DAEMON - Daniel Suarez - E-Book + Hörbuch

DAEMON Hörbuch

Daniel Suarez

4,3

Beschreibung

Es beobachtet. Es lernt. Und es tötet. Auf dem Bildschirm erschien das körnige Videobild eines Mannes. Er nickte müde in die Kamera. «Detective Sebeck. Darf ich mich vorstellen? Ich war Matthew Sobol, zu Lebzeiten Chef von CyberStorm Entertainment.» Sebeck beugte sich vor. «Wie ich sehe, sind Sie mit den Mordfällen Pavlos und Singh befasst. Um Ihnen unnötigen Aufwand zu ersparen, sage ich Ihnen: Ich habe beide getötet. Warum, werden Sie bald erfahren. Allerdings haben Sie ein Problem. Sie können mich nicht verhaften. Sie können mich nicht aufhalten. Denn ich bin tot.» Matthew Sobol ist einer der reichsten Männer des Silicon Valley und ein Computergenie. Doch seit langem leidet er an einer unheilbaren Krankheit. Exakt in der Sekunde seines Todes nehmen rund um den Erdball Computerprogramme ihre Arbeit auf – zunächst unbemerkt, aber sehr bald schon wird deutlich, dass ein DAEMON den gesamten digitalisierten Planeten infiziert hat. Ein DAEMON, der herrscht, ein DAEMON, der tötet. Und in einer Welt, in der alle vernetzt sind, kann ihm keiner entkommen. «Unbarmherzig spannend.» (Daily Telegraph) «Dieses fesselnde Debüt ist das perfekte Geschenk für einen Computerfreak oder einfach für jemanden, der Nervenkitzel und Techno-Spannung schätzt … Eine Wendung zum Schluss, die allen Erwartungen zuwiderläuft, lässt den Leser beklommen und ungeduldig auf die versprochene Fortsetzung warten.» (Publishers Weekly) «Die Wirklichkeit steckt überall in diesem Roman, sie ist aufregend und macht einem Angst.» (Time Magazine) «Ein erstklassiges Debüt mit einigen der besten Action-Szenen, die ich je gelesen habe. Für Spannungsleser und Science-Fiction-Fans gleichermaßen geeignet.» (Independent on Sunday) «‹Daemon› ist das einzig Wahre – ein erschreckender Blick auf das, was schiefgehen kann, wenn wir immer abhängiger von Computer-Netzwerken werden.» (Craig Newmark, Gründer von Craiglist) «Ein phantastischer Techno-Thriller! Suarez zeichnet das faszinierende Bild eines rechnergesteuerten Terrorismus, vereinigt dabei bereits existierende wie in naher Zukunft erwartbare Technologien und erzählt eine glaubwürdige und ziemlich ausgekochte Story.» (William O'Brien, Leiter der Abteilung Cybersecurity und Kommunikation des Weißen Hauses)

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Zeit:16 Std. 33 min

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Daniel Suarez

DAEMON

Die Welt ist nur ein Spiel

Thriller

 

 

Übersetzt von Cornelia Holfelder-von der Tann

 

Über dieses Buch

Es beobachtet. Es lernt. Und es tötet.

 

Auf dem Bildschirm erschien das körnige Videobild eines Mannes. Er nickte müde in die Kamera.

«Detective Sebeck. Darf ich mich vorstellen? Ich war Matthew Sobol, zu Lebzeiten Chef von CyberStorm Entertainment.»

Sebeck beugte sich vor.

«Wie ich sehe, sind Sie mit den Mordfällen Pavlos und Singh befasst. Um Ihnen unnötigen Aufwand zu ersparen, sage ich Ihnen: Ich habe beide getötet. Warum, werden Sie bald erfahren. Allerdings haben Sie ein Problem. Sie können mich nicht verhaften. Sie können mich nicht aufhalten. Denn ich bin tot.»

 

Matthew Sobol ist einer der reichsten Männer des Silicon Valley und ein Computergenie. Doch seit langem leidet er an einer unheilbaren Krankheit. Exakt in der Sekunde seines Todes nehmen rund um den Erdball Computerprogramme ihre Arbeit auf – zunächst unbemerkt, aber sehr bald schon wird deutlich, dass ein DAEMON den gesamten digitalisierten Planeten infiziert hat. Ein DAEMON, der herrscht, ein DAEMON, der tötet. Und in einer Welt, in der alle vernetzt sind, kann ihm keiner entkommen.

 

«Unbarmherzig spannend.» (Daily Telegraph)

 

«Dieses fesselnde Debüt ist das perfekte Geschenk für einen Computerfreak oder einfach für jemanden, der Nervenkitzel und Techno-Spannung schätzt … Eine Wendung zum Schluss, die allen Erwartungen zuwiderläuft, lässt den Leser beklommen und ungeduldig auf die versprochene Fortsetzung warten.» (Publishers Weekly)

 

«Die Wirklichkeit steckt überall in diesem Roman, sie ist aufregend und macht einem Angst.» (Time Magazine)

 

«Ein erstklassiges Debüt mit einigen der besten Action-Szenen, die ich je gelesen habe. Für Spannungsleser und Science-Fiction-Fans gleichermaßen geeignet.» (Independent on Sunday)

 

«‹Daemon› ist das einzig Wahre – ein erschreckender Blick auf das, was schiefgehen kann, wenn wir immer abhängiger von Computer-Netzwerken werden.» (Craig Newmark, Gründer von Craiglist)

 

«Ein phantastischer Techno-Thriller! Suarez zeichnet das faszinierende Bild eines rechnergesteuerten Terrorismus, vereinigt dabei bereits existierende wie in naher Zukunft erwartbare Technologien und erzählt eine glaubwürdige und ziemlich ausgekochte Story.» (William O’Brien, Leiter der Abteilung Cybersecurity und Kommunikation des Weißen Hauses)

Vita

Bevor Daniel Suarez seinen ersten Roman begann, machte er als Systemberater und Softwareentwickler Karriere. «Daemon» veröffentlichte er 2006 unter Pseudonym im Eigenverlag. Nachdem der Roman die Internet- und Gaming-Community im Sturm erobert hatte, wurde ein großer Verlag auf das Buch aufmerksam. In der neuen Ausgabe wurde «Daemon» zum Bestseller, genau wie der Nachfolgeband «Darknet»; eine Verfilmung ist in Vorbereitung. Daniel Suarez lebt und arbeitet in Kalifornien.

Für Michelle

Keine Gutenachtgeschichten mehr …

Daemon – ein Computerprogramm, das ständig im Hintergrund abläuft und zu festgelegten Zeitpunkten oder als Reaktion auf bestimmte Ereignisse spezielle Prozesse ausführt. Das Wort ist eine Zusammenziehung aus «Disk and Execution Monitor».

1Hinrichtung

Reuters.com/business

 

Matthew A. Sobol, Mitbegründer und technischer Leiter der Firma CyberStorm Entertainment (HSTM – Nasdaq), erlag heute nach längerem Kampf einem Gehirntumor. Sobol, ein Pionier der mittlerweile bei 40 Milliarden Dollar Jahresumsatz angelangten Computerspiele-Branche, schuf u.a. die weltweit erfolgreichen CyberStorm-Onlinespiele Over the Rhine und The Gate. CyberStorm-Manager Kenneth Kevault nennt Sobol einen «unermüdlichen Innovator und Ausnahmeintellekt».

Was zum Teufel ist das? Das war alles, was Joseph Pavlos denken konnte, während er mit der behandschuhten Rechten seine Kehle umklammerte. Was das Blut nicht daran hinderte, zwischen seinen Fingern hervorzupulsen. Neben seinem Gesicht hatte sich bereits eine erschreckend große Lache gebildet. Aus irgendeinem Grund lag er auf dem Erdboden. Er konnte die Wunde zwar nicht sehen, aber der Schmerz sagte ihm, dass sie tief war. Er drehte sich auf den Rücken und starrte in einen makellos blauen Himmel.

Sein normalerweise so systematisch arbeitender Verstand versuchte hektisch, irgendwelche Optionen zu fassen zu bekommen – wie jemand, der in einem rauchvernebelten Gebäude nach einem Notausgang tastet. Er musste etwas tun. Irgendwas. Aber was? Die Frage Was zum Teufel ist das?hallte immer wieder unbeantwortet durch sein Denken, während das Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Adrenalin schoss durch seinen Körper, beschleunigte den Herzschlag. Er versuchte um Hilfe zu rufen. Ging nicht. Blut spritzte ein ganzes Stück in die Luft und regnete auf sein Gesicht herab. Die Halsschlagader …

Er drückte so fest zu, dass er sich beinah selbst erwürgte. Und dabei hatte er sich doch eben noch so gut gefühlt. Das zumindest wusste er noch. Die letzten Schulden bezahlt. Endlich.

Er wurde allmählich ruhiger. Seltsam. Er versuchte sich zu erinnern, was er zuletzt getan hatte. Wie er hierhergekommen war. Es schien jetzt so unwichtig. Sein Griff lockerte sich. Es war völlig klar, dass keinerlei Maßnahmen nötig waren. Weil es kein logisches Szenario gab, wie er hier lebendig wieder herauskommen konnte. Und schließlich waren es Pavlos’ außerordentliche logische Fähigkeiten, die ihn im Leben so weit gebracht hatten. Ihn um die halbe Welt geführt hatten. Das war’s. Er hatte bereits alles getan, was er je tun würde. Sein Gesichtsfeld begann sich von den Rändern her zu verengen, und er fühlte sich wie ein unbeteiligter Beobachter. Er war jetzt ganz ruhig.

Und in diesem kühlen, distanzierten Zustand begriff er es plötzlich. Matthew Sobol war gestorben. Das war in den Nachrichten gekommen. Und da fügte sich plötzlich alles zusammen. Sobols Spiel ergab jetzt endlich einen Sinn. Es war wirklich phantastisch.

Cleverer Bursche …

2Disziplinloser Prozess

Thousand Oaks, Kalifornien, hatte etwas fast schon übernatürlich Ordentliches. Hier baute man keine Häuser. Hier produzierte man sie – hundert identische mediterrane Villen auf einen Schlag. Geschlossene Wohnanlagen, deren Namen aus allen denkbaren Kombinationen von «Bridge», «Haven», «Glen» und «Lake» bestanden, überzogen die Hänge.

Die besseren Ladenketten hatten ihre Filialen im Zentrum, und das Verkaufspersonal pendelte jeden Tag aus Vasallenkommunen hierher. Wie die Altstadt von Lyon ihre mittelalterliche Gerbergasse hatte, so gab es in Südkalifornien ein Valley der Coffee-Shop-Baristas und einen Canyon der Feuerwehrleute und Rettungskräfte.

Für die normale arbeitende Bevölkerung wurde Amerika immer mehr zum Rätsel. Wer kaufte eigentlich all diese Zweihundert-Dollar-Kupferkochtöpfe? Und wie bezahlten die Leute all diese BMW? Waren sie besonders gewieft oder einfach nur unfassbar leichtfertig?

Das Fernsehen, dachte Pete Sebeck, hatte dazu sicher einiges zu sagen. Wenn er nicht schlafen konnte, zappte er durch die Kanäle und ließ die Werbespots auf sich wirken. Gehörte er zur Zielgruppe? Hatten sie ihn richtig analysiert? Und was sagte das über ihn aus? Der History Channel hielt ihn offenbar entweder für einen Korea-Veteranen, der einen wirklich potenten Buschmäher suchte, oder aber für jemanden, der sich dringend beruflich verändern wollte. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass eins von beidem stimmte.

Der Freeway 101 schnitt Thousand Oaks in zwei Teile, aber es gab letztlich keine schlechtere Seite der Schnellstraße. Dieser Ort nannte sich die sicherste Stadt Amerikas, und als Detective Pete Sebeck die sauberen Boulevards an seinem Beifahrerfenster vorbeiziehen sah, fiel ihm wieder ein, warum Laura und er vor dreizehn Jahren hierhergezogen waren – damals, als man es sich noch hatte leisten können. Ventura County war für das Leben mit Kindern gemacht. Wenn man es hier nicht schaffte, seine Kleinen anständig großzuziehen, dann hätte einem auch Gott persönlich nicht helfen können.

«Migräne, Pete?»

Sebeck wandte sich Nathan Mantz zu, der ihn vom Fahrersitz besorgt beobachtete. Sebeck schüttelte kaum merklich den Kopf. Mantz kannte ihn zu gut, um nachzuhaken.

Sebeck dachte an Burkows Funkruf. Das würde in einigen Country Clubs ganz schöne Wellen schlagen. Sebeck und Mantz durchquerten die Stadt mit Blinklicht, aber ohne Sirene. Nur kein unnötiges Aufsehen. Aus seinem ungekennzeichneten Crown Victoria betrachtete Sebeck die nichtsahnenden Bürger – die Stützen der Gesellschaft beim Powerwalken. Heute Abend in ihrem Pilateskurs würden sie jedenfalls Gesprächsstoff haben.

Der Crown Vic tauchte in die noch unbebauten Canyons hinter der letzten Wohnanlage hinab. Ihr Ziel war nicht schwer zu finden. Ein Krankenwagen, drei Streifenwagen und ein paar ungekennzeichnete Fahrzeuge auf dem sandigen Bankett der Potrero Road markierten es deutlich. Zwei Beamte des Sheriff’s Department standen vor einem geschlossenen Stahltor in einem Maschendrahtzaun.

Mantz hielt vor dem Tor. Sebeck stieg aus und wandte sich an den nächststehenden Beamten. «Der Coroner?»

«Unterwegs, Sergeant.»

«Wo ist Detective Burkow?»

Der Beamte zeigte auf ein Loch, das in den Maschendrahtzaun geschnitten war.

Sebeck wartete auf Mantz, der noch mit der Zentrale sprach. Er wandte sich wieder an den Beamten. «Können wir das Tor hier öffnen?»

«Geht nicht, Sergeant. Es hat ein integriertes Fernbedienungsschloss. Da ist nichts, was man einfach durchsägen kann.»

Sebeck nickte, während Mantz herankam.

«Das Anwesen gehört einer hiesigen Firma – CyberStorm Entertainment. Mit denen haben wir schon gesprochen. Sie schicken jemanden her.»

Sebeck zwängte sich durch das Loch im Zaun, und Mantz kam hinterher. Sie folgten einem unbefestigten Weg, der sich durch den Chaparral auf dem Grund des Canyons wand. Schon nach einem kurzen Stück erreichten sie eine Gruppe von Sanitätern und Deputys des Sheriff’s Department, die in sorgsamem Abstand von einem Polizeifotografen schweißglänzend in der glühenden Mittagssonne standen. Die Sanitäter hatten eine Rolltrage, aber offenbar keine Eile. Die Köpfe drehten sich, als Sebecks und Mantz’ Schritte heranknirschten. «Tag, die Herren.» Ein Blick in die Runde. «Und Damen.»

Die Versammelten murmelten irgendwelche Begrüßungsfloskeln und traten beiseite, um Sebeck und Mantz durchzulassen.

Detective Martin Burkow, ein korpulenter Mann in den Fünfzigern mit schlechtsitzenden Hosen, stand auf einem sandigen Hügel am Wegrand. Neben ihm beugte sich der Polizeifotograf vor, um von oben einen Leichnam abzulichten, der auf der Straße lag. Eine bräunliche Pfütze aus angeronnenem Blut kam unter dem Körper hervor und bildete dunkle Bächlein in Richtung des Gefälles.

Sebeck betrachtete die Umgebung. Eine Motocross-Maschine lag zwanzig Meter weiter an einer Böschung. Er konnte erkennen, wo sie gegen die linke Canyonwand geprallt und dann auf die andere Seite hinübergeschlittert war.

Zwischen ihm und der Leiche spannte sich in Halshöhe ein straffes Drahtseil über den Weg. Es schnitt diesen im Fünfundvierzig-Grad-Winkel, auf der linken Seite näher bei Sebeck als auf der rechten. Alles, was hier mit hohem Tempo entlangkam, musste das Drahtseil entlanggleiten wie über ein Sägeblatt. Auf einem gut drei Meter langen Stück war der Draht blutverkrustet. Die Leiche lag zehn Meter dahinter, ein Motorradhelm nochmal fünf Meter weiter.

Sebecks Blick folgte dem dünnen Drahtseil nach rechts zu einem Stahlpfosten, der aus dem Chaparral ragte. Dann nach links durch die Büsche. Direkt unter dem Seil zog sich eine frische Furche über den Weg.

«Was haben wir bisher, Martin?»

Detective Burkow gab das schwindsüchtige Husten eines lebenslangen Rauchers von sich. «Hallo, Pete. Danke, dass Sie gekommen sind. Männliche weiße Person, circa dreißig. Ein Anwohner, der mit seinem Hund spazieren war, hat ihn vor etwa einer Stunde gefunden. Es wurde zuerst als 10-54 gemeldet, aber ich dachte, ich hole euch doch besser dazu. Mir sieht das mehr nach einer 187 aus.»

Sebeck und Mantz sahen sich an und zogen die Augenbrauen hoch. Ein Tötungsdelikt. Eine Rarität in Thousand Oaks. Mörderisch waren hier für gewöhnlich nur die Immobilienpreise.

Der Fotograf nickte Burkow zu und ging vorsichtig den Wegrand entlang. Burkow winkte sie mit sich. «Links bleiben, in den Spurrillen. Die Fußabdrücke sind alle auf der anderen Seite.» Er stieg den Hügel hinab.

 

Sebeck und Mantz duckten sich unter dem Drahtseil durch und traten an den Leichnam heran. Zu Sebecks Erleichterung war der Kopf noch dran. Der Motorradhelm war leer. Der Tote trug einen teuer aussehenden Motocross-Overall mit Logo-Aufnähern. In Brusthöhe war das gelbe Nylon aufgerissen. Wie es aussah, war er zuerst mit der Brust gegen das Drahtseil geprallt, das dann zu seiner Kehle hochgeschnellt war. Der Kehlkopf des Mannes war aufgeschnitten, und über der klaffenden Wunde schwirrten Fliegen. Seine Haut war alabasterweiß, und seine trockenen, glanzlosen Augen starrten auf Sebecks Schuhe.

Sebeck zog Latexhandschuhe an und beugte sich über den Toten. Er tastete seine Kleidung nach einer Brieftasche oder irgendeinem Ausweis ab. Da schien nichts zu sein. Er blickte auf die Cross-Maschine weiter vorn und drehte sich dann zu dem Polizeifotografen um. «Carey, versuchen Sie mal, die Nummernschilder der Maschine zu lesen. Vielleicht können wir den Mann ja darüber identifizieren.»

Der Fotograf spähte den Canyon entlang, setzte dann ein 200-Millimeter-Objektiv auf seine Kamera und visierte das Motorrad an.

Sebeck erhob sich. Sein Blick wanderte noch einmal das Drahtseil entlang bis zu der Stelle, wo es im Gebüsch verschwand. «Weiß jemand, wo es dort endet?»

Die Beamten und Sanitäter schüttelten den Kopf.

 

«Wir gehen dem Ding nach, Nathan. Nicht drankommen. Und Vorsicht mit möglichen Spuren.» Er wandte sich wieder an Burkow. «Marty, was sind das alles für Abdrücke da auf dem Weg?»

«Die Anwohner gehen hier immer lang. Ein paar habe ich schon befragt.»

«Ich will einen Gipsabguss von jedem Abdruck in diesem Bereich.» Sebeck deutete den Weg entlang.

«Das gibt aber eine ganze Menge Abgüsse.»

«Sagen Sie der Spurensicherung, die Hundespuren können sie sich sparen.»

Mantz grinste. «Ich weiß nicht, ich habe gehört, Pekinesen sind ganz schön abgebrüht.»

Sebeck sah ihn grimmig an und zeigte auf die Büsche. Das Drahtseil verlief durch eine Bresche in der Böschung, die wieder zur Potrero Road führte. Er und Mantz nahmen sich je eine Seite vor und inspizierten den sandigen Boden, während sie sich durchs Gebüsch zwängten.

«Aufpassen wegen Klapperschlangen, Pete.» Mantz sprang über einen Erosionsgraben.

Das Drahtseil war leicht zu verfolgen, und die Furche im Boden begleitete es den ganzen Weg. Nach zwanzig Metern standen sie wieder am Maschendrahtzaun zur Potrero Road, vor der Rückseite eines Betreten-verboten-Schilds. Das Seil führte durch den Zaun und in die Rückwand eines etwa siebzig mal siebzig Zentimeter großen Stahlkastens, der auf einem dicken Holzpfahl saß. Die Furche endete etwa zwei Meter diesseits des Zauns. Sie hatten keine weiteren Fußspuren gefunden.

«Gehen wir außen rum auf die andere Seite.»

 

Ein paar Minuten später waren sie wieder am Tor zur Potrero Road. Sie schlüpften durch den Zaun und standen nach etwa hundert Metern vor dem Kasten. Eine Stahlschweißkonstruktion, die ziemlich robust aussah. Ein paar Dellen zeigten an, dass ihn irgendwelche Jugendlichen als Zielscheibe benutzt hatten, aber durchschlagen hatte ihn keine Kugel.

«Solides Ding.» Sebeck musterte ein quadratisches Loch auf der Rückseite des Kastens, durch das das Drahtseil im Inneren verschwand. «Windengehäuse?»

Mantz nickte. «Zuerst dachte ich ja, ein paar Kids hätten sich vielleicht einen üblen Streich ausgedacht. Aber das hier ist technisch ausgeklügelt. Wozu mag dieses Ding dienen?»

Sie drehten sich um, als ein Range Rover und ein Pick-up beim Tor hielten. Zwei Männer in Khakihosen stiegen aus dem Rover. Sie sprachen kurz mit den Deputys, die in Sebecks und Mantz’ Richtung zeigten. Die Khakihosen-Typen sprangen wieder in den Wagen, und beide Fahrzeuge kamen zu ihnen rüber. Der Rover stoppte kurz vor ihnen und hüllte sie in eine Staubwolke.

Die Typen stiegen wieder aus. Der Beifahrer kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Er sah nach Geld aus – Business-Casual mit Knitterfalten. «Detectives. Gordon Pietro, leitender Rechtsberater von CyberStorm Entertainment.» Sie gaben sich die Hand. Pietro überreichte jedem von ihnen eine Visitenkarte. «Das ist unser PR-Direktor, Ron Massey.»

Sebeck nickte. Massey hatte längere Haare als Pietro und eine gepiercte Augenbraue mit einem Goldring. Er war Ende zwanzig und sah ebenfalls nach Geld aus. Sebeck verspürte einen Anfall von Neid. Unwillkürlich schob sich der Gedanke in seinen Kopf, dass er diesem Bürschchen jederzeit mühelos die Scheiße aus dem Leib prügeln könnte. Er schob ihn wieder weg. «Das ist Detective Mantz. Ich bin Detective Sergeant Sebeck, East-County, Abteilung Schwerverbrechen.»

Pietro sah ihn verdutzt an. «Schwerverbrechen? Uns hat man gesagt, auf dem Anwesen habe es einen tödlichen Unfall gegeben.»

«Die Beamten vor Ort haben uns verständigt. Wir gehen von einem möglichen Tötungsdelikt aus.» Sebeck beugte sich um Pietro herum und musterte den Pick-up, der hinter dem Rover stand. Auf der Tür hatte er ein Firmenlogo, das aus diesem Winkel nicht recht zu erkennen war. «Wer ist das da in dem Pick-up?»

«Oh – jemand von der Immobilienverwaltungsfirma. Die sind für die Instandhaltung des Anwesens zuständig. Er hat eine Fernbedienung für das Zufahrtstor.»

«Er soll aussteigen. Ich will ihn sprechen.»

Pietro ging hin und gestikulierte auf den Mann im Pick-up ein.

Sebeck wandte sich an Massey. «Wofür wird das Anwesen genutzt?»

«CyberStorm hat das Grundstück als Investment erworben. Außerdem organisiert das Unternehmen hier Camps, Team-Building-Aktivitäten und dergleichen.»

Sebeck nahm Notizbuch und Stift heraus. «Sie sind also der PR-Mann? Was genau macht CyberStorm Entertainment, Ron?»

«Wir sind einer der bedeutendsten Computerspiele-Entwickler. Sagt Ihnen Over the Rhine etwas?»

«Nein.»

Burkow rief vom Tor herüber: «Pete! Ich habe einen Namen von der Kraftfahrzeugbehörde. Das Motorrad ist auf einen gewissen Joseph Pavlos zugelassen. Wohnt in einer dieser Villenbatterien auf dem Hügel.»

Massey schlug sich die Hand vor den Mund. «Ach, du Schande.»

«Sie kennen das Opfer?»

«Klar. Er ist einer unserer leitenden Spieleentwickler. Was ist passiert?»

Sebeck deutete mit dem Stift auf das Anwesen. «Er ist mit dem Hals gegen ein Drahtseil geprallt. Wissen Sie, ob er hier regelmäßig mit dem Motorrad unterwegs gewesen ist?»

«Keine Ahnung, aber sein Entwicklungsteam weiß es vielleicht.»

Pietro kam mit einem Mann zurück, einem Mexikaner in den Vierzigern, der einen grünen Overall trug. Der Mann sah aus, als ob er ein hartes Leben hinter sich hätte – und jetzt damit rechnete, dass es gleich noch viel härter werden würde.

«Ron? Der Tote ist Pav?»

Massey nickte und zog ein Handy heraus. «Mistcanyon. Kein Empfang.»

Pietro zückte sein Handy zu einem Signalvergleich. «Bei welchem Anbieter sind Sie? Ich habe zwei Striche.»

Sebeck schaltete sich ein. «Und Sie sind?»

Pietro wandte sich ihm wieder zu. «Das ist Haime.»

«Wie heißen Sie mit ganzem Namen, Haime?»

«Haime Alvarez Jimenez, Señor.»

«Können Sie sich irgendwie ausweisen, Mr. Jimenez?»

«Was ist los?»

«Es gab einen Toten. Kann ich bitte einen Ausweis sehen?»

Haime sah Pietro und Massey an, kramte dann nach seiner Brieftasche. Er fand seinen Führerschein und streckte ihn Sebeck hin. Seine Hand zitterte merklich.

Sebeck lächelte leise. «Haime, haben Sie diesen Mann getötet?»

«Nein, Sir.»

«Dann bleiben Sie ganz ruhig.» Er nahm den Führerschein und inspizierte ihn.

Haime zeigte auf den Stahlkasten. «Ich heute erledige Arbeitsauftrag an diese Winde. Ich nur drehe Schlüssel. Wie steht in Arbeitsauftrag.»

«Wo ist der Arbeitsauftrag?»

«In Handheld in meine Pick-up.»

«Haben Sie den Schlüssel zu diesem Gehäuse?»

Haime nickte und zog einen Bund mit einem Barcode-Schildchen und drei Schlüsseln heraus.

«Sie haben heute diese Winde eingeschaltet? Um welche Uhrzeit?»

«So neun Uhr, neun Uhr dreißig. Ich kann genau sagen, wenn ich Arbeitsauftrag gucke.»

Sebeck ließ sich die Schlüssel geben und öffnete das Windengehäuse. Drinnen befand sich eine Elektrowinde mit einem weiteren Schlüsselloch auf der Vorderseite.

«Wofür ist der dritte Schlüssel?»

«Manuelle Öffnung von Zufahrtstor.»

«Sie haben also den Schlüssel gedreht. Die Winde ist angesprungen und hat das Drahtseil …», Sebeck beugte sich zum Zaun hin, «… aus dem Boden gezogen.»

«Nein, Señor. Nix Drahtseil. Nur Motor von Winde.»

Die anderen verdrehten die Augen.

«Haime, wenn Ihre Firma Sie hierhergeschickt hat, um das zu tun, haben Sie nicht viel zu befürchten. Wozu dient diese Winde überhaupt?»

Haime zuckte die Achseln. «Ich sie vorher nie mache an.»

«Können Sie mir diesen Arbeitsauftrag zeigen?»

«Ja, Sir.» Haime rannte zu seinem Pick-up.

Pietro blickte das Drahtseil entlang. «Was genau ist denn passiert, Detective Sebeck?»

«Jemand hat diese Winde und das Gehäuse hier installiert und dann ein Drahtseil im Boden versenkt. Beim Einschalten der Winde hat sich der Draht in Halshöhe über den Weg gespannt.»

Die beiden CyberStorm-Manager sahen verwirrt aus.

Pietro griff sich ans Kinn. «Sind Sie sicher, dass es nicht … so was wie eine Sperrkette ist?»

«Warum sollte man die vergraben? Warum sollte man überhaupt eine haben, wenn man ein massives Zufahrtstor hat?»

Darauf wusste Pietro keine Antwort.

Haime kam zurück und präsentierte Sebeck sein Handheld. Er schirmte das Display mit seiner schwieligen Hand gegen das Sonnenlicht ab und deutete auf den angezeigten Arbeitsauftrag. «Da – ‹Winde für Antenne laufen lassen, bis sie stehenbleibt›.»

Sebeck nahm das Handheld und studierte mit Mantz die Daten auf dem Display. «Nathan, wir brauchen einen Durchsuchungsbefehl für die Immobilienverwaltungsfirma. Lassen Sie das Büro überwachen, bis wir ein Team dort haben. Ach ja, und beschaffen Sie mir eine Fallnummer und Burkows Notizen. Ich übernehme die Ermittlungen. Ab jetzt läuft alles über mich.» Er sah Haime an. «Haime, wir müssen uns auf dem Revier noch ein bisschen mit Ihnen unterhalten.»

«Ich habe doch nichts gemacht, Señor.»

«Ich weiß, Haime. Deshalb werden Sie ja auch sicher mit uns kooperieren, während wir uns einen Durchsuchungsbefehl für Ihren Arbeitgeber beschaffen.»

Pietro schaltete sich ein. «Detective Sebeck –»

«Mr. Pietro, diese Drahtseilvorrichtung wurde von Ihrer Verwaltungsfirma gewartet – was doch wohl darauf hindeutet, dass Sie von ihrer Existenz wussten. Möchten Sie lieber, dass CyberStorm hierfür verantwortlich gemacht wird, oder zieht es CyberStorm vor, meine Ermittlungen zu unterstützen?»

Pietro presste die Lippen zusammen und wandte sich dann an Haime. «Keine Angst, Haime. Gehen Sie mit den Beamten mit. Tun Sie, was sie sagen. Erzählen Sie ihnen alles, was Sie wissen.»

«Ich nix wissen, Señor Pietro.»

«Das ist mir klar, Haime. Aber ich halte es für das Beste, wenn Sie tun, was Detective Sebeck sagt.»

«Ich bin Bürger der Vereinigten Staaten. Bin ich verhaftet?»

Sebeck sah Mantz an. Mantz übernahm. «Nein, Haime. Wir werden nur ein bisschen reden. Den Pick-up können Sie hier stehenlassen. Um den kümmern wir uns.» Mantz bedeutete Haime mitzukommen und eskortierte ihn zu den Streifenwagen.

Pietro nickte Massey zu. «Detective Sebeck, wir werden uns an Ihre Dienststelle wenden und um eine Kopie des Polizeiberichts ersuchen. Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen.» Die beiden Männer stiegen wieder in den Rover und preschten davon, um ein besseres Handysignal zu suchen.

Sebeck blickte noch einmal das Drahtseil entlang. Würde tatsächlich jemand so etwas bauen, nur um jemanden umzubringen? Da gab es doch unaufwendigere Methoden.

Er unterdrückte ein Lächeln. Das hier war sicher kein Selbstmord und auch kein schiefgegangener Drogendeal. Vielleicht war es ja wirklich vorsätzlicher Mord. War es pervers, das zu hoffen? Ob Unfall oder Mord, das Opfer war tot. Daran war nichts zu ändern. Was also sollte pervers daran sein, auf Mord zu hoffen?

Mit diesen Gedanken beschäftigt, drehte Sebeck sich um und ging zum Zufahrtstor zurück.

3Black Box

Sebeck, Mantz und drei Deputys drängten sich um einen mit Post-its bepflasterten Monitor in einem unscheinbaren Büroraum eines der billigeren Gewerbekomplexe von Thousand Oaks. Auf dem Freeway gleich hinter der dünnen Außenmauer rumpelten Sattelschlepper vorbei, aber die Beamten beugten sich konzentriert über die Schultern von Aaron Larson, dem einzigen Experten für Computerkriminalität, den das County Sheriff’s Department besaß.

Larson war Ende zwanzig und hatte etwas Militärisches – Bürstenhaarschnitt, athletische Statur, kantiges Kinn. Und er hatte einen jungenhaften Spaß daran, Computerbetrügern auf die Schliche zu kommen. Jedes Mal, wenn er eine sichere Spur hatte, schüttelte er in Zeitlupe den Kopf – unfassbar, womit die Leute unentdeckt durchzukommen glaubten.

Auf Larsons Bildschirm rollten Textzeilen durch. «Diese Logdatei protokolliert IP-Adressen, die Verbindung zu ihrem Server hergestellt haben. Wie Sie sehen, haben wir um den Zeitpunkt, als der fragliche Arbeitsauftrag einging, eine ganze Reihe von Verbindungen.»

Per Alt-Tab switchte er in ein Custom-Immobilienverwaltungsprogramm. «Ich habe mit der Sekretärin gesprochen, und die sagt, sie können Arbeitsaufträge von Kunden über eine sichere Website entgegennehmen.»

Sebeck nickte. «Dann kam der Auftrag also nicht unbedingt aus diesem Büro.»

«Stimmt.» Larson wandte sich wieder der Custom Application zu. «Das Requestor-Feld hier zeigt als Auftraggeber einen gewissen Chopra Singh bei CyberStorm Entertainment an. Aber – Augenblick – das war nicht die Verbindung, über die der Auftrag ursprünglich kam.»

Larson minimierte alle Fenster bis auf die Logdatei. Er markierte eine Zeile. «Das hier ist die ursprüngliche Verbindung. Wenn ich die IP-Adresse in die Domainabfrage eingebe …» Er wechselte den Screen. «Voilà.»

Eine Whois-Seite zeigte an, dass die Domain einer Alcyone-Versicherungsgesellschaft in Woodland Hills, Kalifornien, gehörte.

Sebeck las die kleine Schrift. «Dann kam der Arbeitsauftrag also ursprünglich von dieser Firma in Woodland Hills.»

«Vielleicht. Vielleicht auch nicht.»

«Sie meinen, der Absender könnte gespooft sein?»

«Das finden wir nur heraus, indem wir uns einen Durchsuchungsbefehl für deren Log-Protokoll besorgen.»

Ein weiterer Deputy betrat das ohnehin schon überfüllte Büro. «Sergeant, da draußen ist ein Ü-Wagen.»

Sebeck wedelte ihn weg, ohne sich umzudrehen. Zu Larson sagte er: «Dann hat also niemand von dieser Verwaltungsfirma hier den Auftrag erteilt, der Pavlos ins Jenseits befördert hat?»

«Scheint so.»

Sebeck sah auf den Monitor. «Ist diese Art Internet-Auftragsannahme bei Klitschen wie der hier üblich?»

Larson schüttelte lächelnd den Kopf. «Nein, ist es nicht. Das ist schon eher was Schickes. Der Büroleiter sagt, ihre Mutterfirma hat es für sie entwickelt. Und raten Sie mal, wer diese Mutterfirma ist?»

«CyberStorm Entertainment.»

Larson tippte sich an die Nase. «Sehr gut, Sergeant.»

In dem Moment knisterten die Funkgeräte los. Sebeck drehte sich um und horchte.

«Einsatzkräfte Nähe Westlake. 10-54 in 3000 Westlake Boulevard gemeldet. Achtung, 10-29. 11-98 bei Gebäude-Sicherheitsdienst.»

Sebeck sah die anderen Beamten an. Ein weiterer Toter war gefunden worden. «Was zum Teufel …»

Die Adresse kam Sebeck irgendwie bekannt vor. Er zog Gordon Pietros Visitenkarte aus der Tasche. Wenigstens funktionierte sein Gedächtnis noch: Dieser Tote war bei CyberStorm Entertainment gefunden worden.

 

Sebecks Erfahrung nach gab es zwei Sorten Entertainment-Firmen: zwielichtige Läden, die in Steuerbetrug, Drogengeschäfte und organisierte Kriminalität verwickelt waren – und phänomenal erfolgreiche Imperien mit immensem weltweitem Einfluss. Dazwischen gab es kaum etwas, und die Verwandlung vom einen ins andere schien über Nacht vor sich zu gehen. Mit Beschilderungsrechten an einem zehnstöckigen Bürohochhaus schien CyberStorm diese Verwandlung bereits hinter sich zu haben.

Der Tote war in einem Sicherheitsvorraum gefunden worden – einer winzigen Durchgangsschleuse zu dem, was die Firmenangestellten eine Serverfarm nannten. Die Serverfarm selbst war voller Serverracks, deren LEDs im Halbdunkel der Notbeleuchtung munter flimmerten. Durch die Glasscheiben sah Sebeck mehrere Beschäftige hin und her gehen. Sie überwachten immer noch die Geräte.

Es war schwer, etwas Genaues zu erkennen, weil die Scheiben mit einem gelblichen Belag überzogen waren – der Niederschlag menschlichen Fetts, das in der geschlossenen Schleusenkammer verbrannt war. Das Opfer war durch einen Stromschlag regelrecht gegrillt worden.

Sebeck stand im Schummerlicht der Notbeleuchtung neben dem Chefgebäudetechniker, dem Network-Director von CyberStorm, mehreren Sanitätern, einem Mann von den städtischen Elektrizitätswerken und dem Präsidenten und CEO von CyberStorm, Ken Kevault.

Kevault war Ende dreißig, groß und schlank, mit Out-of-bed-look-Frisur. Sein kurzärmliges schwarzes Seidenhemd ließ Totenkopf-Tattoos auf seinen Unterarmen zur Geltung kommen, und er hatte jene Sorte Dauerbräune und Falten im Gesicht, die man durch jahrelanges Surfen bekommt. Er wirkte eher wie ein alternder Rockstar als wie ein Topmanager. Seit sie hier waren, hatte er noch kein Wort gesagt.

Sebeck wandte sich an den Mann von den Elektrizitätswerken. «Der Hauptstrom ist ausgefallen?»

Anstelle des Mannes von der Stadt antwortete der Gebäudetechniker. «Ja, Sir.»

Sebeck drehte sich zu ihm. «Dann laufen diese Rechner jetzt auf Notstrom?»

«Genau.»

«Wir müssen diesen Raum evakuieren.»

«Es gibt noch eine zweite Schleuse, aber die könnte genauso gefährlich sein. Ich habe den Leuten gesagt, sie sollen erst mal drinbleiben.»

Sebeck nickte. «Wer kann mir erklären, was passiert ist?»

Der Gebäudetechniker und der Network-Director sahen sich an, aber es war klar, dass der Gebäudetechniker hier die Sprecherfunktion übernommen hatte. «Vor einer halben Stunde etwa bekam einer von den CyberStorm-Leuten einen tödlichen Stromschlag, als er durch die innere Sicherheitstür gehen wollte. Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber die IT-Jungs haben gesagt, er hätte etwa dreißig Sekunden mit qualmenden Schultern dagestanden und wäre dann umgefallen. Und jetzt liegt er da.»

Kevault sog zischend Luft durch die Zähne und schüttelte bekümmert den Kopf.

Sebeck ignorierte ihn. «Einer von den CyberStorm-Leuten? Dann sind Sie also nicht bei CyberStorm?»

Der Techniker schüttelte den Kopf. «Nein, ich arbeite für den Eigentümer des Gebäudes.»

«Und wer ist dieser Eigentümer?»

Die beiden Männer wechselten Blicke, bis Kevault schließlich antwortete. «Das Gebäude gehört einem Immobilien-Investmenttrust, an dem CyberStorm die Mehrheit hält.»

Sebeck wandte sich wieder an den Gebäudetechniker. «Dann sind Sie also doch ein CyberStorm-Angestellter.»

Kevault mischte sich erneut ein. «Nein, der Trust ist eine eigene juristische Person, in die Gebäudetechnik, Security und andere Aufgaben, die mit den Immobilien zu tun haben, outgesourct sind.»

Sebeck sah im Geist schon Rechtsanwälte die nächsten zehn Jahre mit dem Finger aufeinander zeigen. «Vergessen wir das erst mal. Hat seit dem Vorfall irgendjemand das Gebäude betreten oder verlassen?»

Alle Anwesenden schüttelten den Kopf.

«Gibt es Pläne vom Leitungssystem der Schleuse? Irgendwelche ungenehmigten baulichen Veränderungen, von denen ich wissen sollte?»

Die Stimme des Gebäudetechnikers bekam jetzt etwas Scharfes. «Wir nehmen hier keine ungenehmigten Umbauten vor. Die ganze Anlage wurde vor zwei Jahren von der Stadt und den Brandschutzleuten abgenommen, wir können ihnen gern jederzeit die Nutzungsfreigabe vorlegen.»

Der Mann war um die fünfzig. Ein breitschultriger Latino mit einem Marine-Corps-Tattoo auf dem Unterarm. Sebeck hatte den starken Verdacht, dass er sich nichts würde bieten lassen. Der Gebäudetechniker ging rüber zu einer Flatpanel-Workstation auf einem Schreibtisch und drehte das Panel so, dass sie es alle im Blick hatten. In Sekundenschnelle holte er einen 3D-Plan des Vorraums auf den Schirm: jede Menge säuberliche Vektorlinien in Primärfarben.

Der Gebäudetechniker tippte auf der Tastatur herum und highlightete zu jedem seiner Worte eine Farbschicht: «Wasser, Klimakontrolle, Brandschutz/Sicherheit, Elektrizität.»

Er zoomte auf die Graphik. Es war wie ein Videospiel mit durchsichtigen Wänden. Sie sahen jetzt eine räumliche Darstellung der Schleuse, und Sebeck erkannte, dass die gelben Elektrizitätsleitungen im Inneren des Türrahmens zu dem kombinierten Kartenlese-/Codeeingabegerät im Schließblech der Tür führten.

Kein Wunder, dass der Gebäudetechniker seinen Stolz hatte. Er konnte jede verdammte Schraube in 3D vorweisen.

«In dieser Wand gibt es keine Stromquelle, die ausreichen würde, um jemandem einen tödlichen Schlag zu verpassen, und selbst wenn es eine gäbe, müssten die Sicherungen rausgeflogen sein. Da ist irgendwo ein Kurzschluss. Vielleicht zu einer der Hauptleitungen. Vielleicht hat das ja den Türrahmen unter Strom gesetzt.»

Der Mann von den Elektrizitätswerken beugte sich vor. «Was führt in die Serverfarm? 480 Volt, dreiphasig?»

«Ja. Aber das kommt durch den Fußboden rauf. Es gibt da eine Hauptleitung, die durch eine vertikale Bohrung läuft. Der Boden wurde wegen des Gewichts der Racks verstärkt, und da ist ein Glasfaser-Backbone –»

«Meine Herren.» Sebeck trat zwischen sie. «Ich möchte, dass sämtliche Räumlichkeiten von CyberStorm bis auf die Notfallkräfte evakuiert werden. Nathan, ich brauche eine Absperrung an allen Treppen- und Liftzugängen. Wir richten unsere Kontrollzentrale hier vor der Schleuse ein. Ich will, dass jeder Evakuierte sofort befragt wird.»

Der Netzwerkdirektor wandte sich an Sebeck. «Wir haben in diesem Gebäude fünf Etagen. Ist es wirklich nötig, die alle zu evakuieren?»

«Heute sind zwei Ihrer Mitarbeiter durch ‹Unfälle› ums Leben gekommen. Wenn Sie mich fragen, ist das doch ein bisschen viel Zufall.»

Das Gesicht des Network-Directors verzerrte sich. «Zwei?»

«Ganz recht. Lassen Sie sich von Ihrem illustren Chef mal auf Stand bringen.»

Die CyberStorm-Leute wandten sich dem Firmenpräsidenten zu. Kevault kaute an den Fingernägeln – ob vor Ärger oder vor Konzentration, war schwer zu beurteilen. Schließlich sagte er: «Lamont, schalten Sie auf den Spiegelserver um. Und evakuieren Sie dann sämtliche Mitarbeiter.»

Sebeck sah ihn scharf an. «Sie lassen das Gebäude sofort evakuieren. Falls Sie sich irgendwelchen Illusionen hingeben, wer hier das Kommando hat, können Sie gern ein bisschen Bedenkzeit im Polizeigewahrsam haben.»

Kevault setzte an, etwas zu erwidern, besann sich dann aber eines Besseren. Er stapfte durch den Flur davon. Seine Leute folgten ihm.

Sebeck nickte Mantz zu, der daraufhin hinter Kevault hertrabte wie ein Rottweiler, der es auf ein Kleinkind abgesehen hat.

Sebeck hielt den Network-Director, der ebenfalls gehen wollte, am Ärmel fest. «Sie nicht. Sie bleiben hier.»

 

In vierzehn Jahren beim Sheriff’s Department hatte Sebeck einiges an tödlichen Unfällen mitbekommen, und er wusste, wenn so etwas am Arbeitsplatz der betreffenden Person passierte, bedeutete das eine Menge Papierkram. Arbeitsschutzinspektoren, Reporter, Anwälte, Leute von der Hausverwaltung – sie alle lauerten schon hinter den Kulissen. Doch vorerst gab Sebeck Anweisung, niemanden, der nicht von behördlicher Stelle kam oder eine wichtige Funktion zu erfüllen hatte, an seinen Tatort zu lassen.

Der Hauptstrom war weg, und sie hatten zudem über Funk veranlasst, die Zuleitung am öffentlichen Verteiler bis auf Widerruf zu unterbrechen.

Nachdem sie ein paar Tests mit dem Spannungsmessgerät durchgeführt hatten, befanden der Gebäudetechniker und der Mann von den Elektrizitätswerken, dass die Türrahmen nicht unter Strom standen. Sie gaben den Beschäftigten im Datencenter Anweisung, den zweiten Zugang zu öffnen und Polizei und Feuerwehr einzulassen. Dann evakuierten sie die IT-Leute. Jetzt war der Tatort frei von Zivilisten.

Sebeck wunderte sich, wie heiß und stickig es in dem Raum war. So lange konnte die Klimaanlage doch gar nicht aus gewesen sein. Er musterte die Dutzende von Rechnern, die in den Racks vor sich hin arbeiteten. Das produzierte eine ganze Menge Abwärme. Wahrscheinlich hatten sie deshalb diese Eingangsschleusen – um die Temperatur konstant zu halten. Er wandte sich an den Gebäudetechniker: «Wozu sind diese Dinger überhaupt da?»

«Dafür, dass Leute im Internet miteinander Spiele spielen können. Mein Enkel macht das.»

Von so etwas hatte Sebeck schon gehört. Aber er hätte nie gedacht, dass dabei so viel Hardware im Spiel war. Das wirkte alles ganz schön teuer.

Sie gingen zu der inneren Sicherheitstür. Das Opfer lag direkt hinter der Glasscheibe, und sie konnten es jetzt zum ersten Mal richtig sehen. Sebeck war durch die unzähligen Highway-Unfälle, mit denen er in seiner Zeit als Streifenbeamter zu tun gehabt hatte, ziemlich abgebrüht, aber der Network-Director schnappte nach Luft und entschuldigte sich. Wie Sebeck schon vermutet hatte, war der Gebäudetechniker härter im Nehmen.

«Armer Teufel.»

Ein Vietnam-Veteran, dachte Sebeck.

Es war schwer, das Personalaktenfoto mit dem übereinzubringen, was da vor ihnen lag. Das Gesicht des Opfers war von Schmerz verzerrt – oder zumindest von den heftigen Muskelspasmen, die der Stromschlag verursacht hatte. Die Augäpfel hingen auf die Wangen. Das Haar war fast völlig weggesengt. Das ganze Gesicht war voller Blasen, aber Sebeck wusste bereits, wen er da vor sich hatte: einen leitenden Programmierer namens Chopra Singh – den angeblichen Absender des gespooften Arbeitsauftrags über die Winde an der Potrero Road.

Jetzt stand außer Zweifel, dass es in beiden Fällen Mord war. Er musste nur noch Beweise finden.

Sebeck ließ den Mann von den Elektrizitätswerken die Tür sicherheitshalber noch einmal mit dem Spannungsmesser überprüfen und trat dann beiseite, damit ein paar Feuerwehrleute sie öffnen konnten. Der Gestank von verbranntem Haar und Fleisch schlug ihnen entgegen, und aus dem gesamten Team kamen unwillkürliche Stöhnlaute. «Carey, machen Sie ein Video.»

Der Fotograf trat durch die Tür, und gleißendes Licht erfüllte die Schleuse. Danach bestätigten die Sanitäter, woran niemand zweifelte – dass das Opfer tot war. Die Kammer war zu klein für die Leiche und die Ermittler, also beschränkte man sich darauf, den Tatort von der schmalen Tür aus zu inspizieren. Da Sebeck in diesem Fall ausnahmsweise nicht glaubte, dass die Leiche viel an Spuren hergab, verzichtete er auf ihre nähere Untersuchung. Er ließ sie mit einer Plastikplane bedecken und rief den Mann von den Elektrizitätswerken wieder zu sich. «Ich muss wissen, was diese Tür unter Strom gesetzt hat, und zwar schnell.»

«Da besteht keine Gefahr mehr, Sergeant. Im ganzen Haus ist der Strom weg.»

«Es geht mir nicht nur um dieses Gebäude.»

Der Elektriker brauchte einen Moment, um das zu begreifen, nickte dann aber ernst.

Sebeck und der Elektriker drängten sich in der Türöffnung, direkt vor dem inzwischen zugedeckten Toten. Das war alles andere als ideal, aber Sebeck hatte das Gefühl, keine Zeit vergeuden zu dürfen. Der Türrahmen sah ganz normal aus, doch dann löste der Elektriker ein paar Schrauben und hebelte mit einem Stemmeisen die Metallverkleidung ab. Und was darunter zum Vorschein kam, erschien selbst Sebeck merkwürdig.

Ein dünnes Kabel verlief im Inneren des Türrahmens vom Boden aufwärts und führte in die Rückseite des Kartenlesegeräts. Doch ein weiteres, wesentlich dickeres Kabel kam von der Decke herab, und die Kupferdrähte waren direkt am Metallrahmen festgenietet.

Sebeck sah den Elektriker an. «Ich kann mich nicht erinnern, das da auf dem Schaltplan gesehen zu haben.»

Der Elektriker trat neben ihn. «Das ist ein 480-Volt-Kabel. Damit können Sie eine Industrieschleifmaschine speisen.»

Sebeck zeigte an die Decke.

Trittleitern aus Fiberglas und Stirnlampen wurden gebracht. Wenig später drangen sie durch die abgehängte Decke in den Raum darüber vor. Im Licht der Stirnlampen erkannten sie die Brandschutzbeschichtung, die auf die Stahlträger und Stahlbodenplatten des darüberliegenden Stockwerks gespritzt war. Klimaanlagenrohre und Kabelstränge zogen sich durch den Zwischendeckenraum.

Und hier entdeckten sie das schwarze Kästchen – ein Metallgehäuse, in dem die 480-Volt-Leitung verschwand, um dann auf der gegenüberliegenden Seite wieder auszutreten. Außerdem führte noch ein dünnes graues Kabel aus dem Dunkel in das Kästchen.

Sebeck leuchtete den Leitungen nach, so weit es ging. «Okay, bis hierher und nicht weiter.»

 

Das Sprengstoffkommando brauchte zwei Stunden für die Räumungsmaßnahmen. Als die Männer schließlich grünes Licht gaben, wurden weitere Leitern gebracht und weitere Deckenplatten entfernt, bis Sebeck, Mantz, Deputy Aaron Larson und der Sprengstoffexperte des Departments, Bill Greer, schließlich die Köpfe durch die abgehängte Decke strecken und sich zu einer wackligen Besprechung um das nunmehr geöffnete schwarze Kästchen versammeln konnten.

Greer war ein heiter-gelassener Mann um die vierzig. Er hätte ebenso gut einen Kochkurs leiten können, als er jetzt das Visier seines Schutzhelms hochklappte und auf den Metalldeckel in seiner Hand zeigte. «Ziemlich handelsübliches Gehäuse.» Er deutete auf das offene Kästchen, das immer noch an dem Klimakontrollrohr festgeschraubt war. Das 480-Volt-Kabel führte durch ein Nest von Platinen und kleineren Kabeln. «Das ist am Ende nichts anderes als ein Schalter, Sergeant. Wer das hier installiert hat, konnte damit den Türrahmen unter Strom setzen.»

Larson zeigte auf einen Netzwerkport in der Seitenwand des schwarzen Kästchens, fuhr dann mit dem Zeigefinger zu einer kleineren Platine, die mit dem Port verbunden war. «Sehen Sie sich das an: ein Webserver auf einem Chip. Er hat einen winzigen TCP/IP-Stack. Das benutzt man, um so was wie Türen oder Lampen über ein IP-Netzwerk steuern zu können. Ich habe nachgesehen. Die Dinger gibt es im ganzen Haus.» Larson fuhr mit der Hand ein CAT5-Kabel entlang, das von der Platine ins Dunkel führte. «Diese Box ist mit dem Firmennetzwerk verbunden, und das Netzwerk wiederum ist mit dem Internet verbunden. Theoretisch könnte jemand mit den richtigen Passwörtern diesen Schalter hier von irgendeinem Ort der Welt aus bedient haben.»

«Könnte der Schalter auch so eingerichtet sein, dass er sich einschaltet, wenn eine bestimmte Person ihre Schließkarte an der Sicherheitstür durchzieht?»

«Wahrscheinlich schon. Ich weiß noch nicht genug über diese Schließkarten.»

«Wie lange ist der Schalter schon hier?»

Greer musterte die Außenseite des Deckels. «Es war Staub drauf, als wir ihn geöffnet haben.»

«Dann ist diese Vorraumtür vermutlich ein paar tausend Mal geöffnet worden, ohne dass etwas passiert ist – und heute tötet sie plötzlich jemanden. Wir müssen herausfinden, ob dieser Singh jemals vorher im Datencenter war.»

Larson schrieb sich Seriennummern von der Platine ab. «Wir können die Zugriffslogs durchgehen. Und außerdem sind da auch Überwachungskameras.»

Sebeck schüttelte den Kopf. Das war alles zu komplex. Im Moment hatten sie nichts als Spekulationen. Er starrte noch einmal den Schalter an. «Meine Herren, ich glaube, es ist Zeit, das FBI hinzuzuziehen. Nehmen Sie’s mir nicht übel, Aaron, aber das hier übersteigt einfach unsere Fähigkeiten.»

 

Am frühen Abend stand Sebeck, flankiert von Mantz und einem uniformierten Beamten, vor dem Eingang des Gebäudes. Eine hysterische Meute von Reportern umringte sie, die vorgereckten Mikrophone eine einzige bunte Schaumstoffmasse. Hinten funkelten Kameraobjektive, während Reporter Fragen schrien.

Sebeck bat mit Gesten um Ruhe, bis er nichts mehr hörte als die Generatoren der in der Nähe parkenden Satelliten-Ü-Wagen. «Bis jetzt wissen wir Folgendes. Heute Vormittag, ca. 11.30 Uhr, wurde Joseph Pavlos, ein Beschäftigter von CyberStorm Entertainment, in einem Canyon an der Potrero Road in Thousand Oaks tot aufgefunden. Um ca. 14 Uhr wurde ein zweiter CyberStorm-Mitarbeiter durch einen Stromschlag getötet, wobei es sich nach unserem jetzigen Erkenntnisstand um eine vorsätzliche Tat handelte. Die Identität des zweiten Opfers kann nicht preisgegeben werden, da die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen noch nicht erfolgt ist. Wir glauben, dass auch Mr. Pavlos einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen ist, und haben Unterstützung durch das FBI angefordert.»

Wieder brach eine Salve von Fragen über Sebeck herein. Und wieder bat er mit erhobener Hand um Ruhe. «Wie es aussieht, richteten sich die Anschläge gezielt gegen diese beiden Beschäftigten, und wir sehen keinen Anlass, von irgendeiner Gefahr für die Allgemeinheit auszugehen. Ich ersuche alle CyberStorm-Mitarbeiter, besonders wachsam zu sein und verdächtige Gegenstände oder Päckchen sofort der Polizei zu melden. Ich nehme jetzt Fragen entgegen.»

Wildes Gebrüll brach auf dem Parkplatz aus.

Sebeck zeigte auf eine Asiatin. Er hätte wohl zugeben müssen, dass er sie als Erste zu Wort kommen ließ, weil sie einfach umwerfend aussah.

«Sergeant, Sie sagten, Sie hätten das FBI eingeschaltet. Heißt das, dass es hier um mehr geht als um diese beiden Morde?»

«Das FBI hat die Ressourcen und Befugnisse, die für die Ermittlungen in diesem Fall erforderlich sind.»

Ein anderer Reporter mischte sich ein. «Können Sie genau beschreiben, wie die Opfer getötet wurden?»

«Den genauen Tathergang können wir zu diesem Zeitpunkt nicht publik machen.»

«Können Sie uns einen groben Anhaltspunkt geben?»

Sebeck zögerte. «Mindestens eins der Opfer scheint mit Hilfe des Internets ermordet worden zu sein.»

Erregtes Gemurmel ging durch das Pressecorps. Das war ihr Soundbite.

«Mehr können wir im Moment nicht sagen.»

4Der Gott des Schabernacks

Von seinem Sitz im Café blickte Brian Gragg auf die dunklen Fenster der pseudoprovenzalischen Villa gegenüber. In der Nobelgegend River Oaks in Houstons Inner Loop gab es etliche dieser alternden Schönheiten, die, wieder herausgeputzt, inzwischen gewerblich genutzt wurden. Sie beherbergten Arztpraxen, Architekturbüros, Anwaltskanzleien – und Filialen von Ostküsten-Brokerfirmen. Diese letzte Spezies anspruchsvoller Gewerbemieter hatte es Gragg angetan. Sie waren das schwächste Glied einer wertvollen Kette.

Einer der Broker dort drüben hatte in seinem Büro einen WLAN-Router installiert, es aber versäumt, das Default-Passwort und die SSID zu ändern. Und was noch besser war – der Broker machte sich nicht die Mühe, seinen Computer über Nacht herunterzufahren.

Gragg sah auf seinen eigenen Laptop und richtete eine kleine WiFi-Antenne genauer auf die Bürofenster aus. Der Bildschirm des Brokers erschien als Fenster auf seinem Laptop. Gragg hatte die Workstation schon vor Tagen kompromittiert, zuerst die Network-IP-Adresse vom Router besorgt und sich dann durch einen primitiven NetBIOS-Angriff Zugang zum Computer des Brokers verschafft. Die Ports der Workstation waren weit offen, und im Laufe mehrerer Caféaufenthalte hatte Gragg seine Zugangsrechte allmählich ausgebaut. Ihr lokales Netzwerk stand ihm jetzt zur Verfügung. Sobald er die Routerlogdatei gesäubert hatte, war jeder Beweis dafür, dass er dort gewesen war, gelöscht.

Aber das alles war Kinderkram, verglichen damit, wie er diesen Exploit nutzen würde. Im letzten Jahr war Gragg über simplen Kreditkartenbetrug hinausgewachsen. Er klapperte keine Bars mehr ab, um Kellnern und Hilfskräften tragbare Magnetstreifenlesegeräte anzudienen und dann für jede Kreditkartennummer ein Vermögen zu bezahlen. Gragg stahl jetzt Identitäten. Sein Kumpel Heider hatte ihn in die Feinheiten des Spear-Phishing eingewiesen. Das eröffnete eine ganz neue Welt.

Gragg benutzte die Workstation des Brokers, um eine Rundmail an die Klientel der Firma zu schicken. Er hatte das hochtrabende Werbeblabla und die Graphiken von der Firmenwebsite abgekupfert, aber was in der E-Mail stand, war egal. Gragg ging es nur darum, dass seine Opfer die Mail ansahen. Mehr war gar nicht nötig.

Graggs E-Mail enthielt ein vergiftetes JPEG des Brokerfirmenlogos. JPEGs waren komprimierte Bilddateien. Wenn der User die E-Mail ansah, startete das Betriebssystem einen Dekomprimierungsalgorithmus, um die Graphik anzuzeigen. Dieser Dekomprimierungsalgorithmus führte Graggs bösartiges Script aus und ließ ihn in das System des Users schlüpfen – gewährte ihm vollen Zugang. Es gab zwar einen Patch gegen diese Dekomprimierungsschwachstelle, aber ältere, wohlhabende Leute hatten in der Regel keine Ahnung von Sicherheitspatches.

Graggs Script installierte außerdem einen Keylogger, der ihm Account- und Passwortinformationen zu praktisch allem lieferte, was der User von da an tat, und sie an einen ebenfalls kompromittierten Offshore-Rechner schickte, wo Gragg sie dann in aller Ruhe abholen konnte.

Welcher Idiot hängte die Schlüssel zu seinem Geschäft einfach an die Straße – und, schlimmer noch, posaunte über seinen Router in alle Welt hinaus, wo die Schlüssel hingen? Diese Leute durfte man eigentlich nicht mal allein zu Hause lassen, geschweige denn mit anderer Leute Investments betrauen.

Gragg säuberte das Verbindungslog des Routers. Höchstwahrscheinlich würde der Scam noch monatelang unentdeckt bleiben, und wenn sie dahinterkamen, würden sie es wohl kaum ihren Kunden mitteilen. Sie würden einfach nur das Scheunentor zumachen, wenn die Trojanischen Pferde längst weg waren.

Bisher hatte Gragg fast zweitausend Identitäten von sehr reichen Leuten, die er auf dem globalen Markt verkaufen konnte, und die Brasilianer und Filipinos schnappten sich alles, was er anbot.

Gragg wusste, er hatte in dieser neuen Welt einen Überlebensvorteil. Hochschulbildung war nicht mehr das Tor zum Erfolg. Offenbar dachten sich die Leute nichts dabei, ihr finanzielles Wohl einer Technologie anzuvertrauen, die sie nicht durchschauten. Das würde ihr Verderben sein.

Gragg trank seinen Mocha Latte aus und sah sich im Café um. Teens und junge Leute Anfang zwanzig. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, dass er mehr Kohle einfuhr als ihre Managerväter. Er sah aus wie irgendein Looser mit langen Koteletten, Goatee, Wollmütze und Laptop. Er war der Typ, den man nicht wahrnahm, weil man seinen Anblick satthatte.

Gragg fuhr seinen Laptop herunter und zog ein bootfähiges Flash-Laufwerk aus einem der USB-Ports. Er nahm eine Spitzzange, knackte das winzige Laufwerk wie eine Walnuss und warf die Stücke in einen Mülleimer, der in der Nähe stand. Jetzt war das Beweisstück vernichtet. Die Festplatte seines Laptops enthielt nichts als evangelikale Traktätchen. Falls es Ärger gab, würde er wie ein Hardcore-Jesusfan dastehen.

In dem Moment dudelte sein Handy die Titelmelodie von Twilight Zone. Gragg steckte sich das Funk-Headphone ins Ohr. «Jason. Wo bist du, Mann?»

«Restaurantfiliale 121. Bin so gut wie fertig hier. Wann kommst du?»

Gragg sah auf seine Armbanduhr. Eine TAG Heuer. «So in einer halben Stunde.»

«Vertrödel dich nicht. Hey, heute Mittag hab ich noch sechzehn offene Accesspoints uptown geloggt.»

«Markier sie auf dem Plan.»

«Schon passiert.»

«Bin unterwegs. Wir treffen uns am Hintereingang.»

Gragg sah die Leute, wie sie in ihre geleasten Wagen stiegen, um in Häuser zurückzufahren, die der Bank gehörten. Sie waren Herdenvieh. Für diese blinden Funktionierer hatte Gragg nichts als Verachtung übrig.

 

Er fuhr «uptown», Richtung West Loop – einer Ansammlung von Wolkenkratzern gleich westlich des Zentrums, die als eine Art zweite Skyline für Leute diente, denen die eigentliche zu weit weg war. Graggs Partner, Jason Heider, arbeitete in einem Kettenrestaurant im Galleria-Einkaufsparadies, unweit der Indoor-Schlittschuhbahn.

Heider war um die dreißig, sah aber älter aus. Damals, während des Tech-Booms, war er so eine Art Vizepräsident eines Dotcom-Unternehmens gewesen. Gragg hatte Heider in einem IRC-Chatroom getroffen, wo es um fortgeschrittene Cracking-Themen ging – Buffer-Overruns, Algorithmen für das Knacken von Passwörtern mit Buntforce-Methodik, Aufspüren von Software-Schwachstellen und Ähnliches. Heider wusste wirklich, wovon er sprach, und bald schon hatten sie sich zusammengetan, um sich auf Flugplätzen und in Cafés in fremdes WLAN einzuhacken und, wo irgend möglich, Firmen-Logins zu klauen. Sie beide verband ein glühendes Interesse für Technologie und Information – die Instrumente persönlicher Macht. In diesem einen Jahr hatte Gragg eine Menge von Heider gelernt. In letzter Zeit allerdings nichts mehr.

Außerdem war da Heiders Leichtsinn. Er hatte kürzlich seinen Führerschein wegen Fahrens unter Drogeneinfluss verloren, und sie wären dabei um ein Haar aufgeflogen, weil er seinen Laptop im Wagen gehabt hatte. Gragg behielt ihn jetzt genauer im Auge und ließ ihn samstagabends nicht gern allein, aus Angst, Heiders Unvorsichtigkeit würde sie beide in den Knast bringen. Zum Glück hatte er Heider nie seinen richtigen Namen genannt.

Gragg erreichte den Parkplatz des Einkaufszentrums und fuhr um die gesichtslosen Klötze herum. Er parkte beim Westeingang und wartete. Schließlich kam Heider auf den Parkplatz herausgetrottet, eine Zigarette im Mundwinkel. Es war ein kalter Herbstabend, und Heiders Atem qualmte mit wie ohne Rauch. Er trug eine M65-Feldjacke, die ihre besten Zeiten eindeutig hinter sich hatte. Der Typ bot wirklich einen erbärmlichen Anblick, und Gragg dachte, dass es ein Gnadenakt wäre, ihn zu überfahren. Heider war nur noch ein Schatten seiner selbst, und das wusste er auch. Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, warf sie weg und stieg ein.

«Hey, Chico. Wo geht’s zur Party?»

Gragg musterte ihn. «Hast du was dabei?»

«Nein, Mann. Na ja, nur ein bisschen Speed.»

«Schmeiß das Zeug sofort raus, Jase, oder du kannst von mir aus zu Fuß nach Hause gehen. Ich habe heute Abend einen Gig, und ich kann’s nicht brauchen, dass irgendwelche Schnüffelhunde den Bullen einen hinreichenden Verdacht liefern.»

«Herrgott, kannst du dich mal locker machen?»

«Ich mache mich nicht locker. Ich behalte meine fünf Sinne beisammen. Freunde lässt man keine Drogen nehmen – schon gar nicht, wenn diese Freunde zu Kronzeugen werden könnten.»

«Schon gut, Mann. Ich hab’s kapiert.» Heider schaltete die Innenraumbeleuchtung aus, öffnete dann die Wagentür und warf ein kleines Plastikbeutelchen auf den Asphalt.

Gragg fuhr los. «Dein Gehirn ist dein einzig brauchbares Werkzeug, Jase. Wenn du es immer weiter runterwirtschaftest, bist du für mich wertlos.»

«Ach, halt die Klappe. Wenn ich einen Schlaganfall hätte und Klebstoff schnüffeln würde, käme ich am Ende immer noch mit deinem IQ raus. Du verbringst doch den ganzen Tag damit, Hentai zu gucken und Onlinegames zu zocken, wie weit kann es da mit deiner Intelligenz schon her sein?»

Gragg drehte einen Oakenfold-Mix auf, um Heiders Stimme zu übertönen.

Er nahm den Katy Freeway nach Westen, dann, etwa zehn Meilen außerhalb von Houston, die Abfahrt auf den State Highway 6 North. Der Highway 6 war eine öde vierspurige Betonpiste durch sumpfiges Terrain und weite, von Baumwällen gesäumte Prärieflächen – Relikte einer agrarischen Vergangenheit. Das Einzige, was jetzt noch hier wuchs, waren Strip Malls, Trabantensiedlungen und Office Parks, die wie Traubenbüschel aus dem Rebstock des Highways sprossen. Dazwischen lag über weite Strecken überhaupt nichts Brauchbares.

Gragg starrte finster auf die Straße. Er hatte schon zehn Minuten kein Wort mehr gesagt.

«Was ist denn heute Abend mit dir los?», fragte Heider schließlich.

«Die verdammten Filipinos. Sie haben gepostet, dass ich sie treffen soll.»

«Wozu?»

«Um einen neuen Chiffrierschlüssel abzuholen.»

«Persönlich?»

«Sie wollen die Feds nicht auf ihre Spur bringen.»

«Scheiß drauf. Verkauf die Daten den Brasilianern, Mann.»

«Die Filipinos schulden mir schon das Geld für fünfhundert Identitäten. Wenn ich den Code nicht hole, kriege ich gar nichts.»

«Arschlöcher. Mit denen machen wir keine Geschäfte mehr.»

Gragg klappte sein Handy auf und begann, eine SMS zu tippen. Ohne Heider anzuschauen, sagte er: «In knapp vierzig Minuten ist Showtime. Die Filipinos können warten.»

 

In einer dunklen Straßenschleife eines Siedlungsprojekts im Rohbaustadium parkten ein halbes Dutzend Autos. Teenager scharten sich trinkend und rauchend um die Kühlerhauben, lachten, palaverten oder starrten auf den fernen Glutschimmer des Freeways. Aus mehreren Autoradios, die alle auf den gleichen Satellitensender eingestellt waren, wummerte der Bass von Rap-Songs durch die kalte Nachtluft. Er ließ ihre Brustkörbe mitvibrieren, während sie die frisch eingesetzten Fenster halbfertiger Häuser mit Steinen einschmissen. Ein Junge schnurrte auf einem Segway-Roller von Auto zu Auto.

Die Gruppe war gemischt, die meisten weiß, aber hie und da auch ein asiatisches oder schwarzes Gesicht oder ein Hispano-Kid. Ihre Autos signalisierten den sozialen Hintergrund: ein Mustang GT Cabrio mit 18-Zoll-Chromfelgen, funkelnagelneue SUVs mit Wunschkennzeichen, Moms BMW. Die ökonomische Schicht, nicht die ethnische Herkunft, war der Klebstoff, der sie zusammenhielt.

Irgendwo dudelte ein Handy Eine kleine Nachtmusik, und alle Mädchen der Gruppe grabbelten nach ihren Handys. Das Alpha-Girl – dünn, blond, sexy und trotz der Kälte in Low-Cut-Jeans und einem bauchfreien Top – schnalzte tadelnd mit der Zunge. «Ihr habt mir alle meinen Klingelton geklaut.» Sie las die SMS. «Austin! Hey, Leute, dreht mal die Musik runter!»

Alle Anlagen wurden schleunigst leise gestellt.

Alpha-Girl mobilisierte ihre beste Cheerleader-Stimme, um die Koordinaten zu verkünden. «29.98075 und -95.687274. Habt ihr’s alle?» Sie wiederholte die Koordinaten, während ein paar andere sie in GPS-Geräte eingaben.

Ein athletisch gebauter Afroamerikaner und seine Kumpels starrten auf die Konsole eines Lexus SUV. Er gab die Koordinaten ein, und auf dem LCD erschien eine Kartengraphik. «Tennet-Flughafen. Der ist stillgelegt. Mein Dad hatte da früher seine Maschine. Los!»

Ein Dutzend Kids simsten die Koordinaten eben noch schnell weiteren Freunden. Die Bürgerkindermeute formierte sich und würde innerhalb von Minuten auf dem Weg sein.

 

Gragg ging im bleichen Mondlicht über das Rollfeld, in Richtung der dunklen Silhoutte von Hangar zwei.

Das Funkgerät knatterte in seinem Kopf. Er trug ein Knochenschall-Headset. Es war in der Lage, Schall bei beliebig lauter Umgebung direkt in seinen Schädel zu projizieren. Ein nützliches Hilfsmittel, um einen For-Profit-Rave zu managen. Das Funkgerät knatterte wieder. «Einheit 19 an Einheit 3, hörst du mich?»

Gragg berührte seinen Receiver. «Einheit 3. Was gibt’s?»

«Bullen auf der Farmington, Richtung Süden. Entfernung 2,3 Meilen.»

Einheit 3 war ein mit Nachtsichtbrille ausgerüsteter Wachposten am Ostzaun. Gragg sah Scheinwerfer in die Hauptzufahrt des Flughafens einbiegen. «Einheit 20, Zone 1 ist Verdunkelungsbereich.»

«Verstanden, Einheit 3.»

Gleich darauf gingen die Scheinwerfer aus.

Tarnung war bei einem Prärie-Rave oberstes Gebot. Scheinwerferschlangen galt es unbedingt zu vermeiden.

Gragg folgte den dicken Generatorkabeln, die sich von der Maschinenhalle am Parkplatz vorbei bis zum Tor des Haupthangars zogen. Aus dem Gebäude drang niederfrequentes Basshämmern, das ihm die Netzhäute abzulösen drohte. Eine lange Bahn aus schwarzem nichtreflektierendem Stoff hing vor dem Eingang und sperrte das Licht und einen Teil des Krachs drinnen ein.

Eine hundertköpfige Schlange johlte vor dem Eingang herum, flankiert von einem Dutzend bulliger Typen in «Security»-Windbreakern. Die Türsteher kassierten von jedem der Kids zwanzig Dollar und hängten ihnen dann einen Eintrittspass mit RFID-Chip um den Hals. Gechipt wie Kühe, passierten die Gäste dann die Metalldetektoren und betraten den Haupthangar. Alle Security-Leute waren mit Tasern und Pfefferspray ausgerüstet, um jeden, der die Party stören wollte, schnell zu bändigen und zu entfernen. Ein Dutzend weiterer Security-Leute patrouillierten drinnen.

Gragg machte einen verlässlichen Job und war deshalb bei Rave-Veranstaltern immer gefragt. Der heutige Gastgeber, ein junger albanischer Drogendealer namens Cheko, tigerte nervös am Rollfeld herum. Aber nervös war er eigentlich immer.

Gragg sog die Nachtluft durch die Nase ein und marschierte dann, an den Türstehern vorbei, in den schädelzerhämmernden Wahnsinn des Rave. Er zwängte sich durchs Gedränge der Kids. Obwohl etliche Jahre älter als die meisten von ihnen, war er doch schlanker und kleiner. Sein Lippenpiercing und die Armtattoos gaben ihm etwas bedrohlich Handfestes – aber wenn man genauer hinsah, stellten die Tattoos ineinander verschlungene CAT-5-Kabel dar.

Gragg blickte am DJ-Turm empor, der im Laserstroboskoplicht flackerte. Mix-Master Jamal legte gerade eine Runde Groove-Trance ein. Die barbusigen Tänzerinnen auf drei Meter hohen Podesten wanden sich rhythmisch. Gragg grinste. Die Stripperinnen waren weniger für die männlichen Teens da als für die Mädchen. Vorortmädels taten schockiert, würden es aber Freundinnen erzählen, die es dann mit eigenen Augen sehen mussten. Wo sonst bekamen Töchter aus gutem Hause schon mal Nackttänzerinnen zu sehen? Im zwielichtigen Stripschuppen am State Highway? Wohl kaum.

Gragg war auf der Suche nach genau so einem Mädchen aus gutem Hause. Er arbeitete sich in den hinteren Teil des Hangars durch, wo das eigentliche Geld gemacht wurde – von Chicos Leuten in der «Apotheke», die neben Softdrinks und Mineralwasser auch Ecstasy, Meth, DMT, Ketamin und ein Dutzend weiterer Freizeitdrogen im Angebot hatte.

In der Regel hatte Gragg keine Mühe, seine Beute auszumachen – ein sexy aussehendes Mädchen mit einem Typen, der ihr nicht besonders nah zu stehen schien. Ein erstes Date vielleicht oder jemand, mit dem sie einfach nur tanzte. Er mied Freundinnencliquen und Mädchen, die keinen Spaß zu haben schienen.

Er hatte sein Zielobjekt schnell gefunden: Die Kleine war umwerfend, siebzehn vielleicht, mit schmaler Taille, aber einem ordentlichen Vorbau, der ihre nackte Mitte in Schatten tauchte. Glowstick-Stränge um Bauch und Hals. Sie erinnerte Gragg an Mardi Gras, was ein gutes Zeichen war. Er winkte zwei Security-Leuten und ging auf das Mädchen zu.

Sein Timing war so, dass er und die Security-Leute gleichzeitig bei dem tanzenden Pärchen ankamen. Gragg tippte dem Jungen auf die Schulter, worauf der defensiv herumfuhr. Gragg hielt zwei Umhängepässe hoch, auf denen gut lesbar «All Areas» stand. Lächelnd streifte er dem Jungen einen über den Kopf.

Kaum ein Symbol hat so viel Macht über das westliche Teenager-Hirn wie ein All-Areas-Access. Der Junge sah die beiden Security-Typen an und war sichtlich beruhigt.

Währenddessen hängte Gragg dem lachenden Mädchen den anderen Pass um. Ihr Brustansatz glänzte von Schweiß. Gragg beugte sich zu dem Jungen und schrie ihm ins Ohr: «Deine Freundin ist klasse, Mann! Sie sollte da oben tanzen – nicht hier unten.» Dabei drückte er dem Jungen ein paar Pillen in die Hand und deutete mit dem Kopf auf das Mädchen. Er winkte sie beide hinter sich her und führte sie durch die Menge, während ihnen die stämmigen Security-Leute eine Gasse bahnten.

Rasch erreichten sie den Fuß einer Stahltreppe, die auf den DJ-Turm führte. Sie war mit einem Seil abgesperrt und von zwei Sicherheitsleuten flankiert. Gragg beugte sich dicht an einen von ihnen heran. «Gib mir Bescheid, wenn sie den Hit intus hat!»

Der Mann kannte den Ablauf. Mit unbewegtem Gesicht beobachtete er, wie der Junge dem Mädchen das in den Mund steckte, was er vermutlich für Ecstasy hielt. Sie spülte es mit einem ordentlichen Schluck Mineralwasser hinunter, lachte und begann sich dann lasziv im hämmernden Rhythmus der Musik zu bewegen. Der Security-Typ nickte Gragg zu. Gragg nickte zurück, und das Seil wurde weggenommen, um die beiden durchzulassen.

Als der Junge an ihm vorbeiging, beugte sich Gragg an sein Ohr. «Spiel deine Karten richtig aus, Mann, dann sorge ich dafür, dass du noch in dieser Stunde zum Schuss kommst.» Der Junge grinste zurück und bedachte Gragg mit dem, was er wohl für den universellen «Playas»-Handschlag hielt.

Gregg sah ihnen nach. Sie waren jetzt im VIP-Käfig – einem kontrollierten Bereich, wo er die Hemmungen des Mädchens noch weiter herunterschrauben konnte. Die professionellen Mädels dort und Chekos Leute würden es völlig normal aussehen lassen, «voll abzugehen». Gragg hatte die beiden Teenager erfolgreich von ihrem Support-System abgeschnitten. Der Rest müsste leicht sein. Er hatte jetzt schon einen Ständer, aber erst mal war noch ein bisschen Geduld gefordert.

Gragg trieb sich eine gute Viertelstunde am Rand der Menge herum, bevor er wieder zum Käfig zurückging. Er sah das Mädchen auf dem mittleren Deck des Turms tanzen, zusammen mit etwa zwanzig anderen Frauen. Die meisten waren attraktiv und spärlich bekleidet, aber das waren Chekos Nutten, die Gragg nicht interessierten. Sein siebzehnjähriges Zielobjekt lachte, während der Junge zwischen Frauen mit G-Strings tanzte. Das Mädchen war offensichtlich ganz schön high. Wenn man auf Meth war, hatten das Laserlicht, die Trance-Musik und das Tanzen eine hypnotische Wirkung. Plus einer mächtigen Welle sexueller Erregung und dem Gefühl der Unverwundbarkeit. Jedenfalls hatte sich Gragg das sagen lassen. Er selbst nahm keine Drogen.

Über Funk rief Gragg den Security-Typen im DJ-Turm. Er konnte sich selbst nicht sprechen hören, wusste aber, dass der Mann ihn klar und deutlich verstand. Der guckte herunter und sah Gragg langsam mit dem Arm winken, dann auf das in der Nähe tanzende Mädchen zeigen. Der Security-Mann beugte sich zu Jamal, und der DJ schaute ebenfalls zu Gragg herab. Er nickte und schnippte dann mit den Fingern zu dem Mann am Lightboard hinüber. Gragg beugte sich zu dem jungen Begleiter des Mädchens. «Wie heißt deine Freundin?»

«Jennifer.»

«Willst du ihre Titten sehen?»

Der Junge starrte ihn einen Moment verdutzt an, lachte dann los. «Klar, Mann!»

Gregg sagte ihren Namen ins Funkgerät und trat weiter vor. Ein Spot richtete sich auf Jennifer, und die Stimme des DJ kam von oben wie die Donnerstimme Gottes. «Schaut euch Jennifer an! Ist sie nicht heiß?» Lüsternes Gejohle drang aus tausend Kehlen.

Jennifer lachte, drehte sich um, sah ihren Begleiter und alle um sie herum ermunternd gestikulieren.

Wieder die Stimme des DJ: «Wir wollen dich tanzen sehen, Baby!» Der hämmernde Bass-Beat setzte wieder ein, und sie bewegte sich verführerisch dazu. Die anderen Tänzerinnen zogen sich zurück, und das Laserlicht rahmte sie auf dem Podest ein. Die Menge fing an zu toben. Ihre Augen glommen von unbezwingbarer Sexualität. Jedes rhythmische Kreisen ihrer Hüften brachte tausend Typen zum Grölen. Sie war anonym und mächtig.

Aber ihr Herr war jetzt Gragg. Er drehte sich zu Jennifers Begleiter um, lächelte und nickte dann dem DJ zu.

Erneut donnerte die Stimme des DJ von oben herab. «Zieh doch das Top aus!»

Tausend Stimmen brüllten, griffen die Parole auf, skandierten im Rhythmus der Musik: «Top aus! Top aus!» Selbst die Mädchen im Publikum machten mit. Jennifer tanzte, sog die Aufmerksamkeit auf wie ein Schwamm. Aller Augen waren auf ihren Körper gerichtet, gierten nach ihr. Sie war high genug, dass es sie nicht störte, und es schien so eine Kleinigkeit, ihnen den Gefallen zu tun.

Zuerst neckte sie ihr Publikum, indem sie ihre Brüste nur ganz kurz zeigte, aber das machte die Menge nur noch wilder. Sie wussten, sie hatten sie, es war jetzt nur noch eine Willensprobe. Mit neuer Energie skandierten sie wieder: «Top aus! Top aus!»