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«Mit diesem Buch wird der Autor vermutlich die Lücke ausfüllen, die von Tom Clancy und Michael Crichton hinterlassen wurde.» (Wall Street Journal) 1969 eroberte der Mensch den Mond. Und was ist die größte Errungenschaft unseres Jahrhunderts? Facebook? Was wurde aus den Visionen der Vergangenheit? Warum gibt es keine großen Erfindungen mehr? – Als dem Physiker Jon Grady die Aufhebung der Schwerkraft gelingt, hofft er auf den Nobelpreis. Doch statt Gratulanten kommen Terroristen, Grady stirbt. Das melden zumindest die Medien. Tatsächlich erwacht der Wissenschaftler in Gefangenschaft: Das hochgeheime «Bureau of Technology Control» entführt seit Jahrzehnten die brillantesten Wissenschaftler. Zum Schutz der Menschheit, angeblich, denn für Kernfusion und andere Erfindungen sei der Homo sapiens noch nicht weit genug. Für die Gefangenen gibt es nur eine Wahl: entweder Kooperation - oder eine türlose Zelle im Fels, tief unter der Erde. Doch die neuen Herren der Welt haben die Rechnung ohne Grady gemacht. «Ein würdiger Nachfolger für Michael Crichton.» (Publishers Weekly Starred Review) «Eine großartige Tour de Force.» (Booklist Starred Review) Der neue visionäre Thriller vom «Jules Verne des digitalen Zeitalters». (Frank Schirrmacher)
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Seitenzahl: 584
Daniel Suarez
Control
Thriller
Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann
Ihr Verlagsname
«Mit diesem Buch wird der Autor vermutlich die Lücke ausfüllen, die von Tom Clancy und Michael Crichton hinterlassen wurde.»
(Wall Street Journal)
1969 eroberte der Mensch den Mond. Und was ist die größte Errungenschaft unseres Jahrhunderts? Facebook? Was wurde aus den Visionen der Vergangenheit? Warum gibt es keine großen Erfindungen mehr? – Als dem Physiker Jon Grady die Aufhebung der Schwerkraft gelingt, hofft er auf den Nobelpreis. Doch statt Gratulanten kommen Terroristen, Grady stirbt. Das melden zumindest die Medien. Tatsächlich erwacht der Wissenschaftler in Gefangenschaft: Das hochgeheime «Bureau of Technology Control» entführt seit Jahrzehnten die brillantesten Wissenschaftler. Zum Schutz der Menschheit, angeblich, denn für Kernfusion und andere Erfindungen sei der Homo sapiens noch nicht weit genug. Für die Gefangenen gibt es nur eine Wahl: entweder Kooperation – oder eine türlose Zelle im Fels, tief unter der Erde. Doch die neuen Herren der Welt haben die Rechnung ohne Grady gemacht.
«Ein würdiger Nachfolger für Michael Crichton.»
Publishers Weekly Starred Review
«Eine großartige Tour de Force.»
Booklist Starred Review
Der neue visionäre Thriller vom «Jules Verne des digitalen Zeitalters».
Frank Schirrmacher
Bevor Daniel Suarez seinen ersten Roman in Angriff nahm, machte er Karriere als Systemberater und Software-Entwickler. «Daemon» veröffentlichte er 2006 unter Pseudonym im Eigenverlag. Erst nachdem der Roman die Internet- und Gaming-Community im Sturm erobert hatte, wurde ein großer Verlag auf das Buch aufmerksam. In der neuen Ausgabe avancierte «Daemon» zum Bestseller, genau wie die nachfolgenden Bücher «Darknet» und «Kill Decision». Der vierte Roman, «Control», wurde von der Presse gefeiert, 20th Century Fox hat vor Erscheinen des Buches die Filmrechte eingekauft. Daniel Suarez lebt und arbeitet in Kalifornien.
«Ich werde Sie zur Strecke bringen wie einen tollwütigen Hund, Sloan.» Albert Marrano biss auf eine E-Zigarette, während er sich auf einen winzigen Bildschirm konzentrierte.
«Keine Scherze über so was. Den Mops meiner Schwester hat gerade die Tollwut erwischt.»
«Ist nicht wahr.» Marrano bearbeitete seine Handheld-Spielkonsole mit den Daumen.
«Waschbärbiss. Sie mussten Mr. Chips einschläfern lassen. Ihre Kinder sind immer noch in Therapie.» Sloan Johnson auf dem Beifahrersitz mashte Buttons auf seiner Konsole. Gab dann ein tiefes «Höhö» von sich.
Marrano sah zu ihm hinüber. Johnson machte wieder dieses Grinsekatzengesicht. «Shit …» Marrano versuchte, seine Spielfigur zu drehen, aber Johnsons Avatar war schon direkt hinter ihm.
Doppelklick. Das Display wurde schwarz.
«Was das hier angeht, sind Sie wirklich eine Lusche, Al.»
«Mist!» Marrano warf die Konsole gegen das mit handgenähtem Leder bezogene Armaturenbrett und hieb mit der Faust aufs Lenkrad. «Das kann doch nicht sein. Ist ja schlimmer, als gegen meinen verflixten Neffen zu spielen.»
«Also kriege ich jetzt zweitausend Dollar von Ihnen.»
«Spiel über fünf Runden?»
Johnson schaltete seine Konsole aus. «Lausige zwei Mille. Was gibt’s da zu jammern?»
Scheinwerferlicht schwenkte über sie hinweg, als ein weiterer Wagen auf den fast leeren Parkplatz des düsteren Fabrikgebäudes fuhr.
«Da ist er.» Marrano steckte seine E-Zigarette weg.
«Wird auch Zeit.»
Sie stiegen gerade aus dem Aston Martin One-77, als ein älterer Mercedes auf sie zukam.
«Liebe Güte, schauen Sie sich die Karre an.»
«Halten aber ewig.»
«Haben Sie schon mal auf dem Highway hinter so einem festgehangen? Als ob man Kohlenstaub einatmet.»
Der Mercedes parkte, und ein distinguierter, wenn auch etwas zerzauster älterer Südasiate – Inder? – mit Brille und vollem, nicht ganz überzeugend schwarzem Haar kam zum Vorschein. Er bewegte sich langsam, knöpfte sich den Mantel zu.
Marrano und Johnson gingen auf ihn zu, zogen jeweils den rechten Lederhandschuh aus und streckten dem Mann die Hand hin. Marrano lächelte. «Dr. Kulkarni. Albert Marrano. Danke, dass Sie so spät noch gekommen sind.»
«Ja.» Sie gaben sich die Hand. «Normalerweise fahre ich nachts nicht. Aber Ihre CEO sagte, es sei dringend.»
«Ja.» Marrano drehte sich um. «Das ist mein Kollege Sloan Johnson. Portfoliomanager bei Sheraton-Bayers.»
Die beiden gaben sich ebenfalls die Hand. «Freut mich.»
«Ganz meinerseits.»
«Sie sind also unser Physiker. Princeton, richtig?», sagte Marrano.
Kulkarni nickte. «Ja, aber ich wohne in der Nähe, in Holmdel. Niemand wollte mir verraten, worum es geht.»
Marrano zog eine Grimasse. «Nicht am Telefon. Die Rechtsabteilung sagt, sie haben Sie bereits unter Vertrag, und ich soll Sie an die Geheimhaltungsvereinbarung und die Wettbewerbsklausel erinnern.»
Der Inder nickte ungeduldig. «Ja, ja. Also, was ist das nun für ein ‹dringender physikalischer Notfall›?»
Marrano wies mit dem Arm auf das triste fensterlose Gebäude vor ihnen. «Hightech-Start-up. Betrieben von zwei Teilchenphysikern, die chirale Supraleiter entwickeln. Das Investment ist noch von vor meiner Zeit, aber die Jungs behaupten, sie hätten irgendeinen großen Durchbruch geschafft. Ich verstehe beim besten Willen kein Wort von dem, was sie sagen.»
Johnson mischte sich ein. «Wir brauchen von Ihnen eine wissenschaftliche Einschätzung. Wir möchten wissen, ob die Sache Hand und Fuß hat.»
Kulkarni nickte. «Gibt es einen Businessplan oder Laborbericht, den ich mir ansehen kann?»
Die beiden Männer wechselten einen Blick. Marrano antwortete: «Wir können an diesem Punkt kein schriftliches Material herausgeben, Professor. Sie müssen die Sache direkt begutachten.»
«Dann müsste ich mit den Firmengründern reden. Mir alles zeigen lassen.» Kulkarni beäugte das dunkle Gebäude.
«Die sind dort drinnen.»
«So spät noch?»
«Ja. Verpulvern dreißigtausend Dollar die Stunde für Nachtstrom.»
Ein elektrisches Summen, das von einer eingezäunten Transformatorenanlage kam, fiel jetzt noch mehr auf.
«Wir haben Anweisung, hier nicht wegzugehen und mit niemandem zu reden, bevor wir die Bestätigung durch einen Experten haben. Anscheinend hat das, was die Jungs dadrinnen den Eggheads in New York geschickt haben, einiges Aufsehen erregt. Also, ich habe da ehrlich gesagt meine Zweifel.»
«Wir sollen uns von Ihnen bestätigen lassen, dass es wahr ist», meinte Johnson.
Kulkarni lüpfte seine Brille, damit sie nicht so beschlug. «Das was wahr ist?»
Marrano zuckte die Achseln. «Wie gesagt, ich versteh’s noch nicht mal. Irgendwas mit ‹Ionengittern›. Kommen Sie.» Er ging vor, zu einer fensterlosen Stahltür in einer Backsteinwand, und gab den Code ein. Die Tür piepte und ging auf. Er winkte die anderen beiden hinein.
Die drei gingen einen schmalen, hohen Gang mit Rigipswänden entlang. Vor sich hörten sie Lachen in einem großen Raum hallen. Ein tiefes Brummen erfüllte den Gang. Und Ozongeruch. Irgendwo gab es einen lauten Knall, gefolgt von neuerlichem Gelächter und dem Klirren von Glas.
«Ist es dadrinnen auch sicher?»
«Ich weiß nicht.» Marrano ging weiter.
Gleich darauf gelangte das Trio in einen großen, dunklen Arbeitsraum mit freiliegenden Trägern in der hohen Decke. Baustellenleuchten in der Mitte warfen lange Schatten an die Wände. Trotz seiner Größe war der Raum chaotisch – die Wände säumten übervolle Regale und Arrays von Hochleistungskondensatoren. Geräte-LEDs glommen, Digitalanzeigen schwankten stark. Reihen von Labortischen mit Gummioberflächen standen wie planlos im Raum verteilt, vollgetürmt mit Platinen, Oszillatoren, 3D-Druckern und Elektrobauteilen. Auch geodätische Origami-Modelle in allen Größen lagen herum. Das Ganze sah eher nach dem Dachboden eines Messis aus als nach einem Labor.
Marrano bedeutete den anderen beiden mit einer Handbewegung stehen zu bleiben, als er Glasscherben, kaputte Möbelstücke und unbekannte Flüssigkeiten auf dem Betonboden sah. Als er sich umschaute, entdeckte er auch Dellen und Löcher in der Wand hinter ihnen. Sie standen in Schussrichtung von irgendetwas.
Ein Lichtblitz in der Raummitte lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ein hohes, rundes Gebilde. Es maß gut drei Meter im Durchmesser und reichte bis an die zehn Meter hohe Decke. Dicke Elektrokabel schlängelten sich durch eine Art Metallgerüst und etwas, das aussah wie farbcodierte Kühlmittelleitungen. Schilder warnten vorschriftsmäßig vor Hochspannung, Flüssiggasen und ätzenden Stoffen. Das Gebilde war offensichtlich Zentrum einer Menge organisierter Aktivität, während man den Rest des Raums hatte verwildern lassen.
In der Mitte der mächtigen Konstruktion befanden sich ein konkaves Stein- oder Keramikpodest – geformt wie eine Linse – von mehreren Fuß Durchmesser und darüber eine Reihe von Metallstäben, deren Spitzen auf den Mittelpunkt einer imaginären Kugel von etwa einem Meter achtzig Durchmesser zielten. Um das Podest herum verteilten sich noch weitere Sensorreihen und Prüfvorrichtungen – Schläuche, Rohre, Drähte, Kameras und kryptischere Dinge, alles auf den kugelförmigen Hohlraum im Zentrum der Apparatur ausgerichtet.
In der Nähe der Konstruktion standen, nur als Silhouetten zu erkennen, vier Männer in Overalls, mit Helmen, Schutzbrillen und – in einem Fall – einer schwarzen Paintballmaske. Sie drängten sich um einen Flatscreen auf einem Wagen. Kabel führten vom Monitor in den Gerüstturm. Plötzlich rief einer von ihnen: «Off-Axis-Beschleunigung null Komma neun drei neun! Yeah, Baby!»
Vor Freude johlend, klatschten sie sich ab und stießen, wie es aussah, mit Bierflaschen an. Sie tanzten Arm in Arm herum wie Teufel um ein Feuer, und ihre Schatten hopsten an den Wänden.
Marrano rief: «Hey! Was ist denn hier los, Leute?»
Die Männer hielten inne und blickten zur Tür. Der eine schob die Paintballmaske hoch und enthüllte ein junges, bärtiges Gesicht. Er lächelte und erhob eine halbleere Bierflasche. «Marrano! Gerade richtig! Schauen Sie sich das an.»
Marrano seufzte leicht gequält, während er, Johnson und Kulkarni vorsichtig die Scherben und Pfützen umgingen. Stirnrunzelnd sagte Marrano: «Das ist ja ein Saustall hier, Mr. Grady.»
«Putzfrau hat Urlaub. Kommen Sie hier rüber.»
Die anderen Wissenschaftler standen neben Grady, alle in blauen Overalls mit einer gestickten weißen Einundvierzig auf der Brusttasche. Zwei waren junge Asiaten – der eine dicklich, aber groß, der andere drahtig wie ein Ringer. Dann war da noch ein professoral aussehender Weißer in den Siebzigern, vielleicht noch älter, mit Strickjacke und Krawatte unter dem lose sitzenden blauen Overall. Er stützte sich auf einen Stock und war den Besuchern gegenüber sichtlich reserviert.
Marrano sagte, von den entsprechenden Gesten begleitet: «Jon Grady, das ist Dr. Sameer Kulkarni vom Plasmaphysiklabor der Princeton University. Er evaluiert für uns» – sein Blick wanderte das Turmgebilde hinauf –, «was auch immer das ist.»
«Dr. Kulkarni, toll, Sie kennenzulernen.» Mit Händen, die in Schweißerhandschuhen steckten, winkte Grady sie heran. Er deutete auf sein Team. «Der Kräftige da drüben ist Raharjo Perkasa, Postdoc vom Jersey Tech. Das ist Michael Lum, unser Chemieingenieur von der Rutgers.»
Die beiden jungen Männer nickten.
«Und das dort –»
Kulkarni war kurz abgelenkt, weil er an einen Origami-Polyeder auf einem Tisch stieß, sah dann aber den vierten Wissenschaftler an. «Dr. Alcot. Bertrand Alcot.» Er lachte. «Was in aller Welt machen Sie hier? Wie lange ist das jetzt her?»
Der alte Alcot lächelte, als sie sich herzhaft die Hand schüttelten. «Fünf, sechs Jahre bestimmt.»
Marrano und Johnson sahen sich an. «Sie kennen sich?»
Kulkarni nickte. «Dr. Alcot und ich haben zusammen ein Paper über Hydrodynamik verfasst vor langer Zeit. Als er an der Columbia war. Ich dachte, Sie wären im Ruhestand, Bert.»
Alcot nickte. «Was die Universität angeht, ja. Man hat mir nahegelegt, in den Ruhestand zu gehen. Also habe ich es getan.»
Kulkarni schien sein Gedächtnis anzustrengen. «Das Letzte, was ich von Ihnen gelesen habe, war …» Er zögerte. «Nun ja, es war ziemlich kontrovers, wenn ich mich recht erinnere.»
«Sehr diplomatisch ausgedrückt. Es war ein Paper über Modifizierte Newton’sche Dynamik.»
Es herrschte verlegenes Schweigen.
Grady sagte, während er auf einer Computertastatur tippte: «Ich fürchte, an Dr. Alcots beruflichen Schwierigkeiten bin ich schuld. Man hat mir schon öfter gesagt, ich hätte einen schlechten Einfluss.»
»Sie haben einen schlechten Einfluss.» Alcot deutete auf Grady. «Er hat mich jahrelang mit seinen merkwürdigen Ideen genervt.»
Grady schnaubte, während er die Zahlen auf seinem Computerbildschirm studierte.
Alcot fuhr fort: «Ich habe versucht, Jons Theorien mathematisch zu widerlegen, aber ich konnte es nicht.» Er lehnte sich auf seinen Stock. «Nach Gretas Tod hat Jon mich überredet, hierher zu ihm zu kommen.»
«Mein Beileid wegen Greta. Wusste ich gar nicht. Wann ist sie denn gestorben, Bert?»
«So etwa vor zwei Jahren.»
«Tut mir leid.» Kulkarni blickte wieder zu Grady hinüber. «Dann war Mr. Grady also Ihr Mitarbeiter an der Columbia?»
Grady schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Monitor zu wenden. «Hey, ich bin kein Akademiker. Ich bin von einem State College geflogen.»
Alcot sagte: «Jon hat einen Master in Physik.» Nach einer kurzen Pause setzte er etwas verlegen hinzu: «Fernstudium. Online.»
«Ah, verstehe. Wie haben Sie sich dann …?»
«Jon hat mir jahrelang gemailt. Unglaublich hartnäckig. Schließlich kam der Punkt, an dem ich es nicht mehr ignorieren konnte. Die Alternative war eine Unterlassungsverfügung.» Alcot zeigte auf das Turmgebilde. «Das Ergebnis ist das da.»
Kulkarni sah Marrano an, dann wieder Alcot. «Dann hat also Mr. Grady die Firma gegründet?»
«Ja.»
«Mit anderer Leute Geld.» Marrano nahm eins von mehreren geometrischen Origami-Gebilden von einem Tisch. Er sah die Wissenschaftler bedeutungsvoll an. «Ich habe noch kein Wort über chirale Supraleiter gehört.»
Grady antwortete, während er auf der Tastatur klapperte: «Wissen Sie überhaupt, was chirale Supraleiter sind, Mr. Marrano?»
«Nein, und das liegt nicht daran, dass ich mich nicht bemüht hätte. Aber ich weiß, dass die Regierung in diese Firma investiert hat. Also muss es ja jemand wissen.»
Grady lächelte. «Da zieht die Wall Street natürlich auch mit.»
Marrano warf das Papiermodell hin und wandte sich wieder an Kulkarni. «Können Sie bitte kurz prüfen, was hier Sache ist? Ich möchte zurück in die Stadt.»
Johnson beäugte die Bierflaschen in den Händen der Wissenschaftler. «Trinkt ihr Jungs immer Alkohol, während ihr mit Hochspannungsequipment hantiert?»
«Wir feiern gerade», sagte Alcot mit der Spur eines Lächelns.
Grady sah kaum von der Tastatur auf. «Bert hat recht», meinte er. «Heute ist ein besonderer Abend. Wie Sie gleich sehen werden.» Er tippte noch kurz zu Ende und betrachtete dann die Besucher. «Ich wage mal zu behaupten, dass Sie alle gleich einen Drink gebrauchen können.»
Marrano und Johnson wechselten einen unbeeindruckten Blick. «Wofür steht eigentlich die Einundvierzig?» Marrano zeigte auf die Zahl auf den Overalls der Wissenschaftler.
Grady warf seine Paintballmaske auf einen Werkzeugwagen. Jetzt sah er aus wie ein BMW-Mechaniker im blauen Overall. Er nahm sein widerspenstiges schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz zurück, während er sagte: «Einundvierzig steht für einen Ausgangspunkt. Primzahlen sind die Atome der Mathematik. Wenn man alle Primzahlen, die kleiner sind als hundert, in ein gleichmäßiges Raster einfügt, steht die Einundvierzig in der Mitte. Und in Anbetracht von Polignacs Vermutung haben die fraktalen Eigenschaften dieser Zahlenreihe enorme Bedeutung für höhere Zahlenwertbereiche.»
«Lieber Himmel …» Wieder wechselten Marrano und Johnson einen Blick.
Alcot mischte sich ein. «Zugegeben, meine Herren, Jon ist manchmal ein bisschen exzentrisch, aber mir ist klargeworden, dass er einfach nur einen anderen Blick auf die Dinge hat.»
Marrano musterte die Origami-Gebilde, die zwischen Elektroteilen auf den Tischen herumflogen. «Beeindruckend.»
Alcot nahm eins der Modelle in die Hand. «Faltung nichteuklidischer gekrümmter Flächen. Jon durchdenkt Probleme gerne mit den Händen.»
«Es hilft bei bestimmten Fragestellungen.» Grady kam heran und bemerkte jetzt offenbar den zweifelnden Gesichtsausdruck der Investoren. «Stimmt schon, ich bin ein bisschen von meinem Businessplan abgewichen.»
Marrano sah ihn finster an. «Ein bisschen? Ich finde nichts von Ihrem Businessplan wieder. Ich bin Ihre Ausgaben durchgegangen. Sie haben in den letzten drei Monaten die Hälfte Ihres Jahresetats allein für Strom verpulvert.»
«Wie sagt man so schön? Ein bisschen Schwund ist immer.» Grady deutete auf die turmartige Apparatur. «Hohe Energie ist nun mal nötig, um exotische Quantenzustände in baryonische Materie zu induzieren. Und exotische Zustände brauchen wir.»
«Ich vermute, Ihre Burn-Rate ist der wahre Grund, warum wir hier sind.» Marrano zeigte auf die mächtige Turmapparatur. «Ist das Ihr letzter Verzweiflungswurf, bevor das Spiel aus ist? Und was zum Teufel ist baryonische Materie?»
«Normale Materie eben – für unsere Zwecke auf der subatomaren Ebene.» Er sah Kulkarni an. «Dr. Alcot und ich haben die Wechselwirkung hochenergetischer Teilchen beim Durchgang durch dotiertes Graphen in Supraflüssigkeiten wie Helium-4 untersucht.»
Kulkarni nickte vage. «Okay. Und was hat das mit chiralen Supraleitern zu tun, Mr. Grady?»
Einen Moment lang sagte niemand etwas.
«Nichts.»
Es herrschte angespanntes Schweigen.
«Aber für Supraleiter konnte ich Mittel lockermachen.»
«Das ist Betrug.»
«Betrug ist ein hässliches Wort. Jeder, der in der Lage ist, unsere Berechnungen zu verstehen, konnte unserem Businessplan eindeutig entnehmen, worum es ging.»
«Wie gesagt: Betrug.»
Grady schien unbeeindruckt. «Dann gäbe es den langweiligsten Gerichtsprozess aller Zeiten. Außerdem, jemand von der Regierung fand meine Berechnungen offensichtlich interessant.»
Kulkarni wandte sich an Alcot: «Wussten Sie davon, Bert?»
Alcot verzog das Gesicht. «Eine Zeitlang nicht, nein, aber irgendwann habe ich es dann als notwendig akzeptiert.»
«Ihr berufliches Renommee –»
Grady mischte sich ein. «Ich bin schuld. Nicht Professor Alcot. Aber wie Sie gleich sehen werden, ist das alles jetzt sowieso egal.»
Alcot hob beschwichtigend die Hand. «Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Sam.»
«Ich mache mir aber Sorgen, dass Mr. Grady Ihren wissenschaftlichen Rang ausgenutzt hat.»
«Ganz und gar nicht. Fast schon im Gegenteil.»
Kulkarni wandte sich wieder an Grady. «Und was machen Sie mit diesen Supraflüssigkeiten?»
Johnson blickte zwischen den Physikern hin und her. «‹Supraflüssigkeiten›. ‹Baryonische Materie›. Für mich klingt das alles wie heiße Luft.»
Grady nahm einen Schluck aus der Bierflasche und wischte sich dann mit der behandschuhten Hand den Bart. «Supraflüssigkeiten sind etwas absolut Reales, Mr. Johnson. Supraflüssigkeit ist ein Aggregatzustand, in dem sich Materie verhält wie eine Flüssigkeit ohne Viskosität und ohne Entropie. Sie sieht aus wie eine normale Flüssigkeit, fließt aber bei ultratiefen Temperaturen ohne jede Reibung. Der Punkt ist: Unter extremen Bedingungen bricht das Standardmodell der Physik zusammen. Schauen Sie …»
Er trat an einen Glasbehälter, der an einer Seite des Turms angebracht war, und steckte die Arme durch zwei runde Öffnungen in der Glaswand in ein paar dicke silberne Handschuhe. Die anderen sahen zu, wie Grady innerhalb der Handschuhbox einen rauchenden Keramikzylinder von dem monströsen Turmgebilde abschraubte. Dann nahm er einen Glasbecher und goss vorsichtig aus dem Keramikzylinder eine klare, dampfende Flüssigkeit hinein.
«Das ist Helium-4 bei etwas unter 2,17 Grad Kelvin.» Er hielt den Becher so, dass die anderen ihn sehen konnten. Obwohl das Gefäß aus dickem Glas war, rann die Flüssigkeit durch den Becherboden wie durch ein Fliegengitter. Sie tropfte auf den Boden der Handschuhbox und verdampfte schnell.
Johnson war perplex. «Heilige Scheiße. Das läuft durch Glas.»
«Genau. In einem Quantenzustand passieren seltsame Dinge. Da wird Materie auf ihre Essenz reduziert. Auf subatomare Teilchen. Die durch die Ritzen der Standardphysik schlüpfen.» Er schraubte den Zylinder wieder in die riesige Apparatur. «Jedes Helium-4-Teilchen ist ein Boson, weil es Spin null hat. Am Lambdapunkt werden Quanteneffekte makroskopisch sichtbar – heißt, die Atome sind in der Flüssigkeit nicht mehr relevant. Die Vakuum-als-Supraflüssigkeit-Theorie ist ein Ansatz der theoretischen Physik, der die Raumzeit selbst als Supraflüssigkeit betrachtet. Das Fluidum der Wirklichkeit.»
Kulkarni sah ihn stirnrunzelnd an. «Vakuum als Supraflüssigkeit? Warum … Worum geht es hier, Mr. Grady?»
«Wir versuchen, Gravitationswellen zu reflektieren, Dr. Kulkarni.»
Einen Moment lang war Kulkarni sprachlos. Dann wandte er sich an Alcot. «Meint er das ernst, Bert? Und dabei haben Sie mitgemacht?»
«Es wird einem doch immer gesagt, wie wichtig es ist, im Ruhestand aktiv zu bleiben», sagte Alcot achselzuckend.
Kulkarni wandte sich wieder an Grady. «Warum in aller Welt halten Sie das für machbar?»
«Weil ich es hier drin sehen kann.» Grady tippte sich mit dem Zeigefinger an den Kopf.
Kulkarni starrte ihn nur an.
Grady hob die Hand. «Okay, Sie sind skeptisch. Verständlich.» Er deutete auf den Turm. «Eine Supraflüssigkeit fließt ohne Reibung. Supraleiter lassen Elektronen ohne Widerstand hindurchfließen. Was wir gemacht haben, war, eine Graphenspule in einer Supraflüssigkeit zu suspendieren.»
«Warum Graphen?»
«Es ist eine supraleitende Schicht. Ahmt die Bewegung von Elektronen durch ein fast vollständiges Vakuum nach. Hält Teilchen von äußeren Einflüssen frei. Außerdem zeigt Graphen unter bestimmten Bedingungen exotische Eigenschaften.»
«Ich verstehe immer noch nicht, was das mit Ihrem Ziel zu tun hat, Mr. Grady.»
«Okay. Ich brauchte eine geladene zweidimensionale supraleitende Struktur. Aufgrund der quantenmechanischen Nichtlokalität der negativ geladenen Cooper-Paare, die durch die Energielücke vor dem Lokalisierungseffekt der Dekohärenz geschützt sind, bewegen sich diese Paare in Anwesenheit einer Gravitationswelle nichtgeodätisch.»
Marrano warf die Hände in die Luft. «Ich hab’s ja gesagt, Professor, dieser Mensch reiht einfach nur irgendwelche Wörter aneinander.»
Kulkarni machte eine beschwichtigende Handbewegung zu Marrano hin und konzentrierte sich wieder auf Grady. «Reden Sie weiter.»
Grady zuckte die Achseln. «Das umgebende nichtsupraleitende Ionengitter ist lokalisiert und bewegt sich daher geodätisch, bewegt sich also mit der Raumzeit, während die Cooper-Paare sich nichtgeodätisch bewegen – und dabei relativ zur Raumzeit beschleunigt werden. Die unterschiedliche Bewegung führt zu einer Ladungstrennung. Durch diese Ladungstrennung wird das Graphen elektrisch polarisiert, und es entsteht eine Coulombkraft. Die Rückwirkung der Coulombkraft auf die Cooper-Paare verstärkt den Massensuprastrom, der die Welle erzeugt – und führt zur Reflexion.»
Kulkarni grimassierte. «Mr. Grady, wenn dem so wäre, warum folgt dann ein Bose-Einstein-Kondensat einer Geodäte? Wenn man es in einer Vakuumkammer loslässt, fällt es genau wie Newtons Apfel.»
Grady schnappte sich ein Blatt Papier von einem Tisch und begann es kompliziert zu falten, während er sagte: «Ja, aber die De-Broglie-Wellenlänge des BEC liegt in der Größenordnung von einem Millimeter, während die Wellenlänge des Gravitationsfelds praktisch unendlich ist – heißt, die Schwerkraft kann das Kondensat bewegen. Wenn man die De-Broglie-Wellenlänge größer als die Gravitationswellenlänge machen kann, dann kann man das Kondensat im Prinzip von der Gravitationswelle isolieren.»
«Okay, aber selbst dann gälte das nur für zeitabhängige Felder, nicht für ein statisches Feld wie dieses hier.»
«Richtig, aber auch dazu ist mir eine Idee gekommen.» Er hielt das Papiergebilde hoch, das jetzt eine gekonnt gefaltete Kugel war. Er umfuhr die Kugel mit der anderen Hand. «Neutronensterne haben ein sehr starkes Magnetfeld. Und Supraleitung – wie in diesem Graphen – und Magnetismus schließen sich aus. Aber ein Neutronenstern wie Cassiopeia A, der einen Protonensupraleiter im Kern hat, besitzt dennoch ein sehr starkes Magnetfeld.»
Kulkarni starrte ihn nur an.
«Wie kann das sein, habe ich mich gefragt. Es liegt daran, dass Supraflüssigkeiten, die geladene Teilchen enthalten, auch Supraleiter sind. Bringt man eine Supraflüssigkeit und einen Supraleiter zusammen, verschiebt sich die Grenze der Supraleitfähigkeit, der Wert von Kappa ändert sich, und es kommt an der neuen Supraleitfähigkeitsgrenze zu wahrhaft exotischem Verhalten.»
Kulkarni seufzte. «Mr. Grady, ich kann nicht erkennen, was dabei anderes herauskommen sollte als Geldverschwendung.»
Grady sah den Professor an. «Okay …» Er wandte sich an den pummligeren der beiden Asiaten. «Raj, fahr bitte den Strom hoch.»
«Alles klar.» Perkasa ging schmunzelnd zur Kondensatoranlage an der Wand. Er gestikulierte zu den Besuchern hin. «Vielleicht treten Sie besser ein Stück zurück. Ich jage jetzt gleich fünfzig Megawatt durch dieses Ding.»
Kulkarni sah Grady an. «Damit kann man eine kleine Stadt beleuchten.»
Grady nickte. «Yeah, weiß ich.»
Bevor irgendjemand noch etwas sagen konnte, brachte Perkasa die Hand über einem leuchtenden Knopf in Stellung. «Achtung! Drei, zwei, eins …» Als sein dicker Zeigefinger sich senkte, erfüllte ein tiefes Brummen den Raum. Ein gespenstisches Leuchten erschien in der Kugel, als Staubkörnchen ionisiert wurden, dann erlosch es wieder.
Grady setzte seine Bierflasche ans Ende eines langen, durchsichtigen Schlauchs, der sich ins Herz der monströsen Apparatur schlängelte. «Aufgepasst.» Er kippte Bier in den Schlauch.
Alle starrten auf das Bier, wie es durch den Plastikschlauch lief und sich auf dem konkaven Podest ausbreitete …
Von wo die Flüssigkeit senkrecht nach oben fiel.
Kulkarni nahm die Brille ab und gaffte mit offenem Mund hin. «Grundgütiger …»
Als die Flüssigkeit aufwärts«fiel», passierte sie einen unsichtbaren Punkt, an dem die natürliche Schwerkraft wieder einsetzte, und ergoss sich jetzt erdwärts wie eine Brunnenfontäne – nur um wieder von dem veränderten Feld erfasst zu werden. Bald hüpfte die Flüssigkeit zwischen sich immer mehr annähernden Höchst- und Tiefstpunkten auf und ab, bis sie eine Balance erreichte. Nicht lange, und sie blubberte wie eine gewölbte Membran an der Grenze der beiden Gravitationsfelder, eine brodelnde «Polkappe» aus Bier auf einem unsichtbaren Globus.
Kulkarni setzte die Brille wieder auf. «Mein Gott … es ist ein Kraftfluss.»
Grady nickte. «Genau. Gravitationsfelder folgen demselben Formschema wie elektromagnetische Felder. So wie die fließenden Elektronen in einem Plasmastrahl ein Magnetfeld erzeugen, wechselwirken unserer Meinung nach diese Quantenfelder irgendwie mit der Gravitation.»
«Antigravitation? Das kann nicht Ihr Ernst sein.»
«Nein. Nicht Antigravitation. Wir glauben hier eine Apparatur geschaffen zu haben, die für die Gravitation gewissermaßen ‹glänzend› ist – ein Gravitationsspiegel. Oder vielleicht wäre auch ‹Brechung› richtiger. Ich bin mir noch nicht sicher.»
«Das da ist eindeutig irgendeine Form von Elektromagnetismus», meinte Kulkarni fasziniert. «Wasser ist diamagnetisch, und bei so hohen Energien könnten Sie wahrscheinlich einen Ziegelstein schweben lassen, wenn er nur Spurenmengen von magnetischem Material enthielte. Sie behaupten doch wohl nicht, dass Sie die Gravitation reflektieren?»
«Supraleitung schließt Magnetismus aus, Dr. Kulkarni.» Grady zeigte ebenfalls auf die Apparatur. «Und Sie müssen doch zugeben, unsere Ergebnisse sehen vielversprechend aus.»
«Aber …» Sprachlos blickte Kulkarni auf das billige Bier, das da brodelnd mitten in der Luft hing. «Wenn Sie die Gravitation beugen könnten … das hieße ja …» Er verstummte.
Grady sprach für ihn weiter. «Es würde einen zwingenden Beweis für die Existenz von Gravitationswellen liefern. Mal ganz abgesehen von Gravitonen. Und noch einigen anderen Dingen.»
Kulkarni tastete nach einem Stuhl, aber in der Nähe gab es keinen, der nicht zertrümmert war. «Mein Gott …»
«Ist schon verdammt cool.»
Kulkarni schüttelte wieder den Kopf. «Nein. Das muss Elektromagnetismus sein. Selbst eine nicht eisenhaltige Flüssigkeit –»
«Klar, dass Sie skeptisch sind. Aber unser Labor steht Ihnen offen.»
«Weil … das, was Sie da behaupten, das hieße ja … dass das Standardmodell der Physik … also, das hier würde eine ganz neue Art von Astronomie begründen. Es würde den Nobelpreis bedeuten. Und das wäre nur der Anfang.»
Alcot, Grady und ihre Mitarbeiter sahen sich an.
Grady lachte. «Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, Bert.»
Alcot zog die Augenbrauen hoch. «Also, ich habe sofort dran gedacht.»
Marrano hob die Hände. «Hey! Leute. Moment mal.»
Alle sahen Marrano an.
«Nur mal eine Zwischenbemerkung: Sie verbrauchen so viel Energie wie hunderttausend Haushalte – nur um ein halbes Glas Bier zwei Meter in der Luft schweben zu lassen? Das ist ungefähr so kosteneffizient, wie eine Boing 747 zu benutzen, um einen Vorleger zu saugen.»
Dr. Kulkarni, der jetzt zu ermessen begann, was er da sah, machte eine abwinkende Handbewegung zu Marrano hin. «Sie sind sich über die potenzielle Bedeutung dieser Entdeckung nicht im Klaren, Mr. Marrano.»
«Bedeutung ist ja gut und schön, aber davon rechnet es sich auch nicht.»
«Wenn das, was wir hier sehen, wirklich Antigravitation ist – oder ein Gravitationsspiegel, wie Sie sagen, Mr. Grady –, und noch steht das nicht fest …» Kulkarni studierte jetzt nebenbei den Computerbildschirm. «Es hätte enorme Folgen, es könnte … nun ja, das Gewebe des Universums erkennbar machen. Es würde uns helfen, die Struktur der Raumzeit selbst zu verstehen. Bislang ist die Gravitation die einzige Kraft, die sich nicht in das Standardmodell der Physik fügt. Nein, das hier ist potenziell die bedeutendste Entdeckung des Jahrhunderts. Wenn nicht aller Jahrhunderte. Sie könnte ungeahnte wissenschaftliche Fortschritte bringen. Vielleicht sogar eine einheitliche Feldtheorie.»
Die Finanzmenschen wechselten Blicke.
«Okay, und das kommerzielle Potenzial dieser Sache ist …?»
Jetzt waren es die Wissenschaftler, die Blicke wechselten.
Grady reichte die Bierflasche Kulkarni, der erst mal einen großen Schluck nahm. «Anfangs wahrscheinlich nicht hoch», sagte Grady trocken. «Wie Sie schon meinten, man benötigt riesige Energiemengen, um diese exotischen Teilchenzustände zu induzieren – auch nur in einem winzigen Bereich. Um es kommerziell zu nutzen, bräuchte man praktisch unbegrenzte Energie –»
Alcot ergänzte: «Unbegrenzte billige Energie.»
«Ja, unbegrenzte billige, portable Energie. Unter dieser Voraussetzung könnte man gravitationsreflektierende Verkehrsmittel herstellen. Aber wie Sie schon sagten, es gibt praktischere Methoden, etwas zum Fliegen zu bringen –»
Johnson zeigte auf die blubbernde Flüssigkeit, die noch immer in der Kugel schwebte. «Dann haben Sie also die teuerste Lavalampe der Welt gebaut. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist wirklich beeindruckend, aber für fünfzig Megawatt …»
Kulkarni trat zwischen sie. «Sie wissen nicht zu würdigen, wie wichtig das hier für die Wissenschaft sein könnte.»
«Wir haben Sie als Stimme der Vernunft hinzugezogen, Dr. Kulkarni. Jetzt klingen Sie wie ein nerdiger Zwölfjähriger im Technikmuseum.»
Grady nahm die Flasche wieder entgegen. «Yeah, ich war auch so ein Junge.»
Kulkarni wandte sich wieder Alcot zu, sichtlich bemüht, wieder eine professionelle Haltung zu finden. «Bert, beweisen Sie mir, dass das nicht nur irgendeine Form von Elektromagnetismus ist. Funktioniert es beispielsweise im Vakuum? Können wir Ionenschub ausschließen?»
Alcot lehnte sich auf seinen Stock. «Wir haben in einer Vakuumkammer und mit nichtmagnetischen Stoffen die gleichen Ergebnisse erzielt.» Er wandte sich an Grady. «Jon, zeigen Sie Sam die Feldmanipulationsversuche.»
«Okay.» Grady deutete auf die schwebende Biermembran. «Schauen Sie sich die Form des Felds an. Das ist ein Grund, warum ich immer geglaubt habe, dass Elektromagnetismus und Schwerkraft enge Verwandte sind – wenn auch in verschiedenen Dimensionen.»
Kulkarni zögerte. «Wenn es aussieht wie ein elektromagnetisches Feld und sich auch so verhält …»
«Es ist kein Magnetismus. Jede baryonische Materie mit Masse, die sie in diesem Feld platzieren, wird die Gravitationseffekte zeigen. Buchstäblich jede.»
«Wollen Sie mir wirklich einreden, dass Sie mit nur fünfzig Megawatt Strom die Anziehungskraft der gesamten Erde übertreffen? Ohne Mini-Schwarze-Löcher zu erzeugen oder –»
«Nein, natürlich nicht. Noch mal, wir erzeugen keine Gravitationskraft. Wir reflektieren sie. Ein Gravitationsspiegel. Und dieser Hochenergiespiegel kann so manipuliert werden, dass er die Gravitation in verschiedene Richtungen ablenkt.»
«Sie meinen, so wie Photonen?»
Grady fuhr sich mit den Fingern durchs ungepflegte Haar, während er nachdachte. «Vielleicht. Ich bin mir noch nicht sicher. Aber wenn ich sage, dass es wie ein Spiegel oder ein Prisma ist, hat das den Grund, dass wir nur das bereits vorhandene Gravitationsfeld reflektieren können. Wir können die Gravitationskraft nicht verstärken, ganz egal, wie viel Energie wir in das Feld pumpen. Wenn da nur die normale Schwerkraft herrscht, ist das auch das Maximum dessen, was wir reflektieren können. Da Gravitation aber auch Beschleunigung ist, sollten wir in der Lage sein, die bei Beschleunigung auftretenden erhöhten g-Kräfte zu spiegeln – also faktisch höhere g-Kräfte aufzuheben. Was eine höchst interessante Anwendungsmöglichkeit sein könnte.»
«Theoretisch.»
«Ja. Theoretisch. Hier …» Grady trat vor seinen Computermonitor und zeigte auf eine Reihe von Messdaten. «Wir können den Effekt aber auch streuen. Wir benutzen das gravitative Äquivalent von Halbach-Kugeln, um das Gravitationsfeld zu erzeugen, was heißt, wir können das Gravitationsfeld ungefähr genauso manipulieren, wie man ein elektromagnetisches Feld mit einem Halbach-Array manipulieren kann. Wir können seine Form manipulieren – entweder zu einem gleichmäßigen Fluss in alle Richtungen …» Er drehte an Knöpfen.
Plötzlich ergoss sich die Polkappe aus Bier abwärts und ballte sich zu einem glitzernden Kügelchen genau im Zentrum der imaginären Kugel – noch immer schwebend, aber jetzt exakt kugelförmig.
Kulkarni murmelte: «Mein Gott. Null-Gravitation.»
«In Wirklichkeit ein gleichmäßiger Fluss von Mikrogravitation. Das Gravitationsfeld ist auf einen zentralen Punkt fokussiert.»
«Ein Gleichgewicht also.»
«Richtig. Wir können es aber auch in jede beliebige Richtung bündeln. Die Fallrichtung – letztlich die Richtung, wo ‹unten› ist – ändern, zu jedem beliebigen Raumvektor …» Er bewegte einen Joystick, und das Bier flog plötzlich aus der Apparatur heraus, «fiel» auf Marrano und Johnson und machte sie beide nass.
«Herrgott, Grady!»
«Verdammt, was machen Sie da? Das ist ein Viertausend-Dollar-Anzug.»
«Sorry, Leute.»
Kulkarni sah sich jetzt um, musterte das zertrümmerte Zeug am Boden und die Dellen und Löcher in den Wänden. «Langsam verstehe ich, warum es in diesem Labor so aussieht.»
«Mussten es ja testen.»
Kulkarnis Gehirn arbeitete sichtlich, auf der Suche nach Einwänden. «Aber wenn es wirklich Gravitation ist, was Sie da reflektieren, dann müsste ja jede baryonische Materie mit dem Feld interagieren. Nicht nur diamagnetische Stoffe, sondern buchstäblich alles.»
Grady nickte. «Ja. Richtig. Sogar im Vakuum. Und genau so ist es.» Er ergriff eine Hardcover-Ausgabe von Newtons Principia, hielt sie kurz hoch und schubste sie dann in das Gravitationsfeld, wo sie geisterhaft in der Luft hängen blieb.
«Was ich nicht verstehe, ist, warum sich das veränderte Gravitationsfeld nicht über die Kugel hinaus ausbreitet, wie doch zu erwarten wäre, wenn Gravitation sich geradlinig ausbreitet.»
Kulkarni dachte darüber nach. «Und Gravitation breitet sich über jede beliebige Entfernung aus …»
«Richtig. Wenn wir ein Gravitationsfeld erzeugen würden, das so stark wäre wie das der Erde, müsste es sich nach außen ausbreiten. Ich glaube, was wir hier haben, liegt daran, dass wir eine Verzerrung erzeugen, eine Art Strudel im Fluss der Gravitation.» Er warf die Hände in die Luft. «Da bin ich mir einfach noch nicht sicher.»
Mit staunender Miene dachte Kulkarni darüber nach. «Wir sollten Newton’sche Bewegungsexperimente durchführen.»
Grady zog einen Eimer mit Golfbällen von einem Labortisch. «Haben wir schon …»
Gleich darauf warf Kulkarni mit kindlicher Freude Golfbälle mitten durch die Versuchsanordnung. Die Bälle beschrieben eine Kurve, wenn sie mit der Gravitationssenke der Apparatur wechselwirkten, schossen dann in Kurvenrichtung weiter und gegen die Laborwände.
Kulkarni rief: «Haben Sie das gesehen? Wie ein Asteroid im Swing-by am Gravitationsfeld der Erde.»
Marrano wrang immer noch sein Jackett aus. «Meine Güte, ich rieche wie der letzte Penner.» Er deutete auf die summende Apparatur. «Und würden Sie bitte den Strom da abschalten? Kein Wunder, dass Ihre Burn-Rate absurd ist.»
Kulkarni sah ihn finster an. «Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie wichtig diese Entdeckung sein könnte?»
«Ich weiß nur, dass ein Investment ökonomisch gesehen plausibel sein muss. Mr. Grady, haben Sie schon Patentanträge gestellt?»
Grady sah Kulkarni an. Er zuckte die Achseln. «Nein. Dafür ist immer noch Zeit. Außerdem sollten wir die Entdeckung selbst sowieso nicht patentieren lassen.»
«Warum denn nicht?»
«Weil es sich um eine fundamentale Einsicht in die Natur des Universums handelt. Das wäre, wie ein Patent auf den Elektromagnetismus zu beantragen. Wir müssen dieses Wissen veröffentlichen. Daraus könnten unzählige Innovationen erwachsen. Und diese Innovationen können wir uns dann patentieren lassen.»
«Sie wollen also letztlich sagen, wir haben ein paar Millionen Dollar investiert, damit ihr Jungs den Nobelpreis bekommt? Sie nehmen sich besser einen Anwalt, Mr. Grady.»
Kulkarni starrte lächelnd den fliegenden Golfbällen hinterher. Dann blickte er staunend die mächtige Apparatur hinauf. «Ihre Entdeckung könnte alles verändern, Mr. Grady. Buchstäblich alles.»
«Bei den nötigen Energiemengen? Ich weiß nicht, Professor …» Grady schaute ihn skeptisch an. «Aber klar. Sie eröffnet mit Sicherheit ein paar interessante neue Möglichkeiten.»
«Gibt es irgendwo ein Festnetztelefon, das ich benutzen kann?»
«Klar.» Er zeigte auf die hintere Wand. «Durch die Tür dort, da sind die Büros.»
«Danke.»
Marrano sah auf. «Wen rufen Sie an, Professor?»
«Die technischen Berater des Fonds in New York», sagte Kulkarni, ohne sich umzudrehen. «Ich nehme nicht an, dass Sie in der Lage sind, denen zu beschreiben, was wir heute hier gesehen haben.»
«Sagen Sie ihnen, wir haben die Situation unter Kontrolle.»
Plötzlich schoss eine Billardkugel durch den Raum und haarscharf an Marranos Kopf vorbei.
«Achtung!»
Sameer Kulkarni ging durch die unscheinbaren Räume des Laboratoriums. Was es da an Dekor gab, war unter der jahrzehntelangen Einwirkung von Neonlicht verblasst. Dennoch betrachtete er das alles fast schon ehrfürchtig.
Hier ist es passiert.
Billiger Gewerberaum, unbenutzte Aktenschränke, in einer Ecke zusammengeschoben. Racks mit Billigcomputern, die eifrig vor sich hin arbeiteten. Alles so … gewöhnlich.
Er bemerkte noch ein geodätisches Origami-Modell auf einem Aktenschrank und blieb stehen, um die präzise, komplizierte Struktur zu betrachten.
Innovation war etwas Sonderbares. Es erstaunte ihn immer wieder.
Und doch bestätigte dieser Ort hier, was sie schon lange wussten: dass wirklich disruptive Innovation selten aus den Ecken kam, aus denen man sie erwartete. Es hatte sich oft so viel mehr ausgezahlt, in exzentrische B- und C-Studenten zu investieren. Die Erklärung war simpel: Wer ganz im Status quo aufging, hatte Schwierigkeiten, darüber hinauszudenken – und wurde häufig davon verdorben. Besonders, wenn Erfolg und Peer-Anerkennung winkten. Man kam ja nicht zufällig an ein Examen einer Eliteuniversität. Erst mühte man sich ab, überhaupt angenommen zu werden, und strengte sich anschließend an, seinen Notendurchschnitt zu halten, und um das zu schaffen, musste man perfekt angepasst sein. Sich auf den allgemein akzeptierten Denkwegen hervortun.
Nein, wirklich originelle Denker blieben oft unbemerkt. Kulkarnis Organisation hatte in dieser Hinsicht viele Glücksgriffe in der dritten Welt getan, exzentrische Genies, die mit kleinen technologischen Verbesserungen die Infrastruktur neu erfanden – Wasserfilter, Solartechnik, optische Geräte. Der Trick bestand wie immer darin, die Spreu vom Weizen zu trennen. Die nützlichen Spinner von den ernsthaft Verrückten. Und das machte Kulkarnis Organisation besser, als es Silicon Valley je hätte können.
Die Erfolgsbilanzen der Valley-Wagniskapitalgeber machten das Muster sichtbar. Eine vielversprechende neue IT-Idee tauchte auf, und schon jagte jeder Dollar hinter derselben Sache her. Beschäftigte der ursprünglichen Firma wurden abgeworben, um Konkurrenzfirmen aufzumachen – bis der Markt mit Variationen ein und desselben Hypes übersättigt war. Die Bewertungen schossen in schwindelerregende Höhen, schließlich platzte die Blase – und die Aktien stürzten ab. Dann kam eine Brachezeit. Und danach begann der Kreislauf von neuem.
Und wofür? Die Eisenbahn schlug das Internet um Längen, was disruptive Innovation anging. Normteile? Dito. Nein, Mainstream-Hightech-Innovation war keine Bedrohung für den Status quo.
Kulkarnis Organisation hielt sich nicht an dieses Modell. Das war einer der Gründe, warum ihre Investments fast immer abseits der Technologiezentren erfolgten. Sie wollte, dass die Genies, die sie ausfindig machte, unbeeinflusst blieben. Das führte zu einer Menge Fehlschlägen, klar. Aber umso wertvoller waren jene Einmal-pro-Generation-Durchbrüche. Durchbrüche, die eines Tages den Gang der Menschheitsgeschichte änderten.
An einem Tag wie heute zum Beispiel.
Kulkarni blieb stehen, als er im Konferenzraum Whiteboards entdeckte. Sie waren mit komplexen Gleichungen vollgeschrieben. Von der Tür aus studierte er die Tafelnotizen, nickte, während er ihre Logik nachvollzog – kam dann aber nicht mehr mit. Grady war in Bereiche vorgedrungen, in die ihm Kulkarni nicht folgen konnte.
«Sehr clever, Mr. Grady.» Kulkarni wurde klar, dass er niemals auf das gekommen wäre, was Grady erkannt hatte. Nicht in tausend Jahren. Und die anderen Superhirne der Epoche – ob biologisch oder synthetisch – waren auch nicht draufgekommen. Gradys Innovation war eine jener raren «jungfräulichen Geburten» – etwas, das niemand je gedacht hatte.
Kulkarni setzte sich auf die Kante des Konferenztischs, neben einem Tischtelefon. Er starrte auf das Whiteboard und sann darüber nach, wie anders als die meisten Leute Grady das Universum sehen musste. Und wie schön das sein musste.
Er seufzte. Es schmerzte ihn, das zu tun, was er jetzt tun würde. Schmerzte ihn wirklich. Aber es musste sein. Tief drinnen wusste er, dass es sein musste. Aber der Zweifel gehörte zum Job. Dann faltete Kulkarni die Hände und sprach zu dem leeren Raum, als betete er. «Varuna, ich brauche Sie.»
Eine ruhige, körperlose weibliche Stimme antwortete in seinem Kopf: «Ja, Tīrthayātrī. Was kann ich für Sie tun?»
«Ich bin in Inkubator dreiundsechzig.»
«Ich sehe Sie.»
«Wie ist der Status dieser Einrichtung?»
«Simulation des Versuchsplans von Inkubator dreiundsechzig ist uneindeutig.»
«Und wenn der Versuchsplan validiert wäre?»
«Die erfolgreiche Durchführung des Versuchsplans von Inkubator dreiundsechzig ergäbe ein Sprungereignis der Kategorie 1 –»
Kulkarni holte tief Luft. «Kategorie 1.»
«Richtig.»
«Verstehe.» Er schwieg einen Moment. «Wann kann ein Ernteteam an meinem Standort eintreffen?»
«Erntekräfte sind schon auf Standby-Position.»
Kulkarni war verdutzt. «Dann haben Sie hiermit gerechnet?»
«Im Validierungsfall ist das Disruptionsrisiko groß. Wie lautet Ihr Befund, Tīrthayātrī?»
Er bot seine ganze Entschlossenheit auf. «Ich kann bestätigen, dass in Inkubator dreiundsechzig ein Sprungereignis der Kategorie 1 stattgefunden hat. Bildmaterial und unterstützende Messungen übermittelt um elf-drei-neun, GMT.»
«Warte auf Bestätigung.» Kurze Pause. «Übermitteltes Material bestätigt, dass ein Ereignis der Kategorie 1 eingetreten ist.»
«Gab es in den letzten vierundzwanzig Stunden irgendwelche Kommunikationslecks aus dieser Einrichtung?»
«Wird geprüft.» Pause. «Es wurden siebenundvierzig E-Mails und acht Sprachnachrichten abgefangen – sowie vierzehn Mitteilungen an soziale Netzwerke. Alle wurden zurückgehalten oder ans Täuschnetzwerk umgeleitet, wo simulierte Empfängerantworten erfolgten.»
«Ist irgendetwas über diese Entdeckung nach außen gedrungen?»
«Keine Daten, das Kategorie-1-Ereignis betreffend, sind durch die Einfriedung von Inkubator dreiundsechzig gelangt.»
Dann war es immer noch seine Entscheidung. «Empfohlene Vorgehensweise?»
Die Antwort kam praktisch sofort. «Unterverschlussnahme. Einsatz von Erntekräften.»
Kulkarni nickte. «Ganz meine Meinung. Leiten Sie Unterverschlussnahme ein. Vermerken Sie Uhrzeit.»
«Uhrzeit vermerkt. Erntekräfte sind gleich vor Ort. Nichteinsatzkräfte bitte Bereich räumen …»
Jon Grady beobachtete einen Satz Billardkugeln, die innerhalb des modifizierten Gravitationsfelds wild umeinanderkreisten. Es sah aus wie ein Mini-Sonnensystem, nur dass die Umläufe durch den Luftwiderstand allmählich gebremst wurden. Er lachte, als die jungen Labortechniker Raharjo Perkasa und Michael Lum noch mehr Billardkugeln in die Gravitationssenke warfen, die die turmartige Apparatur mitten in Gradys Labor erzeugte.
Bertrand Alcot stand auf seinen Stock gestützt neben Grady. «Sieht aus, als wäre das Universum genauso verrückt wie Sie, Jon.»
«Beängstigender Gedanke.»
«Stimmt. Und trotzdem waren Sie erfolgreich.»
«Sie meinen, waren wir erfolgreich. Sie wissen doch, dass ich das ohne Sie nie geschafft hätte.»
Alcot winkte ab. «Ich habe Ihnen jahrelang klarmachen wollen, warum Ihr Ansatz nicht funktionieren kann.» Er betrachtete die kreisenden Kugeln. «Und ich habe mich geirrt. Wie so oft in meinem Leben.»
«Sie haben mich gefordert, Bert. Mich gezwungen, meine Theorie weiterzuentwickeln. Sie zu verändern. Und wieder zu verändern. Und noch mal zu verändern.» Lachend fasste er Alcot an der Schulter. «Nie und nimmer hätte ich das ohne Sie geschafft. Ist Ihnen das denn nicht klar?»
Alcot dachte darüber nach. Nachdem er ein Weilchen schweigend auf die Billardkugeln geblickt hatte, sagte er: «Ich hatte einfach nichts anderes zu tun. Meine eigene Arbeit hat ja zu nichts geführt. Greta und ich … jahrzehntelang hatten wir uns auf meinen Ruhestand gefreut. Aber jetzt, wo sie nicht mehr da ist …»
«Sie werden gebraucht, definitiv. Ich brauche Sie.»
Alcot schien mit komplexen Emotionen zu kämpfen. Schließlich sah er auf. «Ihre Eltern werden sehr stolz auf Sie sein.»
«Ihre Kinder auf Sie mit Sicherheit auch. Sie sollten wieder Kontakt mit ihnen aufnehmen.»
«Ich kenne sie doch kaum.» Alcots Hand umklammerte den Stockgriff fester. «Hören Sie, Jon, Sie müssen mir etwas versprechen.»
«Okay. Was?»
«Machen Sie’s nicht so wie ich.»
«Ich liebe meine Arbeit auch, Bert. Daran ist doch nichts falsch.» Er zeigte auf den Gravitationsspiegel. «Deshalb haben wir das da geschafft.»
«Man muss mehr lieben als nur seine Arbeit. Man braucht Menschen, denen man etwas bedeutet – was soll das alles sonst?» Er starrte ins Leere. «Dieses Mädchen, Ihre Freundin – wie heißt sie?»
«Äh … Libby.»
«Was ist mit ihr?»
«Sie hat in ihrem Yogakurs jemanden kennengelernt. Sie ist bereits schwanger. Die beiden sind glücklich.»
Alcot nickte nachdenklich.
Grady blickte wieder auf den wundersamen Gravitationsspiegel vor ihnen. «Ich hätte nie gedacht, dass wir in diesem Moment ausgerechnet über so was reden würden. Das da ist eine epochale Entdeckung, Bert. Wir sollten die Situation genießen.»
Alcot wandte sich Grady zu. «Das Leben wartet auf niemanden.»
«Ist das hier nicht das Leben?»
«Versprechen Sie mir einfach, dass Sie auch ein Leben außerhalb Ihres Kopfs führen werden.» Alcot packte ihn fest an der Schulter. «Versprechen Sie’s.»
Grady merkte, dass es seinem Mentor ernst war. Er sah Alcot in die Augen und nickte. «Versprochen, Bert. Würden Sie jetzt bitte still sein und anfangen, über Ihre Nobelpreisrede nachzudenken?»
Alcot zog eine Grimasse und klopfte Grady dann auf den Rücken. «Diese verrückten Haare. Wissen Sie, als ich Ihnen das erste Mal begegnet war, habe ich Greta erzählt, dass mich ein dreckiger Hippie belästigt.»
Grady lachte. «Hey, Haare sind der Kalender der Natur.»
In dem Moment bemerkte Grady schemenhafte Gestalten, die aus dem Schattendunkel hinten im Labor kamen. Er reckte den Hals. «Wer zum Teufel ist das?»
Alcot drehte sich um. Perkasa und Lum wandten den Blick von ihrem Mini-Sonnensystem. Ein Stück weiter unterbrachen die Investmentberater Albert Marrano und Sloan Johnson ihr Bemühen, ihre Anzugjacketts über einem Radiator zu trocknen, und kamen mit neugieriger Miene zu Grady und seinem Team.
Ein Dutzend Personen traten ins Licht – Männer in krokusgelben Overalls mit Leuchtstreifen und dem Logo des Energieversorgers Jersey Central Power & Light. Doch sie trugen außer Helmen auch noch schwarze Gasmasken und hatten Arbeitsscheinwerfer und Gerätschaften dabei. Schweigend und effizient verteilten sie sich im Raum, als wäre das Forschungsteam gar nicht da.
Durch den Notausgang kamen ein Dutzend weitere Gestalten herein.
«Was soll das hier werden, Leute? Hey! Wenn es wegen des Stromverbrauchs ist, das geht in Ordnung. Wir haben für das alles hier Genehmigungen.»
Marrano, Johnson und die anderen sahen Grady beunruhigt an.
«Sie brauchen keine Gasmasken.» Grady deutete auf eine Alarmtafel mit einer Reihe grüner Lämpchen. «Es sind keine Chemikalien ausgetreten.»
Grady bemerkte, dass einer der Männer eine klobige alte Videokamera auf der Schulter hatte; das rote Licht zeigte an, dass das Gerät lief. Plötzlich erfasste ihn ein heller Scheinwerfer.
«Hey! Machen Sie das aus! Warum filmen Sie uns? Sie haben kein Recht, hier zu filmen. Das sind private Räumlichkeiten. Wie sind Sie überhaupt reingekommen?»
Ein Mann trat aus der Gruppe der Eindringlinge hervor. Im Unterschied zu den anderen trug er schlichte Arbeitskleidung – Flanellhemd, Jeans und Arbeitsstiefel. Er war groß und gut aussehend, mit blauen Augen, schmutzig blondem Haar und einem Kinn- und Backenbart. Er war athletisch gebaut und hatte etwas Charismatisches – wie ein rustikales Fashion-Model. Und er kam Grady irgendwie bekannt vor.
Grady sah den Mann misstrauisch an. «Unterstehen Ihnen diese Idioten? Was soll das?»
Der Mann trat vor die Kamera und blickte in die Linse. Dann drehte er sich um, zeigte anklagend mit dem Finger auf Grady und sagte mit lauter Stimme: «Das Gericht wird über Sie kommen, Jon Grady!»
«Gericht? Wovon reden Sie, verdammt noch mal?»
«In den Sprüchen Salomo steht geschrieben, die Weisen werden die Gottlosen zerstreuen.»
«Welche Gottlosen?»
«Ihre Forschung beraubt uns unseres Menschseins – macht diese Erde zur Hölle. Wir sind hier, um den Menschen wieder in seinen Naturzustand zu versetzen. Uns wieder in Einklang mit Gottes Schöpfung zu bringen!»
Grady wurde mulmig zumute, als ihn die Eindringlinge umstellten. «Sie sind nicht im Auftrag der Stromgesellschaft hier.»
«Es gibt nur einen Auftrag.»
Marrano rief: «Okay, jetzt reicht’s! Sie sind unbefugt in Privateigentum eingedrungen. Ich rufe die Polizei.» Er nahm sein Smartphone und tippte auf dem Display herum.
Die Gasmaskenträger um ihn herum richteten pistolenartige Dinger auf ihn, die wie schwarze Plastikspielzeugwaffen aussahen.
«Hey, hey!» Marrano nahm die Hände hoch, das Handy noch in der einen. «Was soll das? Halt.»
Mehrere Taserpfeile trafen ihn. Das Klicken der Stromschläge war überm Elektrobrummen der nahen Kondensatorreihen kaum zu hören. Marrano fiel um und lag zuckend am Boden, während sie ihm immer noch mehr Schocks verpassten.
Er schrie: «Aufhören! Bitte!»
Johnson nahm die Hände hoch. «Um Himmels willen! Was wollen Sie?»
Auch Johnson trafen mehrere Taserpfeile. Er brach schreiend zusammen und war jetzt von Männern mit gelben Overalls und Gasmasken verdeckt, die mitleidlos auf die flehenden Investmentbanker hinabblickten. Die Stromschläge hörten nicht auf.
Grady rief: «Was zum Teufel tun Sie da?» Er wandte sich an den Blonden. «Wenn Sie so gegen moderne Technologie sind, warum benutzen Sie dann welche?»
Der Mann sprach für die Kamera, während er weiter mit dem Finger auf Grady zeigte. «Seine Worfelschaufel ist in seiner Hand, und er wird seine Tenne durch und durch reinigen, die Spreu aber wird er mit unauslöschlichem Feuer verbrennen!»
Auch Grady trafen jetzt mehrere Pfeile. Ein Stromstoß ließ seine Zähne aufeinanderknirschen und jeden Muskel seines Körpers kontrahieren. Ehe er sich’s versah, lag er am Boden und schrie vor Schmerz. Zwischen zwei Stromstößen flehte er: «Nicht Bert! Er hat einen Schrittmacher!»
Wieder ein Stromstoß. Dann sah Grady den Anführer näher kommen. Der Mann stieg vorsichtig über einen Taserdraht und trat noch näher heran. «Ihre Forschung ist eine Beleidigung Gottes. Ihr Herumstochern in seinem Werk eine schändliche Anmaßung. Der Mensch muss in Demut und Dankbarkeit leben. So wie wir in Gottes Welt gekommen sind.»
Grady verrenkte den Hals, mühte sich, Worte hervorzubringen. «Hier sind … überall … Überwachungskameras.»
Der Mann blickte furchtlos um sich. «Sie sollen alle mein Gesicht sehen, damit sie wissen, der Winnower – der Worfler des Herrn – Richard Louis Cotton, hat Sie Ihrem Urteil zugeführt.»
Ein weiterer Stromstoß schoss schmerzhaft durch Gradys Körper. Als sein Bewusstsein schwand, hörte er noch Stimmen aus einem Sprechfunkgerät.
«Stufe zwo eingeleitet.»
«Verstanden, Ernteteam neun kommt …»
Als Grady wieder zu sich kam, war er gefesselt, mit Stricken ans Rohrgewirr des Gravitationsspiegelturms gebunden, wie er erkannte, und zwar mit beeindruckend komplizierten Knoten. Derjenige, der da am Werk gewesen war, hatte buchstäblich jeden seiner Finger einzeln fixiert. Von den Kondensatorreihen kam kein elektrisches Brummen mehr. Die Eindringlinge mussten alles abgeschaltet haben. Seltsam, dass militante Technologiegegner überhaupt wussten, wie sie das anstellen mussten.
Dann sah Grady, dass neben ihm Alcot festgebunden war; der Kopf des alten Mannes hing zur Seite, sein Gesicht glänzte von Schweiß, und seine Augen waren geschlossen. Auf Gradys anderer Seite war Marrano am Turmgerüst festgezurrt. Die Stricke liefen in beide Richtungen weiter. Offenbar war das ganze Team an den Gravitationsturm gefesselt. Grady versuchte, die Hände aus den Schlingen zu winden, zog diese dadurch aber nur fester zu.
«Sie sollten um himmlische Erlösung beten», hörte er die Stimme des Anführers.
Grady sah in der Nähe mehrere Männer mit Gasmasken schweigend Leitungsdrähte an Zweihundert-Liter-Chemikalienfässern befestigen, die, durch Drähte miteinander verbunden, auf dem Fußboden standen. Sie sahen aus wie riesige Batterien. «Was soll das? Was ist das?»
Der Mann namens Cotton trat in sein Blickfeld und kniete sich vor ihm hin. «Dreißigprozentiger Ammoniumnitratdünger, vermischt mit Benzin.» Als Grady ihn verständnislos ansah, sagte er: «Es ist ein Bombe, Jon Grady – mit genügend Sprengkraft, um dieses ganze Gebäude dem Erdboden gleichzumachen. Um Ihre Teufelsmaschine zur Hölle zu schicken, dorthin, wo sie herkommt. Samt ihren Erbauern.»
Alcots Stimme antwortete: «Leute wie Sie zerren uns immer wieder ins finstere Mittelalter zurück.» Er war doch wach.
Cotton sah den alten Mann an. «Finster ist das, was Sie und Ihresgleichen über uns bringen, Dr. Alcot. Technologischer Fortschritt bringt der Menschheit keine Antworten – nur Schuld, wenn wir Gott spielen … und scheitern. Die Erde zur Hölle machen – diese Erde, die er uns anvertraut hat.»
«Und Sie? Spielen Sie nicht Gott? Indem Sie entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss? Mord ist eine Todsünde.»
«Nicht wenn er zur Verteidigung der göttlichen Schöpfung geschieht.» Cotton sah die Männer mit den Gasmasken an, die die Sprengladungen vorbereiteten. Die Männer nickten, waren offenbar so weit.
Cotton drehte sich um und riss lächelnd ein Streichholz an einer Rohrverbindung an. Es entzündete sich mit einem Rauchwölkchen. Er hielt es ans Ende einer Zündschnur, die Funken zu sprühen begann. «Du sollst sie zerstreuen, dass sie der Wind wegführe und der Wirbel verwehe. Du aber wirst fröhlich sein über den Herrn und wirst dich rühmen …» Er sah sie an. «Das Gericht ist nahe. Eure Körper werden zur Erde zurückkehren. Ob eure Seelen in die ewige Pein eingehen werden, liegt bei euch. Nutzt die Zeit, die euch noch bleibt, um euer Schicksal zu bestimmen.»
Cotton ging auf die große altertümliche Videokamera zu, die jetzt auf einem Stativ saß. Ihr rotes Licht leuchtete, und den selbstgebastelten Funkantennen nach zu schließen, sendete sie die Aufnahmen nach draußen. Das ganze Equipment sah alt aus. Das ergab doch alles keinen Sinn. Es war, als wären diese Männer ein militanter Amish-Ableger, der für sich den technologischen Stand der mittleren 1980er Jahre als gerade noch zulässig erachtete.
Cotton rief in die Kamera: «Der Tag des Herrn kommt grausam, zornig, grimmig, das Land zu verstören und die Sünder daraus zu tilgen! Denn ein Feuer wird angehen durch seinen Zorn und wird brennen bis in die unterste Hölle! Dies ist sein Gericht über die, die gegen die Schöpfung verstoßen!»
Auf diese Worte hin verschwanden seine Leute schleunigst. Cotton drehte sich in der Tür noch ein letztes Mal um und zuckte fast schon bedauernd die Achseln, ehe er hinausging.
Grady sah ihm kurz nach, verblüfft über diese Abschiedsgeste, doch ein Blick auf die sprühende Zündschnur trieb ihn dazu, wieder an seinen Fesseln zu zerren. Sie schnitten nur noch tiefer in seine Handgelenke.
Marrano neben ihm weinte leise. «Nicht. Bitte nicht.»
Alcots müde Stimme sagte: «Das nützt nichts, Jon.»
Grady blickte die Zündschnur entlang, und ihm wurde klar, wie kurz sie war. Kein halber Meter mehr, es sei denn, da war noch ein Stück, das er nicht sehen konnte. Schwer zu sagen, wie viel Zeit ihnen noch blieb – kein Grund also, jetzt schon aufzugeben. «Bert. Können Sie die Hände freibekommen?»
Alcot schüttelte traurig den Kopf. «Tut mir leid, dass Sie nicht mehr dazu kommen werden, diesen Triumph zu genießen.»
«Wir kommen hier raus. Nicht aufgeben», rief Grady. «Kriegt jemand eine Hand los?»
Lums verängstigte Stimme kam von der anderen Seite des Turms. «Nein. Ich kann nichts machen, Jon.»
«Ich auch nicht!»
«Himmelherrgott! Hat jemand ein Schweizer Messer oder so was? Oder ein Handy?»
Johnsons Stimme kam von der anderen Seite. «Sie haben uns alles abgenommen …»
Die Gefangenen schwiegen, horchten auf das Knistern der Zündschnur.
Alcot lachte wehmütig. «Aber wir haben es geschafft. Haben wir doch, Jon? Wir haben einen Blick hinter die Kulissen des Universums geworfen.»
«Ja. Ja, haben wir.» Grady nickte, während er die Umgebung nach irgendetwas absuchte, das sie retten könnte.
«Wir hätten wahrscheinlich den Nobelpreis bekommen. Jetzt wird eines Tages jemand anders diese Entdeckung machen …» Alcot sah wieder zu Grady hinüber. «Immerhin wissen wir, dass wir die Ersten waren.»
Grady nickte. Das Feuer an der Zündschnur hatte jetzt beinah die Oberseite des ersten Fasses erreicht. Wenn da nicht noch mehr Lunte war, würde es nicht mehr lange dauern. Nur noch Sekunden.
«Jon?»
«Ja, Bert?»
«Adieu.»
«Adieu, Bert.»
Das Zündfeuer verschwand im Fass, und weißes Licht verschluckte Grady.
Er fühlte nichts mehr.
Jon Grady merkte, dass er sich in einer schicken Büroetagen-Lobby hoch oben in einem Gebäude einer ihm fremden City befand. Der Blick aus dem Fenster war spektakulär: moderne Wolkenkratzer auf einer Uferebene. Es war ein wunderschöner Tag.
Was zum Teufel?
Grady stellte fest, dass er auf einem modernen Stuhl in einer Reihe von freien Stühlen desselben Modells in einer Art Warteraum saß. Er trug seinen einzigen Anzug, Slipper und seinen Glücksschlips – mit einem Muster aus Heliumatomen. Er sah sich in einer Spiegelwand vis-à-vis. In diesem Outfit war er vor drei Jahren zu einem Vorstellungsgespräch für ein Forschungsstipendium gegangen – das letzte Mal, das er einen Anzug angehabt hatte. Libby hatte ihm beim Aussuchen geholfen. Hatte ihm geholfen, normal auszusehen. Sein Haar war jetzt auch wieder kurz geschnitten, und er war glatt rasiert.
Grady durchsuchte seine Taschen und fand nur einen Zettel, auf dem in Libbys ordentlicher blauer Tintenschrift «Viel Glück! :)» stand.
Was geht hier vor?
Ein gut aussehender junger Mann hinter einem Rezeptionstresen nickte ihm zu. «Mr. Hedrick wird Sie nun empfangen, Mr. Grady.»
Grady sah ihn unsicher an. Die gesellschaftlichen Konventionen verlangten, dass er jetzt aufstand. Doch er hob nur den Zeigefinger. «Äh … Augenblick.»
«Kann ich Ihnen ein Glas Wasser oder einen Kaffee bringen?»
Grady atmete tief durch. «Nein, danke. Es ist nur … ich war gerade noch …» Er suchte nach möglichen wissenschaftlichen Erklärungen. Er hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war. Eben noch war er an eine Bombe gefesselt gewesen. War das hier eine Halluzination? Die Abschiedsvorstellung der sterbenden Neuronen seines Gehirns? Zeit war schließlich relativ. Vielleicht passierte das hier ja im Moment seines biologischen Todes?
Er sah sich um. Es wirkte alles ziemlich echt.
«Alles in Ordnung, Mr. Grady?»
Er war sich nicht sicher. «Ich habe den Verdacht, dass ich gerade sterbe.»
«Bitte?»
Der junge Mann drückte einen unsichtbaren Knopf. Eine zweiflügelige Tür öffnete sich und gab den Blick in eine riesige, luxuriöse Bürosuite frei.
«Gehen Sie nur rein.» Der junge Mann lächelte freundlich. «Ich lasse Ihnen etwas Wasser bringen.»
Grady nickte im Aufstehen. «Danke.» Er atmete noch mal tief durch, ging zu der Tür und betrat das opulenteste Büro, das er jemals gesehen hatte. Durch die riesenhohe Fensterfront gegenüber hatte man einen grandiosen Blick, und Grady erkannte jetzt eindeutig den Sears Tower oder Willis Tower oder wie auch immer das Ding heutzutage hieß. Chicago. Er war in Chicago. Er erinnerte sich, dass er vor Jahren in Chicago vor einem Vergabeausschuss vorgetanzt hatte. Aber nicht in Räumlichkeiten wie diesen.
Das Büro, in dem er jetzt stand, hätte problemlos als Hangar für Kleinflugzeuge dienen können. Es hatte rechts und links jeweils mehrere geschlossene Türen. Eine zehn Meter hohe Decke und moderne Wurzelholzwände – eine davon mit einem großen eingravierten Emblem, einem Rund mit der Silhouette eines menschlichen Kopfs und darin einem Baum, so verästelt wie die Dendriten im menschlichen Gehirn. Die Inschrift am oberen Rand bildeten die Lettern «BTC», die am unteren der lateinische Spruch «Scientia potentia est».
Wissen ist Macht.
Direkt unter dem Emblem stand ein gepflegter, gut aussehender Weißer in den Fünfzigern hinter einem mächtigen modernen Schreibtisch mit allerlei exotischen Souvenirs darauf – komplizierten viktorianischen Uhren, mechanischen Spielereien, raffinierten Skulpturen, die auf biologische Formen verwiesen, und einer überdimensionalen in Glas eingegossenen DNA-Doppelhelix. Der Mann trug gutgebügeltes Business Casual. Hinter und über ihm zeigten große transparente LCDs ein Farbenspiel von stummen Videobildern und digitalen Weltkarten. Die Displays wirkten unglaublich dünn, die Bilder darauf leuchtend und hyperrealistisch.
Der Mann winkte seinen Besucher heran. «Mr. Grady, wie schön, Sie endlich persönlich zu treffen. Ich habe so viel über Sie und Ihre Arbeit gelesen, dass ich das Gefühl habe, Sie schon zu kennen. Bitte setzen Sie sich. Können wir Ihnen irgendetwas anbieten?»
Grady stand immer noch sieben Meter von ihm entfernt. «Äh, ich … ich versuche gerade zu verstehen, was läuft.»
Der Mann nickte. «Es kann verwirrend sein, ich weiß.»
«Wer … wer sind Sie noch mal? Warum bin ich hier?»
«Mein Name ist Graham Hedrick. Ich bin der Direktor der Bundesbehörde für Technologiekontrolle. Ich möchte Ihnen gratulieren, Jon – ich darf Sie doch Jon nennen?»
Grady nickte zerstreut. «Klar. Ich … Moment. Bundesbehörde wofür?»
«Technologiekontrolle. Federal Bureau of Technology Control. Wir haben Ihre Arbeit mit großem Interesse verfolgt. Antigravitation. Das ist wirklich eine gewaltige Leistung. Eine einzigartige Leistung, kann man schon sagen. Wahrscheinlich die wichtigste Innovation der Moderne. Sie haben allen Grund, stolz zu sein.»
Eine Männerstimme direkt rechts von ihm ließ Grady zusammenschrecken. «Ihr Wasser, Mr. Grady.»
Grady sah neben sich einen humanoiden Roboter stehen – ein anmutiges Geschöpf mit weichen, gummiummantelten Fingern, der Körper von einer Schale aus weißem Kunststoff umgeben. Das Gesicht bestand nur aus wunderschönen, sanft leuchtenden turmalinblauen Augen. Die ihn erwartungsvoll ansahen.
In der Hand des Roboters bemerkte Grady ein Glas Wasser. «Oh …» Er nahm es ihm vorsichtig ab und hielt es mit immer tauberen Fingern.
Hedrick beobachtete ihn genau. «Sie sollten sich wirklich setzen, Jon. Sie sehen nicht wohl aus.»
Grady nickte und steuerte einen Stuhl vor dem mächtigen Schreibtisch an.
Mit der Grazie eines Pumas trat der Roboter ein Stück beiseite. «Vorsicht, Stufe, Sir.»
«Danke.» Sobald Grady saß, kippte er das Wasser in sich hinein und sah sich dabei nervös um.
Hedrick hob beruhigend die Hand. «Langsam. Ich weiß, es kann ein ganz schöner Schock sein. Wir hätten Ihnen ja ein Beruhigungsmittel verabreicht, aber es ist wichtig, dass Sie bei diesem Gespräch im Vollbesitz Ihrer geistigen Kräfte sind.»
Grady trank den letzten Rest Wasser und atmete tief durch. «Wo bin ich? Was zum Teufel geht hier vor?»
«Sie hatten gerade ein traumatisches Erlebnis, ich weiß. Es ist nie angenehm, aber geboren zu werden ist auch nicht angenehm. Und doch ist beides nötig, um zu Höherem voranschreiten zu können. Und vor allem – es ist jetzt vorbei. Und Sie sind hier bei uns.»
Grady sah auf seine Uhr. Die, die er vor Jahren verloren hatte. Die Ziffern glommen in einem vertrauten Spektralbereich. Sie zeigten an, dass seit dem Vorfall im Labor kaum Zeit vergangen war. Höchstens ein paar Minuten. «Meine alte Uhr. Ich … Was –»
«Zeit ist nicht von Bedeutung, Jon.»
«Das hier ist Chicago. Zweitausend Meilen von meinem Labor. Aber … es ist hell draußen.»
Hedrick nickte mitfühlend. «Beunruhigt Sie das? Hier …» Er gestikulierte mit beiden Händen, und mitten in der Luft erschien etwas, das wie ein holographisches Kontrollboard aussah. Er tippte ein paarmal darauf, und die Aussicht durchs Fenster verwandelte sich in eine unheimlich realistische Projektion von New York bei Nacht, mit Blickrichtung uptown zum Empire State Building. Um die Illusion vollkommen zu machen, gingen die Lampen im Büro augenblicklich an. «So besser?»
Grady starrte verständnislos aus dem Fenster. Es wirkte alles absolut real. «Was zum Teufel ist das hier?»
«Ich sagte es doch, Jon. Das hier ist das Bureau of Technology Control – das BTC. Aufgabe unserer Bundesbehörde ist es, die Entwicklung vielversprechender Technologien im In- und Ausland zu beobachten und deren soziale, politische, ökologische und ökonomische Folgen abzuschätzen. Ziel ist die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung.»
«Die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung.»
«Wir regulieren Innovation. In technologischer Hinsicht ist die Menschheit nämlich weiter fortgeschritten, als Sie ahnen. Die Natur des Menschen aber ist im Mittelalter steckengeblieben. Die BTC ist eine Sicherungsvorkehrung gegen die schlimmsten Impulse der Menschheit.»
Grady drehte sich um und sah, dass sich die Bürotür weit hinter ihm geschlossen hatte. Der Roboter stand gehorsam da und quittierte seinen Blick mit einem Nicken.
Hedrick, der jetzt um den Schreibtisch herumkam, fuhr fort: