte den Kopf und wies mit dem Kinn auf sein Schiff. «Sieh selbst.» Ölzeug für fünf Männer hing an der Kabinenwand, das große Schleppnetz lag trocken auf dem Boden, die Plastikkisten, in denen sonst gestoßenes Eis die silbernen Fischleiber bedeckte, waren leer. «Derzeit fangen wir so wenig, da bin ich letzte Nacht gar nicht erst raus.»
«Dachte ich mir schon», sagte Iva. «Bei dem Vollmond.»
Die starken Halogenlampen der Boote lockten das Plankton und damit die Fische an die Oberfläche und in die Netze. Gegen den Schein des Mondes konnten sie nicht konkurrieren. Auch wenn die Lastwagen schon warteten, um den Fang nach Italien und Frankreich zu bringen.
«Nein, weiß der Teufel, wo die Fische sind», sagte Andrija. «Früher haben wir auch im Sommer immer volle Netze gehabt, aber jetzt verschwinden die Schwärme im Frühjahr irgendwo da draußen und tauchen erst im Herbst wieder auf.» Er schüttelte den Kopf. «Dabei brauchen wir den Fisch genau jetzt, zur Urlaubssaison. Ich kenne Restaurants, die schließen im Juli und August – kein Fisch, keine Gäste.» Auf einmal erschien ein Strahlen auf Andrijas Gesicht. «Aber dafür hat meine Natascha gestern Abend unseren Sohn bekommen. Neunundvierzig Zentimeter, viereinhalb Kilo. Da habe ich mit den Kumpels natürlich ein bisschen gefeiert.» Er grinste, dann hob er die Seespinnen abwechselnd hoch. «Die Goldstücke haben neben meinem Ankerplatz gesessen. Haben direkt auf mich gewartet.»
«Kauf deiner Frau was Schönes davon. Wie geht’s ihr?»
«Großartig.» Andrija setzte die Riesenkrabben in den Korb zurück, wo sie sofort versuchten, den Rand zu erklimmen. Er klappte den Deckel zu und verschloss ihn mit einem vom Salzwasser starren Lederriemen. «Morgen hole ich meine kleine Familie nach Hause.» Er wischte die Hände an seiner Hose ab. «Na, dann – grüß mir den alten Löwen.»
«Mach ich, ciao, Andrija.»
Iva hob die Hand zum Abschied, dann drehte sie sich um und schlenderte die lange Mole hinauf zur Hafenpromenade, sog den Geruch nach Meer und Tang ein. Neben ihr wiegten sich Fischerboote und Jachten auf den Wellen. Am Kai saßen Männer auf umgedrehten Kisten in der Nachmittagssonne und flickten Netze oder reparierten Krabbenkörbe.
Iva blieb stehen und zog den Ausschnitt ihres weißen Leinenkleides vom Hals weg, in der Hoffnung, eine Meeresbrise würde ihre schweißnasse Haut trocknen. Diese Hitze Ende Juni in Istrien kannte sie nicht, ebenso wenig die neue Luftfeuchtigkeit, die auf dem Land und seinen Menschen lastete, als stünde ein Gewitter bevor. Doch der Himmel war wolkenlos blau, und kein Lüftchen regte sich.
Vor der Bar Valentino verteilten Kellner bereits Sitzkissen für die Abendgäste auf den von der Tageshitze aufgeheizten Klippen. Von dort reichte der Blick zur Insel Sveta Katarina und weiter bis zum Horizont, wo Himmel und Meer im Dunst miteinander zu verschmelzen schienen. Bald würde sich der Westen flamingorot färben, dann blau und grau, ehe alle Farben verblassten und der Abendstern über dem Meer aufging. Wie oft hatte sie mit Igor dort bei Sonnenuntergang gesessen, gekühlten Malvazija getrunken und Zukunftspläne geschmiedet?
Iva wandte den Blick ab und richtete ihn auf die bunten Häuser vor sich. Es war das letzte Juniwochenende, und in Rovinj herrschte bereits Hochsaison. Über die Hafenpromenade schob sich nach einem langen Badetag eine nicht enden wollende Schlange erschöpfter Touristen. Iva wusste, dass sie ihr Auto vom Parkplatz holen und auf direktem Weg nach Hause fahren sollte. Matteo wartete bestimmt auf sie. Aber sie hatte Durst, und die Boote und Möwen tanzten auf dem Meer – ein wahres Sinnbild für Müßiggang und Sorglosigkeit. Die Cafés unter den Säulengängen waren voll besetzt. Fremde Sprachen schwirrten durch die Luft und füllten die engen Gassen aus poliertem Marmor. Rotgesichtige Touristen mit Schirmmützen und Sonnenhüten bevölkerten die Eisdielen, die Einheimischen standen an den Stehtischen vor den Bars und diskutierten bei einem Espresso oder einem Glas Wein die Weltlage.
Iva beschloss, noch ein Mineralwasser zu trinken.
Sie ergatterte den letzten freien Tisch auf einer Café-Terrasse an der Promenade. Unter den weißen Sonnenschirmen staute sich die Hitze, die Palmen in den Terrakottatöpfen stachen mit ihren starren Wedeln wie mit Speeren in die Luft. Es roch nach Salzwasser, Motoröl und Kaffee. Aus dem Lokal tönte ein alter Schlager. Marina, Marina, Marina – ti voglio al più presto sposar. Iva bestellte einen Espresso und eine ganze Flasche Radenska-Mineralwasser, lehnte sich zurück und betrachtete das Gedränge am Hafen.
Ein dunkelhaariger Mann tauchte aus der Menge auf, blieb stehen und sah sich unschlüssig um. Dann entdeckte er Iva, und seine Miene hellte sich auf. Zügig steuerte er auf das Café zu. Er trug ein blaues Polohemd, das sich über einem Oberkörper spannte, dem man das regelmäßige Krafttraining ansah, und dazu weiße Jeans, blaue Espadrilles und eine dunkle Sonnenbrille. In der rechten Hand hielt er ein Handy, in der linken eine zusammengerollte Zeitung. Als er auf die Café-Terrasse trat, nahm er die Sonnenbrille ab und eilte zwischen den vollen Tischen auf sie zu.
«Hvala bogu», rief er. Gott sei’s gedankt. «Iva Markulin, bist du’s wirklich?» Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf beide Wangen. «Srce! Herzchen! Dass ich dich lebend wiedersehe.» Er war frisch rasiert und roch nach Zitrone und irgendeiner holzigen Note. «Gut siehst du aus, so schön wie eh und je, hast dich gar nicht verändert.»
Iva schenkte ihm ein Lächeln. «Lorenzo …!»
Lorenzo warf seine Zeitung auf den Tisch, legte das Handy dazu und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Mit der linken Hand, an der eine schwere goldene Sportuhr glänzte, schob er sich die Sonnenbrille ins Haar, mit der rechten griff er nach Ivas halb vollem Wasserglas und leerte es auf einen Zug. «Was für eine Hitze», sagte er und stöhnte.
«Die Touristen stört’s anscheinend nicht.»
Obwohl sie sich seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatten, spürte Iva die alte Vertrautheit wieder. Lorenzo Kos hatte mit ihr studiert. Auf der Verlobungsfeier mit Igor in einer Studentenkneipe in der Zagreber Altstadt hatten sie miteinander getanzt. Sie hatten damals überhaupt viel gefeiert. In jener fernen unbeschwerten Zeit.
«Iva, ich habe in der Zeitung das von deinem Mann gelesen.» Lorenzo stellte das Glas mit einem Knall ab und richtete einen forschenden Blick auf sie. «Ich konnte erst gar nicht glauben, dass es sich bei dem Anschlagsopfer um Igor handelt. Furchtbar! Mein Beileid, möge ihm die Erde leicht sein.»
Iva griff nach der Mineralwasserflasche, schenkte sich nach und trank ein paar Schlucke. «Danke, Lorenzo.»
«Eine Autobombe, ja? Die Welt wird immer wahnsinniger. Hat man die Kerle schon geschnappt, die’s getan haben?»
«Noch nicht.» Iva drehte das Glas in den Fingern.
«Gibt es denn wenigstens eine Spur?»
«Dafür ist es zu früh.»
«Aber irgendeinen Verdacht muss die Polizei …»
«Ich habe mich nach Pula versetzen lassen.» Iva stellte das Wasserglas auf den Tisch zurück. «Das Justizministerium hat eine Untersuchungskommission eingesetzt und mich zur Leiterin bestimmt. Nächsten Mittwoch geht’s los.»
«Ach, sag bloß.» Lorenzo lehnte sich zurück, hakte die Daumen in die Taschen seiner Jeans und ließ seinen Blick über Iva wandern. «Hör mal, Herzchen, ich bin Mitglied im Jachtklub da unten, kenne jede Menge Leute. Ich könnte dir auch bei der Suche nach einem Apartment behilflich sein.»
«Danke, aber meine Familie hat etwas Land nördlich von Pula. Wir wohnen bei meinem Großvater.» Die kleine möblierte Wohnung am Forum, nur wenige Schritte von seinem Büro in der Polizeidirektion entfernt, die Igor während der Arbeitswoche genutzt hatte, war bereits aufgelöst, seine Habseligkeiten standen, in große Kartons verpackt, auf Terra Rossa. «Fühlt sich fast wie Sommerferien an.» Inzwischen gingen ihr höfliche Lügen leicht über die Lippen.
Istrien, das hatte für Iva immer Freiheit und lange Sommerferien am Meer bedeutet. Ihr Großvater, Nikola Pavić, hatte seinen Sohn Josip, benannt zu Ehren des Genossen Josip Broz Tito, in Zagreb Betriebswirtschaft studieren lassen. Doch statt auf das Familiengut Terra Rossa zurückzukehren und sich den seit Generationen in Familienbesitz befindlichen Olivenhainen und der Ölproduktion zu widmen, hatte Josip eine Architektin geheiratet und in der Stadt eine Steuerberatungskanzlei eröffnet. Iva war als Einzelkind in Zagreb aufgewachsen. Vor neun Jahren waren ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Lorenzo blickte zum Anleger hinüber und beobachtete mit zusammengezogenen Brauen eine alte Frau, die in einem geblümten Sommerkleid und in Hausschuhen auf einem Poller an der Wasserkante saß und eine Zeitungsseite auf dem Schoß ausgebreitet hatte. Daraus warf sie den Hafenkatzen, die um ihre Beine strichen, Fischabfälle zu. Zwei Möwen warteten in sicherer Entfernung auf Futterbrocken. Der Himmel wölbte sich so glatt und blau wie eine Glasschale über dem Meer.
Endlich wandte Lorenzo sich wieder Iva zu. «Die Mafiajägerin mit dem Engelsgesicht, was? Sogar La Repubblica hat einen Artikel über dich geschrieben.» Ein schmales Lächeln erschien auf seinem Gesicht. «Woher hast du denn den Tipp mit den drei Mulis bekommen?» Er schüttelte den Kopf. «Haben die Mägen voller Kokainbomben und hoffen, dass keine davon platzt. Am Ende werden sie abgeknallt und ausgeweidet und landen auf einer Müllkippe irgendwo im Hinterland.»
«Diese Mulis waren Flüchtlinge», sagte Iva. «Aus Nigeria. Sie hatten kein Geld für die Schlepper.»
«Tja, arme Schweine, was?»
Der Kellner kam, und Lorenzo bestellte ein Viertel Weißwein und eine Aufschnittplatte.
«Wenigstens habe ich ein paar große Fische an Land gezogen», sagte Iva. «Sitzen jetzt für lange Zeit auf dem Trockenen.» Bei dem Gedanken an ihren Fang durchlief Iva eine warme Welle der Genugtuung. «Strafmaß zehn Jahre bis lebenslänglich.» Am Ende war die Autobombe doch für sie bestimmt gewesen. Trotz der Hitze schauderte sie. In jedem Rathaus, in jeder Verwaltung, bei der Polizei oder bei Gericht saßen sie, die Komplizen des organisierten Verbrechens. Ein Maulwurf in ihrer Behörde konnte verraten haben, wo die Chefin an jenem unseligen Abend für Notfälle zu erreichen gewesen war. Oder Matteos Babysitterin hatte sich bestechen lassen. «Mein Großvater will, dass ich ins Familiengeschäft einsteige.»
Von irgendwo wehte der Geruch nach gegrilltem Fisch heran und mischte sich in die Salzwasserluft.
«Nimm meinen Rat an und hör auf deinen Großvater.»
«Olivenöl verkaufen?» Iva schnaubte und schüttelte den Kopf. «Matteo soll später nicht denken, ich hätte die Mörder seines Vaters aus Feigheit laufen lassen.»
«Du bist eine Moralistin.» Lorenzo lächelte. «Das habe ich immer an dir bewundert. Aber auch du wirst diese Welt nicht besser machen.»
Der Kellner brachte Lorenzo eine kleine Karaffe mit Weißwein und stellte einen Teller mit luftgetrocknetem Schinken und zu Dreiecken geschnittenem harten Schafkäse auf den Tisch. Dazu Oliven und Weißbrotscheiben.
Lorenzo wartete, bis der Kellner gegangen war, dann fischte er mit zwei Fingern eine Scheibe Schinken vom Teller, rollte sie ein und schob sie sich in den Mund.
«Ich habe eine Kanzlei in Triest», sagte er kauend. «Läuft gut, das heißt – ziemlich viel zu tun.» Er drehte sich zur Mole um. «Das da drüben ist mein Boot, die Undine. Liegt unter der Woche in der Marina von Pula. Am Wochenende brauche ich Abstand zum Schreibtisch.»
Lorenzo zeigte auf eine elegante blau-weiße Jacht, die durchaus hochseetauglich aussah. Auf dem Dach hatte sie eine große Radaranlage, und an ihrem Fahnenmast hing die italienische Flagge schlaff herab, als hätte sie die Hitze des langen Sommertages erschöpft. Auf dem Oberdeck band sich eine junge Frau in einem silbernen Badeanzug das taillenlange schwarze Haar zum Pferdeschwanz. Ein paar Männer standen am Kai und starrten zu ihr hinauf. Entweder sie bemerkte es nicht, oder es war ihr gleichgültig. Das Schiff dümpelte neben einem Ausflugsboot, das gerade eine Gruppe Touristen mit krebsroten Armen und Gesichtern über eine schwankende Rampe von Bord gehen ließ.
«Das Boot ist eine De Cesari 62, eine Da Vinci.» Lorenzo schenkte sich Wein ein. «Hat mich die Kleinigkeit von zwei Mille gekostet.» Er machte ein paar Schlucke und musterte Iva über den Glasrand hinweg.
«Zwei Millionen Euro? Deine Geschäfte laufen, was?»
«In erster Linie Wirtschaftssachen.» Lorenzo stellte das Glas ab, legte Käse auf eine Brotscheibe und machte eine lässige Handbewegung damit. «Stiftungen, EU-Recht, so was.»
Iva nickte, Lorenzos beruflicher Erfolg war der Erfolg des Tüchtigen. Schon im Studium, das er in Mindestzeit abgeschlossen hatte, war er durch seinen scharfen Verstand und bemerkenswerten Fleiß aufgefallen. Trotzdem war er nicht als Streber verschrien, sondern im Gegenteil unter den Mitstudenten sehr beliebt gewesen. Großzügig hatte er stets seine Vorlesungs-Mitschriften geteilt, bei Seminararbeiten oder der Beantwortung kniffliger rechtlicher Fragen geholfen. Als er nach seinem Prädikatsexamen noch ein Doktorats-Stipendium für Bologna erhalten hatte, hatten sich alle mit ihm gefreut und den Freund beglückwünscht.
Iva machte dem Kellner ein Zeichen, dass sie zahlen wollte. «War schön, dich wiederzusehen, aber ich muss los.»
Lorenzo stutzte, Brot und Käse schwebten in der Luft. «Wir sind uns doch gerade erst wieder über den Weg gelaufen!» In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Unverständnis und Vorwurf. «Erzähl mir mehr von dir!»
«Es tut mir leid, aber meine Familie wartet auf mich.»
Lorenzo wischte sich die Hände an der Papierserviette ab. «Weißt du, was?», fragte er und strahlte, als hätte er eben einen guten Einfall gehabt. «Ich mache dich mit ein paar Leuten hier unten bekannt. Einflussreichen Leuten, du verstehst? Könnte für deine Ermittlungen von Nutzen sein.» Lorenzo war noch immer so großzügig und hilfsbereit wie früher. Und genauso karrierebewusst.
«Das wäre wirklich nett, ja, danke.» Iva griff in ihre Handtasche, zog ihr Portemonnaie und einen Stift heraus. Sie kritzelte ihre Handynummer auf ihre Papierserviette und reichte sie Lorenzo. «Hier, du kannst mich jederzeit anrufen.» Der Kellner kam mit der Rechnung, sie zahlte und stand auf. «Ciao, Lorenzo, wir sehen uns.»
«Warte!» Lorenzo sprang auf. «Iva!»
«Ja?»
«Nächste Woche ist eine Party im Jachtklub in Pula.» Er schenkte ihr ein breites Lächeln. «Sei meine Begleitung.»
«Ich werde viel zu tun haben.»
«Unsinn, da lernst du ein paar wichtige Leute kennen. Auch für deine Arbeit.» Er nickte. «Also abgemacht, ja?»
«Na schön, abgemacht, ruf mich an.» Vielleicht tat ihr ja ein wenig Ablenkung gut. «Du hast ja meine Nummer.»
«Perfekt!» Lorenzo hielt den Daumen hoch. «Ach, und Iva – čuvaj se!» Pass auf dich auf. «Ajde, ciao!» Also, ciao.
Iva spürte, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, und sie spürte, wie sehr sie diesen Gruß, halb kroatisch, halb italienisch, vermisst hatte. Istrien war ein Stück Adria, das sich jedem Nationalismus verweigerte. Hier, an der Küste, lagen Ljubljana und Triest näher als Zagreb, und das nicht nur geografisch.
«Ajde, ciao!» Sie winkte Lorenzo zum Abschied.
Iva verließ die Terrasse und trat auf die Hafenpromenade hinaus. Die Menschenmenge schien noch dichter geworden zu sein. Der Touristenstrom verzweigte sich in dem Gassengewirr, das zur Kirche Sveta Euphemia hinaufführte, deren Turm mit der weithin sichtbaren Heiligen auf der Spitze die Altstadt überragte. Die kleinen Tische vor den Restaurants und den Cafés waren besetzt. Es roch nach Fisch und Pizza. Zwei Priester in schwarzen Soutanen hatten sich in den Schatten unter einem venezianischen Säulenbogen zurückgezogen. Während der eine auf den anderen einredete und dabei mit seinem Brevier gestikulierte, nickte der andere immer wieder. Auf dem alten Stadttor konnte man die Inschrift Il reposo dei deserti – Die Zuflucht der Verfolgten – lesen. Über Jahrhunderte hinweg hatte Istrien jenen, die vor Eroberern oder der Pest geflohen waren, großzügig Asyl gewährt. Hier fragte auch heute noch niemand, woher man kam, hier konnte man sein, wer man war. Die Uhr des himbeerfarbenen Glockenturms vor dem Tor zur Altstadt zeigte bereits auf Viertel nach sechs. Iva beschleunigte ihre Schritte. Marta hatte sicher schon gekocht.
Das Licht war noch immer grell, und die Hitze des Tages staute sich zwischen den Mauern. Durch enge Gassen lief Iva zu ihrem neuen Geländewagen, einem weißen Fiat Freemont, der eingekeilt zwischen zwei Wohnmobilen unter alten Pinien stand. Sie befreite das Gebläse der Klimaanlage von der üblichen Schicht vertrockneter Piniennadeln und verließ Rovinj auf der Küstenstraße in Richtung Süden.
Im Autoradio liefen Schlager, eine weiche Männerstimme sang. Najbolji Hrvatski Tamburaši, eine bekannte kroatische Volksmusikgruppe. Iva drehte den Lautstärkeregler voll auf, wollte, dass die Musik die dunklen Gedanken aus ihrem Kopf vertrieb. Zagrli me sad, na kraju našeg sna, i nemoj plakati, Iva spürte ein Brennen hinter den Augenlidern. Umarme mich jetzt, am Ende unseres Traumes, und weine nicht. Wie viele Träume hatten Igor und sie geträumt. Von einer großen Familie. Von beruflichen Höhenflügen. Von einem ganzen gemeinsam gelebten Leben. Am Ende ihres Traumes hatten sie sich nicht einmal umarmt. Igor war nur schnell losgelaufen, um das Auto zu holen. Ihr Auto. Ostaj mi zbogom, ne daj se, i hvala ti za sve divne godine. Iva blinzelte, konnte beim Refrain die Tränen nicht mehr aufhalten. Behüte dich Gott, gib nicht auf, und danke für all die wunderbaren Jahre. Mit einem schnellen Griff drehte sie das Radio aus.
Energisch wischte Iva die Tränen von ihren Wangen, blinzelte noch ein paarmal, um wieder klar sehen zu können. Zu ihrer Rechten erstreckte sich glitzernd, als zöge Neptun mit unsichtbarer Hand sein aus Goldfäden geknüpftes Fischernetz über ihre Wellen, die Adria. Zu ihrer Linken glitt eine Mittelmeer-Landschaft aus dunklen Zypressen, silbergrünen Olivenbäumen und der roten Erde Istriens an ihr vorüber. Rote Erde, Terra Rossa. So hieß nicht nur das Gut ihrer Familie, so nannten die Istrianer auch ihren lehmreichen Boden, der viel Kalk und Eisen enthielt. Die Leute behaupteten, er wäre mit dem in vielen Kriegen vergossenen Blut getränkt.
Aus den bewaldeten Hügeln hinter Pula stiegen dicke Rauchsäulen zum blauen Himmel empor. Sogar hier, im Auto, konnte Iva durch die Klimaanlage den beißenden Gestank riechen. Iva kannte Waldbrände aus ihrer Kindheit. Dieses Jahr, so hatte sie den Eindruck, loderten die Feuer an vielen Ecken Istriens gleichzeitig und in besonders großer Zahl. Die neue Hitze, die seit einigen Sommern herrschte, und die wochenlange Trockenheit erschwerten die Löscharbeiten noch zusätzlich.
Sie nahm zwei letzte Kurven. Endlich lag Terra Rossa vor ihr.
Zwischen zwei hohen Pfeilern, auf denen verwitterte Steinamphoren saßen, passierte Iva ein schmiedeeisernes Tor, das in eine von Pinien überragte Ziegelmauer eingelassen war. Flankiert von Weinreben und Olivenhainen, aus denen Zypressen wie schwarze Kerzen wuchsen, fuhr sie auf die jahrhundertealte Villa, deren Putz einst ockerfarben gewesen, doch nun von der Sonne ausgebleicht und an der Wetterseite an manchen Stellen abgeplatzt war, zu. Das Haupthaus bestand aus dem Erdgeschoss und zwei Stockwerken mit durch venezianische Rundbögen gesäumten Loggien sowie einem Turm mit einem Glockenstuhl. Einst hatte die Glocke zur Arbeit gerufen oder Feinde angekündigt, die sich dem wohlhabenden Gut über das Wasser näherten. Von der Terrasse, die hinter dem Gebäude über die ganze Länge des Hauses führte, reichte der Blick über einen von Feigenbäumen und Zypressen bewachsenen Berghang bis hin zu schroffen Felsklippen, an denen sich die Meeresbrandung brach. Es war nicht nur die rote Erde, sondern vor allem die Lage zwischen Land und Meer – das Terroir –, was die Oliven hier so gut gedeihen ließ. Die salzhaltige Luft beeinflusste ihr Aroma, verlieh dem Öl seinen unverwechselbaren Charakter.
Während Iva über die asphaltierte Zufahrtstraße rollte, konnte sie links und rechts deutlich die grünen Früchte sehen, die zwischen den silbergrauen Blättern im warmen Sonnenlicht ihrer Ernte entgegenreiften. Ihr war, als hörte sie die Stimme ihres Großvaters.
Ein Olivenbaum ist richtig beschnitten, srce, wenn es einer Schwalbe gelingt, ihn im Flug zu durchqueren.
Bei Renovierungsarbeiten hatte man an den Grundmauern des Gutshauses Bruchstücke von römischen Amphoren gefunden, Beweis dafür, dass an diesem Ort schon vor zweitausend Jahren Öl produziert wurde. Das Öl aus den Amphoren, die auf dem Meeresboden lagen, war noch genießbar, hieß es. Ein eintausendsechshundert Jahre alter Olivenbaum wuchs auf der Insel Brioni und trug noch immer Früchte.
Iva stellte ihren Wagen zwischen einer alten himmelblauen Vespa und einem grünen Pick-up mit dem Schriftzug des Gutes auf den Türen, die vor dem Haupthaus parkten, ab. Auf der rechten Seite des Gutshauses lag ein niedriges Gebäude, in dem sich einst die alte Ölmühle befunden hatte und die jetzt die Ölverkostung, den Verkauf und eine kleine Konoba beherbergte. Unter einer mit Wein überwucherten Pergola standen ein paar Tischchen und Stühle. Kunden konnten hier ein Glas Hauswein trinken und eine marenda essen, eine traditionelle Brotzeit. Zur Linken versteckte sich hinter einem Zypressenhain die Halle, in der ein schon etwas in die Jahre gekommener Maschinenpark aus glänzendem Nirosta noch immer das flüssige Gold von Terra Rossa produzierte. Bereits ab Ende Oktober, wenn in Istrien die Olivenernte noch gar nicht richtig angelaufen war, wurden nach alter Tradition auf Terra Rossa unter den Olivenbäumen Netze ausgelegt und mit Rechen Ast für Ast die Früchte abgekämmt. Eine frühe Ernte brachte zwar weniger Quantität, aber mehr Qualität – und die Ernte von Hand war Voraussetzung für das Qualitätszertifikat.
Iva hatte gerade den Motor abgestellt, als ihr Großvater, mit der einen Hand auf seinen Gehstock gestützt, in der anderen ein Bund Petersilie, aus dem Kräutergarten hinter der Konoba auftauchte. Seine hagere rot-weiß gefleckte Istrianer Bracke Colombina folgte ihm wie immer auf dem Fuß. Ein Strohhut saß auf seinem dicken eisengrauen Haarschopf, ein rotes T-Shirt, auf dem das Porträt Titos prangte, hing von seinen breiten, knochigen Schultern. Dazu trug Nikola Pavić eine ehemals grüne, nun von der Sonne grau verblichene Jagdweste, Jeans und feste Schuhe. Obwohl er in den letzten Jahren abgenommen und dabei viel Muskelmasse eingebüßt hatte, erinnerte sein fast einen Meter neunzig großer Körper noch immer an den eines Kriegers. Jetzt blickte Barba Nikola, wie er allseits respektvoll genannt wurde, Iva aus seinen schräg stehenden grünen Augen entgegen, die ihm zusammen mit den hohen Wangenknochen und dem starken Unterkiefer die Ausstrahlung eines greisen Löwen verliehen.
«Ich habe noch einen alten Studienfreund getroffen», rief Iva zu Nikola hinüber. «Und es gab keine Sardinen, Andrija ist heute Nacht nicht hinausgefahren, der Fang ist derzeit schlecht. Aber seine Frau hat gestern ihr Kind bekommen.» Sie schlug die Autotür zu. Eine sanfte Meeresbrise strich über ihr Gesicht. «Ein Sohn, alle sind wohlauf. Ich soll dich von ihm grüßen. Wo ist Matteo?»
«Mate ist in der Küche.» Nikola drehte sich um und stapfte, den Hund im Schlepptau, zur offenen Küchentür. Er verwendete stets die kroatische Form für Matteo. Auch wenn Istrien aufgrund der langen gemeinsamen Geschichte mit Italien in Kroatien eine Sonderrolle einnahm, Kroatisch und Italienisch anerkannte Amtssprachen und beide Volksgruppen paritätisch im Regionalparlament vertreten waren, galt diese Toleranz für Nikola Pavićs Generation, die unter der Besatzung der italienischen Faschisten gelitten hatte, noch lange nicht. «Marta hat angerufen», fuhr er fort. «Sie konnte heute nicht kommen, ihr Nichtsnutz von Sohn wird von Rijeka nach Pula verlegt.»
Iva folgte ihrem Großvater. «Marta ist ins Gefängnis gefahren? Fehlt Luka was?»
«Ha! Ehrliche Arbeit fehlt ihm!» Nikola schnaubte. «Dieser Schmarotzer liegt seiner Mutter mit Mitte zwanzig noch auf der Tasche und treibt sich in schlechter Gesellschaft rum. Arbeit stärkt den Charakter und hält jung. Sieh mich an.»
Iva unterdrückte einen Seufzer. «Ja, Großvater.»
Nikola Pavić, dreiundneunzig, war eine lokale Legende.
Als Halbwüchsiger war er im Krieg «in die Wälder gegangen», hatte die Partisanen in ihrem Versteck mit Essen und Nachrichten versorgt. Eines Nachts war er auf Terra Rossa in Begleitung eines schweigsamen Mannes im grünen Militärmantel und zweier Uniformierter aufgetaucht. Der Mann hatte in der Küche eine Pfeife geraucht, während seine Begleiter sich mit Brot, luftgetrocknetem Schinken und einem Krug Teran gestärkt hatten. Eine knappe Stunde später, so wurde erzählt, waren Wehrmachtssoldaten auf der Suche nach drei Partisanen auf Terra Rossa eingefallen. Angetroffen hatten sie nur Nikolas verwitwete, in tiefes Schwarz gekleidete Mutter Marija, einen Rosenkranz zwischen den Fingern, und eine alte, fast taube Tante. Die Soldaten hatten statt der Feinde das schwere venezianische Silberbesteck, den luftgetrockneten Schinken und zwei Schafe mitgenommen. Nikola und die Männer hatten währenddessen eng beieinander auf dem Boden der alten Zisterne gestanden, den Rücken gegen die raue Ziegelmauer gepresst, über sich nur die verrostete Brunnenabdeckung, und kaum zu atmen gewagt. Noch in derselben Nacht waren die drei Männer wieder verschwunden. Und mit ihnen Nikola Pavić. Erst in den letzten Kriegstagen war er zurückgekehrt und hatte sich an die Arbeit in den Olivenhainen gemacht, als wäre er nie fort gewesen. Auch wenn er niemals Namen fallen ließ – das Dorf glaubte zu wissen, wem der Junge das Leben gerettet hatte. Josip Broz, genannt Tito, war ein Held, der ihre Heimat erst von der italienischen und dann von der deutschen Besatzung befreit hatte. Heute kannte jedes Kind sein Gesicht.
Nikola schwieg, heiratete, zeugte einen Sohn, wurde von seiner Frau verlassen und widmete fortan sein Leben einzig und allein den Olivenbäumen und der Jagd, auf die er seine Enkelin Iva schon im Alter von sechs Jahren mitnahm. Kaum dem Grundschulalter entwachsen, konnte Iva besser schießen als die meisten Männer in den umliegenden Dörfern.
Im Inneren des alten Hauses war es angenehm kühl.
Der Marmorkamin in der Küche, in dem sich ein ganzes Spanferkel über den Flammen am Spieß drehen konnte, wurde in den Sommermonaten nicht benutzt, nur ein Kupferkessel auf einem Dreifuß schimmerte rötlich im schwarzen Feuerloch. An der Wand darüber hing ein kleines Marienbild, dessen Farben noch immer in überbunter Pracht leuchteten. Unter einem türkisfarbenen Himmel schwebte die Madonna mit nach oben gewandten Augen und ausgebreiteten Armen auf einer Wolke. Der blaue Mantel umfloss ihre schlanke Gestalt, mit ihren roten Wangen und Lippen sah sie wie ein Filmstar der 1920er-Jahre aus. Über einer Ecke des Bilderrahmens hing der Rosenkranz, der einst Nikolas Mutter gehört hatte. Über Jahrzehnte hinweg waren die Männer auf den Dörfern überzeugte Kommunisten, die Frauen getreue Kirchgängerinnen gewesen. Die einen hatten Demonstrationen und Parteitage organisiert, die anderen Muttergottes-Prozessionen. Auch wenn die Familie nicht mehr in die Kirche ging, wäre niemand auf die Idee gekommen, Marija Pavićs Madonna abzuhängen.
Die ganze Küche roch nach Bohnen und gekochtem Speck.
Matteo balancierte auf einem Schemel auf den glatt gescheuerten Steinplatten vor dem Herd und stocherte mit einem Holzlöffel in einem Kochtopf herum.
«Das darf doch …» Iva rannte zu ihrem Sohn, hob ihn von dem Hocker hinunter und stellte ihn auf den Boden.
Matteo starrte auf den Holzlöffel in seinen Händen.
Iva funkelte Nikola an. «So lässt du ihn allein?»
Nikola lehnte seinen Gehstock, den er inzwischen für längere Wegstrecken benutzte, an einen Küchenstuhl. Dann nahm er Matteo den Löffel ab und fischte einen fleischigen Schinkenknochen aus dem Kochtopf, in dem braune Bohnen, Tomaten und Nudeln eine dickflüssige Suppe bildeten.
«Der Junge ist nicht aus Zucker», sagte er, während er auf einem Holzbrett den Schinken vom Knochen schälte und klein schnitt. «Der schmilzt nicht.» Er schabte die faserigen Stücke in den Topf. «Pašta-Fažol – das wird dem Kleinen Kraft geben.» Er hackte Petersilie und streute sie über das Essen. «Womit ernährst du dieses Kind bloß in der Stadt? Ohne Kleider sieht der Kleine aus wie ein abgebalgter Hase.»
Iva fuhr mit der Hand durch die schwarzen Locken ihres Sohnes, ein Erbteil von Igor. Matteo ließ es geschehen, sein spitzes Gesichtchen war völlig ausdruckslos. Iva biss die Zähne zusammen. «Es ist doch viel zu heiß für Bohnensuppe», sagte sie, einfach um ihrem Ärger noch einmal Luft zu verschaffen. Pašta-Fažol oder Pasta e fagioli war ein wärmendes Essen, wenn die Winterstürme über die Adria brausten. «Wir haben bald Juli, Großvater.» Ihr Blick fiel auf den Küchentisch, der für vier Personen gedeckt war.
«Erwarten wir Besuch?», fragte sie.
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