Kill Decision - Daniel Suarez - E-Book
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Kill Decision E-Book

Daniel Suarez

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Beschreibung

Sie leben nicht. Aber sie töten. Blutiger Drohnenangriff auf eine Pilgerstätte im Irak. Ein weiterer Angriff trifft eine kalifornische Universität. Die Biologin Linda McKinney ahnt nichts davon: Sie erforscht gerade eine besonders aggressive Spezies afrikanischer Ameisen, als sie mitten im Dschungel gekidnappt wird. Ihr Entführer heißt Odin, und er hat ihr offenbar das Leben gerettet. Wer sind die Mächte, die Lindas Forschungen zur Schwarmintelligenz unterdrücken wollen? Während sich in den USA grauenhafte Bombardements häufen und in den hintersten Winkeln des Planeten Millionen fliegender Tötungsmaschinen vom Band laufen, macht sich das Team um Odin und McKinney daran, die Menschheit vor der Vernichtung durch ihren eigenen technologischen Fortschritt zu retten … Der neue Roman vom «Jules Verne des digitalen Zeitalters» (Frank Schirrmacher): visionär, verstörend, einzigartig. «Eine exemplarische Spitzenleistung eines kaum analysierten Genres. Übertreibung braucht Suarez kaum.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung) «Mit diesem perfekten Mix aus nervenzerfetzender Spannung und verständlicher Wissenschaftlichkeit etabliert sich Daniel Suarez in diesem spannenden Thriller als der legitime Erbe von Michael Crichton.» (Publishers' Weekly) «Ein souverän geschriebener Thriller, bei dem wir uns am Ende nicht fragen, ob diese Fiktion eines Tages Wirklichkeit wird, sondern wann.» (Kirkus Reviews) «Dieser Roman ist näher an der Wirklichkeit, als die meisten Menschen glauben.» (Wired)

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Seitenzahl: 589

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Daniel Suarez

Kill Decision

Thriller

Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Motto1 Bumerang2 Vorbefehl3 Raconteur4 Angriffserkennung5 Omen6 Weckruf7 Die Activity8 Im Einsatz verschollen9 Beeinflussungsoperationen10 Dekonfliktualisierung11 Auge am Himmel12 Im Untergrund13 Vertraulich14 Schlaflos15 Regelkreis16 Schadensbegrenzung17 Safari-eins-sechs18 Feuersturm19 Nachbereitung20 Unterschlupf21 Kriegsmaske22 Zuflucht23 Kollateralschaden24 Myrmidonen25 Persona-Management26 Der Puppenspieler27 Machbarkeitsnachweis28 Brutkammer29 Improvisation30 Der Schwarm31 Sturmernte32 Der gewonnene SohnAnhangWeiterführende LiteraturDank
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Die erste Wahrheit

Menschen sind wichtiger als Material

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1Bumerang

Aus achttausend Fuß Höhe wirkten die Rettungskräfte, die um das Wrack einer Autobombe herumwuselten, wie aufgeregte Ameisen. Eine MQ-1-Predator-Drohne zoomte auf Nahaufnahme. Ein Marktplatz, übersät mit Trümmern und Körperteilen. Blutgetränkter, verbrannter Boden füllte das Videofenster. Die Sterbenden und Verwundeten streckten Hilfe suchend die Hände aus, vollkommen stumm.

«Death TV», so nannten die Techs den Live-Videofeed der amerikanischen Flotte unbemannter Predator-, Global-Hawk- und Reaper-Drohnen. Via Satellit wurden die Bilder auf zehn große HD-Bildschirme übertragen, die in gleichmäßigen Abständen von den Dachbalken des schummrigen Großraumbüros der US Air Force in Hampton, Virginia, hingen. Distributed Common Ground System-1, wie die Einrichtung offiziell hieß, war von den Orten auf den meisten dieser Bildschirme etliche Zeitzonen entfernt. Hier war es zwei Uhr morgens.

Die Feeds zu verfolgen war die Aufgabe junger Air-Force-Gefreiter, die in Sechsergruppen vor den Monitorwänden saßen und in Reaktion auf das, was sie dort sahen, auf Computertastaturen herumklapperten, beaufsichtigt von hinter ihnen patrouillierenden Unteroffizieren, die wiederum von Offizieren überwacht wurden wie Pit-Bosse und Floor-Manager in einer makaberen Art von Casino.

An seiner Workstation im Halbdunkeln blickte der sechsundzwanzigjährige First Lieutenant Anthony Jordan gelegentlich hoch, um die Stimmungslage der Welt da draußen zu taxieren. Wie es aussah, würde dies ein ziemlich typischer Tag werden: sporadische Gewalt.

Zwischen den Kontrollblicken tippte Jordan Meldungen in ein Chat-Fenster, die an ein Civil-Affairs-Team der Army in der US-Botschaft gingen – Grüne Zone von Bagdad, nur ein paar Meilen vom Ort der Autobombenexplosion entfernt. Gleichzeitig verfolgte er Chat-Threads zweier weiterer operativer Einheiten vor Ort auf dem Bildschirm und Satellitenfunkgespräche über sein Headset, während sein Telefon in regelmäßigen Abständen blinkte. Er spürte jemanden in seinem Rücken, und ein Blatt Papier glitt von links in sein Gesichtsfeld. Ohne aufzuschauen, sagte er: «Lazzo, Mann, wozu gibt es Sofortnachrichten? Sie reißen mich aus meinem Work-Flow.»

Technical Sergeant Albert Lazzo beugte sich von rechts heran. «Dringend, Sir.»

«Hm …» Jordan zeigte auf das Blutbad auf dem großem Bildschirm. «Da muss es schon damit mithalten. Ich höre.»

Lazzo patschte auf das Blatt Papier. «AWACS hat ein unbekanntes Objekt auf dem Radar, südlich von Kerbela. Sie wollen, dass wir einen Blick drauf werfen.»

Jordans Finger klapperten über die Tastatur. «Schicken Sie mir die genaue Zielinformation rüber, dann werde ich schauen, was ich tun kann.»

«Heute ist das Aschura-Fest, Lieutenant.»

«Müsste mir das was sagen?»

Mit dem Seufzen des kompetenten Untergebenen sagte Lazzo: «Da veranstalten eine Million schiitische Pilger eine Trauerprozession zum Gedenken an das Martyrium Hussein ibn Alis, des Mohammed-Enkels, in der Schlacht von Kerbela. Der Pilgerzug ist schon öfter von militanten Sunniten angegriffen worden, und jetzt haben wir ein unbekanntes Flugzeug im Anflug.»

«Ah … okay …» Stirnrunzelnd tippte Jordan die Antwort an eine Aufklärungseinheit zu Ende. «Was wissen wir?»

«Erstmals auf dem Schirm drei Kilometer westlich von Al Hiyadha. Höhe zwo-null, Geschwindigkeit 200 Knoten, Steuerkurs drei-fünf-null.» Lazzo studierte den Ausdruck. «Eine einmotorige Maschine vielleicht. Schmuggler oder lokale VIPs. Aber …»

Die Civil-Affairs-Leute hatten Jordan über die sensiblen Punkte seines Sektors gebrieft. Wenn er sich recht erinnerte, gehörten der Imam-Hussein- und der Al-Abbas-Schrein zu den heiligsten Stätten der Schia-Richtung des Islam – sprich, einer Viertelmilliarde Menschen.

Lazzo hielt ihm wieder den Computerausdruck hin. «Laut Geeks haben Sie die Hecknummer, die am nächsten dran ist, Sir.»

«Okay, gut. Gut.» Jordan griff sich den Ausdruck und klickte auf einen der drei LCD-Monitore auf seinem Tisch. Er öffnete GCCS, das Globale Kommando- und Kontrollsystem, das die Echtzeitpositionen sämtlicher im Einsatz befindlichen befreundeten Truppen anzeigte.

Er scrollte die Kartenansicht seines Sektors und notierte die Hecknummer seiner Predator-Drohne, die am nächsten bei dem Radarkontakt war. Dann klickte er sich durch einen weiteren Screen, um eine verschlüsselte Satellitenfunkverbindung zu den Drohnen-Operatoren in Nevada herzustellen. «Kodar drei, Kodar drei. Wir haben einen unbekannten Radarkontakt, langsam und sehr tief. Kennung eins-null-sieben, bitte derzeitiges Ziel aufgeben und südwärts halten. Checken Sie Ihren Feed. Hauptkontrollraum Ende.» Er tippte die AWACS-Info und die MGRS-Zielkoordinaten in ein Chat-Fenster, adressiert an den Chat-Namen des Piloten. Er wartete.

«Verstanden, Hauptkontrollraum. Halten auf Planquadrat drei-acht, Sierra, Mike, Bravo, eins-zwei-drei-neun-null-acht-null-acht.»

Jordan und Lazzo blickten auf den großen Bildschirm über ihnen, wo jetzt statt des Orts der Autobombenexplosion eine ganz andere Szenerie erschien – ein flacher, gelbbrauner Horizont. Im Irak war es acht Stunden später, Vormittag, und der Horizont neigte sich nach rechts, als Hecknummer eins-null-sieben in neuntausend Fuß Höhe über der braunen Stadt Kerbela nach links schwebte. In dieser Höhe würde die Drohne vom Boden aus nicht zu hören und bei oberflächlichem Hinschauen auch praktisch nicht zu sehen sein.

Jedes Predator-System bestand aus einem Piloten, dessen Sensor-Operator und vier separaten Predator-Drohnen, die die beiden von einem klimatisierten Militärcontainer aus – in diesem Fall auf der Creech Air Force Base nahe Las Vegas, Nevada – kontrollierten. Sie führten dort in Zwölf-Stunden-Schichten sogenannte Reachback-Operationen durch und fuhren dann zum Frühstück in ihr Vorortzuhause. Die Desorientierung, über die sich Predator-Teams infolge solcher Fernoperationen hin und wieder beklagten, kannte Jordan aus eigener Erfahrung. Es war schwer, einen Kampfrhythmus aufrechtzuerhalten, wenn man in einem Laden stand und ein Slurpee kaufte, nachdem man eben noch an einem weit entfernten Punkt der Erde fünf Aufständische in den Tod befördert hatte. Man konnte leicht vergessen, dass das alles irgendwo ganz real passierte und kein superhochauflösendes Computerspiel war. Es gab psychologische Betreuung speziell dafür, aber die in Anspruch zu nehmen schien ihm nicht besonders karrierefördernd.

Jordan überwachte weiter konzentriert mehrere Bildschirme gleichzeitig.

«SO, wir haben einen Kurswechsel von vierzig Grad.»

«Hier Sensor, verstanden.»

Plötzlich schaltete sich eine Stimme von weiter oben in der Befehlskette ein. «Kodar drei, hier Sentinel. Benennen Sie Waffenausstattung.»

Es hörten also noch andere mit. Für Jordan unterstrich das nur, wie heikel Operationen über den durch Kerbela ziehenden Schiitenmassen waren. Offiziell hatten die US-Streitkräfte das Land verlassen – eine Darstellung, die die immer noch dort befindlichen US-Soldaten stinksauer machte. Diese Drohnen waren in der Luft, um nach Problemen Ausschau zu halten und Aufklärungsergebnisse an die irakische Armee weiterzugeben. Und Lazzo hatte recht: Die Aschura-Feierlichkeiten waren bereits Angriffsziel militanter Sunniten gewesen.

«Sentinel, wir sind Winchester.»

Unbewaffnet. So nah bei den Schreinen war ihnen das verdammt noch mal auch zu raten.

«Kodar drei, Sie können weitermachen. Sentinel Ende.»

«Verstanden, Sentinel. Hauptkontrollraum, wir sind auf Position, Kurs eins-sieben-acht. Pilot Ende.»

Sie sahen zu, wie das Optics-Package auf die Route 9 einzoomte, den breiten, staubigen Boulevard, der sich, rissig, sonnenversengt und schnurgerade, südwärts durch die Stadt zog. Die von heruntergekommenen Wohnblocks gesäumte Straße war gerammelt voll mit zigtausend Pilgern. Jordan pfiff durch die Zähne. «Da ist ja was los.» Er schaltete sein Mikro ein. «Pilot, halten Sie weiter Kurs Süd, dann müssten Sie dieses unbekannte Flugzeug gleich haben.»

«Wilco.»

«Da.» Technical Sergeant Lazzo zeigte mit einem Taschen-Laserpointer auf den großen Bildschirm, aber es war auch so nicht zu übersehen.

«Hauptkontrollraum, wir haben das unbekannte Flugzeug visuell erfasst. Es ist ein Zyklop – wiederhole, Zyklop –, Steuerkurs drei-fünf-acht. Hat wahrscheinlich einen verbogenen Papagei.»

Jordan sah die unverkennbaren Umrisse einer amerikanischen Drohne, die in nicht mal zweitausend Fuß Höhe nordwärts schnurrte. Was zum Teufel? «Kodar drei, haben den Zyklopen. Designieren Sie den Zyklopen als Ziel eins. Verfolgen Sie Ziel eins und beschaffen Sie mir seine Kennung.»

Lazzo hob die Augenbrauen.

«Hier Pilot. Verstanden.»

«Hier Sensor. Verstanden.»

Lazzo zuckte die Achseln. «Eine Drohne von uns mit defektem Transponder.»

Jordan musterte den Bildschirm. «Aber wie zum Teufel ist sie dort hingekommen? Und warum wird sie nicht im Blue Force Tracker angezeigt? Das ist doch schließlich eine Reaper.» Jordan starrte auf das High-Definition-Video einer grauen amerikanischen MQ-9-Reaper-Drohne, die immer noch über der Straße nordwärts flog. Optisch der propellergetriebenen MQ-1-Predator ähnlich, war die Reaper anderthalbmal so groß und auf eine wesentlich höhere Waffenlast ausgelegt. Diese hier flog so tief, wie keine Drohne – und schon gar keine Reaper – fliegen sollte. Hatte sie Triebwerksprobleme?

«Hauptkontrollraum, Ziel eins hat das Air-Force-Emblem, aber kein sichtbares Kennzeichen. Wiederhole, kein sichtbares Kennzeichen.»

«Verstanden, Kodar drei.» Jordan wechselte den Funkkanal. «Sentinel, hier Hauptkontrollraum, Achtung. Wir haben visuellen Kontakt zu einem Zyklopen mit defektem Transponder und ohne sichtbares Kennzeichen über Kerbela, langsam und sehr tief, Steuerkurs drei-fünf-fünf. Flug ist nicht registriert. Keine Daten über diesen Flug. Erbitte Anweisung.»

Der Funk- und IM-Verkehr intensivierte sich rapide, und Jordan murmelte, während er an seinem Telefon eine Hausverbindung wählte, Lazzo zu: «Ich dachte, die CIA lässt diesen Cowboy-Scheiß inzwischen bleiben.»

Lazzo musterte immer noch den großen Bildschirm. «Aber AWACS hat doch wohl beim JSOC nachgefragt, ehe sie uns Bescheid gegeben haben.»

Einen Finger am Headset-Schalter, wartete Jordan auf Antwort. «Na ja, irgendwessen Drohne muss es ja sein, und sie kann doch nicht einfach in der Gegend herumfliegen, ohne dass es jemand weiß.»

«Das Ding ist bis an die Zähne bewaffnet.»

Als die Optik auf die Reaper einzoomte, konnte Jordan erkennen, dass die Hardpoints unter den Tragflächen mit einem vollen Satz von vierzehn AGM-Hellfire-Raketen bestückt waren. Unten am Boden zeigten Tausende schwarz- und weißgewandete Pilger mit dem Finger hinauf, als die Schatten der Tragflächen über sie hinwegglitten.

«Verdammter Mist.» Er sah Pilger in der Menge die Drohne mit Video- und Handykameras filmen. «Das kommt garantiert demnächst auf Al Jazeera.»

In diesem Augenblick betrat ein hochgewachsener, streng aussehender Air Force Colonel im Kampfanzug Jordans Arbeitsabteil. «Was zum Teufel ist da los, Lieutenant?»

Jordan stand auf und salutierte ebenso wie Sergeant Lazzo. «Colonel, Sir. Unbekannte Reaper über Kerbela. Keine Freund-Feind-Erkennung. Kein Kennzeichen. Wir versuchen noch, sie zu identifizieren.»

Der Colonel zeigte auf Lazzo. «Rufen Sie die CIA an und finden Sie heraus, warum zum Teufel ich nichts davon weiß.» Dann schaute er, wie inzwischen auch mehrere andere Techs, auf den großen Bildschirm. «Das verstößt gegen ein halbes Dutzend Luftraumbeschränkungen, und ich will meinen Kopf nicht dafür hinhalten. Wo ist sie jetzt?»

«Etwa drei Kilometer südlich des Imam-Hussein- und des Al-Abbas-Schreins.»

«Wie konnte sie unbemerkt so weit kommen?»

«Keine Ahnung, Sir. AWACS hat uns erst vor ein paar Minuten alarmiert.»

«Finden Sie heraus, wer diese Drohne kontrolliert.»

Jordan griff zum Telefon und sah Lazzo an, der nur verwirrt die Achseln zuckte, während er sich ebenfalls ein Telefon schnappte.

Vor den Augen des Colonels und umsitzender Air-Force-Leute rotierte die Ansicht auf dem Bildschirm. Die Predator blieb hinter der schnelleren, leistungsstärkeren Reaper-Drohne zurück. Voraus glänzten jetzt die goldenen Kuppeln der Zwillingsschreine im Sonnenlicht. Hunderttausende Pilger füllten die quadratischen Plätze um die Heiligtümer. Die Reaper war eine Silhouette im tiefen Anflug, wie eine Hornisse.

Die Stimme des Predator-Piloten kam über die Intercom. «Hauptkontrollraum, Achtung. Ziel eins scheint offensiv zu manövrieren. Sie beleuchtet den Schrein. Wiederhole, Zyklop beleuchtet den Schrein.»

Jetzt standen alle und starrten auf den Bildschirm. Jordan ließ den Telefonhörer sinken. «Welchen Schrein lasert sie an?»

«Könnte der Zielstrahl für eine Rakete sein.» Der Colonel wandte sich Jordan und Lazzo zu. «Geben Sie mir das verdammte Telefon.»

Lazzo schüttelte den Kopf. «Die CIA sagt, es ist nicht ihre Drohne, Colonel.»

«Bullshit!»

In diesem Moment schoss eine Hellfire-Rakete in einer Rauchwolke unter der linken Tragfläche der Reaper hervor und jaulte im Bogen aufwärts. Eine ganze Sektion des DCGS-1-Personals verfolgte erschrocken, wie die Rakete hochzog und dann plötzlich auf den Imam-Hussein-Schrein runterschwenkte. Inzwischen hatten noch zwei weitere Raketen ihre Bogenbahn eingeschlagen.

«Hauptkontrollraum, Achtung. Sehr schnelle Einzelschusssequenz.»

Lazzo rief es laut aus: «Raketenbeschuss!»

Jordan konnte nicht fassen, was er da sah. Während er mit weitaufgerissenen Augen auf den Bildschirm starrte, erfasste die Optik der Predator die dichtgedrängte Menschenmenge auf dem Platz. Die erste Rakete schlug ein und schickte eine sichtbare Schockwelle durch die Luft, dann quoll ein Feuerball empor, der eine noch gewaltigere Schockwelle durch die Menge jagte, sie zerstieben ließ. Teile menschlicher Körper flogen in alle Richtungen.

«Lieutenant!» Der Colonel wandte sich an Jordan. «Neue Situation. Schießen Sie diese Drohne ab! Abschießen!»

Jordan kam zur Besinnung und rief schleunigst AWACS an. «Bandsäge-eins-sechs. Bandsäge-eins-sechs, Sprint! Sprint! Sprint!»

Noch während er das sagte, sah er die restlichen Raketen aus den Tragflächen-Hardpoints der Reaper zischen und breit verteilt auf die Pilger hinabregnen.

Der Colonel und die meisten im Raum starrten ungläubig auf den Bildschirm. Sie hatten auf «Death TV» schon entsetzliche Dinge gesehen, aber das hier sprengte alle Dimensionen.

Lazzo verfolgte, wie die Explosionen lautlos Löcher in die Menge rissen. «Die Schweine benutzen thermobare Ladungen. Wie konnten sie …» Seine Stimme verlor sich, während sich mehrere Techs um ihn herum die Hand vor den Mund schlugen.

Die Optik der Predator wanderte über das Gedränge, das wie ein aufgewühlter Ozean brodelte, als die Menschen dem Blutbad zu entfliehen versuchten und sich in ihrer Panik gegenseitig niedertrampelten. Einige DCGS-Leute schrien vor Empörung auf.

«Hauptkontrollraum, empfehle sofortige Zerstörung von Ziel eins.»

Der Colonel schien kurz vor dem Platzen – sein Gesicht war knallrot angelaufen, und seine Augen glühten.

«Sir, es sind Falcons im Anflug. In drei Minuten müssten sie dort sein.»

«Der verdammte Schaden ist ja wohl schon angerichtet, junger Mann! Ich will, dass diese Drohne zurückverfolgt wird, ich will wissen, wer dahintersteckt! Beschaffen Sie mir elektronische Aufklärungsergebnisse und finden Sie heraus, von wo aus das Ding gesteuert wird.»

Während über der Stadt Rauch und Flammen aufstiegen, sahen sie die Reaper abschwenken und noch tiefer hinabgehen – sie hatte ihre sämtlichen Raketen verschossen.

«Hauptkontrollraum, Ziel eins schwenkt auf neuen Steuerkurs … zwo-eins.»

«Kodar drei, hier Hauptkontrollraum. Verstanden.»

Jetzt sahen sie das lautlose Mündungsfeuer von Kleinwaffen in der Menge. Ihr eigener Beobachtungspunkt war immer noch mehr als eine Meile über der mysteriösen Reaper – die Predator war für die Menge dort unten sehr wahrscheinlich nach wie vor unsichtbar, aber die Reaper sahen Hunderttausende Menschen.

«Hauptkontrollraum, ich sehe Kleinwaffenfeuer vom Boden aus. Scheint, als ob die irakische Armee ihr Glück versucht.»

Plötzlich, über den Gassen der Altstadt von Kerbela, explodierte die Reaper – zerbarst in brennende Stücke, die, Rauchfahnen hinter sich herziehend, auf ein Dutzend Häuserblocks nahe den Schreinen hinabtrudelten.

Der Colonel sah Jordan an. «Was zum Teufel war das?»

Jordan schüttelte den Kopf. «Wir waren es nicht, Colonel. Die F-16 sind noch im Anflug.»

Der Colonel trat mit solcher Wucht gegen einen Stuhl, dass dieser umfiel und über den Boden schlitterte. «Verdammter Mist!» Er wandte sich wieder Jordan zu. «Rufen Sie die Jets zurück. Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, sind noch mehr bewaffnete Flugzeuge über diesem Desaster.»

Jordan blies den Einsatz ab und legte wieder auf. Dann blickte er wie jeder im Raum auf den Bildschirm, schockstumm angesichts der Ausmaße des Blutbads.

Die Optik der Predator schwenkte über die Tausende von Verletzten und Toten, Pilger in blutiger Kleidung, irakische Soldaten, die herbeieilten, um Verletzte zu bergen. Menschen weinten und rissen an ihren Kleidern und Haaren, wenn ihnen tote oder sterbende Angehörige aus den Armen gezogen wurden.

Jordan setzte sich wieder hin, innerlich taub. «Das wird tierischen Ärger geben …»

 

Henry Clarke erwachte bäuchlings auf seinem Bett, noch immer im schwarzen Castangia-Nadelstreifenanzug. Mit gerecktem Arm tastete er nach dem Telefon, das da irgendwo im schwachen Schein von Lade-LEDs vor sich hin klingelte. «Verdammt, wo …» Endlich entdeckte er sein Handy auf dem Nachttisch: Das Display glomm durch eine Cocktailserviette mit einer Handynummer und Lippenstiftspuren darauf. Er wischte die Papierserviette beiseite und griff sich das Gerät. «Ja?»

Pause.

Er setzte sich auf und knipste die Nachttischlampe an. «Shit. Ja, bin ich. Okay. Ja.» Er blickte sich um. «Jetzt?» Er sah auf seine Armbanduhr, nickte dann widerstrebend. «Okay. Alles klar. Ich komme runter.»

Zwei Minuten später öffnete Clarke, jetzt in Jeans mit darüber hängendem weißem Button-down-Hemd und barfuß, die rote Tür seines Townhomes in Georgetown. Eine streng aussehende, gutgekleidete Frau in den Fünfzigern kam seine Eingangsstufen herauf. Ein schwarzer Lincoln Town Car stand mit laufendem Motor in der zweiten Reihe. Der Fahrer und ein weiterer Mann im Anzug sahen der Frau nach. Sie bedeutete ihnen weiterzufahren und knurrte dann Clarke an: «Machen Sie, dass Sie wieder reinkommen, Henry, bevor Sie sich noch erkälten.»

Sie marschierte in die Diele, während Clarke die Tür zumachte. «Es ist drei Uhr morgens, Marta. Hätte das nicht noch ein paar Stunden Zeit gehabt?»

«Sie riechen nach Gin.» Sie schnupperte. «Und Parfüm. Sind wir allein?»

«Bis auf das Personal. Wundert mich, dass Sie das nicht auch riechen, bei Ihrer Nase.»

Sie wischte seine spitze Bemerkung mit einer Handbewegung weg, ging weiter und musterte dabei die hohen Stuckdecken, die Föderalstil-Möbel, die aufwendig verzierte Marmorkamineinfassung und die Kunst-Originale. «Ich hatte ganz vergessen, wie Sie hier wohnen. Ein bisschen konservativ für einen Mann in Ihrem Alter.»

Er steckte sein Hemd in die Hose. «Das Haus ist schon lange im Besitz meiner Familie. Erinnert mich an meine Mutter.»

«Ich hätte Sie nicht für den sentimentalen Typ gehalten. Aber bei den K-Street-Mädels wirkt so ein Ambiente zweifellos Wunder.» Sie war bereits in seinem Arbeitszimmer und ergriff die Fernbedienung. Sie schien den Grundriss des Hauses genau zu kennen.

«Wie schlimm ist es?» Er war in der Tür stehen geblieben.

Sie schaltete seinen Plasmafernseher an und zappte durch Satellitenkanäle. Blieb als Erstes auf BBC One. Horrorszenen aus Nahost füllten den Bildschirm. Blutgetränkte Straßen, aus der Luft gesehen. Die Laufschrift am unteren Rand verkündete: «US-Drohnenangriff auf Schiiten-Schrein – Tausende Tote und Verletzte.» Die Stimme der Nachrichtenmoderatorin erklärte: «… offizielle Stellungnahme, aber China, Russland und Staatschefs aus der gesamten muslimischen Welt verurteilen den Angriff aufs schärfste.»

Die Livebilder wurden jetzt von einem Amateurvideo abgelöst: Es zeigte eine tieffliegende Reaper-Drohne, die Raketen in die dichten Menschenmassen rings um die Schreine feuerte. Am Rumpf war deutlich das Stars-and-Bars-Emblem der US Air Force zu erkennen.

«Der Vorfall ereignete sich vor den Augen Tausender Pilger, die gerade durch die irakische Stadt Kerbela zogen. Obwohl das Pentagon jede Beteiligung der USA bestreitet, sprechen die von Einwohnern aufgesammelten Wrackteile mit US-amerikanischen Markierungen und Seriennummern eine deutliche Sprache. Viele Stimmen werten diesen Angriff als Vergeltungsakt für eine Serie tödlicher Terroranschläge in den USA – etwa das Bombenattentat, das vor einer Woche den Senator von Virginia, Aaron Arkin, und sechs seiner Mitarbeiter das Leben kostete. Ein Nahost-Diplomat bezeichnete die heutigen Geschehnisse als ‹blinden Rundumschlag gegen unsichtbare Angreifer.›»

«Heilige … was zum Teufel ist da passiert?»

«Haben Sie The Black Swan gelesen?»

«Ich habe den Film gesehen.»

Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick.

«Was?» Er zuckte die Achseln. «Ist doch nicht das erste Mal, dass die USA die Falschen bombardieren, Marta. Das ist ein Riesenbockmist, aber das versendet sich.»

«Nein. Diesmal ist es anders …» Sie schaltete weiter auf digitale Nachrichtenkanäle, von Al Jazeera über englischsprachiges russisches Fernsehen zu amerikanischen Cable News. Überall kamen Berichte über den Angriff. Aufnahmen von Verletzten, die in Wagen des Roten Halbmonds in Kliniken transportiert wurden. Schreiende Frauen und Kinder. Der größte Teil Amerikas lag noch im Schlaf und ahnte nichts von dieser jüngsten PR-Katastrophe. «US-Reaper-Drohne richtet Massaker unter schiitischen Pilgern an.» Oder krasser: «Das Imperium schlägt zurück.»

Eine Videoschleife zeigte auf die Stadt herabregnende glimmende Wrackteile, unterlegt mit dem endlos wiederholten Halbsatz des Reporters: «… unmittelbar darauf über der Stadt durch wutentbranntes irakisches Militär abgeschossen.»

Sie nickte vor sich hin. «Zerstört, klar. Aber die Chance, an die Wrackteile ranzukommen, ist marginal bis null.»

Er seufzte. «Ein schreckliches Versehen, aber die Aufregung legt sich wieder.»

Sie stellte auf stumm. «Es war kein Versehen. Das hier war ein Angriff auf die Vereinigten Staaten.»

Clarke sah sie verwirrt an.

«Es war keine Drohne von uns, Henry.»

Er ließ sich in einen Ohrensessel sinken. «Was heißt keine Drohne von uns? Wer besitzt denn sonst noch Reaper-Drohnen? Die Briten?»

«Das heißt, es war keine befreundete Reaper-Drohne.» Sie blickte taxierend auf den Bildschirm. «Möchte wissen, wie sie das Ding an unserem Radar vorbeigekriegt haben. Vielleicht wurde es ja von einer Wüstenstraße irgendwo in der Nähe gestartet. Gorgon Stare wäre da nützlich gewesen. Das ist ein Argument für die Mittelbewilligung, mit dem wir im Ausschuss operieren sollten. Notieren Sie’s.»

Clarke sah sich nach Papier und Stift um, gab es aber gleich wieder auf und musterte sie stirnrunzelnd. «Wollen Sie sagen, jemand hat eine Reaper kopiert?»

«‹Kopieren› wäre wohl kaum nötig gewesen. Fast die Hälfte unserer Reaper-Drohnen ist im Einsatz verloren gegangen – abgestürzt oder abgeschossen. Und nicht alle wurden geborgen. Auf den Schwarzmärkten kursieren alle möglichen Einzelteile.»

«Im Ernst?»

«Technologie verbreitet sich, Henry, das hat sie nun mal an sich. Deshalb ist ja permanenter Fortschritt so wichtig. Wir müssen immer einen Schritt voraus bleiben. Wir bekommen gerade eine wichtige Lektion erteilt.»

Er deutete mit dem Kinn auf den Fernseher, wo jetzt die Kamera über schreiende verletzte Kinder in einem Krankenhaussaal schwenkte. «Das könnte sehr schlecht für die Marke Amerika sein.»

«Ja, und deshalb ist es so wichtig, die Proliferation dieser Drohnen älteren Typs zu unterstützen. Sonst wird jedes Mal, wenn irgendwo ein vergleichbarer Drohnenangriff stattfindet, die Welt die USA dafür verantwortlich machen. Das darf so nicht weitergehen.»

Er betrachtete einen Moment den stummen Fernseher – die Endlosschleife mit der mysteriösen Drohne, die ihre Raketen abfeuerte. «Glauben Sie, dieser Angriff hat mit den Terrorakten hier in den Staaten zu tun?»

Sie antwortete mit einer Gegenfrage: «Welche Auswirkungen hat dieses Desaster auf unsere Kunden?»

Clarke verzog das Gesicht. «Ungute. Es wird die öffentliche Meinung über unbemannte Fluggeräte negativ beeinflussen.»

«Es sei denn, wir schaffen es, einen anderen Schuldigen zu präsentieren.»

«Wenn solche Bilder erst einmal zirkulieren, wird das nicht so leicht zu machen sein.»

«Überlassen Sie das mir. Sorgen Sie nur dafür, dass Ihre Leute in den Startlöchern stehen, um ihren mimetischen Zauber zu veranstalten.»

Sie starrten beide auf den Bildschirm, wo jetzt in Tücher gehüllte winzige Leichname durch eine wütende Menge getragen wurden.

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2Vorbefehl

Ein schwarzer Chinook MH-47 flog im Dunkeln eine Talflanke entlang. Bleiches Mondlicht, von den Gipfeln reflektiert, hob für einen Moment die Silhouette des großen Hubschraubers hervor, bevor dieser, zur Gefechtslandung ansetzend, steil ins Schwarz abtauchte. Während seines Manövers spie er alle paar Sekunden aus dem Heck grelle grünlich weiße Täuschkörper aus. Dann zog der Pilot den Bug des Hubschraubers hoch und schwebte auf eine verdunkelte, mit Satellitenschüsseln und Funkantennen gespickte vorgeschobene Einsatzbasis hinab. Der Helikopter drehte sich in einer Staubwolke um seine Längsachse und setzte dann gekonnt auf einer geschotterten Landezone auf.

Während die Turbinentriebwerke herunterfuhren, klappte die Heckrampe herab, und ein Dutzend schwerbewaffneter US-Army-Special-Forces-Soldaten mit schwarzen Schutzwesten und Gesichtsmasken kamen heraus. Mit sich zogen sie einen Gefangenen in dreckbespritztem Salwar Kameez und Chapan; er hatte eine Kapuze überm Kopf, und seine Hände waren im Rücken mit Plastikhandfesseln verschnürt.

Einer der Soldaten brüllte «Paatsezhey!» und stieß den Gefangenen vorwärts.

Die Gruppe bewegte sich rasch durch konzentrische Ringe von HESCO-Schutzwällen zum Zentrum des Camps, wo sich neben Fertigbaubaracken ein Antennenwald erhob. Lokale Kräfte in grünen Kitteln, die mit der Errichtung neuer Befestigungsanlagen beschäftigt waren, lehnten sich auf ihre Schaufeln und sahen den Männern nach.

Die Soldaten schoben ihren Gefangenen wortlos an bewaffneten Wachen vorbei in einen inneren Befestigungsring und zu einem mit NATO-Draht gesicherten ungekennzeichneten Gebäude. Ein Wachposten öffnete die Tür und ließ sie in einen Vorraum, wo weitere Wachen eine weitere Tür öffneten. Niemand sagte etwas oder salutierte auch nur, als die Gruppe rasch hindurchtrat.

Sofort schloss sich die Tür hinter ihnen, und sie standen in einem spartanisch wirkenden Raum mit Lagerregalen, Reihen von Funkgeräten in Ladestationen und Waffenständern. Ein Soldat zog ein Messer und schnitt dem Gefangenen die Plastikfesseln von den Handgelenken. Ein anderer nahm ihm die Kapuze ab.

Der Mann orientierte sich in aller Ruhe, während er sich die Handgelenke rieb. Mit dem langen schwarzen Bart und dem kurzen Haar sah er aus wie der Talib schlechthin, und seine schlanke Gestalt und die wettergegerbte Haut verstärkten den Eindruck noch. Seine stahlblauen Augen blickten gelassen geradeaus.

Der Anführer der Soldaten nickte ihm zu. «Schön, Sie wieder hier begrüßen zu können, Odin.»

Der Bärtige antwortete in lupenreinem Mittelwesten-Amerikanisch: «Schön, wieder hier zu sein, Staff Sergeant.»

«Folgen Sie mir. Können wir Ihnen irgendwas bringen?»

Odin schüttelte den Kopf, während sie einen Gang mit etlichen Türöffnungen entlanggingen. Mehrere Offiziere nickten ihm respektvoll zu. Schließlich kamen sie an eine Holztür. Der Staff Sergeant klopfte zweimal und betrat dann einen Briefing-Raum, in dem ein Klapptisch stand. An Faserplatten-Wandelementen hingen Sektorkarten, und LCD-Panels zeigten Live-Satelliten- und Überwachungsbilder. Leiser Sprechfunkverkehr bildete ein stetes Hintergrundrauschen.

«Odin ist hier, Colonel.»

«Wird auch verdammt noch mal Zeit.»

Am Tisch saß ein Mann in den Sechzigern; er trug ein blaues Oxfordhemd, einen dunkelblauen Blazer und Khakihosen. Vor ihm stand ein aufgeklappter Laptop. Sein Blick war hart, seine Art respekteinflößend. Seine kräftigen Hände verrieten den alten Kommandosoldaten.

Der Staff Sergeant ging wortlos hinaus und schloss die Tür hinter sich. Odin nahm Haltung an und salutierte. «Sie wollten mich sprechen, Colonel!»

«Haben Sie vergessen, auf wessen Seite Sie stehen, Master Sergeant?»

«Nein, Sir.»

«Tja, sieht aber ganz so aus. Ihretwegen habe ich einen politischen Shitstorm Stärke zwölf am Hals.»

«Im Kontext betrachtet, sind meine Methoden –»

«Ihre Methoden haben dieser Mission dauerhaft geschadet. Ich will Ihnen mal was verraten, mein Junge: Ihre Aufgabe ist es, feindliche Operationen zu vereiteln – nicht unsere Operationen.»

«Was ich getan habe, war strategisch sinnvoll.»

«Nein, Sie dachten, es wäre strategisch sinnvoll – und Denken ist nicht Ihr Job. Ihr Job ist es, den Feind zu töten.»

«Mir hat man beigebracht, dass ein Special Operator selbst denken muss – strategisch wie taktisch. Entweder man stellt sich auf die Situation am Boden ein, oder man wird von den Ereignissen überrollt, Sir.»

Der Colonel musterte Odin. «Inwiefern sollte es strategisch sinnvoll sein, einen Aufständischenführer vor einem bevorstehenden CIA-Raketenschlag zu warnen? Mein S2 meldet, dass der gegenwärtige Aufenthaltsort des Mannes unbekannt ist. Dieser Mistkerl kann jetzt also weiterkämpfen – dank Ihnen.»

Odin schwieg.

«Wie rechtfertigen Sie Ihr Handeln, Master Sergeant?»

Odin dachte über die Frage nach. «Früher oder später ziehen wir hier ab. Und wir müssen mehr zurücklassen als nur radikalisierte junge Männer, die nichts anderes kennen als Krieg. Der Stammesälteste, den ich gerettet habe, ist in den entlegenen Tälern weithin geachtet, und er ist gemäßigt im Vergleich zu den Leuten, die seine Nachfolge angetreten hätten – auch wenn das vermutlich auf den Luftbildern nicht zu sehen war.»

«Task Force Steel sagt, er ist das Zentrum eines Aufständischennetzwerks.»

«Ja, als Reaktion darauf, dass wir sein Land militärisch besetzt halten. Aber wenn wir nicht hier sind, tötet er ausländische Kämpfer und Drogenschmuggler. Wenn wir diesem Mann nicht dazwischenfunken, erledigt er die Arbeit für uns.»

«Trotzdem –»

«Wir brauchen hier keine konventionellen Truppen, Colonel. Leute wie ich können das Terrain unauffällig bearbeiten, können politische Fraktionen gegeneinander ausspielen, indirekt vorgehen. Unsere Patrouillen und Basen hier sind doch nur Angriffsziele, und je mehr Feuerkraft wir einsetzen, desto mehr Feinde schaffen wir uns.»

«Das reicht.» Der Blick des Colonels bohrte sich sekundenlang in Odins Augen. «Wie hat Ihr Team sich bewegt, ohne von unseren Drohnen bemerkt zu werden?»

«Wir haben ihnen Lockziele vorgesetzt – fernbediente Mörser. Die benutzen die Aufständischen dauernd, um Rivalen ans Messer zu liefern. Wir haben agiert, solange die Drohnen abgelenkt waren.»

Der Colonel musterte Odin immer noch. «Sie haben ja mit Ihrer Abneigung gegen Drohnen nie hinterm Berg gehalten.»

«Drohnen sind nützlich zur Aufklärung, aber sie können keinen Menschen am Boden ersetzen. Und wenn Sie mich fragen, schaden diese Raketenschläge mehr, als dass sie nützen. Nehmen Sie nur mal dieses Desaster in Kerbela – die Selbstmord- und Sprengfallenanschläge haben bereits in allen Einsatzgebieten zugenommen. Eine bessere Rekrutierungshilfe hätten sich unsere Feinde kaum wünschen können.»

«Das Pentagon sagt, es war keine unserer Drohnen.»

«Wir wissen doch beide, dass das ziemlich egal ist. Und genau hier liegt das Problem.»

Der Colonel schien solch intensive Debatten mit Untergebenen gewohnt. Er blieb ruhig. «Wie immer Sie dazu stehen mögen, Sergeant, fünfzig andere Staaten setzen alles daran, eigene Drohnen zu entwickeln.» Er hielt einen Augenblick inne. «Was auch der Grund ist, weshalb ich Sie herbeordert habe.»

Odin sah ihn verdutzt an.

«Sagt Ihnen der Begriff letale Autonomie etwas?»

Odin nickte. «Autonome Kampfdrohnen.»

«Ja. Drohnen, die sich selbst steuern und die Tötungsentscheidung ohne direkte menschliche Mitwirkung fällen.»

Odin schwieg einen Moment, sichtlich betroffen. «Das ist eine einschneidende militärische Revolution, Sir.»

«Erklären Sie mir, warum.»

«Weil es die schlimmsten Aspekte des Cyberkriegs – Anonymität und Skalierbarkeit – mit der physischen Gewalt des kinetischen Kriegs kombiniert. Ein erfolgreiches Modell einer solchen autonomen Kampfdrohne könnte, wenn die Pläne gestohlen werden, in Offshore-Fabriken zigtausendfach nachgebaut und dann ohne Angst vor Vergeltung gegen jeden eingesetzt werden.»

Der Colonel betrachtete Odin und nickte schließlich, als hätte er eine Entscheidung gefällt. «Ich habe eine Mission für Ihr Team, Master Sergeant. Eine Mission, die jemanden erfordert, der, wie Sie es so treffend formuliert haben, selbst zu denken vermag, strategisch wie taktisch. Ich setze Sie auf die BIGOT-Liste für ein hochgradig kompartmentalisiertes Geheimprojekt, Codename Project Ancile. Sie werden einer der drei Menschen sein, die von seiner Existenz wissen, und Sie erstatten mir und nur mir Bericht.»

«Wie lautet mein Auftrag?»

Der Colonel klappte seinen Laptop zu und fixierte Odin. «Sie sollen herausfinden, wer hinter den Drohnenangriffen auf die Kontinental-USA steckt.»

«Sprechen Sie von den Terroranschlägen, Sir?»

«Das ist eine lancierte Geschichte. Die Wahrheit ist weit beunruhigender. Wir glauben, dass die Urheber des Kerbela-Angriffs auch hinter den CONUS-Angriffen stecken.»

Odin dachte darüber nach, was das hieß.

«Noch etwas.» Der Colonel machte eine Effektpause, um dem, was er gleich sagen würde, Nachdruck zu verleihen. «Sie werden Ihre Mission erfüllen, ganz egal, wohin sie führt – selbst wenn man Ihnen befiehlt, sie abzubrechen. Sie müssen weitermachen und Sie müssen es schaffen. Haben Sie mich verstanden, Master Sergeant?»

Odin nickte. «Ich glaube ja, Sir.»

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3Raconteur

«Guten Tag, meine Damen und Herren. Mein Name ist Joshua Strickland. Ich bin Teamleiter für die Entwicklung visueller Intelligenz hier im Stanford Vision Lab. Ich danke Ihnen, dass Sie hergekommen sind.»

Strickland stand vorn im dunklen, fensterlosen Untergeschosshörsaal des Gates Computer Science Building. Neben ihm füllte das «Kameraauge»-Logo des Vision Lab eine große Leinwand. Im kühlen Beamer-Widerschein sah er bekannte und unbekannte Gesichter in dem überschaubaren Publikum, das hauptsächlich in den ersten beiden Reihen Platz genommen hatte. Er fokussierte den Blick auf die ernsten Mienen direkt vor ihm.

«Besonders herzlich begrüßen möchte ich unsere verehrten Gäste vom Transformational Convergence Technology Office. Und ich danke an dieser Stelle unserer wissenschaftlichen Betreuerin Dr. Lei Li, ohne deren Unterstützung wir diese Präsentation nicht hätten realisieren können.»

Zaghafter Applaus irgendwo im Dunklen.

Strickland hielt inne, um sich zu sammeln. So viel hing von den nächsten Minuten ab. Er holte Luft und begann: «Was Sie jetzt gleich sehen werden, ist eine Visuelle-Intelligenz-Technologie, die wir Raconteur nennen.» Ein Klick auf seiner Fernbedienung, und es erschien eine Animation von Dutzenden, dann Hunderten und schließlich Tausenden Video-Insets, ein gigantisches Gewimmel, ein riesiger Strom von Bilddaten. «Visuelle Intelligenz wird oft mit maschinellem Sehen verwechselt – ist aber sehr viel mehr. Visuelle Intelligenz bedeutet, Maschinen nicht nur zu befähigen, Objekte auf Bildern zu identifizieren – was schon seit Jahren möglich ist –, sondern sie auch mit den kognitiven Fähigkeiten auszustatten, zu erkennen, was in einer Szene vor sich geht. Konzepterkennung, integrierte Kognition, Interpolation, Prädiktion. Was geschehen sein könnte und was als Nächstes geschehen kann. Es bedeutet, Maschinen in die Lage zu versetzen, nicht nur zu sehen, sondern auch zu verstehen, was sie sehen.»

Er suchte die Gesichter vorn in der Mitte ab. «Wofür ist das wichtig?»

Er klickte auf der Fernbedienung, und es erschienen Überwachungsaufnahmen von Londoner U-Bahn-Bombern, wie sie durch U-Bahnhöfe gingen oder in Waggons standen. «In einer immer gefährlicher werdenden Welt ist Videoüberwachung das aussichtsreichste Mittel einer Gesellschaft, Bedrohungen bereits im Vorfeld zu erkennen. Doch diese Flut von Überwachungsaufnahmen bedeutet eine exponentielle Zunahme der Menge an Videomaterial, das analysiert werden muss – und zwar in Echtzeit analysiert, wenn es darum gehen soll, kriminelle Akte nicht nur hinterher nachzuverfolgen, sondern sie zu verhindern.»

Es erschien eine neue Folie von einem ausgebrannten Starbucks in einer belebten Straße. Dann ein Zeitungsfoto von einem ausgebrannten SUV mit der Schlagzeile SENATOR BEI TERRORANSCHLAG GETÖTET. «Wir brauchen ja nur an die jüngsten, nach wie vor unaufgeklärten Terroranschläge hier in den Vereinigten Staaten zu denken, um die lebenswichtige Bedeutung visueller Intelligenz für unsere Zukunft zu erkennen.»

Strickland ließ den Blick über seine Zuhörer wandern. Die Leute waren ganz Ohr.

«Wie statten wir Maschinen mit dieser Fähigkeit aus? Wir tun es, indem wir die Art und Weise nachahmen, wie Menschen raumzeitliche Vorgänge verarbeiten. Die visuelle Kognition des Menschen ist auf Veränderung ausgerichtet, und diese Veränderungen rufen das hervor, was wir ‹Aufmerksamkeitszustände› nennen. Wir erzielen Aufmerksamkeitszustände in Bezug auf Videomaterial mittels eines algorithmischen Mechanismus, der Faktoren wie Aufmerksamkeitsfokus, Markierung auffälliger Objekte und kritische Beziehungen zwischen solchen Objekten auf der Ebene von Bewegung und Kontakt beinhaltet. Diese sind notwendig, um einzelne Vorgänge voneinander zu unterscheiden. Eine Serie von Aufmerksamkeitszuständen wird zu einer visuellen Aufmerksamkeitsspur kombiniert, die man als VAT bezeichnet: gewissermaßen eine Narration mit einzelnen Episoden. Eine Geschichte, die sich programmatisch durch maschinenlesbaren Text darstellen lässt – Text, der wiederum algorithmisch auf Relevantes abgesucht werden kann. Dies geschieht in Echtzeit durch eine ‹Leserschaft› von anderen, simpleren Programmen. Deshalb nennen wir unser System Raconteur – weil es das, was passiert, so erzählt, dass gewöhnliche Systeme es verstehen können. Und wie jeder gute Erzähler behält Raconteur im Blick, wie sich die aktuelle Szene in die gesamte Geschichte einfügt.»

Strickland wusste, dass die Mischung aus Jugend und Selbstbewusstsein, die er verkörperte, in diesem Rahmen ein Vorteil war. So war das nun mal im Bereich disruptive Technologien. Mit zweiundzwanzig leitete er ein Team, das die Verarbeitung visueller Information revolutionieren würde. Auch wenn er nicht die treibende Kraft hinter den Innovationen war, hatte er ein besonderes Talent dafür, fähige Leute ausfindig zu machen und für seine Arbeitsgruppen zu rekrutieren. Und es hatte sich gezeigt, dass diese Gabe die wohl wichtigste Voraussetzung war, um in Silicon Valley Erfolg zu haben. Eine gute Idee zu erkennen und zu wissen, wer sie realisieren konnte. Hindernisse aus dem Weg zu räumen und andere zu inspirieren, das war der Hauptbestandteil von Innovation.

«Wir haben mit den Technikern der DARPA zusammen die folgende Demonstration erstellt, unter strenger Beachtung der Leitlinien des Mind’s Eye Project. Bitte denken Sie daran, dass unser System dem Bildmaterial, das Sie – und es – jetzt sehen werden, nie zuvor ausgesetzt war. Nach dem Test nehmen wir Ihre Fragen gern entgegen. Doch zunächst präsentiere ich Ihnen Raconteur, den Geschichtenerzähler …»

Wieder mäßiger Applaus, während die Leinwand dunkel wurde.

Strickland trat beiseite, als davor zwei kleinere Projektionsflächen aufleuchteten. Eine zeigte den Titel «TCTO Phase 1 – Erkennungstest», die andere einen blinkenden Cursor.

Strickland ging auf die Seite des Raums und stellte sich, Rückhalt suchend, zu seinem Projektteam. Angespannt sah er seinen Chefentwickler Vijay Prakash an, aber der gutaussehende, mürrische Bengale ignorierte Stricklands gewölbte Augenbrauen und blickte stur auf die Projektionsfläche. Die übrigen Mitglieder der Doktoranden-Crew – Sourav Chatterjee, Gerhard Koepple, Wang Bao-Rong und Nikolay Kasheyev – bekundeten durch ein Nicken, dass sie sich der Bedeutung des Augenblicks bewusst waren. Dann wandten auch sie sich der Leinwand zu.

Jetzt zeigte auch die rechte Projektionsfläche die Worte «TCTO Phase 1 – Erkennungstest». Die Doppelprojektion war so aufgebaut, dass alles, was auf der linken Bildfläche erschien, von Raconteur gedeutet und auf der rechten in Worten beschrieben werden sollte.

Auf seinem Stehplatz im Dunkeln atmete Strickland erleichtert auf. Ein Versagen schon bei der simplen Texterkennung auf der Titelkarte wäre tödlich gewesen. Allerdings wurde die optische Zeichenerkennung von einer lizenzierten Library durchgeführt, nicht von ihrem Programm. Dennoch, die DARPA-Verantwortlichen würden es ihnen nicht nachsehen, wenn sie eine schlechte Library gewählt hätten.

Aber der Test ging bereits weiter. Keine Zeit, über Katastrophenszenarien nachzugrübeln. Auf der linken Projektionsfläche erschien ein schwarz-weißes Überwachungsvideo. Es zeigte eine Frau, die mit einem Aktenkarton einen Büroflur entlangging.

Strickland verfiel wieder in Anspannung. Er hatte die VI-Algorithmen hunderttausend Mal arbeiten sehen und wusste ziemlich genau, wie sie funktionierten, aber sie waren noch nie vor einem so wichtigen Publikum gelaufen. Was jetzt gleich passierte, würde über die nächsten Jahre seines Lebens – des Lebens aller Teammitglieder – und sehr wahrscheinlich über seine weitere Karriere entscheiden. Er fixierte den Cursor auf der rechten Projektionsfläche – dem Raconteur-Ausgabescreen.

Als das Video weiterlief, erschienen auf der rechten Projektionsfläche Buchstaben …

Person trägt Objekt durch Gang.

Anerkennendes Gemurmel lief durch den Raum, aber Strickland entspannte sich immer noch nicht. Komm schon. Mach’s. Mach schon, Baby …

Der Cursor begann jetzt, Elemente genauer zu benennen.

Frau trägt Schachtel durch Gang.

Erneutes Gemurmel und etwas Applaus. Strickland sah zu den DARPA-Managern hin, die nickten und leise miteinander redeten. Notizen machten. Eine Woge der Erleichterung erfasste ihn. Er hatte gar nicht gemerkt, wie verkrampft er gewesen war, aber jetzt, wo die ersten Eindrücke positiv ausfielen, würden die Gutachter gnädiger sein, wenn später noch etwas schiefging. Was auch immer von jetzt an passieren würde, ein Meltdown war es jedenfalls nicht. Sie hatten sich als ernstzunehmend qualifiziert.

Auf der linken Projektionsfläche kamen jetzt Außenüberwachungsaufnahmen: Ein amerikanischer Soldat stand mit umgehängter MP auf einer vermüllten Slumstraße irgendwo in Nahost und gestikulierte zu unsichtbaren Personen hin. Ein kleines Kind – möglicherweise ein irakisches – kam hinter ihm ins Bild. Wieder überfiel Strickland Angst, als der Text weiterrollte …

Bewaffnete Person … erfährt Annäherung durch Kind.

Wieder Applaus und sogar ein paar erregte Ausrufe.

Strickland fühlte, wie sich ein Lächeln über sein Gesicht breitete, unterdrückte es aber sofort. Zu früh zum Feiern.

Uniformierter Soldat erfährt Annäherung durch Kind auf Straße.

Erneut Laute der Begeisterung. So weit, so gut, aber Strickland wusste, das Schwierigkeitslevel würde immer weiter steigen. Prompt hielt das System einen weiteren Soldaten, der ins Bild kam, irrtümlich für eine mögliche Gefahr – #ALARM – bewaffnete Person. Was ja aber so weit daneben auch nicht war.

Die linke Projektionsfläche wurde dunkel und zeigte dann den Titel «TCTO Phase 1 – Interpolationstest.»

Schon ging es richtig los! Die Komplexität der visuellen Konzepte steigerte sich schnell. Deshalb fokussierte sich ihr System ja darauf, beim Interpretieren einer Szene zuerst den Kontext abzuleiten, und deshalb vergaß es auch nie, was es vorher gesehen hatte. Das war essenziell, um einen Haufen unnötiger Verarbeitungsprozesse zu vermeiden. Wenn Menschen beispielsweise einen Bürgersteig in städtischer Umgebung entlanggingen, war nicht damit zu rechnen, dass sie plötzlich eine Bergwelt oder wogendes Meer um sich hatten. Das konnte nicht sein – wenn also doch etwas Derartiges auftauchte, war es sehr wahrscheinlich eine graphische Repräsentation wie etwa ein Werbeplakat und nicht die Sache selbst. Die Daisy-Chain-Verkettung der Ereignisse ermöglichte es, das Bekannte als Basislager für die Erkundung des Unbekannten zu nutzen – jedes Mal ein Stückchen weiter zu gehen, wie Ameisen bei der Terrainerkundung.

Strickland wusste wohl, dass selbst ein geistig Behinderter im Vergleich zu spezialisierten Algorithmen ein Allround-Genie war. Dinge auf die simpelsten Elemente herunterzubrechen war die einzige Möglichkeit, etwas Brauchbares zu erzielen. Prakash hatte die Programmarchitektur entwickelt, und das Design war zu viel für Stricklands Gehirn. Aber wenn das verdammte Ding funktionierte, würde er dem Mann alle Arroganz verzeihen.

Auf der linken Projektionsfläche erschien jetzt in einer neuen Szene eine Frau in einer Burka – Burka! Das, was die US-Truppen ein «BMO» nannten, ein «Black Moving Object». Diese DARPA-Sauhunde. Kein Gesicht, Arme und Körper nicht klar erkennbar. Auf dem Bildschirm sah die Frau aus wie ein wandelnder Sack. Aber wenn ihn nicht alles täuschte, war Vijays und Gerhards Gangerkennungscode theoretisch in der Lage, gehenden Objekten das Attribut «menschlich» zuzuordnen und damit auch implizite Geometrie, potenzielle Aktionen und Bewegungsmuster. Die Frau in der Burka ging eine schmale Dorfstraße entlang und trug auf dem Kopf etwas, das aussah wie ein Plastik-Wasserkrug.

Alle im Raum warteten mit angehaltenem Atem. Dann rollte der Text weiter.

Person trägt Objekt Straße entlang.

Okay, so weit, so gut.

Die Frau betrat durch eine Tür zur Linken ein Haus, und das System beschrieb ihr Verschwinden korrekt. Dann war einen Moment alles ruhig, bis sie ohne den Krug auf dem Kopf wieder herauskam. Das war der eigentliche Test. Kognition.

#ALARM – GEGENSTAND – ZURÜCKGELASSEN: Gesichtet: Person trägt Gegenstand in Gebäude und kommt ohne Gegenstand wieder heraus.

Strickland fühlte das Gewicht des Moments, während lauter Applaus aufbrandete. Sie hatten gerade den Bombenattentäter-Test bestanden. Jahre der Arbeit zogen im Schnelldurchlauf an ihm vorbei. Er spürte, wie ihm seine Teamkollegen auf die Schultern klopften, drehte sich um und sah im Halbdunkel ihre lachenden Gesichter. Er drückte Hände, legte sogar kurz den Arm um Prakash. Sie waren nie besonders gut miteinander ausgekommen – hatten immer darum gerangelt, wer das Sagen hatte. Aber das hier, dieser Moment, war das, wofür sie gearbeitet hatten. Selbst der ewig ernste Prakash zeigte den Anflug eines Lächelns.

Strickland musste zugeben: Der Typ verstand sein Handwerk. «Toll gemacht, Vijay.»

Prakash nickte. «Ist schon mal ein Anfang.»

Arschloch. Konnte er denn gar nichts genießen?

Stimmen forderten Ruhe, weil der Test weiterging, aber Strickland verspürte ein warmes Kribbeln am ganzen Körper. Sie würden ihren Forschungszuschuss bekommen. Da war er sich jetzt ganz sicher. Die erregten Diskussionen zwischen den Gutachtern sagten ihm, dass sein Team alles Bisherige übertroffen hatte. Das war der Beginn seiner beruflichen Karriere, und diesen Moment würde er nie vergessen. Wenn er das Sandra erzählte!

Aber dann fiel ihm wieder ein, dass sie ja nicht mehr zusammen waren.

 

Strickland ließ den Korken einer Sektflasche knallen und den Schaum spritzen, während seine Teamkollegen in Jubelgeschrei ausbrachen. Jetzt, wo sie wieder im KSL-Laborcluster im zweiten Stock waren, konnten sie ihrer Feierlaune freien Lauf lassen. Das Labor war ein offener Arbeitsbereich mit diversen HD-Digitalvideokameras in Halterungen und auf Stativen und einer Ecke mit Rackservern, deren LEDs im Rhythmus der Musik vor sich hin zu flackern schienen. LCD-Monitore auf Tischen und an Deckenhaltern zeigten «Raconteur»-generierten Text über die Festivitäten … größtenteils nicht allzu weit daneben – aber jetzt würden sie ja einen Bundeszuschuss bekommen, um das System zu perfektionieren!

Was sie schon die ganze Zeit für bahnbrechende Arbeit gehalten hatten, war jetzt als solche anerkannt worden. Der Wagniskapitalzweig eines US-Geheimdienstes hatte sich unter Vorbehalt bereit erklärt, ihr Forschungsprojekt zu finanzieren, und damit ergaben sich definitiv Top-Level-Kontakte zu anderen Investoren. Sein Team war nun die Speerspitze auf dem Gebiet der visuellen Intelligenz. Das war das Ergebnis trotz all ihrer Spannungen und Meinungsverschiedenheiten, und jetzt prostete und jubelte die ganze Crew – Chatterjee, Koepple, Prakash, Wang, Kasheyev, ein wahrhaft internationales Team. Und dann waren da noch die anderen Teams im Cluster und deren wissenschaftliche Betreuer. Nebst Ehe- und Beziehungspartnern natürlich – es war eine ausgewachsene Party. Strickland wünschte, er hätte auch jemanden, mit dem er diesen Moment teilen könnte. Aber das würde sich schon ergeben, zumal er nun wirklich auf der Erfolgsspur war. In ein paar Jahren würde er hoffentlich Partner in irgendeiner Wagniskapitalgesellschaft an der Sand Hill Road sein. Der erste Schritt war getan.

Strickland stieg auf einen Bürostuhl, den jemand für ihn festhielt, und Lei Li, ihre wissenschaftliche Betreuerin, bat um Ruhe, da jetzt alle lautstark eine Rede forderten.

Gleich darauf wurde die Musik heruntergedreht, und in der jähen Stille erhob Strickland seinen von Sekt überschwappenden Plastikbecher. «Leute, ich möchte euch sagen, was es mir für eine Ehre war, mit diesem Team zu arbeiten. Ich weiß wohl, dass sich diese brillante Leistung nicht mir verdankt, sondern euch allen» – er zeigte mit dem Finger – «Sourav, Gerhard, Bao, Nik und natürlich dem unnachahmliche Vijay.» Jeder Name wurde mit Applaus und Hochrufen quittiert.

Prakash stand an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete Strickland fast schon verächtlich. Prakash trug seine üblichen Khakihosen mit blauem Oxfordhemd. Sein Haar war wie immer kurz geschnitten und perfekt gekämmt. Attraktivität Marke Bollywood.

Was war nur mit dem Kerl los? Warum konnte er sich nicht ein Mal locker machen? Strickland versuchte, ihn zu ignorieren. «Ich finde es passend, dass in dem Gebäude, in dem Google geboren wurde – und damit die Internetsuche – auch die visuelle Intelligenz aus der Taufe gehoben wird und damit die Möglichkeit, die Realität in Echtzeit zu durchsuchen. Ihr Jungs werdet Geschichte schreiben, und ich bin einfach nur froh, dass ich mit dabei sein kann.»

Erneuter Jubel. Becher wurden geleert. Die Musik wurde wieder aufgedreht, die Leute überbrüllten sie mit ihren Gesprächen, und Teammitglieder alberten vor den Videokameras herum.

Strickland bemerkte, dass Prakash ihn immer noch mit diesem Dolchblick durchbohrte, also arbeitete er sich zu ihm durch. «Vijay, was ist, Mann? Du siehst aus, als ob Kolkata gerade das Cricketfinale verloren hätte.»

Prakash musterte ihn. «Als eins der ‹brillanten› Teammitglieder habe ich was dagegen, dass du die Gespräche mit der DARPA an dich reißt. Wir treffen Entscheidungen als Team, Josh. Du bist nur deshalb nominell ‹Teamleiter›, weil du gut mit Anzugtypen kannst und weil du mir auf diese Weise aus dem Weg bist.»

«Ich habe nur einen provisorischen Termin fürs nächste Treffen gemacht. Wir bestätigen ihn dann später noch per Mail.»

«Wir müssen in alle Entscheidungen einbezogen werden – und seien sie noch so geringfügig.»

«Wir haben kein Schwarmbewusstsein, Vijay. Gelegentlich müssen kleine Entscheidungen einfach getroffen werden, und ich sehe keinen Sinn drin, dich mit so was zu be–»

Prakash baute sich vor ihm auf und bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust. «Das ist nicht das erste Mal, dass ich dich dran erinnern muss. Ich arbeite nicht für dich, Josh, und ich erwarte, dass du die Interessen des Teams vertrittst und nicht nur deine eigenen.»

«Hey, hey! Jetzt mal langsam! Wir waren uns alle von Anfang an einig, dass es das Beste ist, wenn ich, der ich nun mal eher der extrovertierte Typ bin, das Reden übernehme, vor allem gegenüber den Leuten vom Verteidigungsministerium. Und das habe ich gemacht.» Er zeigte auf den Stuhl, auf dem er gestanden hatte. «Habe ich nicht gerade eben ausdrücklich das Verdienst allen zugesprochen?»

«Mit gutem Grund. Wenn wir das nächste Mal mit der US-Regierung kommunizieren, erwarte ich, dass ich eine Kopie kriege, Josh.»

Er studierte Prakashs Gesicht. Wusste er’s? Es hatte in der Tat noch den einen oder anderen E-Mail-Wechsel gegeben, er hatte einfach nur vergessen, die anderen einzubeziehen. «Hör mal, ich weiß nicht, was du mir unterstellst, aber falls du’s noch nicht gemerkt hast, du bist bei diesem Projekt der entscheidende Mann. Ich kann dich nicht bescheißen, ohne mich selbst zu bescheißen. Du stehst auf den Patentanträgen.»

Strickland fragte sich, ob es an Prakashs extrem auf Konkurrenz und Durchsetzungsfähigkeit gerichteter Erziehung lag. Er wusste, Prakashs Vater war ein klassischer Typ-A-Geschäftsmann, ein harter Hund, der seine Söhne praktisch mit der Reitgerte vorwärtstrieb. Alte Schule. Und äußerst klassenbewusst.

War es das? Strickland dachte manchmal, dass ihn Prakash vielleicht deshalb verachtete, weil er ein ganz normales Mittelschichtskind war – Sohn eines Lehrerehepaars. Er hatte Fotos vom Sommerhaus der Prakashs in Südfrankreich gesehen. Und Fotos von Vijay im Polo-Outfit, ein Pony am Zügel – als ob er mit der britischen Königsfamilie befreundet wäre oder so etwas. Er vergaß leicht, dass ihn dieser Typ vielleicht einfach als jemanden aus der Dienstbotenkaste betrachtete.

Je länger er darüber nachdachte, desto mehr ärgerte es ihn. Er prostete Prakash noch einmal mit seinem Plastikbecher zu, zwinkerte ihn an und sagte, den Zeigefinger pistolenartig auf ihn richtend wie ein schmieriger PR-Typ: «Ich bin dein Fan! Eh? Ich bin dein Fan, Mann!»

Jemand trat von hinten an Prakash heran und verstrubbelte ihm lachend das Haar. Strickland nutzte die Gelegenheit, um sich abzuwenden; er wollte nach draußen, Luft schnappen. Unterwegs machte er freundlich Konversation, und als er endlich die Tür erreicht hatte, sah er Licht in einem der winzigen, fensterlosen Büros, die das Laborcluster umgaben. Dort am Schreibtisch saß die kindliche Gestalt Nikolay Kasheyevs, ihres Experten für visuelle Verarbeitung.

Kasheyev hatte irgendein Hypophysenleiden, das ihm das Aussehen eines Zwölfjährigen gab, obwohl er schon Mitte zwanzig war. Er wurde oft für ein Wunderkind gehalten, und wenn Leute diesen Fauxpas begingen, zuckte Strickland immer zusammen. Aber der Russe schien daran gewöhnt.

Er sah, dass Kasheyev gemultiplexte Videostreams betrachtete, die als Kacheln auf seinem Bildschirm angezeigt waren. Strickland pochte mit den Fingerknöcheln an den Türrahmen. «Hey, Nik, warum bist du nicht auf der Party, Mann?»

Kasheyev sagte, ohne den Kopf zu drehen: «Die Raben sind wieder da.»

«Welche Raben?»

Jetzt bequemte sich Kasheyev doch herzuschauen. «Du hörst mir nie zu, was?»

Strickland war zu sehr mit der Frage beschäftigt, was Kasheyevs Brille gekostet haben mochte. Offenbar kam im Team nur er, Strickland, aus tatsächlich bescheidenen Verhältnissen. Alle anderen schienen reiche Eltern zu haben. Niemand außer ihm hatte während des Undergraduate-Studiums arbeiten müssen. Jedenfalls nicht in Handlangerjobs. Kasheyev schien gar nicht realisiert zu haben, dass sie heute den Grundstein dafür gelegt hatten, Millionäre zu werden. Als ob das für ihn gar nicht ins Gewicht fiele.

«Josh.»

«Oh. Doch, klar höre ich dir zu. Ich behalte nur nicht, was du sagst.»

Kasheyev zeigte auf eine Reihe von sechs Videokacheln auf seinem Bildschirm – Überwachungskamerabilder, die, wie Strickland wusste, rund um die Uhr von Raconteur-Algorithmen «im Auge behalten» wurden. Das System lief jetzt in immer wieder verbesserten Versionen schon fast zwei Jahre mehr oder weniger kontinuierlich und beobachtete den öffentlichen Raum rings um das Gates-Gebäude. Das Kommen und Gehen von Studenten, Autos, allem. Das war etwas, was die Stärke des Systems ausmachte: persistente Überwachung. Beobachtung im Zeitverlauf. Bei der es Muster bemerkte und Abweichungen von diesen Mustern. Immer wieder aus dem Gesehenen Bedeutung deduzierte, die symbolischen Repräsentationen speicherte und Alarmmeldungen sandte, sobald es Anomalien feststellte – in diesem Fall an Kasheyevs iPhone. Man konnte auch bestimmte Alarmsituationen vorgeben, und im Moment fixierte sich Kasheyev offenbar auf diese Vögel. Das war noch die geringste seiner Marotten.

Kasheyev tippte auf eins der Bilder, wo auf einem Ast ein wie ein Rabe aussehender Vogel saß und zu ihren Büros herüberblickte. Das Video lief offenbar, denn Strickland sah die Blätter des Baums im leichten Wind zittern.

Strickland beugte sich an den Bildschirm und studierte dann das Raconteur-Log mit dem markierten Eintrag: Rabe sitzt in Baum.

«Okay, Raconteur hat eine Vogelart erkannt. Wir sind spitze.»

«Das kommt daher, dass es getaggte Webbilder nach Übereinstimmungen durchsucht hat – aber um die Objekterkennung geht’s mir nicht. Es geht darum, dass in diesen Bäumen nie Raben waren. Und jetzt, schau, da ist noch einer, zur Südseite hin, beim Packard Building …» Er klickte auf dem Bildschirm herum, und es erschien ein größeres Bild von einem weiteren Raben, der auf der Brüstung des modernen Elektrotechnikgebäudes jenseits der Straße saß. Kasheyev scrollte in der Zeit zurück, und zwischen den Sonnenauf- und -untergängen sah Strickland immer wieder die beiden einzelnen Raben – bis sie irgendwann nicht mehr auftauchten. «Es hat vor einer Woche angefangen. Und seither sind sie jeden Tag da.»

Strickland dachte, dass das eins der Probleme war, die man sich einhandelte, wenn man mit genialen Leuten zusammenarbeitete: Sie waren halbverrückt. Sich auf Details zu fixieren oder Zusammenhänge zu wittern, wo keine waren – diese Macken hatten etliche. Er tätschelte Kasheyevs Schulter. «Es gibt so was wie Zugvögel, Nik.»

Kasheyev sah ihn an, als wäre Strickland schwachsinnig. «Raben sind keine Zugvögel. Ausgewachsene Vögel wie die da haben ein Revier von Meilen. Sie bleiben nicht an einem Ort, es sei denn, es ist ein Brutpaar mit einem Nest. Aber ich sehe kein Nest.»

«Faszinierend. Diese Vögel sind ja viel interessanter als unsere neuen Forschungsmittel. Ich würde sagen, wir schmeißen alles hin und –»

«Schau her …» Kasheyev zoomte auf den Raben im Baum ein, dann auf eins seiner Beine. Daran war irgendein elektronisches Tag oder ein Sender befestigt.

Strickland sagte achselzuckend: «Okay, jemand forscht an Raben. Wir sind hier an einer Universität.»

«Das dachte ich zuerst auch. Raben sind sehr intelligent.»

«Vielleicht haben sie ja ein Stanford-Stipendium.»

«Hier forscht niemand über Raben, ich hab’s überprüft.»

«Himmel, ich dachte, wir arbeiten hier an VI-Software und betätigen uns nicht als Rabenstalker.»

«Schau dir das Tag an seinem Bein mal genauer an …» Er zoomte auf das High-Definition-Digitalbild ein. Dann teilte er den Bildschirm und zeigte eine Großaufnahme des zweiten Raben auf der anderen Seite des Gebäudes.

Beide hatten das gleiche quaderförmige Ding am Bein.

Strickland seufzte und war froh, als Wang Bao-Rong, ihr taiwanesischer Narrow-AI-Experte, draußen auf dem Flur erschien und ihnen signalisierte, dass sie mitkommen sollten.

«Was gibt’s?»

Wang warf ein Quietschspielzeug in Form eines Gehirns in die Luft. «Konferenztelefonat mit dem Anwaltsbüro.»

«Oh!» Strickland zog Kasheyev vom Stuhl hoch. «Komm, Nik! Die Vögel können warten, Mann.»

Graduiertenteams von Stanford hatten Unternehmen wie Hewlett-Packard, Cisco, Yahoo! und natürlich Google gegründet. Und die fünf Patentanträge, die Stricklands Team für Raconteur eingereicht hatte, waren potenziell Milliarden wert – zumal jetzt, wo die Regierung ihre Arbeit finanzieren würde. Was jetzt gleich kam, war die Krönung dieser ganzen Jahre.

Das Team quetschte sich in einen Besprechungsraum, wo Prakash bereits, die Arme in die Hüften gestemmt, vor einem Freisprechtelefon stand. Strickland trat als Letzter ein und machte die Tür hinter sich zu.

Prakash blaffte ins Telefon: «Okay, John. Das Team ist vollzählig.» Prakash sah sie an. «Leute, da ist John Wolstein von Hartmann, Blithe und Peale.»

Eine Stimme kam über Lautsprecher: «Hallo.»

Alle sagten hallo.

Strickland ergriff das Wort. «Schießen Sie los mit der guten Nachricht, John.»

Kurze Stille. Dann: «Tja, das würde ich ja gern, aber es gibt da leider ein Problem.»

Hitze lief über Stricklands Haut. Ein Adrenalinstoß. Die Urheberschaft, damit stand und fiel alles. Sie hatten schon eine Patentrecherche durchgeführt. Der Weg war frei. Prakashs Ansatz war völlig neuartig, niemand hatte ihn je gewählt.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte Prakash aufs Telefon. «Was heißt ‹Problem›? Was für ein Problem?»

Strickland wusste, in so was war Prakash gut. Er würde diesem Anwalt zur Schnecke machen.

«Es gibt da ein Problem mit dem Stand der Technik, Vijay. Große Teile Ihrer Quellcodebasis sind bereits Allgemeingut – im Internet zugänglich.»

Es wurde totenstill im Raum. Zu hören war nur das Statikknistern des Telefons.

«Sind Sie noch da?»

«Wovon reden Sie? Das kann nicht sein. Wo im Internet?»

«In mehreren Foren. Eine Codesuche ergab ein halbes Dutzend Websites, wo Teile Ihres Codes in genau derselben Form stehen. Selbst die Kommentare sind teilweise drin. Ich weiß nicht, wie das dorthin gekommen ist oder –»

«Verdammt!», brach es aus Prakash heraus, während er finster in die Runde starrte.

«Vijay, ich sage Ihnen nur, wie die Fakten liegen.»

«Ich habe diesen Code von Anfang bis Ende selbst entwickelt. Ohne irgendeine anderweitige ‹Inspiration›. Es ist meiner.»

Unter anderen Umständen hätte Strickland vielleicht darauf beharrt, dass sein Beitrag nicht gänzlich ungewürdigt blieb, aber im Moment fühlte er sich, als hätte man ihm eins mit dem Elektroschocker verpasst. Er starrte einfach nur auf das Telefon, hörte sein Herz in seinen Ohren hämmern. Hörte seine Zukunft zerplatzen. Er sah Prakashs braunes Gesicht rot werden, sah Adern auf seinen Schläfen hervortreten – als ob der Mann jeden Moment explodieren würde.

Gerhard Koepple, sonst immer die Ruhe selbst, war aschfahl geworden. Wang, Kasheyev und Chatterjee setzten sich hin und fuhren sich mit den Fingern durchs Haar, als hätten sie gerade vom Tod eines nahen Angehörigen erfahren.

Strickland krächzte: «Wo? Wo im Internet, John?»

«Ich schicke Ihnen gerade einen Link …»

Prakash fuhr dazwischen: «Sie schicken ihn uns allen. Nicht nur Josh. Verstanden?»

«Ja, klar, wenn Sie möchten, Vijay. Hören Sie, mich anzuschreien bringt auch nichts.»

«Schicken Sie einfach den verdammten Link.»

«Okay.» Pause. «Ist unterwegs.»

Strickland mischte sich wieder ein. «John, was heißt das für uns? Was passiert jetzt?»

Kurzes Schweigen. «Nichts passiert. Ich werde Dr. Lei einen Bericht vorlegen, dass die Patente nicht durchsetzbar sind. Und ich gehe davon aus, dass das Patentamt zum selben Schluss kommen wird. Ich weiß nicht, ob und, wenn ja, wie sich das auf Ihre Doktorarbeit auswirken wird, aber so ist nun mal die Situation. Mein Beileid. Wie auch immer es dazu gekommen ist, und ich sage nicht, dass Sie irgendwo abgeschrieben haben, aber Fakt ist, dass dieser Code jetzt Allgemeingut ist. Sie werden ihn nicht patentieren lassen können, solange dieses Stand-der-Technik-Problem nicht gelöst ist.»

Prakash ergriff das Telefon, riss es aus seiner Konsole und feuerte es ans Fenster. Die Scheibe vibrierte unter dem dumpfen Schlag, und das Telefon zersprang in Einzelteile.

«Hey, Vijay, Mann! Komm runter! Ich wollte ihn noch mehr fragen.»

Prakash ignorierte Strickland; er stürmte aus dem Besprechungsraum in das benachbarte Büro, das er mit Wang teilte.

Strickland lief ihm hinterher, dicht gefolgt vom Rest des Teams. «Vijay.» Er fühlte sein iPhone in seiner Tasche vibrieren, was wohl hieß, dass er eine E-Mail bekommen hatte. Aber zuerst wollte er sich um Vijay kümmern.

Prakash loggte sich in seinen Computer ein und öffnete seinen Mailaccount. Er doppelklickte auf die oberste Mail, während sich die anderen um ihn drängten. Da war ein Schrieb von ihrem Anwalt, mit mehreren Links unter den Worten «Stand der Technik». Der erste war, der «.ru»-Domain nach, zu einer Website irgendwo in Russland.

Chatterjee beugte sich vor und hielt die Hand zwischen Prakash und den Bildschirm. «Nicht direkt! Mit einer VM, Mann.»

Prakash wirkte kurz, als wollte er Chatterjee den Kopf abbeißen, atmete dann aber durch, nickte und kopierte die erste URL in die Zwischenablage. «Das ist nur eine Xenon-Verbindung, Sourav! Und auf dem Computer ist nichts Heikles.» Aber er startete trotzdem eine virtuelle Maschine, öffnete einen Browser und fügte die Adresse in die URL-Zeile ein.

Alle sahen mit angehaltenem Atem zu, wie auf dem Bildschirm eine Offshore-Warez-Seite namens Sourcebomber.ru erschien. Da stand, einen ganzen Teil der Seite einnehmend, der Quellcode für ihre Aufmerksamkeitszustand-Klasse. Selbst Strickland, der nicht so viel zu dem Code beigetragen hatte wie das übrige Team, erkannte sofort Prakashs Werk – oder jedenfalls das, was sie immer dafür gehalten hatten. In Stricklands Hinterkopf tauchte jetzt die Frage auf, ob der Reiche-Leute-Sohn aus Bengalen wirklich der hochbegabte Softwarearchitekt war, als den ihn alle sahen – aber das war natürlich Quatsch. Prakash war in Stanford angenommen worden! Er hatte im Undergraduate-Studium in allen Informatikkursen geglänzt. Echte Genies hatten eng mit Prakash zusammengearbeitet und waren immer beeindruckt gewesen.

Strickland konnte sich kaum konzentrieren, als Prakashs zittrige Hand die Seite hinunterscrollte und Funktion um Funktion, Klasse um Klasse ihres kostbaren Quellcodes in diesem öffentlichen Forum erschien. Es war, wie die Liebe seines Lebens in einem Gang-Bang-Porno zu entdecken.

Und da brannte Prakash endgültig die Sicherung durch. Er packte den Flat-Panel-Monitor und riss ihn vom Schreibtisch hoch. Das Team stob auseinander, als er mit dem Monitor auf die Wand einzudreschen begann. Plastik und Glas flogen. Prakash brüllte jetzt wie ein Tier.

Ihre wissenschaftliche Betreuerin, die elfenhafte Dr. Lei, kam herein und schrie Prakash an. Jetzt erst ging Strickland auf, dass niemand auf die Idee gekommen war, sie ins Besprechungszimmer zu rufen. Auch für Dr. Lei stand hier einiges auf dem Spiel. Aber sie hatten ja gedacht, es würde einfach nur ein Routinetelefonat.

Sie schrie: «Vijay! Beruhigen Sie sich! Was ist los?»

«Der verdammte Quellcode steht im Internet! Raconteur ist jetzt Scheißfreeware! Es ist unpatentierbar! Daran ist jemand aus dem Team hier schuld!»

Die anderen Teammitglieder zeigten Frühstadien der Trauer. Prakash nicht, er hatte sie allesamt übersprungen und war direkt bei der Wut gelandet.

Kasheyev starrte blind auf Prakashs leeren Schreibtisch. «Oder jemand hat es uns gestohlen.»

Prakash fixierte den jungenhaften Russen. «Gestohlen? Glaubst du, wenn hier Idioten wie Wang und Strickland rumlaufen, bräuchte uns jemand den Code zu stehlen?»

Strickland hatte bei der Sache mehr zu verlieren als irgendjemand sonst. Was erlaubte sich Prakash eigentlich? «Jetzt aber mal langsam –»

Prakash baute sich vor Kasheyev auf. «Wie soll ihn denn jemand gestohlen haben? Unsere Server sind nicht mal im SUNet. Es sind keine Drahtlosgeräte dran. Ich kontrolliere seit Monaten die Protokolldateien der Merakis auf bösartige Verbindungen oder Transfers.»

Dr. Lei fragte stirnrunzelnd: «Wie können Sie das? Sie haben doch keine Admin–»

Er ignorierte sie. «Und alles, was von unserem Code auch nur in die Nähe einer Netzwerkverbindung kommt, ist bereits verschleiert und kompiliert. Außer dem Code, den meine lieben ‹Teamgefährten› in ihrem Besitz haben.» Er zeigte dorthin, wo der Monitor gestanden hatte. «Du hast den Code doch gesehen. Es war unser unkompilierter Quellcode – und eine ziemlich neue Version noch dazu. Mit Kommentaren und allem!»