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Daniel Suarez

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Beschreibung

Das Wild, das du jagst: Du bist es selbst Im Jahr 2045 ist das Zeitalter der Technik Geschichte; die biologische Moderne ist angebrochen. Algen und Pilze bauen Autogehäuse, die Boomstädte Asiens werden nachts von Leuchtbäumen erhellt. Auch vor dem menschlichen Körper macht die Bio-Revolution nicht halt. Jeder will hochgezüchtete Designer-Babys, ob legal oder nicht. Die Zeche zahlen andere. Kenneth Durand leitet bei Interpol den Kampf gegen diese Genkriminalität. Und ein Mann steht dabei im Fadenkreuz: Marcus Demang Wyckes, Kopf eines so mächtigen wie skrupellosen Kartells. Eines Tages erwacht Durand aus dem Koma. Man hat ihn entführt. Er sieht anders aus. Seine DNA ist verändert. Er ist Marcus Demang Wyckes. Der Mann, der weltweit gesucht wird.

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Daniel Suarez

Bios

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

 

Über dieses Buch

Das Wild, das du jagst: Du bist es selbst

 

Im Jahr 2045 ist das Zeitalter der Technik Geschichte; die biologische Moderne ist angebrochen. Algen und Pilze bauen Autogehäuse, die Boomstädte Asiens werden nachts von Leuchtbäumen erhellt. Auch vor dem menschlichen Körper macht die Bio-Revolution nicht halt. Jeder will hochgezüchtete Designer-Babys, ob legal oder nicht. Die Zeche zahlen andere.

 

Kenneth Durand leitet bei Interpol den Kampf gegen diese Genkriminalität. Und ein Mann steht dabei im Fadenkreuz: Marcus Demang Wyckes, Kopf eines so mächtigen wie skrupellosen Kartells. Eines Tages erwacht Durand aus dem Koma. Man hat ihn entführt. Er sieht anders aus. Seine DNA ist verändert. Er ist Marcus Demang Wyckes. Der Mann, der weltweit gesucht wird.

Vita

Bevor Daniel Suarez mit dem Schreiben begann, machte er als Systemberater Karriere und entwickelte Software für zahlreiche große Firmen der Militär-, Finanz- und Unterhaltungsindustrie. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 2006 unter Pseudonym im Eigenverlag. Nachdem das Buch die Internet- und Gaming-Community im Sturm erobert hatte, wurde ein großer Verlag darauf aufmerksam. In der neuen Ausgabe avancierte «Daemon» zum Bestseller.

Daniel Suarez lebt und arbeitet in Kalifornien. Der frühere FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat ihn den «Jules Verne des digitalen Zeitalters.» genannt – mit seinem neuen Roman lässt Suarez die technische Moderne hinter sich und wird zum ersten Autor des Biopunk. Die Filmrechte sind bereits von Netflix optioniert.

Für meine Mutter Jane Haisser.

Du wirst immer meine Heldin sein.

Fünf Faden tief liegt Vater dein,

Sein Gebein wird zu Korallen;

Perlen sind die Augen sein;

Nichts an ihm soll verfallen,

Das nicht wandelt Meereshut

In ein reich und seltnes Gut.

William Shakespeare, Der Sturm, I; 2

1

«Bevor wir anfangen, Mr. und Mrs. Cherian, haben Sie noch Fragen zum Gen-Editing?» Der Berater biss herzhaft in ein Vada Pav, während er sich durch die Daten klickte.

Das junge Mumbaier Ehepaar wechselte unsichere Blicke. Ende zwanzig, gepflegt und in adrettem Business-Casual passten die beiden nicht in dieses vollgepfropfte, schmuddelige, fensterlose Büro. Aber hier saßen sie nun. Besonders die Frau schien sich unbehaglich zu fühlen.

Der Ehemann schüttelte den Kopf. «Im Moment nicht, nein.» Er sah seine Frau ermutigend an. Tätschelte ihr Knie.

«Können Sie uns das Verfahren erklären?», fragte sie.

Der Berater antwortete mit vollem Mund: «Ah, eine wissbegierige Natur.»

Sie musterte ihn kritisch.

Ihr Mann schaltete sich ein. «Meine Frau und ich sind beide Juristen. Angesichts des rechtlichen Status unseres Vorhabens verstehen Sie sicher, dass wir zu diesem Thema nicht auf unseren eigenen Geräten recherchieren wollten.»

«Nun denn …» Der Berater schluckte den Bissen hinunter und wischte sich die Finger an einer zerknitterten Papierserviette ab. «Ich habe hier etwas, das Ihre Fragen beantworten dürfte.» Er kramte geräuschvoll in einer Schublade, förderte schließlich ein Gerät von der Größe und Form eines Taschenbuchs zutage und legte es auf den unordentlichen Schreibtisch. Als er das Gerät berührte, fuhr es sich zu einem Kegel aus, der mehrere nach vorn und hinten gerichtete Linsen aufwies. Während es bootete, leuchtete es innen weiß.

Die Frau zog eine stylishe Sonnenbrille aus der Handtasche und setzte sie auf. «Ein Glim? Glauben Sie, wir erlauben Ihnen, unsere Netzhäute zu erfassen? Das kommt überhaupt –»

«Kein Netzhautscan, Mrs. Cherian, keine Bange. Nur eine kleine In-Eye-Präsentation.»

Der Mann sah seine Frau an. «Sie haben unsere DNA, Liebes. Die Retina kann da wohl unsere geringste Sorge sein.»

«Neelo, ich will, dass unser Embryo in die Klinik zurückgebracht wird.»

«Aber Liebes, wir –»

«Das hier ist doch ein völlig vergammelter Laden. Ein bankrott gegangenes Exportbüro, wie es aussieht.»

«Alles Tarnung, Mrs. Cherian. Wir wollen keine unnötige behördliche Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Aber seien Sie versichert, finanziell sind unsere Labors bestens aufgestellt – der Betreiber ist das größte Gen-Editing-Konsortium der Welt: Trefoil. Über eine so avancierte technische Ausstattung verfügt sonst niemand.»

«Du weißt doch, Liebes, sie sind uns wärmstens empfohlen worden.»

Die Frau hängte sich die Tasche um, als wolle sie gehen. «Neelo, wir sind gesetzestreue Menschen.»

«Das haben wir längst besprochen, mein Engel. Grundsätze sind etwas Wunderbares, aber andere Elternpaare tun es doch auch. Wir müssen ebenfalls alles in unserer Macht Stehende tun, um unseren Sohn für die Welt zu rüsten, in der er leben wird.» Er deutete auf das Glim auf dem Tisch. «Wollen wir uns nicht einfach die Präsentation ansehen und dann entscheiden?»

Sie seufzte – und nahm zögernd die Sonnenbrille wieder ab.

Der Berater strahlte. «Sehr gut. Bitte blicken Sie geradeaus. Das Gerät wird Ihre Netzhäute im Nu finden.»

Gleich darauf sah das Ehepaar, wie in der Luft über dem Schreibtisch ein sehr detailliertes Modell der DNA-Doppelhelix entstand. Es drehte sich – ein absolut überzeugendes virtuelles Objekt, scheinbar so real wie der Schreibtisch selbst. Und doch existierte die schwebende DNA nur als hochauflösendes plenoptisches Lichtfeld, das direkt auf ihre Netzhäute projiziert wurde und für niemanden sichtbar war, dessen Augen das Glim nicht anvisierte.

Solche Lichtfeldprojektoren hatten in den letzten zehn Jahren physische Fernseher, Computerbildschirme und die OLED-Displays von Mobilgeräten weitgehend abgelöst. Bilder in gebündelter Form direkt auf die Netzhaut des Betrachters zu projizieren, statt wahllos Photonen in die Umwelt abzustrahlen, hatte viele Vorteile – authentische erweiterte Realität war einer davon. Umweltverträglichkeit ein zweiter. Und Vertraulichkeit ein dritter.

Über einen fokussierten Schallstrahl hörten sie eine Sprecherinnenstimme sagen: «Die 2012 entwickelteCRISPR-Technologie ist ein Suchen- und Ersetzen-Tool für die Modifizierung vonDNA – der Blaupause allen Lebens.»

Das Wort «CRISPR» erschien, und die Buchstaben erweiterten sich nacheinander zu ganzen Wörtern.

«CRISPRsteht für ‹Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats›. Das sind Abschnitte sich wiederholenderDNA. Die Methode basiert auf einem natürlichen Abwehrmechanismus von Bakterien, der von der modernen Wissenschaft dahingehend adaptiert wurde, eine gezielte Genom-Bearbeitung bei Pflanzen, Tieren und menschlichen Embryonen zu erlauben.»

In der 3-D-Animation erschien jetzt ein RNA-Molekül mitsamt Beschriftung.

«Zunächst wird bei dem Verfahren ein Leit-RNA-Molekül sowohl mit einer zielführenden Target-Gensequenz als auch mit einer Fracht-Gensequenz versehen …»

Beide Sequenzen wurden durch eine Beschriftung gekennzeichnet und in das RNA-Molekül eingefügt.

«Diese ‹Leit-DNA› wird dann in einen embryonalen Zellkern eingebracht …»

Die RNA klinkte sich in den Doppelstrang der DNA ein und splittete ihn.

«… wo sie dieDNAdes Embryos liest. Sobald sie eine Entsprechung zu ihrer Target-Sequenz findet …»

In der 3-D-Darstellung wurde eine Entsprechung zwischen der Target-Sequenz der RNA und einem DNA-Segment der Zelle optisch markiert.

«… agiert ein natürliches Schneideprotein als molekulare Schere, zertrennt dieDNA-Sequenz …»

Die Animation zeigte, wie der DNA-Strang zerteilt wurde.

«… und fügt an ihrer Stelle eine Kopie der Fracht-DNAein.»

Die Frachtsequenz der RNA kopierte sich in die Lücke, und die DNA fügte sich rasch wieder zusammen.

«Auf diese Weise können menschliche Embryonen in vitro sicher und verlässlich ‹bearbeitet› werden, um tödliche Erbkrankheiten zu korrigieren.»

Emotionale Musik schwoll an, während die Darstellung in die lebensgroße 3-D-Projektion eines hübschen, aber verzweifelten afrikanischen Mädchens mit trüben, blinden Augen überging. Es wirkte so real, als säße es bei ihnen im Raum.

«AufCRISPRberuhende Therapien gegen zystische Fibrose, Muskelschwund, Sichelzellenanämie, Morbus Huntington, Hämophilie und andere Krankheiten haben bereits etlichen hundert Millionen Menschen weltweit das Leben gerettet oder ein wesentlich besseres Leben beschert …»

Wieder ging die Darstellung in eine neue über – dasselbe Mädchen, jetzt lächelnd und mit klaren braunen Augen, wie es gerade die Hand ausstreckte, um seiner Mutter Mehl auf die Nase zu schmieren. Beide lachten und umarmten sich mitten im gemeinsamen Plätzchenbacken.

«Sie haben eine Kette des Leidens beendet und den Menschen erstmals die Kontrolle über ihre Vererbung geschenkt.»

Der Blick schwenkte jetzt auf einen strahlend hellen Horizont. Der Anbruch eines neuen Tages.

«Theoretisch sind den erstrebenswerten Edits, dieCRISPRermöglicht, keine Grenzen gesetzt.»

Dunkle Wolken zogen auf, verfinsterten den Horizont. Unheilschwangere Musik grollte.

«Doch internationales Recht verbietet derzeit Edits, außer zur Korrektur jener Genstörungen, die auf der kurzen, von derUNabgesegneten Liste stehen. Trotzdem haben unsere hochqualifizierten Wissenschaftler Hunderte segensreicherCRISPR-Edits vorgenommen und nehmen sie auch weiterhin vor. Edits, die Menschen zu einem längeren Leben mit hoher Lebensqualität verhelfen.

Die Musik wurde lebhafter, und die virtuelle Kamera schwenkte höher, durchdrang schließlich die graue Wolkenschicht und ging in eine endlose Weite von Sonnenlicht über. Kein Horizont in Sicht.

«Im Unterschied zu anderen Gentherapien sindCRISPR-Edits erblich, werden also an alle künftigen Generationen Ihrer Nachkommen weitergegeben – man spricht hier von ‹Keimbahntherapie›. Das heißt, Ihre Investition wird sich für Ihre Kindeskinder reichlich auszahlen.»

Die Darstellung ging jetzt in die lebensgroße, ultrarealistische Projektion eines gesunden südasiatischen Fünfjährigen über, der sich langsam um die eigene Achse drehte.

«So kann zum Beispiel schon ein geringfügiges Edit amDAF-2-Gen eines Embryos die Lebenserwartung des Kindes um dreißig gesunde Jahre erhöhen. Eine Veränderung amBCAT-1-Gen sogar um mehr.»

Der Junge im Bild wurde erwachsen und alterte, bis er volles graues Haar hatte – ansonsten jedoch völlig gesund wirkte. Mühelos hob er ein lachendes Enkelkind hoch und ging mit ihm auf ein Tiergehege zu.

Dann wurde zum Bild eines jungen Mannes übergeblendet, der eifrig und aufmerksam in einem Klassenzimmer saß.

«Eine Veränderung amDLG-3-Gen vermag das Gedächtnis zu verbessern, während eine Reihe von Edits innerhalb der Gen-Cluster M1 und M3 die Intelligenz beträchtlich erhöhen kann.»

Das Bild morphte zu demselben Teenager mit Talar und Barett. Unter Applaus trat er lächelnd ans Rednerpult, offensichtlich, um die Abschlussrede für seinen High-School-Jahrgang zu halten.

Jetzt wechselte das Bild zu einer athletisch aussehenden jungen Frau, die ein Rennen gegen dichtauf liegende Konkurrentinnen lief.

«Eine minimale Modifikation desMEF-2-Gens kann schnell zuckende Typ-2-Muskelfasern verleihen …»

Die junge Frau hängte die anderen Sprinterinnen ab und riss die Arme hoch, als sie umjubelt das Zielband durchbrach.

«… und so die sportliche Leistungsfähigkeit steigern.»

Das Bild blendete wieder zu einer DNA-Doppelhelix über, bei der an einigen Stellen Segmente herausgeschnitten und ersetzt worden waren.

«Und wir entwickeln ständig weitere, noch interessantere Edits, die es ermöglichen, den wachsenden Anforderungen unserer immer konkurrenzorientierteren Welt zu genügen. Unser Genberater gibt Ihnen gern eine vollständige Liste der erhältlichen Edits in Ihrem Preissegment. Wofür Sie sich auch entscheiden – Sie schenken Ihrem Kind damit etwas Zeitloses, das es an die eigenen Kinder weitergeben kann – das erste ‹Familienerbstück› von wahrhaft unschätzbarem Wert.»

Die DNA schlang sich, während das Bild zu sanfter, inspirierender Musik auszoomte, zu einem Kleeblattknoten.

Über und unter dem von Leben pulsenden Logo erschien jetzt Text:

TREFOIL LABS

EVOLUTION NACH PLAN

Momente später verschwand das virtuelle Logo, als der Berater das Glim berührte, das daraufhin wieder seine flache, rechteckige Form annahm. Er verstaute es in der Schreibtischschublade. «Ich hoffe doch, das hat Ihre Fragen beantwortet.»

Der Mann und die Frau schienen durch das jähe Verschwinden der alternativen Realität etwas verwirrt.

Die Frau fasste sich als Erste. «Können solche Edits auch an einem erwachsenen Menschen vorgenommen werden?»

Der Berater lachte, legte seinen vegetarischen Burger auf den Pappteller und verschränkte die Hände. «Tja, das wäre allerdings sehr nützlich! Aber leider nein, Mrs. Cherian. Die DNA einer einzigen von fünf Trillionen Zellen würde nicht viel bewirken. Deshalb müssen diese Veränderungen vorgenommen werden, solange Ihr Kind noch eine Zygote ist – eine einzige befruchtete Zelle.»

Sie nickte. «Verstehe.»

«Sie und ich, wir werden bleiben, wie wir sind, aber Ihr Kind unterliegt keiner solchen Beschränkung.» Er studierte ihren Gesichtsausdruck, legte die kurze Kunstpause des versierten Verkäufers ein. «Sollen wir jetzt die gewünschten Edits für Ihren zukünftigen Sohn besprechen?»

Der Mann nahm die Hand seiner Frau. «Bist du dazu bereit, Liebes?»

Sie kämpfte sichtlich mit starken Emotionen.

Das war für den Berater nichts Neues. «Mrs. Cherian, alle Lebewesen selektieren genetische Merkmale bei der Partnerwahl. Jetzt aber ermöglicht die Wissenschaft Ihnen beiden, die Genausstattung Ihres Kindes ein wenig mehr zu beeinflussen – gemeinsam.»

Wieder legte ihr der Mann die Hand aufs Knie.

Sie schüttelte den Kopf. «Das scheint gegen die Natur zu sein.»

Der Berater sagte sanft: «Es handelt sich hier um das gleiche Verfahren, das die Natur benutzt, um virale DNA in Bakterien zu eliminieren. Um ebenjenes Verfahren, das im Rahmen der UN-Konvention über genetische Modifikation angewandt wird.»

«Ja, aber um tödliche Gendefekte zu beseitigen, nicht um ein Kind maßzuschneidern.»

Der Ehemann schüttelte den Kopf. «Wir wollen unser Kind nicht maßschneidern. Wir wollen nur genetisch bedingte Schwächen korrigieren. Ist ein schlechtes Gedächtnis für einen künftigen Arzt oder Anwalt etwa nicht tödlich?»

«Wohin führt diese Denkweise, Neelo – zur Eugenik?»

Der Berater schüttelte langsam den Kopf. «Nein, Mrs. Cherian. Das menschliche Genom enthält drei Milliarden DNA-Basen. Die meisten Leute lassen sechs bis zwölf davon bearbeiten – wahrhaft minimale Edits.»

«Weißt du noch, Liebes, was du gesagt hast, als du den Jungen der Persauds gesehen hast? Sind wir nicht deshalb hier?»

Sie schwieg.

Der Ehemann wandte sich an den Berater. «Wir wollen natürlich nicht viele Edits.»

«Die würden Sie auch nicht benötigen, Mr. Cherian.» Er tippte auf einem unsichtbaren Screen herum. «Doch schon minimale Edits können Ihrem Kind in einer sich schnell verändernden Welt sehr helfen. Manche Edits sind natürlich teurer als andere, aber Elternliebe sollte keine Sparsamkeit kennen.»

Der Mann musterte seine Frau, die buchstäblich die Hände rang. «Welche Edits würden Sie empfehlen?», fragte er den Berater.

«Ich rate immer zum DAF-2-Edit. Warum nicht Ihrem Kind drei gesunde Lebensjahrzehnte mehr schenken? Damit es an Ihrem Lebensabend für Sie da ist?» Der Berater gab Verschiedenes auf dem unsichtbaren Screen ein. «Was könnte daran falsch sein?»

Die Cherians wechselten abwägende Blicke.

«Eine längere Lebensdauer macht natürlich bestimmte andere Edits ratsam – LRP5 für besonders kräftige Knochen, PCSK9 für ein stark vermindertes Herzkrankheitsrisiko …» Er klickte auf diverse Benutzerschnittstellen.

«Die nächste Frage wäre, was Ihnen wichtiger ist: herausragende intellektuelle Fähigkeiten oder körperliche Leistungsfähigkeit. Erhöhte Intelligenz erfordert komplexere Edits – und ist daher kostspieliger. Sie können natürlich auch beides haben, wenn es Ihr Budget erlaubt.» Er sah die Eltern an.

Sie schienen durch die Tragweite der Entscheidung gelähmt.

«Nun, schauen wir mal, was das griechische Ideal – Körper und Geist – bedeuten würde.» Der Berater zeigte ihnen den Preis.

«Das ist mehr, als ein Jahr Universitätsstudium kostet, Neelo.»

«Aber mit diesen Edits könnte unser Sohn sicher ein Vollstipendium bekommen.»

«Mir ist nicht wohl dabei.»

«Warum? Weil irgendein Regierungsbürokrat sagt, es ist nicht erlaubt? Glaubst du wirklich, Liebes, die reichsten Familien täten das nicht?»

Sie seufzte und schaute weg.

Er nahm wieder ihre Hand. «Wir müssen es tun. Für unseren Sohn – auch wenn uns dabei noch so unbehaglich zumute ist.»

In dem Moment knallte es so laut, dass sie alle zusammenschreckten.

Die Frau drehte sich um. «Was war das?»

Der Berater klickte bereits auf unsichtbaren Screens herum. «Du meine Güte … Mr. und Mrs. Cherian … einen Moment bitte.»

Die Frau fasste ihren Mann am Arm. «Was war das, Neelo?»

Der Mann stand auf, weil sich der Berater ebenfalls erhoben hatte. Draußen im Flur waren hektische Schritte und halblautes Rufen zu hören. «Reden Sie, Mann!»

Der Berater machte eine beschwichtigende Geste. «Sieht aus, als ob die Brihanmumbai hier eine Razzia durchführt.»

«Die Polizei?»

«Kein Grund zur Sorge. Wir haben Spenden an die entsprechenden Behörden geleistet. Das ist eindeutig ein Versehen. Aber wir haben just für einen solchen Fall mehrere Geheimausgänge.» Er zeigte auf die Tür seines Büros. «Wenn Sie mir also bitte folgen würden …»

Der Berater trat zügig durch die Tür auf einen schmalen Gang hinaus, der sich rasch mit anderen Ehepaaren und deren Beratern füllte. Zum Teil verbargen die Kunden das Gesicht mit Handtasche, Halstuch oder Arm voreinander.

Der Ehemann fasste seine Frau bei der Hand und blieb dicht hinter dem Berater.

«Was ist mit unserem Embryo, Neelo?»

Der Berater drehte sich kurz um. «Keine Sorge. Wie gesagt, wir werden dieses Versehen klären.»

Hinter ihnen erscholl ein Warnruf. Beide Eheleute drehten sich um und sahen, wie die Tür am Ende des Gangs eingetreten wurde. Polizisten in schwarzen, gepanzerten Kampfanzügen stürmten herein und riefen: «Zameen par sab log!»

Jemand schrie, und die Kundenschar floh in wilder Panik.

Aus einer Seitentür trat ein Labor-Wachmann – die Pistole in der Hand.

Die Polizisten riefen im Chor: «Bandook! Bandook!» Rote Laserpunkte sammelten sich auf der Brust des Wachmanns, der mit hängendem Unterkiefer dastand. Ohrenbetäubendes Knallen setzte ein. Schreien, als alle auseinanderstoben. Der Wachmann fiel um wie ein Sack Zement.

Der Mann zog seine Frau mit sich zu Boden. «Runter! Unten bleiben, Liebes!»

Leute rannten in Panik an ihnen vorbei zu einem Ausgang, der noch nicht in Sicht war – einige traten auf das Ehepaar. Der Mann versuchte, seine Frau zu schützen. «Passen Sie doch auf, verdammt!»

Die Polizisten riefen wieder: «Jameen par sab log!»

Der Berater war nicht mehr zu sehen. Der Mann flüsterte seiner Frau ins Ohr: «Wir dürfen nichts sagen, bevor wir mit einem Anwalt geredet haben. Ich muss Anish anrufen.»

Seine Frau schwieg.

Der Mann bemerkte Blut an seiner Hand. In Panik tastete er seine Körperseiten ab. «Liebes, ich …» Als er nichts fand, sah er seine Frau genauer an.

In ihrer Schläfe war ein kleines Einschussloch.

«Nein …» Er hielt ihren Kopf mit beiden Händen. Unter ihnen bildete sich eine Blutlache, die sich rasch auf dem schmuddeligen, billigen Teppich ausbreitete.

Er versuchte, mit den Lippen Worte zu bilden – und schrie schließlich entsetzt auf, als die Polizisten von hinten auf ihn zutraten, die Maschinenpistolen im Anschlag: «Nein! Nicht!»

Er umklammerte ihren Leichnam, stieß schrille Schreie aus.

Die behelmten und gepanzerten Polizisten versuchten, ihn von ihr wegzuziehen, doch der Mann ließ seine Frau nicht los.

«Liebling, nein! Liebling!»

2

Veränderung kommt. Unerbittlich. Meistens erfolgt sie allmählich, manchmal aber ist sie auch wie ein Erdbeben. Lieb- und wertgehaltene Grundannahmen bekommen einen Knacks. Felsen der Stabilität bröckeln. Erfahrungsklüfte tun sich zwischen Nachbargenerationen auf.

Wenn Kenneth Durand an seine Kindheit zurückdachte, sah er vor sich, wie seine Eltern ihr technologisches Erdbeben erlebten – die Disruption aller Industrien. Mit unnütz gewordenen Uniabschlüssen und einem Berg von Studiumsschulden fielen sie wie so viele andere Leute aus der Mittelschicht. Das fröhliche Lächeln seines Vaters wich einer Maske der Besorgnis, die er bis zu seinem Tod trug. Automation und Disintermediation erschütterten ihre Welt.

Und alle hielten das für eine gewaltige Veränderung.

Dabei war es nichts – nur ein leises Erdzittern.

Zwei heftigere Stoßwellen trafen Durands Generation.

Die erste war die massenhafte Verbreitung der Lichtfeldtechnik. Plötzlich war das, was man mit eigenen Augen sah, nicht zwangsläufig real. Der größte Teil der Unterhaltungselektronik-Industrie verschwand.

Die zweite und weit disruptivere Stoßwelle war die vierte industrielle Revolution: die synthetische Biologie. Was einst industriell gefertigt worden war, erzeugten jetzt zunehmend maßgeschneiderte Organismen – Algen, Hefen, Bakterien. Autokarosserien aus Chitin. Biokraftstoff aus modifizierten Escherichia-Coli-Bakterien. Tierleidfreies Fleisch und tierleidfreie Milchprodukte aus nachhaltiger Zellkultur-Produktion. Biofabrikation statt maschineller Herstellung. Das Leben selbst wurde in den Dienst des menschlichen Willens gestellt.

Gesellschaften, die sich diese technologischen Neuerungen zu eigen machten, entwickelten sich weiter. Die, die es nicht schafften, nicht. Sie mühten sich vielmehr mit den Schulden, der politischen Lähmung und den wechselnden Schuldzuweisungen des vorigen Zeitalters ab. Und viele taten nichts anderes.

Durand hatte seine Wahl getroffen, und die Erinnerung an die, die er hinter sich gelassen hatte, schmerzte noch. Zweifellos lebten Migranten schon immer mit diesem Schmerz. Sie sahen irgendwo anders eine andere, bessere Zukunft und gingen den mühseligen Weg dorthin. Er hatte so viele Menschen enttäuscht. Hochgehaltene Traditionen des Dienens und der Loyalität gebrochen. Aber das Leben bestand aus schweren Entscheidungen.

Durand betrachtete die Autoscheinwerfer achtzig Stockwerke unter sich, während das erste Tageslicht über der Straße von Johor erschien. Dort unten war Singapurs robotische Rushhour schon in vollem Gang. Autonome Elektroautos reihten sich dicht an dicht auf den Stadtautobahnen, und ihr LED-Scheinwerferlicht floss dahin wie Ströme weiß glühender Lava.

Er hörte der Stimme der Nachrichtensprecherin in seinem Ohr nur halb zu.

«… bereitet sich Korea auf die Feier zum Jahrestag seiner Wiedervereinigung vor. In Seoul rollt man den roten Teppich für chinesische Würdenträger aus – in Anerkennung der Schlüsselrolle Beijings bei dem nahezu unblutigen Staatsstreich und Einmarsch und der dadurch besiegelten Absetzung des Regimes in Pjöngjang …»

Aus den Verkehrsmustern auf den Straßen ging eindeutig hervor, dass keine Menschen mehr am Steuer saßen. Kein Stop-and-go, der Verkehr floss reibungslos, exakt koordiniert, optimiert.

«Mathematik in Aktion», hatte es sein Vater genannt. Ein permanenter Informationsfluss richtete die Fahrzeuge zueinander und am großen Ganzen aus. Heutzutage konnte man gar nicht autonom zur Arbeit fahren, selbst wenn man es wollte. Manuelles Fahren war auf den Stadtautobahnen verboten. Menschen konnten da nicht mithalten.

Das wusste sein Vater nur zu gut.

Mathematik in Aktion. Als erfahrener, tüchtiger Ingenieur hatte sein Vater die letzten zehn Jahre seines Lebens damit verbracht, aus minderen Einzelhandelsjobs wegrationalisiert zu werden. Er war an einem Herzinfarkt gestorben, als Durand noch auf die Highschool ging – und hatte die Familie in Armut zurückgelassen.

Die Stimme der Nachrichtensprecherin in seinem Ohr sagte jetzt: «Die australische Küstenwache hat ein sogenanntes Zombie-Schiff abgefangen, das am Dienstag vor der Küste von Port Arthur trieb. Schleuser hatten die Hunderte verzweifelter Migranten an Bord des Schiffs ohne Wasser und Nahrung sich selbst überlassen. Zuvor hatten sie laut Aussagen von Betroffenen Geld dafür kassiert, die Flüchtlinge nach Indonesien zu bringen, wo angeblich Arbeitsplätze auf sie warteten.»

Durand wandte den Blick von der Skyline ab und konzentrierte sich wieder auf den Dach-Joggingpfad. Ein Blick auf die leuchtenden Zahlen am Rand seines Gesichtsfelds sagte ihm, dass er immer noch eine Meile in sieben Minuten schaffen konnte.

Während er joggte, liefen die Nachrichten weiter.

«Auf der Flucht vor klimawandelbedingten Missernten, Bürgerkriegen und steigenden Meeresspiegeln bilden derzeit zig Millionen Menschen die größte, anhaltende Migrationsbewegung der Menschheitsgeschichte …»

Durands LFP-Brille tönte sich im Licht der aufgehenden Sonne. Die tropische Schwüle war bereits drückend. Immer wieder joggte er durch Wolken aus atomisiertem Wasser, die ihn kühlten. Der Joggingpfad krümmte sich nach rechts zu einem Fünf-Kilometer-Rundkurs auf dem Dach des Wohnkomplexes Hanging Gardens. Üppige Dschungelpflanzen säumten die Strecke.

Durand zog das Tempo an, folgte den Kurven des Pfads. Die Oberfläche aus einem schwammartigen Metamaterial dämpfte die Stöße auf seine Gelenke. Er kam an einem Infinity-Pool vorbei, in dem ein Schwimmer mit Schwimmbrille und -kappe trainierte. Dahinter verlief ein Gartenweg durchs Grün, ein Stück tiefer und nahe der Brüstung. Alles, was man sah, war sorgsam designt: Die Stadtplaner nannten das gebaute Umwelt.

«Das Internationale Olympische Komitee trifft sich diese Woche in Tokio, um über die kommende Generation von genveränderten Sportlern zu diskutieren. Ein Thema ist, obCRISPR-Edits bei olympischen Wettkämpfen und im Profisport zur Disqualifikation führen sollen. Gegenwärtig gibt es keine zuverlässigen Tests zur Feststellung genetischer Bearbeitung im Embryonalstadium, was bedeuten könnte, dass langjährige menschliche Leistungsrekorde fallen.»

Im Laufen betrachtete Durand die Baukräne, mit denen die Skyline von Singapur gespickt war. Überall im Central Business District wurden zweihundertstöckige Gebäude hochgezogen. Ein stummes Zeugnis des herrschenden Booms.

Es war schwer festzumachen, wann genau Singapur die Technologiehauptstadt der Welt geworden war. Die Ökonomen datierten diesen Punkt gewöhnlich in den Zeitraum zwischen der Ratifizierung der UN-Konvention über Genmodifizierung und der zweiten Mondlandungswelle. Mit Beginn der Genrevolution hatten die USA ihre technologische Führungsposition definitiv eingebüßt.

Doch Silicon Valley schied nicht einfach kampflos dahin.

Palo Alto, Mountain View, Cupertino und San Francisco durchliefen sämtliche Kübler-Ross’schen Sterbephasen. Milliardenschwere Steuererleichterungen sollten die Investitionsbereitschaft wiederbeleben wie Defibrillatorstöße. Die Branche ließ sich peinliche VR-Werbegags einfallen. Am Ende schmiss die US-Regierung praktisch mit H1-B-Visa um sich.

Doch nichts vermochte den Exodus zu stoppen. Das Valley war erledigt. Die synthetische Biologie machte ihm den Garaus – was nicht die Schuld des Valley war, wie man fairnesshalber dazusagen musste.

Die synthetische Biologie war der Transistor des 21. Jahrhunderts. Und doch machte die Politik der USA es heimischen Unternehmen nahezu unmöglich, an den Bausteinen des Lebens herumzutüfteln. Jeder Haufen aus menschlichen Zellen galt in Amerika als Baby. Ein Viertel der Bevölkerung war nicht geimpft. Die Mehrheit der Amerikaner glaubte nicht an die Evolution. Die Meinungsmache durch soziale Medien hatte mehr Einfluss als Forschungsergebnisse, die durch Expertengutachten bestätigt wurden. Dieses virulent antiwissenschaftliche Klima trieb die Synbio-Forschung außer Landes, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Aktivisten triumphierten.

Der Rest der Welt ließ sich die Chance nicht entgehen.

Das, was Silicon Valley groß gemacht hatte – Chips und Software –, war inzwischen billige globale Ware, die überall produziert wurde. Die ökonomische Disruption durch netzwerkzentrierte Technologien war so gut wie vollendet. Die Disintermediation hatte bereits jeden Winkel des modernen Lebens erfasst. Gig- und Sharing-Economy hatten die amerikanische Verbraucherbasis kannibalisiert, indem sie die Mittelschicht so lange unterboten, bis es sie nicht mehr gab. Das war Durands Eltern passiert. Er erinnerte sich, wie sie sich alle in einem Zimmer zusammendrängten, während eine Schuldeneintreibungssoftware den Rest ihres Hauses übers Internet vermietete.

Die Welt schritt weiter voran. Sie hungerte nach Lösungen für die dringenden Probleme einer sich rasch erwärmenden Erde. Suchte nach Möglichkeiten, Hunderte Millionen Menschen zu ernähren, die durch Automatisierung, sprunghaft ansteigende globale Verschuldung, Klimawandel und Krieg erwerbslos geworden waren.

Die synthetische Biologie lieferte die Lösung: Sie konstruierte aus Hefen, Algen und Bakterien die Maschinen für eine nachhaltige Produktion. Entwickelte integrierte Biofabrik-Systeme. Diente als Schmiede für neue Pharmazeutika und CRISPR-editierte klimawandelresistente Nutzpflanzen – wie etwa den C-4-Fotosynthese-Reis – zur Ernährung der zehn Milliarden Menschen auf der Erde. «Gebaute Umwelt», in der Cyanobakterien Licht in Zucker und maßgeschneiderte E. Coli Zucker in Kraftstoff umwandelten – Organismen, die so verändert waren, dass einer in die Verarbeitungsschleife des anderen passte. Modifizierte E. Coli, die die Meere von Schadstoffen reinigten oder Kohlenstoff banden.

Innovationen in der Xenobiologie erlaubten es, das natürliche Alphabet des Lebens durch Xenonukleinsäuren (XNA) zu erweitern: HNA, TNA, GNA, LNA, PNA, allesamt Zucker, die nicht in der Natur vorkamen, aber ganz neue zelluläre Maschinerien hervorbrachten und somit Verbindungen, die nicht mit natürlichen biologischen Systemen interagierten. Das hob ganze Industrien in den Bereichen Biocomputing und Bio-Blockchain-Technologie aus der Taufe.

Das Leben selbst war die nächste Systemarchitektur. Und gegen seine akkumulierte Betriebszeit war schwer anzukommen.

Also verlagerte sich das Valley nach Übersee, und mit ihm gingen viele der Menschen und Firmen, die es bildeten. Sie trafen sich an einem Standort wieder, der wissenschaftsfreundlicher war – wenn auch nicht ganz freiheitlich demokratisch. Mitte der 2030er Jahre waren die meisten Synbio-Start-ups auf dem Weg nach Changi. Binnen eines Jahrzehnts wurde Singapur die Heimat neuer billionenschwerer Unternehmen, die die Hauptindustrien der winzigen Inselrepublik verdrängten: Ölindustrie und Finanzwirtschaft. Und sie veränderten die Skyline des Stadtstaats erneut.

Durand betrachtete eine ferne Reihe von Urban-Farming-Türmen. Jeweils hundert Stockwerke hoch und mit Pflanzen berankt, sahen die zwölf Türme aus wie überwucherte postapokalyptische Ruinen – bis auf ihre funkelnden metallorganischen Lichter. Verglichen mit einem traditionellen Landwirtschaftsbetrieb, erzeugten diese Türme pro Flächeneinheit zehnmal so viele Nahrungsmittel mit einem Bruchteil des Wassers. Ganz ohne Pestizide. Praktisch voll automatisiert.

In der Nähe standen «Pharm»-Türme mit Pflanzen, die genetisch so modifiziert waren, dass sie Pharmazeutika produzierten.

Jenseits der Türme schwirrten Schwärme kommerzieller Drohnen den Luftlogistik-Highway vor der Nord- und Ostküste entlang – unterwegs nach Changi und zu dem Luftroutenkreuz, von dem der Zubringer in den Central Business District abging. Vor dem glühenden östlichen Horizont sahen die Lieferdrohnen aus wie Vogelschwärme.

Auf Durands Nachrichtenfeed lief inzwischen Werbung – eine schnell sprechende amerikanische Männerstimme. «… der ersteIGEA-zertifizierte Anbieter für kundenspezifische Zellklonierung, Gensythese, Subklonierung, Mutagenese, maßgefertigte Promutagene, Variantenbibliotheken und Vektor-Shuttling-Dienste. cDNA-Klone erhältlich in Ihrem Wunsch-Vektor …»

Es hatte keinen Sinn, Werbung zu überspringen oder stummzustellen; sie erwartete einen dann beim nächsten Mal. Besser, man ließ sie einfach laufen. Außerdem hatte Durand seine Runde gleich beendet.

Er lief zwischen Reihen biolumineszenter Bäume auf den Dacheingang von Turm sechs zu. Das sanfte Leuchten der Bäume hatte sich heruntergedimmt, als die ersten Sonnenstrahlen auf die flächigen Blätter fielen. Gentechnisch erzeugt wie alles um ihn herum, waren diese Bäume nicht nur schön, sondern auch praktisch: Sie beleuchteten Straßen und Gehwege in ganz Singapur.

Auf den letzten zwanzig Metern gab er noch einmal alles. Das Sicherheitssystem des Gebäudes erkannte ihn, und die Glastür glitt wie erwartet lautlos vor ihm auf. Durand kam in der wohltuenden Kühle der Dachlobby zum Stehen.

Die synthetische Frauenstimme des Turms sagte auf Englisch mit asiatischem Akzent: «Guten Morgen, Mr. Durand. Ich hoffe, Sie haben Ihren Frühsport genossen.»

Durand ignorierte die Stimme. Er wusste, es war nur eine begrenzte KI. Alles, was er ihr an Input zukommen ließe, würde nur für den späteren Gebrauch oder Missbrauch gespeichert. Sie interessierte sich so wenig für ihn wie seine Seifenschale. Also kontrollierte er nur seine Laufzeit, während er Dehnübungen machte und wieder zu Atem zu kommen suchte.

In seinem Ohr setzte der Nachrichtenfeed wieder ein:

«Die Anwältin und weltweit bekannte Menschenrechtsaktivistin Kamala Cherian wurde am Dienstagabend bei einer aus dem Ruder gelaufenen Polizeirazzia getötet, in einem illegalenCRISPR-Labor im Mumbaier Stadtteil Kurla …»

Durand hielt jäh inne.

«… Laut indischen Polizeibehörden geriet Ms. Cherian als Kundin des Labors in einen Schusswechsel zwischen Polizei und Firmensicherheitsdienst. Ms. Cherians Tod dürfte die in der Bevölkerung weit verbreitete Ablehnung solch bewaffneten Vorgehens noch verstärken, auch wenn der Waffeneinsatz gegen illegale Genbearbeitungslabors durch dieUN-Konvention über Genmodifikation gedeckt ist. Die Konvention von 2038 sollte der weltweiten Verbreitung unregulierter Genbearbeitung an menschlichen Embryonen einen Riegel vorschieben.»

Durand wies die Nachrichtensprecherin an: «Britney. Nachrichten auf Pause.»

Die digitale Nachrichtensprecherin sagte: «Stelle Nachrichten auf Pause.»

Er dachte kurz über die Information nach. «Britney, anrufen: Michael Yi Ji-chang.»

Die Nachrichtensprecherin, jetzt seine Assistentin, antwortete: «Tätige Anruf bei Detective Sergeant Michael Yi Ji-chang. Moment …» Eine Pause folgte. «Ich habe eine verschlüsselte Verbindung zu Detective Yi Ji-chang.»

Ein Mann meldete sich. Er hatte einen leichten koreanischen Akzent: «Ein Anruf so früh am Morgen kann nichts Gutes bedeuten.»

«Erzähl mir von der Razzia in Mumbai.»

«Was gibt’s da zu erzählen? Schießwütiger Cop tötet eineVIP.»

«Weiß Claire es schon?»

«Ja, und ich sage dir, was ich ihr schon gesagt habe: Wir sollten nicht überreagieren.»

«Die Brihanmumbai sollte das Labor hochgehen lassen, nicht die Klinik. Im Labor wären keine Zivilisten gewesen. Jetzt ist eine unschuldige Frau tot.»

«So ganz unschuldig auch wieder nicht.»

«Ach, Mike.»

«Wenn sie sich ans Gesetz gehalten hätte, würde Ms. Cherian noch leben. Wäre es dir lieber, ein Cop wäre ums Leben gekommen?»

«Natürlich nicht, aber das ist nicht die Alternative.»

«Hör zu, wir liefern nur die Erkenntnisse. Die Razzien macht die nationale Polizei. Es ist nicht unsere Schuld.»

«Blödsinn. Wir haben Einfluss auf die Nationalen Zentralbüros. Wir sollten ihnen nur die Laborstandorte mitteilen.»

«Wenn wir volle Gegenseitigkeit erwarten, muss Interpol der nationalen Polizei das Werkzeug an die Hand geben, den Geldflüssen ins Innere dieser Syndikate zu folgen – an die großen Fische heranzukommen. Also deine gesamte Linkanalyse.»

Durand fühlte eine vertraute Angst. «Weißt du noch, was wir nach Dschibuti gesagt haben?»

«Das hier ist kein Missbrauch von Aufklärungsergebnissen, Ken.»

«Weißt du’s noch?»

«Das hier war ein Versehen – und noch nicht mal ein Versehen von uns.»

«Die Medien stellen die Razzien als Mord an hoffenden Eltern dar. Wir wissen doch beide, was passiert, wenn sich die Öffentlichkeit gegen die Abteilung Genkriminalität kehrt.»

«In zwanzig Jahren, wenn den Kindern Hände aus der Stirn wachsen, wird die Öffentlichkeit wissen wollen, warum zum Teufel wir nichts getan haben, um diese illegalen Labors dichtzumachen.»

«Stimmt, also sollten wir der Opposition den Wind aus den Segeln nehmen, indem wir verhindern, dass tote Menschenrechtsaktivistinnen in den Frühnachrichten kommen.»

Vom anderen Ende war ein müdes Seufzen zu hören. «Ken, ich weiß, du willst das nicht hören, aber es passiert nun mal, dass Unschuldige in Schusswechsel geraten. Baby-Labors sind momentan das profitabelste illegale Gewerbe der Welt, und die Syndikate, die sie betreiben, sind skrupellos. Sie töten Journalisten, Polizisten, Politiker, Zivilisten. Ihre schlechte Presse übertrifft unsere bei weitem. Ich sage dir: Die Öffentlichkeit wird zu uns halten, auch wenn wir wie heute mal einen imagemäßig miesen Tag haben.»

Durand trommelte mit den Fingern auf ein Geländer. «Für mich ist es mehr als nur ein imagemäßig mieser Tag.»

«Ken. Du hast Ms. Cherian nicht getötet.»

Durand starrte ins Leere. «Ich habe die Algorithmen geschrieben, die dieses Labor gefunden haben. Sie ist tot, weil –»

«Ein schlechtzielender Cop sie getroffen hat. Sie war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.»

Durand ging schweigend auf und ab.

«Wir retten täglich Menschenleben, indem wir diese Labors dichtmachen. Du weißt, dass es so ist.»

Durand sagte noch immer nichts.

«Kopf hoch, Kumpel. Hör zu, wir sehen uns beim Acht-Uhr-Briefing, okay?»

«Okay.»

«Haeng-syo.»

Durand beendete die Verbindung.

Die Gebäude-KI fragte: «Soll ich einen Lift rufen, Mr. Durand?»

Durand nickte und wischte sich mit seinem Annapolis-T-Shirt den Schweiß von der Stirn. Er widerstand dem tiefsitzenden menschlichen Impuls, der digitalen Assistentin zu danken, und ging zu den Aufzügen.

3

Durand trottete einen Hausflur entlang, der mit Kultur-Hartholz und gedrucktem Metall gestaltet war, was skandinavisch-schlicht und elegant zugleich wirkte. Seine Wohnungstür erkannte ihn und entriegelte sich mit einem Klick.

Er trat ein und sagte mit angespanntem Lächeln: «Morgen.»

Seine Frau, Miyuki Uchida, saß mit einer Tasse Tee an ihrem Schreibtisch und hielt gerade eine AR-Videokonferenz mit Leuten ab, die Durand nicht sehen konnte. In den Regalfächern hinter ihr standen gerahmte physische Fotos von Familienangehörigen, Freunden und Kollegen sowie Andenken an ihre Entwicklungsarbeit in Afrika. Ihr langes schwarzes Haar glänzte im Morgenlicht, als sie sich lächelnd zu ihm umdrehte und die Kamera blindschaltete. «Hey.»

Er küsste sie auf die Wange. «Du bist ja früh auf.»

«Mein Team in Accra hat ‹Genehmigungsprobleme›. Jetzt wird immer im Kreis herumpalavert.»

«Soll ich dir was zum Frühstück machen?»

«Danke, ich habe schon was gegessen. Im Kühlschrank ist eine Mangostan für dich.»

Durand füllte eine Flasche mit gekühltem Wasser aus der Kühlschranktür. Gleich darauf betrat seine Frau ebenfalls die Küche.

«Ist das Geburtstagskind schon auf?» Durand nahm eine tropische Frucht aus dem Kühlschrank.

«Tut, als ob sie noch schläft – apropos: Vergiss nicht, heute Abend das Geschenk mitzubringen.»

«Warum hast du es nicht liefern lassen?»

«Sie überwacht alle Lieferungen.»

«Ah.»

«Irgendwas hast du doch. Das merke ich.»

Durand nahm einen Bissen von der Mangostan. Dann sagte er achselzuckend: «Hat nur mit der Arbeit zu tun.»

Sie sah ihn an.

Er wand sich unter ihrem Blick.

«So habe ich dich schon zwei Jahre nicht mehr gesehen.»

Durand schaute weg. «Durch meine Analyse ist eine Zivilistin ums Leben gekommen. Gestern Abend. Eine junge Frau. Menschenrechtsaktivistin.»

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. «Oh, Ken, das tut mir leid.» Sie zögerte. «Auch wenn ich mal vermute, dass es so simpel nicht ist.»

«Ich kann nicht mehr drüber sagen.»

«Verstehe.» Sie umarmte ihn. «Tut mir wirklich leid.»

«Genau deshalb bin ich ausgestiegen, Mi.»

«Ich weiß, aber das jetzt ist doch nicht dasselbe, Ken.»

«Es läuft wieder genauso.»

«Es ist nicht dasselbe.» Sie löste sich von ihm und sah ihn an. «Niemand führt Luftschläge auf Basis deiner Analyse durch.»

Er schwieg.

Sie nahm seine Hand. «Du weißt, was für Schuldgefühle ich dabei habe, in der Bubble zu leben. Es gibt so viel Leid auf der Welt. Wir haben einander versprochen, unseren Beruf nur auszuüben, wenn das die Welt für ihre Generation besser macht.» Sie zeigte auf den Kühlschrank.

Durand drehte sich um und blickte zu dem ausgedruckten Foto an der Kühlschranktür: das Robotik-Team ihrer Tochter auf einem lokalen Tüftler-Festival. Lachende, optimistische junge Gesichter.

«Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du genau das versuchst.»

Er betrachtete das Foto und nickte zögerlich. Dann sah er zu dem Plesiosaurus-Polygonmodell an der Wand, das seine Tochter erstellt hatte. Er tippte auf das goldene Sternchen, das die Lehrerin daraufgeklebt hatte, und sagte mit anerkennendem Nicken: «Sie wird richtig gut.»

«Klar. Sie schlägt eben nach mir.»

Er musste trotz seiner Stimmung lachen. «Ich gehe mal schnell duschen.»

 

Während Durand den Elektrorasierer übers Gesicht führte, sah ihm die Katze vom Waschtisch aus aufmerksam zu. Die genmodifizierte Rasse hieß «Toyger», weil sie aussah wie ein lebender Mini-Tiger. Der Blick der Katze machte ihn nervös – als ob ihn ein ausgewachsener Tiger von jenseits eines Wasserlochs beobachtete.

«Nelson, könntest du das lassen?»

Der Toyger antwortete mit einem tiefen, kehligen Miauen.

Das Haustier gehörte seiner Tochter. Aus irgendeinem Grund konzentrierte es seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Durand. Er hielt nicht viel von maßgeschneiderten Tieren. Aber neotenische Schoßtiere waren der letzte Schrei – je juveniler und niedlicher, desto besser. Und ein Golden Retriever kam in einem öffentlich geförderten Wohnkomplex nun mal nicht in Frage.

Nach der Rasur zog Durand sich an, band sich die Krawatte, schlüpfte in sein Anzugjackett und packte seine Elektronik zusammen. Dann ging er den Gang entlang, wobei ihm Nelson immer noch an den Fersen klebte. Er klopfte an, bevor er den Kopf ins Zimmer seiner Tochter steckte.

Die Zimmer-Deko bestand aus Sonnensystem-Mobiles, Postern von Weltraumteleskopaufnahmen und 3-D-gedruckten Roboterdinosauriern, die sie kreiert hatte. Er blickte zu der kleinen Gestalt unter der Bettdecke.

Seine Tochter schien friedlich zu schlafen, einen Plüschdino an die Wange gedrückt.

Er flüsterte: «Toller Fake.»

Mia schlug die Augen auf und kicherte. «Du hast mich geweckt.»

«Ach.» Er setzte sich auf die Bettkante. «Wenn du noch geschlafen hast, was ist dann das hier?» Er griff unter ihr Kopfkissen und zog ein Glim hervor. Das eingeschaltete kuppelförmige Gerät lokalisierte im Nu seine Augen und projizierte einen Videospiel-Screen auf seine Netzhäute. Vor ihm in der Luft schwebte jetzt ein virtuelles Aquarium mit bizarren schwimmenden Kreaturen und erdachten Wasserpflanzen.

«Wir haben doch drüber gesprochen, wie wichtig Schlaf ist, weißt du noch?»

Sie jaulte: «Ich hab ja geschlafen.»

«Wenn ich mir also das Log dieses Geräts hier anschaue, wird es mir nicht verraten, dass du die ganze Nacht wach warst?»

«Das ist Gamework. Und ich muss es heute fertig haben.»

«Gamework.»

«Ja. Aber ich hab’s nicht geschafft.»

Durand inspizierte den Screen und die Fortschrittsanzeige in der rechten unteren Ecke … die langsam zurückging: zweiundsiebzig Prozent … dann einundsiebzig. «Na ja, wenn ich dir einen Tipp geben darf, dein Ökosystem ist aus dem Gleichgewicht, deshalb geht es kaputt.»

Sie stützte sich auf die Ellbogen.

Er zeigte auf die Projektion. «Du brauchst mehr Artenvielfalt, damit es mit dem Ökokreislauf klappt.»

«Wie soll ich das machen?»

«Da, siehst du, wie mit jeder Generation die Energielücke wächst? Wer säubert den Meeresboden und speist die Nährstoffe wieder in die Nahrungskette ein?»

Sie betrachtete stirnrunzelnd das Bild, das das Glim ihnen in die Augen projizierte.

«Du hast große Lebewesen erschaffen – was Spaß macht, klar. Aber siehst du, wie sie wegsterben? Wenn du stattdessen simple kleine Lebewesen erschaffst, durchlaufen sie eine Evolution. Ausgeglichene Ökosysteme entstehen allmählich von unten nach oben, nicht von oben nach unten und auf einen Schlag. Wir designen komplexe Systeme nicht, wir evolvieren sie. So macht es die Natur. Und die ist der beste Lehrmeister.»

Sie streckte die Hand in das virtuelle Aquarium und erschuf mit geübten Wischbewegungen aus Bausteinen auf dem Meeresgrund winzige Organismen – bald war sie völlig vertieft in die Simulation.

Der Prozentsatz sprang auf dreiundachtzig. Daraus wurden vierundachtzig. Dann fünfundachtzig.

«Na bitte.» Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht und küsste sie auf die Stirn. «Gern geschehen.»

Ohne den Blick vom Screen zu nehmen, sagte sie: «Adele hat mir einen falschen Tipp gegeben. Ich hab ihr gesagt, dass es falsch ist.»

«Es ist nicht Adeles Job, für dich zu denken.»

Mia sah ihn an. «Daddy?»

«Ja?»

«Ist es falsch, Babys zu editieren?»

Durand hatte sich bereits erhoben, nahm aber nach kurzem Zögern wieder auf der Bettkante Platz. «Wieso fragst du das?»

«Weil ich editiert bin. Bin ich deswegen ein schlechter Mensch?» Mia arbeitete weiter an der Simulation.

Durand war ein paar Sekunden sprachlos. «Wer sagt, dass du editiert bist?»

«Du.» Sie wandte sich ihm zu. «Ich hab dich mit Jiichan reden hören, als er und Obaasan hier waren.»

Durand schloss die Augen, wütend über seine eigene Dummheit. «Also, erstens war das nicht für deine Ohren bestimmt.»

«Dann ist es also falsch?»

«Nein. Und außerdem: Nicht Babys werden editiert, sondern Embryos – wenn sie nur eine einzige befruchtete Zelle sind. Und das passiert selten.»

Sie sah ihn an. «Adeles Mom sagt, Babys, ich meine Embryos, sollten nie editiert werden.»

«Editing ist nicht in jedem Fall etwas Unrechtes, und es ist nichts, wofür man sich schämen muss.»

«Aber du und Sergeant Yi, ihr verhaftet doch Leute, weil sie Embryos editieren.»

Er beugte sich hinab und presste seine Stirn an ihre. «Nein, Schätzchen, Daddy verhaftet niemanden. Ich helfe nur der Polizei, Leute zu finden, die gegen das Gesetz verstoßen.»

«Aber Editing verstößt doch gegen das Gesetz.»

«Nicht alle Edits – nur die, die gefährlich sind.»

«War meins ungefährlich?»

«Ja.»

«Was für ein Edit war das?»

«Es war gegen eine Krankheit – eine, die einen komplizierten Namen hat: Lebersche kongenitale Amaurose. Dadurch hätten sich deine Augen nicht richtig entwickelt, und du wärst jetzt blind. Die Ärzte haben ein ganz kleines Edit an deinem SPATA-7-Gen vorgenommen und die Störung repariert, damit du die Welt sehen kannst.»

«Also hat es mich geheilt.»

Er nickte. «Stimmt. Es ist nichts Unrechtes, Krankheiten zu heilen. Ich bin sicher, Adeles Mom nimmt auch Medizin, wenn sie krank ist. Leute lassen sich ja auch die Augen operieren, wenn sie schlecht sehen, und tun was gegen Krankheiten, oder?»

Sie nickte.

«Siehst du, und deine Mom und ich haben das bei dir machen lassen, weil wir dich sehr lieb haben.»

«Warum regen sich dann die Leute in den Feeds so auf?»

«Die regen sich nicht über dich auf, Schätzchen.»

«Worüber dann?»

Er überlegte kurz. «Wie gesagt, das ist kompliziert. Deshalb wollten wir ja erst mit dir drüber reden, wenn du älter bist.» Er merkte, dass sie damit nicht zufrieden war, und fügte hinzu: «Manche Leute wollen Embryos editieren, auch wenn die gar nicht krank sind.»

«Warum?»

«Weil sie wollen, dass ihre Kinder größer, stärker oder gescheiter sind als andere Kinder.»

«Aber manche Kinder sind doch stärker und größer und gescheiter.»

«Ja, aber das macht die Natur.»

«Aber die Natur macht Kinder auch krank – so wie mich zuerst.»

Durand überlegte. «Stimmt.» Er lachte und dachte noch angestrengter nach. «Wir wissen nicht genau, wie alle unsere Gene zusammen funktionieren. Sie haben sich über Jahrmillionen herausevolviert, und jede Änderung, die wir daran vornehmen, wird an zukünftige Generationen weitervererbt. Es könnte also zu Veränderungen unserer ganzen Spezies führen, die wir gar nicht beabsichtigt haben …» Ihm kam ein Gedanke. «Wie in deinem Gamework.» Er deutete auf das Glim-Bild. «Siehst du, wie die Merkmale deiner Geschöpfe an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden?»

Sie nickte.

«Tja, genau so funktioniert die Vererbung in der realen Welt. Als du eine Abkürzung genommen und deine Geschöpfe so erschaffen hast, wie du sie haben wolltest, waren sie nicht an die Umwelt angepasst.»

Sie schüttelte den Kopf.

«Und obwohl sie cool aussahen, wurden sie bald krank und ihre Nachkommen noch kränker – und binnen kurzem war dein ganzes Ökosystem krank. Und so ist es auch in der realen Welt. Wenn wir Edits machen, die nicht der Umwelt angepasst sind – auch wenn wir sie noch so cool finden –, kann das für künftige Generationen schlimme Folgen haben, mit denen wir gar nicht rechnen. Und das wollen wir nicht. Deshalb erlauben wir nur Genkorrekturen bei Menschen, die sonst krank würden – diese Leute sollen sich so entwickeln, wie sie von der menschlichen Evolution her sein sollten. Alle anderen Edits sind verboten. Und solche Edits versuchen dein Daddy, Sergeant Yi und Inspector Belanger zu stoppen, weil wir für die Sicherheit aller Menschen sorgen wollen.»

Sie sah zu ihm auf.

Er strich ihr das Haar aus den Augen. «Eines Tages wirst du bestimmt viel mehr über all das wissen als ich.»

Sie lachte. «Das glaub ich nicht. Du weißt viel.»

«Du wärst überrascht.» Er kontrollierte die Uhrzeit. «Okay, wenn ich pünktlich zur Arbeit kommen will, muss ich jetzt los.» Er küsste sie auf die Stirn und konfiszierte das Glim. «Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schätzchen. Und schlaf mir nicht in der Schule ein.»

Er ging zur Tür. «Bis heute Abend.»

Sie winkte. «Tschüs, Daddy.»

«Tschüs, Süße.» Durand schloss die Tür, wandte sich um und sah seine Frau im Flur stehen.

Sie kam lächelnd auf ihn zu. Schlang ihm die Arme um den Hals. «Die Vögel und die Bienchen sind ja so zwanzigstes Jahrhundert.»

«Das mit den Vögeln und den Bienchen kann ich erklären. Glaube ich zumindest. Was machen die Vögel noch mal?»

Sie küsste ihn. «Das hast du toll gemacht. Dafür sehe ich dir schon fast nach, dass du so einen Riesenmist gebaut hast.»

Er verzog das Gesicht. «Ich weiß. Sie muss uns mit einer ihrer Drohnen belauscht haben. Du weißt ja, wie sie ist, wenn wir Besuch haben.»

«Zum Glück hast du’s hingekriegt.» Miyuki streckte die Hand aus.

Durand gab ihr das Glim.

«Bis heute Abend.» Sie küsste ihn. «Vergiss ihr Geschenk nicht.»

«Nein. Bestimmt nicht.»

4

Interpols Global Center for Innovation, kurz GCI, wirkte wie ein befestigtes Museum für moderne Kunst. In den ersten zehn Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts erbaut, war es im Lauf der Jahre immer wieder erweitert und gegen mögliche Angriffe gepanzert worden. Inzwischen nahm es etliche tausend Quadratmeter in exklusivster Lage ein: an der Napier Road im Diplomatenviertel, gleich gegenüber der amerikanischen Botschaft.

Die bewaffneten Wachen saßen hinter Explosionsschutzwänden aus transparentem Aluminium, auf denen das Interpol-Logo mit Schwert und Globus prangte; sie beobachteten, wie Kenneth Durand sich dem Zugang näherte. Er nickte ihnen zu. Der Zugang teilte sich in ein Dutzend hermetisch verschlossener Einzelgänge auf, von denen sich nur einer vor Durand öffnete. Die Türen wurden von einem Zufallsalgorithmus gesteuert – sodass jeder Besucher einem eigenen beleuchteten Weg folgte. Das ganze Zugangssystem war darauf angelegt, Personen zu identifizieren und Risikotranchen zuzuordnen – sie ohne Verzögerung durchzuschleusen und mutmaßliche Gefährder schnell zu isolieren. Es entstand keine Schlange, die als solche schon ein Ziel für Terroristen abgegeben hätte.

Und das GCI war definitiv anschlagsgefährdet.

Untergliedert in Abteilungen für Finanz-, Cyber- und Genkriminalität sowie für Terror-Abwehr, bediente sich das GCI hochentwickelter Technologien im Kampf gegen das transnationale Verbrechen. Die meisten Leute wussten nicht, dass Interpolbeamte keine polizeiliche Befugnis hatten (zumindest außerhalb ihrer Heimatländer). Zudem verfügte Interpol nur über zwei Einrichtungen weltweit – diesen GCI-Komplex und den Hauptsitz in Frankreich.

Ansonsten unterhielten einhundertneunzig nationale Polizeiorganisationen in aller Welt ihre eigenen Nationalen Zentralbüros. Sie standen in Kontakt zum Interpol-Netzwerk und erhielten und versandten ein ganzes Kaleidoskop von sogenannten «Buntecken». Das waren rote, orange, gelbe, blaue, grüne, lila und schwarze Ausschreibungen, die Warnungen und Informationen bezüglich der Aktivitäten global agierender Verbrecher enthielten. Ob andere Länder diese Ausschreibungen gebührend umsetzten, hing von ihrer Politik und ihren Prioritäten ab. Doch wenn eine nationale Polizeibehörde wollte, dass andere nationale Polizeibehörden mit ihr zusammenarbeiteten, empfahl es sich nicht, Interpol-Ausschreibungen zu ignorieren. Dieses Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip funktionierte nun schon jahrzehntelang mal mehr, mal weniger gut.

Gelegentlich schickten die Mitgliedsstaaten Ermittler direkt ins Interpol-Hauptquartier, um dort etwas über neue Formen des Verbrechens zu lernen oder andere darüber zu unterweisen. Und wenn es darum ging, die nächste Generation von High-Tech-Kriminellen zu schnappen, rekrutierte Interpol durchaus auch Leute, die nicht aus den Reihen der Polizei stammten.

Kenneth Durand hatte das Glück, auf diese Weise rekrutiert worden zu sein. Und noch dazu zu einem Zeitpunkt, der für ihn nicht günstiger hätte sein können.

Er durchlief zwei weitere Sicherheitskontrollen, ehe er schließlich im zweiten Obergeschoss anlangte und eine weitere Explosionsschutzwand aus transparentem Aluminium passierte. Diese trug das Emblem der Genetic Crime Division, das Standard-Interpol-Logo, ergänzt um eine DNA-Doppelhelix, die sich um das Schwert wand: eine beunruhigende Mutation des Äskulapstabs.

Durand betrat die geschäftige Büroetage und grüßte einen Labortechniker, der ihm entgegenkam. Die Räume waren klar und modern konzipiert, aber vollgestopft mit improvisierten Workstations. Diebstahl von proprietärer DNA, Designer-Viren und Babylabors waren rasch zu den profitabelsten Kriminalitätsbereichen der Welt avanciert. Das hieß, dass auch die Genetic Crime Division rasch wuchs.

Durand ging in das kleine fensterlose Büro, das er mit Detective Sergeant Michael Yi Ji-chang teilte. «Morgen, Mike.»

«Hey.» Yi starrte auf einen AR-Screen, den nur er sehen konnte. Der athletische, gutaussehende Yi war zu Interpol abgestellt worden, von der Nationalen Koreanischen Polizei in Seoul, die seit der Wiedervereinigung im Umbruch war. Hier in Singapur sollte er sein Fachwissen über Embryoklinik-Kartelle weitergeben. Und Yi hatte Durand an Interpol vermittelt.

«Liegt was an?» Durand zog das Jackett aus.

«Oh, sorry, nein. Lese nur gerade einen Brief von meinem neuen Cousin.»

«Neu? Sie haben noch einen gefunden?»

«Ja. Das Gesundheitsministerium hat seine DNA geprüft. Bestätigt unsere Verwandtschaft.»

«Gratuliere. Du kriegst ja allmählich eine richtige Großfamilie zusammen.»

«Er will herkommen und bei mir wohnen.»

«Shit.»

«Ist durch den Wiedervereinigungs-Check gefallen. Keine marktgerechten Qualifikationen. Super.» Yi winkte den virtuellen Screen weg. «Du siehst besser aus, als du dich am Telefon angehört hast.»

Durand hängte das Jackett an die Tür. «Hab meine Meinung trotzdem nicht geändert.»

«Lass uns einen Termin für ein Streitgespräch machen. Jetzt haben wir erst mal unser Acht-Uhr-Meeting.» Yi stand auf und nahm seine Jacke von der Stuhllehne. Er trat zwischen den Cubicles hindurch aus dem Raum.

«Stimmt.» Durand schnappte sich wieder seine Jacke und holte Yi ein. «Im Kalender stand nur ‹externes Briefing›. Worum geht’s – um die Razzia in Mumbai?»

Yi schüttelte den Kopf. «Zweihundertdreiundsechzig Embryofabriken auf drei Kontinenten haben wir im letzten Monat dichtgemacht, und du glaubst, die hohen Tiere haben ein Problem mit dieser Mumbai-Sache?»

«Ich sage dir, sie sollten eins haben.»

 

Durands Abteilungsleiterin, Detective Inspector Claire Belanger, stand vorn im Briefing-Raum. Sie war eine schlanke, elegante Frau von Anfang fünfzig mit asymmetrisch frisiertem grauem Haar und durchdringenden blauen Augen. Sie trug einen maßgeschneiderten Hosenanzug und keinen Schmuck, bis auf einen Platin-Ehering. Durand wusste, den hatte ihr ihr verstorbener Mann auf den Finger gesteckt, vor dem Biowaffenangriff in Paris, einem Anschlag, bei dem nicht nur Belangers Mann umgekommen war, sondern auch Tausende von Menschen ihre Fruchtbarkeit verloren hatten, darunter Belanger selbst. Von ihrer Persönlichkeit her ruhig, aber eindringlich, und von Beruf ursprünglich Biochemikerin, war sie zur französischen Nationalpolizei gegangen und später zu Interpol abgestellt worden, wo sie jetzt den Kampf gegen die Genkriminalität anführte. Das Leben hatte sie hierhergeführt. Durand konnte sich niemand Geeigneteren denken.

Belanger sprach Englisch mit einem leichten französischen Akzent. «Guten Morgen. Mir ist klar, dass dieses Meeting kurzfristig angesetzt wurde, aber es geht um neue Erkenntnisse, die wichtig für unsere Mission sind.»

Belanger musterte die Gesichter der zwei Dutzend Mitarbeiter ihrer Abteilung. Als sie sah, dass ihr alle aufmerksam zuhörten, fuhr sie fort: «Bei uns ist heute Detective Inspector Aiyana Marcotte, Leiterin der Interpol-Taskforce Menschenhandel. Sie wird Sie jetzt auf den neuesten Stand bringen. Inspector Marcotte ist vom amerikanischen FBI zu Interpol gekommen. Sie ist eine erfahrene Außenagentin und, wie Sie gleich merken werden, Expertin für globale Menschenhandelsnetzwerke. Ich erwarte, dass Sie allem, was sie uns zu sagen hat, mit voller Konzentration folgen, denn es wird unsere Arbeit verändern.» Belanger nickte jemandem im Raum zu. «Inspector Marcotte.»

«Danke, Inspector Belanger.» Eine statueske Afrikanerin von Anfang dreißig erhob sich: tiefschwarze Haut, ganz kurzes Haar, kräftige Kieferpartie, schlanker Hals. Marcotte trug einen dunkelblauen Business-Suit. Um ihren Hals hing ein Interpol-Sichtausweis. Durand wusste, dass er vor allem für die Kollegen gedacht war – die Sicherheitssysteme des GCI erkannten jeden innerhalb des Gebäudes.

Belanger setzte sich auf einen Platz in der ersten Reihe, während Marcotte nach vorn ging, sich mit dem Rücken zum offiziellen Interpol-Emblem hinstellte und auf die versammelten Agenten und Analysten blickte.

«Im Jahr 2039 unternahmen sechzig Millionen Menschen Migrationsversuche nach Norden oder Süden, weg aus Regionen, die unter Dürre, Grundwassererschöpfung, dem Anstieg der Meeresspiegel, Korruption, Krieg oder wirtschaftlicher Not leiden. Im Jahr 2043 hatte sich diese Zahl auf siebzig Millionen erhöht. Für dieses Jahr rechnet man mit einem weiteren Anstieg.

Beim Menschenhandel geht es nicht nur darum, Migranten über Grenzen zu schleusen. Wenn Menschen alles zurücklassen, was sie besitzen und was sie kennen – Sprache, Kultur, Familie –, werden sie leicht ausbeutbar. Und Ausbeutung ist die Hauptaktivität der Menschenhändlergangs.»

Marcotte machte eine Handbewegung, und in der Luft erschien eine virtuelle Weltkarte. Das Bild, opak und farbkräftig, wurde vom Lichtfeldprojektionssystem – kurz LFP – direkt auf die Netzhäute der Zuhörer projiziert. Das System verfolgte die Augenbewegungen jeder Person im Raum aufs genaueste und konnte einen ganzen Saal mit optischer Information versorgen.

Marcotte machte eine Handbewegung zur Weltkarte hin. Animierte Pfeile zeigten Migrationsrouten, die von den Äquatorialgegenden wegführten.

«Sie kennen wahrscheinlich diese Routen. Am Ende der Reise erwartet die Glücklosen Prostitution, Schwerstarbeit oder Schlimmeres. Ohnehin schon arm, haben viele dieser Menschen enorme ‹Schulden› bei ihren Schleusern gemacht – Schulden, die sie bezahlen müssen, sobald sie irgendwo ankommen.»

Marcotte winkte, und anstelle der Karte erschien eine Galerie lebensgroßer und äußerst lebensechter 3-D-Szenen: Man sah Flüchtlinge aus aller Welt – Kaukasier, Afrikaner, Latinos, Araber, Zentral- und Südostasiaten, Männer, Frauen und Kinder. Diese realistischen Szenen vermittelten dem Betrachter viel eindringlicher als jedes Foto, was Armut bedeutete. Die Opfer befanden sich förmlich hier im Raum, im Moment eingefroren. Neue Szenen wurden ein-, alte ausgeblendet. Eine endlose Prozession des Elends.

Marcotte ging zwischen den virtuellen Migranten umher, blieb dann stehen. Sie blickte wieder in die Zuhörerschaft.

«Auch ich geriet als Kind in die Hände von Menschenhändlern. Im Sudan verkaufte mich meine Mutter in die Sklaverei, als ich sechs war, damit meine Brüder zur Schule gehen konnten. Ich wurde an eine reiche Familie verkauft, Konsularbeamte, die mich später als kleines Dienstmädchen in die USA mitnahmen. Dort lebte ich in ihrem Haus, in einer gesicherten Siedlung in einem Vorort von Los Angeles, und musste sieben Tage die Woche arbeiten. Jede Nacht wurde ich ans Bett gekettet. Erst als Nachbarn Verdacht schöpften und die Polizei riefen, wurde ich befreit. Die verhaftende Beamtin adoptierte mich später. Zog mich als eins ihrer Kinder auf. Und ihren Namen habe ich angenommen.»

Sie sah ihre Zuhörer direkt an. «Sklaverei ist für mich nichts Abstraktes. Ich habe sie erlebt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, in welche Verzweiflung sie Menschen stürzt und dass sie noch nicht Geschichte ist. Im Gegenteil, es gibt heute mehr Sklaven als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die Frage ist: Was wollen wir dagegen tun?»

Alle im Raum schwiegen betroffen.

«Ich bin hier, um die Abteilung Genkriminalität um Unterstützung zu ersuchen. Die Arbeit Ihrer Gruppe ist eins der wenigen Erfolgsbeispiele im Kampf gegen das transnationale Hightech-Verbrechen. Ganz Interpol kann viel von Ihnen lernen.»

Sie musterte die Gesichter im Raum. «Und heute werde ich Ihnen Belege dafür präsentieren, dass der Menschenhandel und die Genkriminalität zusammenhängen.»

Ein Murmeln ging durch die Zuhörer.

Sie machte ein paar Handbewegungen. Die Flüchtlingsszenen wurden ausgeblendet und durch ein Dutzend hyperrealistischer 3-D-Erkennungsdienst-Ganzkörperscans ersetzt. Sie zeigten stark tätowierte Kriminelle, die sich langsam um die eigene Achse drehten wie an einem senkrechten Grillspieß. Jeder virtuelle Häftling hielt ein Schild mit seinem Namen und seiner Gefangenennummer vor sich. Die Gruppe war ethnisch gemischt – Kaukasier, Afrikaner, Latinos –, kaltäugige Männer und zwei Frauen.

«Das sind verhaftete Anführer von Menschenhändlergangs, die meine Taskforce im letzten Jahr zerschlagen hat.» Sie zeigte mit dem Finger auf die Projektion. «Asien, Afrika, Russland, Europa, Nord-, Süd- und Zentralamerika. Alle diese Gangs haben eins gemeinsam: Sie ernten Genmaterial von den Flüchtlingen, die sie schleusen – und verkaufen die Daten an ein einziges Genediting-Kartell, eine Gruppe von Leuten, die als die Huli jing bekannt sind. Sagt dieser Name der GCD etwas?»

Durand nickte wie auch andere um ihn herum. «Den Namen kennen wir, Inspector. Das ist ein illegaler On-Demand-Cloud-Computing-Service. Die Embryofabriken nutzen ihn für genetische Modellierungszwecke.»

Yi setzte hinzu: «Dass sie Verbindungen zum Menschenhandel haben, ist uns neu. Das heißt also, sie bezahlen für DNA-Proben?»

Marcotte nickte. «Digitalisierte Proben. Der Stückpreis ist von Land zu Land verschieden. Davon erfahren haben wir durch Informanten, denen aufgetragen wurde, DNA-Proben von Flüchtlingen zu nehmen – hauptsächlich Speichelproben. Petabytes an genetischer Information wurden täglich von vier Kontinenten aus an die Huli jing geschickt, gegen Zahlungen in Kryptowährungen.»

Durand machte sich Notizen auf einer virtuellen Oberfläche. «Klingt, als bauten sie eine globale Gendatenbank auf.»

Marcotte nickte. «Genau das tun die Huli jing, Mr. Durand. Wir haben sogar Indizien dafür, dass sie hinter dem jüngsten Hackerangriff auf das Nationale Chinesische Genregister stecken – den weltgrößten digitalen Speicher für menschliche genetische Information.»

Wieder ging ein Murmeln durch den Raum.

Marcotte schritt hin und her. «Die Huli jing sind kapitalkräftig, diszipliniert und extrem unauffällig – und sie verfügen über ein Datensammelunternehmen, das ihnen weltweiten Einfluss gibt, sowohl auf illegale Editing-Labors als auch auf Menschenschmugglerringe. Bisher sind sie immer durch die Maschen geschlüpft, weil sie an beiden Aktivitäten nicht direkt beteiligt sind. Aber es ist Zeit, dass wir uns klarmachen, welch zentrale Rolle sie in beiden Bereichen spielen. Wir müssen uns gemeinsam überlegen, wie wir dagegen vorgehen können. Also – wer sind die Huli jing?»

Alle Zuhörer tippten jetzt Notizen in virtuelle Geräte ein.

«Der Name ‹Huli jing› bezieht sich auf einen neunschwänzigen Fuchsgeist aus der chinesischen Mythologie, ein Wesen, das jedwede Gestalt annehmen und daher unerkannt alle möglichen Dinge anstellen kann.» Auf eine Handbewegung von ihr erschien ein Inset von einem stilisierten Fuchs.

«Der Fuchsgeist ist schon lange in ganz Asien und auch im Westen ein beliebtes Tattoo. Aber nicht bei den Huli jing, die tragen im Gegensatz zu den meisten Gangs keinerlei Erkennungsmale. Kein Tattoo, kein Brandzeichen. Wie der mythische Fuchsgeist bleiben auch sie lieber im Verborgenen. Woher wissen wir das?»

Sie winkte. Das Bild des neunschwänzigen Fuchses verschwand, und an seiner Stelle erschienen die 3-D-Rechtsmedizin-Scans von einem Dutzend toter Männer, alle von verschiedener ethnischer Herkunft. Die Gesichter befanden sich in diversen Stadien der Verwesung. Keiner der nackten Toten hatte auch nur ein einziges Tattoo. «Weil diese Männer hier bis vor kurzem zum engsten Führungskreis des Huli-jing-Kartells gehörten – den sogenannten Neun Schwänzen. Und sie trugen keinerlei Gangsymbole.»

Yi brummte: «Sie sind tot.»

«Gut erkannt, Sergeant. Ja, sie sind tot.»

Eine weitere Reihe nicht minder toter Gesichter erschien. Und dann noch eine. «Genau wie die hier. Und die. Die letzte Serie hier ist erst einen Monat alt. Keinem der Neun Schwänze ist ein langes Leben beschieden. Viele waren schon tot, bevor unsere Informanten uns ihre Namen nennen konnten. Wir haben erst später herausgefunden, wer sie sind.»

Durand runzelte verwirrt die Stirn. «Von Konkurrenzgangs ermordet?»

«Nein. Vergiftet vom Anführer der Huli jing – einem gewissen Marcus Demang Wyckes. Wir vermuten, dass er seine Neun Schwänze regelmäßig umbringt.»

Verdutzte Gesichter im ganzen Raum.

Yi fragte irritiert: «Aber warum in aller Welt will dann irgendjemand zu seinen Neun Schwänzen gehören?»

«Eine sehr gute Frage.» Marcotte zeigte auf die Gangster-Galerie. «Diese Männer waren allesamt Flüchtlinge. Vielleicht bewunderten sie Marcus Wyckes, weil er wie sie in Flüchtlingscamps aufgewachsen ist. Und es trotzdem schaffte, ein wichtiger Waffenschmuggler zu werden, der ein Dutzend Rebellen- und Terrorgruppen belieferte. Wyckes verschaffte diesen Männern für kurze Zeit ein Maß an Luxus und Macht, wie sie es sich nie hätten erträumen können. Er ermöglichte ihnen, ihren Großfamilien beträchtliche Geldsummen zu schicken. Und wenn sie nicht mehr nützlich waren, eliminierte er sie. Offensichtlich gibt es immer genug Verzweifelte, die sich auf diesen Deal einlassen. Nur ein Mann aus dem Führungszirkel der Huli jing überlebt immer, und das ist Marcus Wyckes.»

Durand blickte auf die Prozession von Leichenschauhaus-Scans, die immer noch weiterging: Jeder Tote war Opfer und Mittäter zugleich. «Ich verstehe nicht, wie Leute, die fast keine Schul- oder Ausbildung haben –»

«Wir verstehen es auch nicht, Mr. Durand. Ich hoffe, dass Ihre Gruppe uns helfen kann, dieses Rätsel zu lösen. Diese hochtechnisierte kriminelle Vereinigung mit einer entsprechend hochkomplexen Logistik schafft es irgendwie, immer weiter zu operieren, obwohl ihre Führungsleute ständig wegsterben. So ein Kartell haben wir noch nie gesehen. Es ist unmöglich, Informanten in die Führungsriege einzuschleusen. Oder Verhaftungen vorzunehmen. Jeder, der irgendetwas Wichtiges weiß, stirbt bald. Außer Wyckes.»

Marcotte ließ die toten Männer durch eine Handbewegung verschwinden. «Und so skrupellos Wyckes auch mit den eigenen Leuten verfährt, gegen seine Feinde geht er noch übler vor …»

Eine Handbewegung von ihr, und mehrere grausige hyperrealistische Tatort-Scans erschienen – alle so lebensecht, als befände sich das Dargestellte im Raum. Jeder Scan zeigte Tote, die irgendeiner hämorrhagisch wirkenden Substanz zum Opfer gefallen waren: Blut war ihnen aus Augen, Nase und Mund geströmt. Sie waren offensichtlich schreiend gestorben. «Die Huli jing töten bevorzugt durch Gift, insbesondere durch Designer-Synbiotoxine, die schwer nachweisbar sind und für das Opfer maximale Qual bedeuten.»

Laute des Abscheus und der Empörung wurden hörbar.

Neben den Bildern erschienen jetzt Moleküldiagramme. «Wir vermuten, dass die Biotoxine in Huli-jing-Labors entwickelt werden. Möglicherweise sind sie speziell darauf zugeschnitten, sich genetische Schwächen der jeweiligen Zielpersonen zunutze zu machen. Das bedeutet, dass die Dosis mikroskopisch klein gehalten werden kann. Regierungsvertreter, Polizisten, Journalisten, sie alle sind Freiwild – jeder, der das Kartell dabei behindern könnte, neue Gen-Edits zu entwickeln und zu verkaufen.»

Inzwischen tippten alle im Raum wie wild mit.

«Sie haben faktisch ein Franchise-Unternehmen aufgebaut, was heißt, dass sie nicht selbst Genlabors betreiben, sondern den Gangs, die es tun, die nötige logistische, wissenschaftliche und sogar marketingtechnische Unterstützung bieten. Huli-jing-Partnerlabors haben Zugang zu absoluter Spitzentechnologie. Die auserwählten Franchisenehmer dürfen sogar ein Premium-Markenlabel führen.» Marcotte machte eine Handbewegung, und anstelle der Tatort-Scans erschien ein Dreiecksknoten:

Er drehte sich, sodass seine Dreidimensionalität sichtbar wurde.

«Kennt jemand von Ihnen dieses Symbol?»

Durand, Yi und die meisten aus der Abteilung nickten. «Ja, das ist das Logo von Trefoil Labs.»

Marcotte ging um das Symbol herum. «Trefoil ist das öffentliche Gesicht der Huli-jing.»