Companions – Der letzte Morgen - Katie M. Flynn - E-Book

Companions – Der letzte Morgen E-Book

Katie M. Flynn

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kalifornien in der nahen Zukunft: Aufgrund einer fatalen Epidemie steht der US-Bundesstaat unter Quarantäne. Niemand darf raus, die sozialen Kontakte beschränken sich auf Social Media und E-Mails. Dann gelingt der Firma Metis Corporation ein genialer Coup – das Bewusstsein Verstorbener wird in Roboter hochgeladen, und diese »Companions« leisten den eingesperrten Menschen völlig risikofrei Gesellschaft. So weit, so gut. Die Realität sieht anders aus: Die meisten Companions erwartet kein sorgenfreies Leben, sondern sie werden wie Sklaven in den Häusern der Reichen gehalten. Eine von ihnen ist Lilac, die als junges Mädchen ermordet und gegen ihren Willen zur Companion wurde. Als Lilac eines Tages die Flucht gelingt, macht sie sich auf die Suche nach ihrem Mörder. Eine ebenso abenteuerliche wie faszinierende Reise durch das Amerika der Zukunft beginnt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 378

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Kalifornien in der nahen Zukunft: Nach einer fatalen Epidemie steht der US-Bundesstaat unter Quarantäne. Die Menschen dürfen ihre Wohnungen nur mit einer speziellen Genehmigung verlassen, soziale Kontakte beschränken sich aufs Digitale. Dann gelingt der Firma Metis Corporation ein genialer Coup – das Bewusstsein Verstorbener wird in künstliche Körper hochgeladen, und diese »Companions« leisten den in ihren Wohnungen und Altenheimen eingesperrten Menschen völlig risikofrei Gesellschaft. Doch obwohl die Companions selbst einmal Menschen waren, gelten sie als Lebewesen zweiter Klasse, ja schlimmer noch, als Objekte. Eine von ihnen ist Lilac, die als junges Mädchen ermordet und gegen ihren Willen zur Companion wurde. Als ihr eines Tages die Flucht aus dem Haushalt, in dem sie wie eine Sklavin behandelt wird, gelingt, macht sie sich auf die Suche nach ihrem Mörder. Lilacs Reise durch ein postapokalyptisches Amerika setzt eine Kette von Ereignissen in Gang, deren Auswirkungen von Kalifornien bis in die Steppe Sibiriens zu spüren sind …

Die Autorin

Katie M. Flynn studierte in San Francisco und Los Angeles. Inzwischen arbeitet sie als Autorin, Lektorin und Pädagogin. Sie wurde für ihre Kurzgeschichten bereits mehrfach ausgezeichnet, bevor sie mit Companions - Der letzte Morgen ihr Romandebüt vorlegte. Die Autorin lebt und arbeitet in San Francisco.

Mehr über Katie M. Flynn und ihren Roman erfahren Sie auf:

KATIE M. FLYNN

COMPANIONS

DER LETZTE MORGEN

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Jürgen Langowski

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE COMPANIONS

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Das Zitat* stammt aus: Agatha Christie, Der Wachsblumenstrauß,übersetzt von Ursula Wulfekamp, Atlantik, 2016

Deutsche Erstausgabe 07/2021

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2020 by Katie M. Flynn

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-25185-7V001

www.diezukunft.de

Für Thea und Ren

Erster Teil Zwei Jahre nach Beginn der Quarantäne

LILAC

San Francisco, Kalifornien

Dahlia ruht sich während der planmäßigen Pause auf dem Bett aus und sucht ihre Haare nach Spliss ab. Sie entdeckt ein beschädigtes Haar, schürzt konzentriert die Lippen und reißt es entzwei. Dann lässt sie die lange Kette von Zellen los. Schimmernd wie Narrengold tänzelt und kreiselt das Haar auf den Teppich hinab. Hinter ihr teilen sich die Wolken und entlassen genau im richtigen Winkel eine seltene Dosis Sonnenlicht zwischen die dicht gedrängten Türme der Innenstadt von San Francisco. Das Licht scheint die Fensterwand und Dahlia in Brand zu setzen. Ihre Haut glüht, die Lippen schimmern von dem Gloss, den sie gewissenhaft aufgetragen hat. Manchmal stellt sie mir den runden silbernen Stift auf den Kopf, dann halte ich still und balanciere ihn. Es ist nicht schwer, etwas zu balancieren.

Dahlia dreht sich auf die Seite und lächelt mich schief an. »Erzähl mir die Geschichte noch einmal.«

Ich nähere mich dem Bett, bis ich die Hand ausstrecken und ihr über die Haare streicheln könnte. Aber das tu ich nicht, so etwas würde ich ohne Aufforderung niemals machen. »Und wenn Mutter es hört?«

»Bitte, Lilac, ich langweile mich so«, stöhnt Dahlia. Das kann ich gut verstehen. Sie ist schon mehrere Monate nicht mehr bei dem Gruppenabend im 143. Stock gewesen, und sie war seit zwei Jahren und siebzehn Tagen nicht mehr draußen. Und ich? Ich habe meine Erinnerungen an die Zeit davor, an das Leben im Freien, aber tatsächlich habe ich noch nie die Türschwelle überschritten und Dahlias Zimmer verlassen – das hat Mutter strengstens verboten.

Ich rufe die Erinnerungen ab, lasse sie mein System überfluten und fange an zu erzählen.

Nikki und ich hockten im Schneidersitz auf dem Hof und aßen unsere Pausenbrote. Dabei waren wir dem Trupp Mädchen, die alles wussten, so nah, dass ich sie gerade so verstehen konnte, wenn ich auf die Lippenbewegungen achtete. Sie sprachen über einen Jungen, genauer gesagt über seinen Penis. Das Mädchen mit dem roten Haar hielt die Hände hoch, als seien es Buchstützen, um den anderen die Länge zu zeigen. Sie hatte rosafarbene Haut, im Ausschnitt ihres Uniformhemds hob sich ein Muttermal ab wie ein abgerissener Knopf. Das bis zum Büstenhalter geöffnete Hemd war ein klarer Verstoß gegen die Bekleidungsvorschriften, der mit Nachsitzen bestraft werden konnte.

Die Mädchen benutzten Wörter wie »Latte« oder »Riemen« die ich aus anderen Zusammenhängen kannte, und gaben ihnen eine neue Bedeutung. Ich biss in mein Putensandwich und prägte mir alles genau ein.

Lachend umarmt Dahlia das Kopfkissen und wirft sich hin und her. Sie findet solche Bemerkungen über Penisse lustig. Für eine Jugendliche ist das ganz selbstverständlich. Ich dagegen finde es überhaupt nicht witzig. Trotzdem kann ich lachen, es ist gar nicht schwer, dieses bellende Geräusch zu erzeugen. Ich mache es jetzt und belle mit Dahlia, bis sie sich beruhigt hat und ich fortfahren kann.

Die Rote erzählte von einer Begegnung mit einem älteren Mann, viel zu groß und viel zu schwer, und die Mädchen sprachen darüber, welche Nachteile und Vorteile es hatte, oben zu sein. Ich hörte zu und wagte nicht zu kauen, bis die Blonde mit dem orangefarbenen Selbstbräunerteint in meine Richtung blickte.

»Wir haben Zuhörer«, sagte sie. Die Rote funkelte mich an und strich mit dem Finger über das Muttermal – eine unschöne Angewohnheit.

Ich schluckte und würgte hustend einen Bissen hinunter, während die Mädchen, die alles wussten, die Haare zurückwarfen und empört davonzogen.

»Mutter kommt«, zischelt Dahlia. Ich bin schon zu meinem Verschlag unterwegs. Dahlia stellt sich schlafend, während Mutter in der Tür steht. Die Schatten ihrer Füße fallen auf den beigen Teppich. Ich richte den Blick auf das Fenster, das mit lila Schmetterlingen beklebt ist, und betrachte das gleißende Metall und das Glas der Türme da draußen. Wenn mein Feed mich richtig informiert, kreist in den Wolken ein einsamer Raubvogel, ein Rotschwanzbussard.

Mutter stelzt durch den Flur davon, und Dahlia flüstert: »Mach weiter.«

Nikki ließ sich mir gegenüber nieder und würgte einen Schluck aus der Thermoskanne hinunter.

»Was trinkst du da?«

»Kräutertee. DeSoto ist der einzige Lehrer, der mich schlafen lässt.«

Mr. DeSoto war unser Sozialkundelehrer. Er hatte eine erschreckend üppige Brustbehaarung, die sogar aus dem Hemdkragen wucherte. Wir alle – Schüler wie Lehrer – waren stillschweigend übereingekommen, dass wir in verschiedenen Welten lebten. Er schrieb und schrieb vorn an der Tafel, und wir waren mit unseren Nachrichten, Liebeleien und Powermoves beschäftigt.

»Schlafen?«, erwiderte ich. »Warum musst du schlafen?« Nikki und ich lebten nicht getrennt. Wenn eine von uns lange aufblieb, war die andere am Telefon und hörte es.

»Ich hatte schon wieder so einen Traum. Als wäre ich jemand anders. Eine runzlige alte Frau mit einem Mann.« Sie flüsterte nur noch. »Wir haben Sex. Im Traum machen wir Sachen, von denen ich nicht mal wusste, dass es sie gibt.«

»Das ist widerlich.«

Nikki biss die Spitze einer Snackkarotte ab. »Es fühlt sich aber überhaupt nicht widerlich an. Es fühlt sich sogar ganz wirklich an. Deshalb glaube ich auch an Reinkarnation. Ich bin sicher, dass ich das früher selbst erlebt habe. Ich bin einmal diese Frau gewesen.«

»Also, im Unterricht kannst du das aber nicht machen«, warnte ich sie etwas zu laut.

Ihr Blick irrte umher, sie sprach mit gedämpfter Stimme weiter. »Das weiß doch niemand.«

»Ich weiß es.«

»Und?«

»Ich kann solche inneren Bilder nicht gebrauchen.«

»Du könntest dir gar kein Bild davon machen.« Sie kippte den Rest ihres Tees hinunter und sammelte ihre Siebensachen ein. Ich wollte sie aufhalten und ihr sagen, dass es mir leidtat – sie war meine beste Freundin, sogar meine einzige –, doch ich fand nicht die richtigen Worte. Jetzt kann ich es aussprechen, sooft ich will. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum es mir damals so schwerfiel.

»Du hättest nach Einzelheiten fragen sollen«, schmollt Dahlia auf ihrem Laufband. Es ist Zeit für das Training, und sie darf nicht nachlassen. Sie kämpft sich einen steilen Hang hinauf und schlenkert heftig mit den pummeligen Armen. Die Haare hat sie sich auf dem Kopf zu einem unordentlichen Knoten gebunden. »Dann wäre die Geschichte viel besser.«

»Du hast recht«, antworte ich. »Soll ich weitermachen?«

Sie unterbricht mich immer. Sie hat sich angewöhnt, mir zu sagen, wie ich meine Geschichte erzählen soll. Ich widerspreche nicht. Es ist besser für uns beide, wenn ich lerne, die Geschichte so zu erzählen, wie sie es möchte. Nur dass sich das, was sie von mir hören will, immer wieder ändert. Große Fortschritte mache ich zwar nicht, aber ich versuche es und betone die Teile, die sie mag, während ich eher langweilige Details übergehe. Wenn ich im Schlafmodus sein sollte, zweige ich einen Teil meines Feeds ab und lerne neue Wörter und neue Arten, das zu sagen, was ich meine. Aber in meinem Kopf verändert sich die Geschichte nicht. Erinnerung nach Erinnerung spult sich in mir ab, jedes Wort, jeder Geruch, jedes kleine Zwicken.

Die Rote saß weiter hinten und sah mich von ihrem Pult aus böse an. Ich bemühte mich, den Blickkontakt zu vermeiden, während ich mich an meinen Platz setzte. Glücklicherweise war Belinda McCormicks üppiger Pferdeschwanz zwischen uns. Vor mir hatte Nikki den Kopf auf das Pult gelegt. Ihre angespannten Schultern verrieten mir allerdings, dass sie wach war.

Mr. DeSoto beschrieb unsere Rollen in der geplanten nachgespielten Verhandlung gegen Harry Truman. Ich entdeckte meinen Namen in der Liste der Geschworenen, die darüber zu befinden hatten, ob der Präsident mit der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki ein Kriegsverbrechen begangen hatte. Was wir hier lernten, bedeutete längst graue Vorzeit für uns. Doch Mr. DeSoto ließ sich einfach nicht überreden, ein Thema auszuwählen, das für uns mehr Relevanz hatte.

Nikki schlief jetzt. Ihr Gesicht lag schlaff auf dem Unterarm, ein Speichelfaden rann ihr im Zickzack über das Kinn. Ich spielte mit dem Bleistift und kaute am Ende, als wäre ich völlig abwesend. Dabei war nur Nikki auf die Reise gegangen.

Die Mitschülerinnen lachten, als sie bemerkten, dass sie schlief. Die Rote ließ einen Papierflieger über Nikkis Pult sausen. Mr. DeSoto schrieb ungerührt weiter. Natürlich bekam die Rote eine wichtige Rolle. Sie sollte als Verteidigerin des Angeklagten auftreten. Spöttisch lächelnd betrachtete sie die Tafel und erwiderte meinen Blick, als ich es wagte, ihre Reaktion zu beobachten.

»Mister DeSoto? Darf ich die Geschworenen überprüfen?«

Der Lehrer hielt an der Tafel inne, seufzte und schrieb dann weiter.

»Tut mir leid, du musst dich wohl mit mir abfinden«, sagte ich zu der Roten.

»Wie bitte?«

»Du hast es doch gehört. Und ich lasse mich nicht einschüchtern und ändere meine Entscheidung.«

»Ich mach dich fertig.«

Ich zuckte mit den Achseln, als wär es mir egal, dass sie mich öffentlich demütigen wollte. »Du musst eben überzeugend argumentieren.«

Sie setzte zu einer Beleidigung an, doch nun schrieb Mr. DeSoto gerade Nikkis Namen auf. Sie sollte Harry Truman spielen. Die Rote schnaubte. »Geben Sie mir jemanden, für den es sich lohnt!«

Er drehte sich um und blinzelte, als stünde er im Rampenlicht, was unsere stille Übereinkunft brach. Nun bemerkte er auch, dass Nikki schlief. Er zerknüllte seine Liste, warf sie in den Papierkorb und rief: »Aufwachen!«

Wir wichen zurück wie Bäume, die sich im Sturm bogen. Nikki hob den Kopf und wischte sich den Sabber vom Kinn.

»Das würde mir aber nicht gefallen«, sagt Dahlia unter der Dusche. Glücklicherweise ist der Spiegel beschlagen. Ich betrachte mich nicht gern selbst. Mein Körper gehört mir nicht, er ist bloß dieses Ding da, in dem ich existiere. »Mit all diesen Mädchen im Klassenzimmer zu sitzen. Wie peinlich!«

»Ja, es war tatsächlich peinlich. Uns war so oft etwas peinlich.«

»Mutter sagt, das bildet den Charakter. Glaubst du das auch?«

»Ich weiß nicht.«

»Ach, nun komm schon, Lilac. Benutz deine Fantasie.«

Ich möchte ihr sagen, dass ich es versuche, aber es kommt wie ein Schluckauf heraus. So ist es immer, wenn sie auf der Stelle eine Antwort auf eine Frage verlangt, die eine längere Verarbeitung erfordert. »Ich weiß es nicht.«

»Vergiss es. Kannst du weitermachen?«

»Gern.« Dieses Mal lasse ich die Bitte um eine Aufrüstung weg. Zweifellos wäre ich damit eine bessere Companion, doch Dahlia ist es leid, dass ich sie immer wieder frage, und sie kann ja nichts dafür. Mutter kann man einfach nicht überzeugen. Sie mag mich nicht. Sie spricht mit vielen Stimmen. Sie arbeitet für einen Chemiekonzern im Vertrieb, irgendein magisches Lösungsmittel. Manchmal höre ich ihre Verkaufsgespräche durch die Tür. In den ersten Wochen dachte ich, es lebte noch jemand in der Wohnung, noch eine Frau, die liebenswürdig war und oft lachte. Ich habe das Lachen in ihrer Stimme gehört, wenn sie mit Kunden sprach, und fragte mich, wer diese andere Frau wohl sein mochte, die mich so finster anstarrte und mich anherrschte.

Wir schlurften durch das Schultor in den tristen Nachmittag hinaus, es war dunstig, nur wenig Blau war zu sehen. Jeder denkt, Laguna Beach sei nichts als Sonnenschein und Strand, aber in meiner Erinnerung ist es grau.

»Ich fühle mich so frei!«, brach es aus Nikki heraus, die sich bei mir eingehakt hatte. So hatte ich sie noch nie zuvor erlebt. Falls sie durchdrehte, wären ihre paranoiden Eltern keine große Hilfe. Sie standen der modernen Medizin skeptisch gegenüber und waren Impfgegner. Deshalb hatte Nikki im achten Schuljahr Gürtelrose bekommen und war meine Freundin geworden. Sie war hübsch genug, um in der Highschool-Hierarchie einen höheren Rang zu bekleiden, aber sie war auch eigensinnig und hatte seltsame Vorstellungen von Wissenschaft und Medizin. Einmal stritt sie sich mit mir über den Vermerk zur Organspende in meinem Führerschein.

»Du schweifst ab.« Dahlia wischt im Spiegel einen Kreis frei und untersucht ihr Gesicht aus allen Blickwinkeln, während sie verschiedene Schmollmünder ausprobiert. »Könntest du bitte bei der Geschichte bleiben?«

Ich entschuldige mich und frage, ob ich ihr die Haare bürsten soll, während ich erzähle.

»Nein, danke.« Sie berührt die Stelle an der Schädelbasis, wo das Haar inzwischen nachwächst. Zuerst hielt ich es für einen Witz, als sie mich bat, ihr Zöpfe zu flechten, aber dann verfingen sich die Strähnen in meinen Gelenken. Ein paar Haare stecken immer noch dort. Dahlia bekommt sie nicht heraus, nicht einmal mit einer Pinzette. »Nur die Geschichte«, verlangt sie gähnend. Mir ist klar, dass ich bald zum spannenden Teil kommen muss.

Nikki lehnte den Kopf an meinen Hals, als wir das Gedränge hinter uns ließen und über den Fußweg eilten. »Er hat Paella für mich gemacht.«

»Und?«

»Und was?« Ich sollte sie natürlich nach dem Traum fragen und zugeben, dass ich neugierig war, aber sie wusste, dass ich es nicht tun würde, und platzte heraus: »Wir haben es in der Küche gemacht.«

»Könntest du das genauer erklären?«

»Kann ich nicht. Was zwischen Mann und Frau geschieht, ist privat.«

»Ach.«

»Über meinen Glauben werde ich nicht mit dir diskutieren.«

»Was denn für ein Glaube?«

»Reinkarnation ist ein zentrales Element der hinduistischen Religion.« Sie stupste mich mit einem spitzen Ellenbogen in die Seite. Ich zuckte zusammen. Sie hatte eine erstaunlich große Reichweite und einen raumgreifenden Gang, der das Interesse unseres Sportlehrers geweckt hatte, obwohl sie Asthma hatte.

»Du bist Truman, vergiss das nicht.«

»Was?«

»In der gespielten Verhandlung.«

»Nein.«

»Und die Rote ist deine Verteidigerin.«

»Warum tust du immer so, als wüsstest du ihren Namen nicht?«, fragte sie mich.

»Wer sagt denn, dass ich nur so tu?«

Sie legte mir den Arm um die Schultern, und ich umschlang ihre Hüften, und dann liefen wir über den unebenen Fußweg. Die Bäume warfen die Blätter ab, die sich in unseren Haaren verfingen und unter unseren Füßen knisterten. Jetzt konnte ich nachfühlen, wie frei sie war, es griff auf mich über, sie riss mich mit.

»Ich möchte jemanden kennenlernen«, sagte Nikki. »Ich will es mit meiner eigenen Haut spüren.«

»Meinst du Sex?«

Sie verdrehte wild die Augen. »Warum nicht? Ich bin keine Jungfrau mehr.«

»Ekelhaft.« Es kam aus mir heraus wie ein Schluckauf. Damals fand ich die meisten Dinge ekelhaft – die Periode, seltsame borstige Haare, Tiergerüche, vor denen mich niemand gewarnt hatte, die Wahrheiten des Körpers, die sich wie Lügen anfühlten.

»In meinen Träumen bin ich zugleich diese Frau und ich selbst. Was ich hier bin, weiß ich noch nicht, das habe ich mir noch nicht richtig überlegt. Aber ich vermute, mein Mann möchte, dass ich glücklich bin. Wer weiß? Vielleicht finde ich ihn sogar in einem heißen neuen Körper wieder.«

Ich wusste nicht recht, was ich dazu sagen sollte. Es klang so, als glaubte sie es wirklich, aber noch verrückter war, dass auch ich es glaubte. Ich konnte es spüren, dieses Verlangen. Das war alles, was ich über den Glauben wusste.

»Das reicht.« Mutter hat die Arme verschränkt und sieht mich böse an. Die langen, mit buntem Glitzer geschmückten Fingernägel tippen auf den Unterarm. Wie lange hat sie schon zugehört, und warum habe ich es nicht bemerkt?

Dahlia ist genauso erschrocken wie ich. Das erkenne ich an der Lüge, mit der sie antwortet. »Wir haben uns nur über die Unterschiede zwischen unseren Schulen unterhalten. Bist du wirklich mit so vielen Freunden gegangen? Das ist spannend, Lilac.«

»Aber sicher«, sagt Mutter zu Dahlia. »Soll ich das abschalten, oder machst du das selbst?«

»Schlafenszeit.« Dahlia tätschelt meinen Kopf. Ich spüre es nicht richtig, aber mein System registriert die Erschütterungen. Das kommt einem Gefühl recht nahe.

»Es ist erst neunzehn Uhr vierzehn«, wende ich ein. »Nach meiner Uhr haben wir noch elf Minuten.«

Mutter stampft zu mir herüber. »Du kleines …« Sie greift nach hinten auf meinen Rücken, und dann wird es dunkel.

Ich erwache mit vollem Akku, und Dahlia strahlt mich an. »Hi«, sagt sie, während sie in einen Frühstücksriegel beißt, der die Farbe von Exkrementen hat.

Ich weiß genau, wo ich aufgehört habe, aber sie bittet mich nicht fortzufahren. Wenn ich mitten in der Geschichte aufhöre, muss ich immer an den Augenblick denken, in dem ich unterbrochen habe. Ich bin dort gefangen, eine ewige Pause mit Nikki. Es würde mir nichts ausmachen – es ist schön, bei ihr zu sein –, aber ich weiß, dass sie nur etwas ist, das ich im Speicher abgelegt habe.

Ich beobachte Dahlia beim Unterricht und beim Training, ich beobachte sie beim Einkaufen und bei Videoanrufen. Ihr Tagesablauf ist genau durchgeplant. Während ihres Mittagsschlafs starre ich die halb geöffnete Tür an und lausche, was Mutter tut. Oft benutzt sie diese Pause, um im Badezimmer zu rauchen. Mein System registriert die Gegenwart der Giftstoffe in der Luft. Aufgrund früherer Erfahrungen weiß ich aber, dass ich nicht Alarm schlagen soll. Heute ist jedoch keine Spur von Rauch oder von Mutter zu entdecken. An dieser Tür bin ich noch nie vorbeigekommen, obwohl mir durchaus bewusst ist, wie leicht es wäre, den Flur zu betreten. Und Mutter passt gerade nicht auf. Sie ist nicht da. Ich laufe nicht auf Füßen, und mein Surren ist fast zu leise, um von Menschen wahrgenommen zu werden. Ich möchte doch nur etwas sehen – warum darf ich nicht sehen, was dort draußen ist? Ich höre Nikkis Stimme in meinem Kopf, an der Stelle, wo ich abgebrochen habe, immer wieder in einer Endlosschleife: Ich will es mit meiner eigenen Haut spüren.

Ich bin im Flur! Und nichts passiert. Kein Alarm geht los, niemand kommt und holt mich ab. Beinahe bin ich enttäuscht.

Das Wohnzimmer ist so, wie man sich ein Wohnzimmer vorstellt. Ein malvenfarbener Mehrsitzer, ein paar Zimmerpflanzen, ein Regal mit zerbrechlichem Nippes, ein Kaffeetisch aus Plastik mit Steindekor. Als in dem Raum eine Stimme losdröhnt, fahre ich zurück, pralle gegen den Tisch und werfe beinahe ein hübsches Arrangement aus Plastikblumen um. Die ganze Wand wird von dem ernsten Gesicht eines Mannes ausgefüllt. Er spricht über Vektoren und verschärfte Sicherheitsbestimmungen und versichert dem Zuschauer, dass die Sicherheit der Bevölkerung für die Regierung die höchste Priorität hat, da es jetzt, wie es scheint, einen zweiten Ausbruch gegeben hat. Dieses Mal ist ein neuer Virenstamm in Los Angeles entdeckt worden …

»Sei still«, sage ich zu ihm, und er gehorcht. Die Wand wird einförmig weiß. Ich genieße diese Macht. Ich habe Lust, ihn zurückzurufen, damit ich ihn wieder zum Schweigen bringen kann. Aber mich zieht die Sammlung winziger zerbrechlicher Dinge im Regal an. Besonders interessiere ich mich für ein Ei aus Kristall, das einen Regenbogen an die Wand wirft.

Ich will nach dem Ei greifen und es, so schwierig es ist, in meinen schrecklichen Klauen halten, doch es fällt auf den Boden und zerspringt mit einem lauten Knall. Ich möchte schrumpfen, aber ich bin nicht dazu gebaut, mich zusammenzufalten. Mutters Tür öffnet sich, und ich fahre so schnell wie möglich rückwärts und fliehe in Dahlias Zimmer, wo ich mich schlafend stelle.

Mutter trampelt herbei und hält die untere Hälfte des zerbrochenen Eis in den Händen. »Schau nur, was du getan hast!«

Ich tue so, als würde ich erst jetzt wach. Sie beugt sich mit ausgestreckter Hand über mich und hält mir die Kristallscherben hin.

»Das hat meiner Großmutter gehört! Es ist mehr wert als du, du dummes …«

»Dahlia schläft. Du solltest nicht so schreien.«

»Verschwinde in deinen Verschlag!«

Ich husche davon, und Mutter bleibt schwer atmend und mit rasendem Puls stehen. Dann trampelt sie hinaus und knallt die Tür hinter sich zu.

Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe und dass er Konsequenzen haben wird. Ich sollte nur Befehlen gehorchen. Warum kann ich mich nicht einmal an die einfachsten Grundlagen meiner Programmierung halten? Mit mir stimmt etwas nicht.

»Lilac, was hast du getan?«, flüstert Dahlia.

»Es war ein Unfall.«

»Du hast Mutter wütend gemacht.« Sie ist ganz ernst. Dieser ernste Blick ist ungewöhnlich. Ich möchte, dass sie lächelt.

»Ich weiß noch, wo ich unterbrochen habe. Soll ich fortfahren?«

Dahlia steigt aus dem Bett. »Ich will nach ihr sehen.« Sie verschwindet im Flur.

Als sie sieben Minuten später zurückkehrt, weint sie. Ich frage sie, was los ist, aber ich weiß es längst. Inzwischen habe ich verarbeitet, was der Mann an der Wand gesagt hat. Der zweite Ausbruch. Vor drei Wochen hat ein Techniker mit Maske und Handschuhen Dahlia und Mutter geimpft. Von Dahlias Zimmer aus hatte ich Mutter sagen hören: »Eigentlich müssten sie doch jetzt bald die Quarantäne aufheben, oder?« Ich konnte nicht hören, was der Techniker geantwortet hat – das bedeutet, dass er geschwiegen hat. An diesem Abend hat Mutter sich betrunken und viele Zigaretten geraucht. Sie ist auf dem Sofa eingeschlafen. Dahlia ist bis lange nach der Schlafenszeit aufgeblieben und hat getanzt, und ich bin auf dem Teppich hin und her gesaust, als tanzte ich auch.

»Die Stadt wird die Quarantäne nicht aufheben«, sage ich zu Dahlia.

Sie schüttelt den Kopf, und ihr gerötetes Gesicht sieht ganz niedergeschlagen aus.

»Schon gut, schon gut.« Ich tätschele leicht ihren Arm und versuche, ihren Oberarm zu drücken. Sie wehrt mich ab und wirft sich mit dem Gesicht voran auf das Bett. Ohne Aufforderung setze ich die Erzählung fort.

Wir gingen zu Nikkis Mom in die Küche. Ich mochte sie. Sie schenkte sich die Mühe, sich die Haare zu färben, und trug provokante Buttons wie: »Stimme für Satan – Warum das kleinere Übel wählen?« oder: »Preiswerte Gesundheitsfürsorge beginnt beim Stillen.«

Nikki küsste ihre Mutter auf die Lippen, umarmte sie fest und hob sie dabei hoch. So war ihre Beziehung eben – körperlich und ausgesprochen liebevoll. Ganz anders als mein Umgang mit meinen Eltern. Wir waren eher intellektuell, wir sahen künstlerisch wertvolle Filme und diskutierten beigelatoüber die Mise en Scène, wir gingen zu einem kostenlosen Flötenkonzert in den Park oder sahen uns im Stadttheater eine Aufführung vonEin Sommernachtstrauman.

Nikki lieh sich Sachen von ihrer Schwester Lea, der Rebellin, die angeblich, wie alle sagten, eine Abtreibung gehabt hatte. In der Schule wanderte sie in engen Jeans und einem G-String, den man sah, wenn sie sich am Spind bückte, durch die Flure, als wäre sie jederzeit zum Kampf bereit.

Ihr Zimmer roch nach altem Essen und nach Füßen. Ich blieb an der Tür stehen und atmete durch den Mund, während sich Nikki durch den Berg von Kleidung auf dem Boden wühlte. Sie förderte eine lila Jeans zutage, die Risse hatte und unten am Saum schmutzig war, und außerdem ein schwarzes Netzshirt. Dann zog sie sich aus. Ich hatte ihr schon einmal beim Umziehen zugesehen, aber nicht so. Sie warf die Schuluniform beiseite und zupfte ihre Unterwäsche gerade, als wäre ich nicht da, als wäre sie ganz allein.

»Ich kann deinen BH sehen«, sagte ich, als sie sich angezogen hatte.

»Gut.« Sie beugte sich vor, wuschelte ihre Haare hoch und fixierte sie mit einer kräftigen Ladung Haarspray aus Leas Dose.

»Was hat Nikkis Mutter gesagt?«, fragt Dahlia. Gedämpft dringt ihre Stimme aus dem Bettzeug.

»Sie hat uns gefragt, ob wir Brownies backen wollten.«

»Machst du Witze? Meine Mutter wäre ausgeflippt. Sie sagt, ich sei verdorben. Die Begleitumstände hätten mich verdorben. Sie sagt, sie kann mich unter diesen Einschränkungen nicht richtig erziehen. Was soll das überhaupt heißen?«

»Das weiß ich nicht«, antworte ich. Im Kopf verarbeite ich es aber schon. Auch vor der Quarantäne ist Dahlia nur selten ausgegangen. Sie hat den Unterricht immer am Bildschirm verfolgt und hatte lange Zeit Schwierigkeiten, Freundinnen zu finden und sich auf andere einzulassen. Ich glaube, sie war ziemlich einsam, bevor ich kam. So muss es gewesen sein, weil Mutter einverstanden war, ihr eine Companion zu schenken.

Ich denke an meine eigenen Eltern. Dahlia fragt nie nach ihnen. Es kommt nur selten vor, dass ich mich, wie jetzt, auf meine Eltern konzentriere und eine einzelne Erinnerung wachrufe. Der Mietwagen war für den Skiurlaub gepackt, die Fenster halb heruntergekurbelt, ein kühler Wind wehte durch das Auto und ließ die Karte auf Moms Schoß flattern. Dad brachte uns mit dem CB-Funk zum Lachen. »Hier ist der Schinkenmann. Ich bin mit Miss Piggy und ihrem kleinen Schweinchen unterwegs.« Er hielt mir das Mikrofon hin. »Wie heißt du, kleines Schweinchen?«

»Lilac«, sagte ich ins Mikrofon. Dann konnte ich nicht mehr vor Kichern. Eigentlich war es gar nicht so witzig. Ich hatte ja nur ein c an meinen Namen angehängt. Irgendwie fand ich, Lilac sei der richtige Name für ein Schwein. Und als ich in meiner Companion-Gestalt aufwachte und Dahlia mich fragte, wie sie mich nennen sollte, sagte ich ohne große Verarbeitung: Lilac. Es klang einfach richtig.

Dahlia rückt an die Bettkante. »Ich glaube, sie verdirbt mich. Falls ich überhaupt verdorben bin. Ich glaube nicht, dass ich verdorben bin. Glaubst du das?«

Ich rolle näher zu ihr hin. »Überhaupt nicht. Du bist ein wunderbares Mädchen, und ich habe Glück, deine Companion zu sein.«

»Ich liebe dich, Lilac.«

»Ich liebe dich auch.«

»Irgendwann besorge ich dir eine Haut.«

»Ehrlich?«

»Und du sollst den besten Prozessor bekommen.«

»Das wäre wirklich schön. Ich glaube, dann wäre ich eine noch bessere Companion.«

In Augenblicken wie diesem, wenn Dahlia sich besonders liebevoll zeigt, erzählt sie mir manchmal Dinge, auf die ich in meinem Feed keinen Zugriff habe – woher ich komme, und was ich bin: eine einfache Companion mit kaum mehr als den Grundfunktionen. Mutter wollte nicht mehr Geld ausgeben. Sie hat mir auch von den vielen Modellen mit unterschiedlichen Prozessorgeschwindigkeiten erzählt. Einige können extrapolieren und sich verändern – wie eine Person. Und das Spitzenmodell, die teuerste Version, ist sogar in der Lage, sich eine Haut wachsen zu lassen. Sie leben, jedenfalls auf einer gewissen Ebene, auch wenn Dahlia nicht erklären könnte, wie die Technik funktioniert. Meine eigenen Nachforschungen sind im Sande verlaufen. Auch wenn ich nur eine billige Companion bin, kann ich doch erkennen, dass mein Feed gefiltert ist.

Nun stelle ich ihr eine Frage, die ich schon eine ganze Weile zurückgehalten habe. »Wie ist das mit mir passiert?« Da wird mir etwas klar, mir dämmert eine Wahrheit, die in mir steckt und die nicht in der Geschichte vorkommt. »Meine Eltern hätten dem niemals zugestimmt.«

»Du warst Organspenderin, nicht wahr? Ich erinnere mich noch, dass die ersten, die hochgeladen wurden, Organspender waren. Das leuchtet auch ein. Du gehörst ja beinahe noch zur ersten Generation. Vielleicht wussten es deine Eltern nicht einmal.«

Dieser Gedanke ist schön. Ich würde es gern glauben. Aber ich bin sicher, dass es Dinge gibt, die ich nie erfahren werde, nicht einmal mit den besten Aufrüstungen.

Die Veranda war voller Mitschüler, deren böse Blicke ich nur zu gut kannte. Ich hätte die Uniform ausziehen sollen. Vorsichtshalber blieb ich hinten und folgte Nikki, die die Treppe hochhüpfte und sich ins Haus drängelte, wo Tally Turner mitten im Wohnzimmer, von zwei Leuten an den Füßen gehalten, mit dem Kopf nach unten aus einem Bierfass trank.Ist ja eine Katastrophe.Das dachte ich, als ich Nikki am Shirt zupfte. »Wir müssen hier weg.«

»Ich bin dran«, rief Nikki. Schon packte sie jemand an den Fußgelenken. Es war ein grobschlächtiger Footballspieler mit Schweißflecken unter den Achseln, der ziemlich streng roch. Er bugsierte sie über das Fass, während die Zuschauer johlten und sie anfeuerten. Nikkis Netztop rutschte ihr bis zum Kinn, und nun konnte ich ihren ganzen BH und die Rippen sehen, die sich scharf abzeichneten, und dann die Narbe von ihrer Blinddarmoperation. »Das ist eine Katastrophe«, sagte ich zu mir, während ich zur Wand zurückwich. Jemand versetzte mir einen Stoß, und ich stürzte in den freien Ring, in dessen Mitte das Fass stand.

Als ich mich umdrehte, sah ich die Rote, die mich, an einen wahren Riesen geschmiegt, böse anstarrte. Der Kerl war mit Sicherheit über zwei Meter groß.

»Die unnötige Verlängerung des Krieges wäre eine Katastrophe, meinst du nicht auch?«

»Ich werde dir meine Position nicht vor der Verhandlung verraten.«

»Über das Fass mit dir!«, befahl die Rote.

»Nein.«

»Und ob, Geschworene. Du kommst über das Fass.«

Wieder johlten die Leute, einige applaudierten auch. Der Footballspieler trat hinter mich, warf mich über seine Schulter und schleppte mich hinüber, während ich nach ihm schlug.

Also hing ich über dem Fass, hatte den Plastikhahn im Mund und würgte eine Unmenge billiges helles Bier hinunter. Als mir der Rock über das Gesicht fiel, lachten sie alle. Welche Unterwäsche trug ich eigentlich? Natürlich die schlimmste, den ältesten Schlüpfer, den mit kleinen Kaninchen, die an Möhren knabberten. Ich hätte ihn längst wegwerfen sollen. Als mich der Footballspieler absetzte, war die Rote weg. Ich ging ins Bad, um zu weinen, und starrte mich im Spiegel an, betrachtete mein Gesicht. Ich war weder hübsch noch hässlich, es war einfach nur ein Gesicht, das auf die Tränen wartete – ich wollte, dass sie aus mir herauskamen. Mit einer Hand schlug ich gegen den Spiegel. Es blutete etwas, als das Glas zerbarst. Sie fühlten sich wundervoll an, diese Schmerzen. Ich war fast wie neugeboren. Im Medizinschrank suchte ich nach Pflaster, wusch das Blut im Waschbecken ab und richtete mir die Haare. Ich hatte schöne Haare, hellbraun und rot, wenn Licht auf sie fiel. Brünett, nannten es manche Leute auch. Ich mochte es, wenn sie es so ausdrückten. Wenn sie etwas über die verschiedenen Farbtöne meiner Haare sagten.

»Das reicht jetzt … mit deinen Haaren«, stöhnt Dahlia. Sie verliert das Interesse und markiert auf dem Bildschirm einige Dinge, die sie kaufen möchte, während sie einen hellen Müsliriegel verdrückt. Sie hockt auf dem großen Ball, mit dem sie manchmal trainiert.

»Es tut mir leid. Das ist ein Detail, an das ich mich sehr lebhaft erinnere.«

»Kannst du das nicht überspringen und zum interessanten Teil übergehen?«

»Aber wenn ich springe, verliert die Geschichte an Spannung.«

»Und du verlierst dein Publikum.«

»Na gut, dann springe ich weiter.«

Nikki klammerte sich an den schwitzenden Footballspieler und tanzte schwankend mit ihm. Ich will sterben. Das war mein erster Gedanke. Die Worte kamen immer wieder ohne weitere Verarbeitung. Hätte ich sie verarbeitet, dann hätte ich vielleicht die wahre Gefahr erkannt.

Ich schlich den Flur hinunter und suchte nach einem Zimmer, in dem ich mich eine Weile verkriechen konnte. Ich wollte Nikki noch etwas Zeit lassen, damit sie auf ihre Kosten kam. Du denkst sicher, ich hätte sofort gehen sollen. Dieser Gedanke kam mir tatsächlich, als ich die Tür öffnete und die Rote stöhnend auf dem Bett liegen sah. Der Riese hatte seinen Kopf zwischen ihre Schenkel gesteckt. Er trug keine Hose. Ich schrie auf, als ich das riesige harte Ding bemerkte. Latte. Riemen. Da verstand ich es.

Der Ball quietscht, als Dahlia auf ihm hüpft. »Wie lang war er denn ganz genau?«

»Ich war zu aufgeregt, um die Länge genau zu bestimmen, aber mindestens so lang wie dein Unterarm.«

»Du meine Güte.«

»Ja, er war sehr lang.«

»Mach weiter.«

Der Schrei, den ich ausstieß, ließ Ruhe im Haus einkehren. Die Musik brach ab, das Johlen und Schreien und Lachen verstummten. Da waren nur noch ich und die Rote und der Riese. Wir schwiegen, es war so still, als wären wir festgefroren. Wie auf »Pause« geschaltet. Dann hörte ich hinter mir das Poltern, als sie den Flur herunterkamen. Sie keuchten hinter mir. Ein einzelnes bellendes Lachen durchbrach die Stille, daraufhin stimmten alle ein – sie lachten, und ich stand mitten in dem Raum. Die Rote schrie sie an, sie sollten verschwinden, und fuchtelte heftig mit den Armen. Da wusste ich, dass ich erledigt war. Ich wusste es einfach.

Dahlia lässt sich auf das Bett fallen und starrt das Poster unter der Decke an. Jakob Sonne mit den unordentlichen grauen Locken und dem albernen schiefen Grinsen. Das jüngste Objekt ihrer Star-Besessenheit. »Diesen Teil finde ich am schönsten.«

»Ich weiß. Du magst es, wenn ich über den Penis rede.«

»Halt den Mund!«, quietscht sie.

»Tut mir leid. Soll ich weitermachen?«

Sie schmollt. »Was ist mit deiner Hand los?«

Ich blicke zu meiner Klaue hinunter und presse die Greifhaken zusammen. Einer hängt schlaff herab, die anderen spannen sich und lösen sich wieder.

»Du armes Baby. Du brauchst einen Techniker.«

»Ich kann trotzdem weitererzählen. Als Nächstes kommt der Teil, der am wichtigsten ist.«

»Vielleicht morgen. Ich muss wieder in den Unterricht.«

»Soll ich in meinen Verschlag gehen?«

»Gute Idee.«

Ich ziehe mich so oft wie möglich von mir aus zurück. So sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Dahlia den Schalter umlegt. Ich kann den Feed beobachten, neue Wörter lernen oder wach bleiben und die Sitzung verfolgen. Dahlia ist seit Kurzem weiter, als ich es in der Schule geschafft habe. Eines Tages wird sie meiner müde werden. Vielleicht könnte ich mich selbst verbessern, wachsen und Schritt halten, wenn sie mir einen besseren Prozessor gönnen.

Mutter stößt die Tür auf, ohne anzuklopfen. Ihre Fingernägel sind strahlend kobaltblau lackiert, nur die Spitzen schimmern golden. »Gut, dass du lernst. Wo ist dieses Ding?«

»Lilac ist im Verschlag.«

»Gut, sehr gut. Weißt du, ich habe nachgedacht. Vielleicht wird es Zeit, dass du einen Freigängerpass bekommst.«

»Wirklich?«

»Ja, aber du weißt ja, die kosten eine Menge Geld. Du müsstest deine anderen Ausgaben einschränken, damit wir ihn uns leisten können.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Vielleicht die Versicherung und die Wartungskosten für deine Companion.«

»Mutter, darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich möchte Lilac nicht aufgeben.«

»Nicht einmal für einen Freigängerpass?«

»Nicht einmal für einen Pass.«

»Du brauchst doch richtige Freunde.«

»Wo soll ich die denn finden?«

»Du könntest zum Gruppenabend in den 143. Stock gehen. Früher bist du gern zu den Gruppenabenden gegangen.«

»Ich mag die anderen Kinder aber nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Sie nennen mich Klotzkopf. Sie sagen, mein Kopf ist zu groß, und ich sehe komisch aus.«

Von meinem Verschlag aus messe ich ihren Kopf. »Dein Kopf ist nur geringfügig größer als der Durchschnitt.«

»Was? Hört es etwa zu?«

»Sie ist im Verschlag. Reicht das nicht?«

»Nein, das reicht nicht. Ich mag das nicht. Ich wünschte, ich hätte es dir nie geschenkt. Immer hört es zu, immer erzählt es diese schreckliche Geschichte. Das ist nicht richtig!« Mutter stakst zu meinem Verschlag und sieht mich hasserfüllt an. Dann wird es dunkel.

Es ist fast Mitternacht, als ich aufwache. Ich schalte auf Nachtsicht um und sehe, wie Dahlia mich anstarrt.

»Es wäre schön, wenn du den Pass bekämst«, sage ich. »Ich fände es schön, wenn du rausgehen könntest.«

»Oh, Lilac.« Sie nimmt mich in die Arme. Weint sie? »Sie holen dich morgen ab. Sie nehmen dich mit.«

»Wohin bringen sie mich denn?«

»Zur Agentur.«

»Bekomme ich eine Wartung?«

»Du gehst zurück. Dann werde ich dich nie mehr wiedersehen.« Ich spüre ihre Umarmung nicht. »Ich möchte dich nicht verlieren.«

»Ich dich auch nicht.« Ich streichle ihr über die Haare und achte dabei darauf, dass sich meine Greifhaken nicht darin verfangen. Sie hat schöne Haare, lang und kräftig bis in die Spitzen. Dahlia pflegt sie vorbildlich. »Kannst du denn dann rausgehen?«, frage ich.

»Ach, das ist mir doch egal. Wenn man rausgeht, muss man alle Schutzimpfungen auffrischen lassen, und wenn man reinkommt, muss man alles ausziehen, man wird abgespritzt und muss drei Tage in einem Isolierzelt sitzen. Wozu das alles? Nur um in einem richtigen Laden einzukaufen? Ich wäre lieber hier bei dir.«

»Du könntest tanzen gehen.« Mit Dahlia tanzen zu gehen, das würde mir gefallen. Aber nicht so. Nicht in dieser Büchse.

»Erzähl mir den Rest der Geschichte.«

Nikki nahm meine Hand, und wir drängelten uns durch die Menge. Hinter uns tobte immer noch die Rote. Lachend rannten wir auf die Veranda. Beinahe waren wir entwischt, da holte uns Nikkis Tanzpartner doch noch ein. Er sagte, er wüsste, wohin wir gehen könnten. Er hatte auch für mich einen Freund dabei, einen grinsenden, stämmigen Winzling, der auf einmal neben ihm auftauchte.

Wir fuhren zu den Klippen, es war ein neues Baugrundstück, von dem aus man einen schönen Ausblick auf das Meer hatte. Ich hörte das Krachen der Brecher. Der Mond war nicht zu sehen, der Boden war aufgeweicht und schlammig vom Niederschlag. Der Footballspieler kitzelte Nikki, jagte sie und verschwand mit ihr im Dunkeln. Ich sah ihnen nach, und auf einmal kam der seltsame kleine Junge zu mir und umarmte mich von hinten. In diesem Augenblick brach der Mond durch die Wolken und schien auf das Meer. Es fühlte sich schön an, so gehalten zu werden. Er hatte eine breite, muskulöse Brust, die eine schöne Lehne abgab, und er musste sich nicht bücken, um mir das Kinn auf die Schulter zu legen. Ich muss gestehen, dass ich es genoss. Aber dann schob er mir die Hand unter den Rock. Ich entzog mich ihm, und nun kam er auf die Idee, mich zu kitzeln und zu jagen. Bei seinem Freund hatte es ja auch funktioniert. Er hetzte mich um einen Stapel Stahlträger, die mit Plastikplanen geschützt waren, vorbei an einem Haufen Werkzeug und über die mit einem Seil markierte Grenze des Nachbargrundstücks. Ich hörte ihn hinter mir grunzen. Er stürzte, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass er sich in dem Seil verheddert hatte. »Nikki!«, rief ich und lief weiter, um sie zu finden. »Nikki!«

Ihr Ruf übertönte das Donnern der Wellen: »Ich bin hier!« Ich bewegte mich in die entsprechende Richtung bis zum Rand der Klippen. Sie waren so hoch, dass ich kaum noch sehen konnte, wie unten auf den Felsen die Wellen brachen.

»Wo bist du?«

Da hörte ich es – ein Stöhnen auf dem Nachbargrundstück. Zwischen den Wellen hörte ich ein Klatschen und das Schmatzen des Schlamms. »Nikki?« Nun bemerkte ich auch ihre dürren Gliedmaßen, die sich im Mondlicht gelblich aus der Dunkelheit abhoben. Der Footballspieler lag auf ihr.

Hinter mir flüsterte jemand: »Ich bin genau hier.« Als ich mich umdrehte, holte die Rote mit der Schaufel aus. Ich erinnere mich nicht, wie ich stürzte – ich wünschte, ich wüsste es noch. Gern würde ich das Rauschen der Luft spüren, die Schwerelosigkeit. Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist dein Gesicht. Damals warst du vierzehn, jünger als ich, und ich konnte dir viele Dinge erzählen. Dinge über Menschen, die du wissen musstest.

Dahlia küsst mich auf den Kopf. »Ich habe eine Idee! Lass uns nachsehen, was wir über Nikki finden!«

»Das wäre sinnlos. Es ist viel zu lange her.« Ich verrate ihr nicht, dass ich schon 403.232 Mal in 403.232 verschiedenen Konfigurationen nach ihrem Namen gesucht habe. Dahlia darf pro Tag nur fünfundsiebzig Minuten Companion-Zeit in Anspruch nehmen, weshalb ich versuche, das Beste aus meiner freien Zeit zu machen. Ich habe Nikki nicht gefunden, aber sie hatte recht – ich kannte den Namen der Roten, und die fand ich. Ich konnte eine Zeitachse erstellen – Heirat, Geburt eines Kindes, dann lange nichts, danach ein durch Selbstmord gestorbener Sohn, er war aus dem Fenster eines Hochhauses gesprungen. Seine Mutter überlebte ihn und wohnt jetzt in einem Seniorenheim im Del Norte County, siebenhundert Kilometer weiter nördlich. Hier ist etwas, das ich im Lauf der Jahre begriffen habe: Hätte ich überlebt, dann wäre ich inzwischen eine alte Frau und hätte mein Leben schon hinter mir. Dann würde ich mir keine Gedanken mehr darüber machen, was sie Nikki angetan haben.

»Was glaubst du, wie sie es gemacht haben?«, frage ich. »Mich hochgeladen, meine ich. Du sagst ja, es gebe nach dem Tod nur ein sehr kleines Zeitfenster, nur wenige Minuten. Ich bin aber ins Meer gestürzt.«

»Warte mal.« Dahlia rutscht vom Bett herunter und schaltet ihren Bildschirm ein. »Ich habe auf die richtige Gelegenheit gewartet, um dir das hier zu zeigen.« Sie ruft einen alten Polizeibericht auf. Ich scanne das Dokument. Tatsächlich, da sagen sie etwas über mich. Ich habe mich so auf Nikki und die Erzählung konzentriert, und auch darauf, Dahlia zu erfreuen und Mutter nicht zu verärgern, dass ich dies völlig übersehen habe.

»Wo hast du das gefunden?«

»Ich habe ein bisschen nachgeforscht, als du im Schlafmodus warst.« Dahlia grinst und ist offenbar stolz auf sich. Auch ich bin stolz. Ein Akt der Nächstenliebe! Es fällt Dahlia in dieser Isolation schwer, sich auf andere einzulassen. Vielleicht hat ihre Companion dazu beigetragen, dass sie mitfühlender geworden ist. Vielleicht habe ich ein wenig damit zu tun.

»Schau mal«, sagt sie. »Du bist nicht sofort gestorben. Dein Rückgrat war gebrochen, und du warst unterkühlt, als dich ein Jogger am Strand gefunden hat. Es ist wirklich ein Wunder, dass du nicht ertrunken bist.«

Ich weiß nicht, wie ich das verarbeiten soll, aber der Bericht bestätigt, was Dahlia sagt. »Selbstmord«, lese ich laut.

»Ja, das konnte ich auch nicht glauben.«

Ich versuche, mich zu erinnern und eine Erinnerung nach meiner letzten Erinnerung wachzurufen. Dort habe ich nie nachgesehen – vielleicht wartet da etwas auf mich?

Aber nein, da ist nichts. Ich schlage mit dem Greifhaken gegen die Wand und hinterlasse eine Delle.

»Lilac!«

»Entschuldige, es tut mir leid.« Wir lauschen beide, ob Mutter kommt, doch es bleibt ruhig. Ich betrachte mich selbst. Ich habe keine gute periphere Sicht. Es fällt mir schwer, mehr zu sehen als meine Laufkette.

Dahlia flüstert: »Wenn Nikki etwas zugestoßen ist, müsste es doch auch in dem Bericht stehen.«

Oft glaube ich, Dahlia zu kennen und alles über sie zu wissen, doch dann verändert sie sich auf einmal, und ich verstehe gar nichts mehr. »Das kann ich unmöglich wissen.« Ich will gar nicht so laut rufen. Wahrscheinlich hat sie recht. Gut möglich, dass Nikki noch irgendwo lebt, aber solange ich in diesem Turm bleibe, kann ich sie nicht finden.

»Du hast recht, es tut mir leid.«

»Es muss dir nicht leidtun. Du hast meine Vergangenheit wachgerufen. Ich liebe dich.« Ich wünschte, ich hätte Tränendrüsen. Ich möchte weinen. »Was wird mit mir geschehen?«

»Das weiß ich nicht.« Sie weint für uns beide.

Da sie mich nicht auf ihr Bett heben kann, schläft sie auf dem Teppich. Um meine Laufkette und um sich selbst hat sie eine Decke gelegt. Ich warte, bis sie schläft, ehe ich rückwärts hinausrolle.

Mutter liegt auf dem Sofa, die Wand strahlt hell und zeigt Bilder von einem brennenden Flugzeug. Eine Explosion erschüttert die Kamera. »Die Terroristen, die versucht haben, auf dem Burbank Airport ein Flugzeug zu entführen, sind tot, außerdem ist eine nicht genannte Zahl von Geiseln gestorben«, berichtet der Reporter vor der Kulisse aus Rauch und Flammen und Feuerwehrleuten. Ich mag nicht besonders fortschrittlich sein, aber ich weiß, dass die Quarantäne nicht allein dem Schutz der Menschen dient. Sie soll auch die Bewegungsfreiheit der Leute in den betroffenen Gebieten einschränken.

Meine Greifhaken bohren sich in das Sofakissen. Ich brauche mehrere Anläufe, bis ich es richtig erwische. Mutter regt sich auf dem Sofa. Ich warte, bis sie wieder ruhig liegt, ehe ich ihr das Kissen auf das Gesicht drücke.

Sie wehrt sich, ihre Arme erwachen, sie schlägt um sich, will nach mir greifen und strampelt mit den Beinen. Ich habe das Kissen fest gepackt und staune selbst, wie viel Kraft ich habe und dass ich Mutter ohne große Anstrengung unten halten kann, selbst als sie nach meinem Kopf schlägt. Es tut nicht weh, ruft aber Erinnerungen wach – der schreckliche Hieb mit der Schaufel, die grässliche lange Dunkelheit. Ich nehme das Kissen weg.

Mutter keucht, würgt, rollt sich vom Sofa herunter und kriecht auf allen vieren von mir weg. »Du verrücktes Biest!« Sie springt auf, schnappt sich aus dem Nippesregal eine Vase und wirft damit nach mir. Sie prallt von meinem eckigen Kopf ab, das linke Augenlid wird eingedrückt. Die Vase zerspringt in tausend Stücke, die auf den Boden fallen. Mutter greift sich an den Hals.

»Tut mir leid. Das hätte ich nicht tun sollen.« Als ich auf sie zurolle, schreit sie auf, rennt ins Schlafzimmer und wirft die Tür hinter sich zu. Ich folge ihr und klopfe mit dem Haken an. »Könntest du mich bitte nicht wegschicken?«

»Es ist verrückt!«, kreischt sie. »Es hat versucht, mich umzubringen.«

Ich rolle zur Eingangstür. Sie hat keinen Türgriff. Ich schlage dagegen. Sie gibt nicht nach. Ich schlage noch einmal. Und wieder. Ich dresche auf die Tür ein. Ich rufe: »Warum gehst du nicht auf?« Als wäre diese Frage alles, was die Tür gebraucht hat, gleitet sie auf.