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Meine Magie ist dein Tod – doch ist der Tod unser Ende?
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Willow Madizza wurde als Waffe erzogen – gegen den Hexenzirkel, vor dem ihre Mutter einst floh, um sie zu schützen. Doch um ihre Familie zu rächen, muss Willow sich direkt in das Herz des Zirkels begeben. Nur so kann sie Licht ins Dunkel um das blutige Massaker an der Hexenakademie Hollow’s Grove bringen, bei dem ihre Tante vor 50 Jahren ihr Leben verlor. Nun öffnet die Universität wieder ihre Tore, und Willow sieht sich nicht nur einer untoten Urahnin, sondern auch dem unausstehlichen Schulleiter Alaric Thorne gegenüber, die sie nur zu gerne scheitern sähen – und letzterer sie am liebsten in seinem Bett. Wenn die dunklen Mächte von Hollow’s Grove sie nicht vorher töten …
Enemies-to-Lovers, Forbidden Romance und herrlich undurchschaubare Charaktere – die spicy Romantasy von Harper L. Woods bei Blanvalet.
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Seitenzahl: 462
Willow Madizza wurde als Waffe erzogen – gegen den Hexenzirkel, vor dem ihre Mutter einst floh, um sie zu schützen. Doch um ihre Familie zu rächen, muss Willow sich direkt in das Herz des Zirkels begeben. Nur so kann sie Licht ins Dunkel um das blutige Massaker an der Hexenakademie Hollow’s Grove bringen, bei dem ihre Tante vor fünfzig Jahren ihr Leben verlor. Nun öffnet die Universität wieder ihre Tore und Willow sieht sich nicht nur einer untoten Urahnin, sondern auch dem unausstehlichen Schulleiter Alaric Thorne gegenüber, die sie nur zu gerne scheitern sähen – und Letzterer sie am liebsten in seinem Bett. Wenn die dunklen Mächte von Hollow’s Grove sie nicht vorher töten …
Harper L. Woods ist das Pseudonym der »USA Today«-Bestsellerautorin Adelaide Forrest. Ihre Liebe zum Lesen wurde in ihrer kleinen Heimatstadt in Vermont geboren, wo sie die langen Winternächte tief vergraben zwischen Buchseiten verbrachte. Als Zeitvertreib begann sie mit dem Schreiben. Mittlerweile erobern ihre knisternden Fantasyromane die Bestsellerlisten und die Herzen Tausender Leser*innen. Wenn Harper einmal nicht schreibt, verbringt sie am liebsten Zeit mit ihren zwei kleinen Kindern und ihrem Hund, träumt vom Bereisen ferner Länder oder entwirft Buchcover.
Harper L. Woods
Roman
Deutsch von Ulrike Gerstner
und Sebastian Otterbach
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »THECOVEN« bei Bramble, an imprint of Tor Publishing Group, New York.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Copyright © 2023 by Harper L. Woods
Published by arrangement with Tor Publishing Group.
All rights reserved.
Dieses Werk wurde im Auftrag von Tom Doherty Associates
durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024
by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Wiebke Bach
Umschlaggestaltung: © Anke Koopmann | Designomicon,
nach einer Originalvorlage von Bramble, Tor Publishing, Macmillan US
Umschlagdesign und -motiv: © Cass / Opulent Designs
SH · Herstellung: fe
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-32123-9V002
www.blanvalet.de
Für alle, die es durchtrieben mögen.
Meine lieben kleinen Hexen,
die letzten Jahre waren ein absolut turbulentes Auf und Ab – eine heikle Gratwanderung zwischen extremen Hochs und niederschmetternden Tiefs. Ich nahm mir nicht die Zeit, die ich für meine Genesung gebraucht hätte, so entschlossen war ich, meine Kinder durch ihre eigenen Traumata und ihre Verzweiflung zu führen, als unsere Leben auf den Kopf gestellt wurden.
Bis Willow kam.
Mitten im längsten Burn-out und der tiefsten kreativen Krise meiner Karriere tauchten Willow und Gray auf, um mir zu zeigen, dass noch immer Stimmen zu mir sprechen.
Manche Geschichten lassen sich nur quälend langsam schreiben. Es kann lange dauern, bis man seine Figuren gut genug kennt, um wirklich durch ihre Stimmen und ihre Erfahrungen zu leben, sodass sich ein Weg öffnet, mit ihnen verletzlich zu sein.
Doch in diesem Fall strömte Willows Geschichte vom ersten Satz an so schnell aus mir heraus auf die Seiten, dass mein Team kaum hinterher kam. Ihre Worte verschlangen mich, und ich brauchte Wochen, um zu verstehen, warum.
Sie ist alles, was ich gern gewesen wäre, als ich mich meinen eigenen Dämonen stellen musste.
Willow ist so selbstsicher in allem, was sie tut. Sie ist unbeugsam in ihrem Entschluss und verteidigt sich selbst und ihre Überzeugungen so vehement, wie ich es in letzter Zeit kaum getan habe. Sie lässt sich von niemandem ein schlechtes Gewissen einreden, nur weil sie ihre eigenen Ziele und Ambitionen verfolgt und alles tut, um sie zu verwirklichen.
Ich hoffe, sie inspiriert meine Leserinnen und Leser so, wie sie auch mich inspirierte. Selbst wenn es so aussieht, als würde sich alles gegen dich verschworen haben, und die Lügen sich immer weiter auftürmen.
Ich hoffe, du kämpfst.
Mit all meiner Liebe
Addy
KRISTALLHEXEN (auch als Weiße Hexen bekannt)
Haus Petra
Haus Beltran
KOSMOSHEXEN (auch als Violette Hexen bekannt)
Haus Realta
Haus Amar
ERDHEXEN (auch als Grüne Hexen bekannt)
Haus Madizza
Haus Bray
LUFTHEXEN (auch als Graue Hexen bekannt)
Haus Aurai
Haus Devoe
WASSERHEXEN (auch als Blaue Hexen bekannt)
Haus Tethys
Haus Hawthorne
SEXHEXEN (auch als Rote Hexen bekannt)
Haus Erotes
Haus Peabody
FEUERHEXEN (auch als Gelbe Hexen bekannt)
Haus Collins
Haus Madlock
TOTENBESCHWÖRERHEXEN (auch als Schwarze Hexen bekannt)
Haus Hecate
Alaric Grayson Thorne
In den dreihundertneunundzwanzig Jahren, die ich bereits in diesem Körper verbrachte, hatte ich gelernt, die schönen Dinge des Lebens zu genießen. Die Eleganz der filigranen Buntglasfenster in den Mauerbögen und das Farbspektrum, das ihr Licht auf die dunklen Steinfliesen in den Gängen der Hollow’s Grove University warf, gehörten zu diesem Genuss dazu. Der verlockende Hexenblutgeruch der Botin, die mich zum Tribunalraum führte, konnte dieser Schönheit nichts anhaben.
Das Bündnispaar, der Covenant, würde nicht lange warten, nicht einmal auf den Mann, den sie zum Direktor ihrer kostbaren Schule ernannt hatten. Spinnweben und Staub bedeckten den Weg vor uns, und ich rümpfte die Nase darüber, wie sehr die Universität in den vergangenen fünfzig Jahren, seit ich sie zum letzten Mal betreten hatte, verwahrlost war.
Die Hexe an meiner Seite blieb am Ende des Gangs vor dem Tor zum Tribunalraum stehen. Sie fuhr mit einer sorgfältig manikürten Hand über das Schloss und sah dann zu, wie sich der Mechanismus aus Eisen und Gold in Bewegung setzte. Langsam drehten sich die Zahnräder und griffen so ineinander, dass der Rest der Verriegelung sich ebenfalls bewegte. Die Sperre, die über die Nahtstelle zwischen den beiden Türflügeln hinwegging, zog sich schlussendlich zurück. Das leichte Klacken beim Öffnen war für die Hexe das Signal, den Türknauf zu ergreifen.
»Wie viele Generationen trennen dich und George Collins’ Schwester eigentlich?«, wollte ich von ihr wissen und die Hexe schürzte beim Blick zurück über die Schulter die Lippen.
»Neun Generationen liegen zwischen dem Covenant und mir«, gab sie mit einem spöttischen Grinsen zurück.
Die Hexen reagierten immer sehr gereizt, sobald man das Gespräch darauf brachte, was aus dem untoten Paar geworden war, aus den beiden Hexen, die sie über die Jahrhunderte hinweg angeführt hatten.
Susannah Madizza und George Collins gab es nicht mehr – sie waren durch die beiden Teile des Covenant-Bundes ersetzt worden, als Charlotte Hecate sie aus ihren Gräbern erweckt hatte.
»Wie schade«, erwiderte ich grinsend. »Sarah Collins war zu ihren Lebzeiten recht reizvoll. Es ist bedauerlich, dass sie diese Eigenschaft nicht an ihre Nachkommen weitergeben konnte.«
Das Gesicht der Hexe erstarrte vor Schreck, während ich durch die nun geöffnete Tür trat. Ich wendete mich nach rechts in Richtung Tribunalraum, in dem der Covenant auf mich wartete. Meine Begleiterin blieb an der Tür stehen, ganz das brave kleine Hündchen, zu dem ihre Ur-, Ur-, Ur-, oder wie auch immer Großmutter sie erzogen hatte.
»Das sagt der Richtige, du untoter Mistkerl!«, rief sie mir hinterher.
Ich zupfte die Jacke meines Anzugs zurecht und strich das Revers glatt, ergriff dann beide Eingangstüren zum Tribunalraum und öffnete sie rasch.
Das Covenant-Paar saß in den vergoldeten Stühlen, die es vor Jahrhunderten hatte anfertigen lassen, und die Knochenfinger des Wesens, das einst Susannah Madizza gewesen war, umfassten die Lehne. Die Kapuze rutschte ein wenig beiseite und so fiel durch das Kaleidoskopfenster an der Seite der runden Kammer etwas Sonnenlicht auf das, was von Susannahs Gesicht übrig geblieben war.
Das Fleisch war schon vor langer Zeit von ihrem Körper abgefault. Zurück blieb nur die hagere Gestalt eines Skeletts, das meinen Blick erwiderte. Ihr Nacken war in einem unnatürlichen Winkel geneigt, und zwar genau dort, wo die Knochen gebrochen waren, als man sie erhängt hatte. Dieser winzige Knick belegte nach all den Jahren noch immer die Art und Weise ihres Todes.
Susannahs Augenhöhlen blieben leer, auch wenn es so wirkte, als könnte sie mich sehen. »Sie quälen wieder einmal unseren Nachwuchs, Direktor Thorne?«, fragte sie mit dieser schaurigen, alterslosen Stimme, die den Raum zwischen uns füllte. Sie tippte mit dem Knochenfinger in einem gleichförmigen Stakkato auf die Lehne ihres Stuhls, was mir wie ein Angriff auf meine Ungeduld vorkam.
Die andere Hälfte ihrer Magie saß neben ihr, das männliche Gegenstück zu ihrer Weiblichkeit.
George Collins hatte keine Nachkommen, für die er sich hätte einsetzen können – was mit der Prophezeiung zusammenhing, die die Regeln des Hexenzirkels, des Coven, festlegte, wonach Hexer zur Wahl gezwungen waren: Kinder oder Hexenkunst.
Genau wie Susannah war er ein Skelett, doch sein Hals neigte sich zur anderen Seite. Dort, wo ich seine Knochen erkennen konnte, waren sie durch tiefe Kerben von Hieben gezeichnet, ein bleibender Beweis für die Folter, die er in den Stunden vor seinem Tod hatte erdulden müssen.
»Ich darf annehmen, dass Sie mich nicht hierher bestellt haben, um meinen Umgangston mit Ihrer Großnichte zu diskutieren, Covenant«, vermutete ich durch zusammengebissene Zähne.
Ich und meinesgleichen, wir Hüllen, waren nicht dazu bestimmt, irgendjemandem unterwürfig zu sein, doch die Magie, die uns an das Fleisch unseres leiblichen Gefäßes band, machte uns abhängig von den Hexen, sofern wir jemals den Körpern entkommen wollten, die uns gefangen hielten.
Wir hatten einst gedacht, es sei ein Segen, niemals eine neue Form annehmen zu müssen, dafür einen Körper zu haben, der uns für die Ewigkeit aufnehmen konnte.
Wir hatten uns getäuscht.
»Wir haben uns entschieden, die Universität wieder neu zu eröffnen«, erklärte George, bevor sein weibliches Gegenüber etwas einwenden konnte. »Wir alle brauchen frisches Blut. Die besondere Beobachtung, unter der nach jenem Tag alle standen, hat schon lange nachgelassen.«
»So sehr auch ich frisches Blut begrüßen würde, um mich davon zu ernähren, so muss ich doch auf Vorsicht bestehen, wenn es darum geht, die Tore wieder zu öffnen. In dem Moment, in dem wir hier wieder unterrichten, werden umgehend Gerüchte die Runde machen.« Ich sah zwischen den beiden mich anstarrenden Skeletten hin und her.
»Zwei Generationen von Hexen mussten ihre Magie zurückgezogen in ihren eigenen vier Wänden erlernen«, wandte Susannah ein und erhob sich von ihrem Thron. Der schwarze Umhang hüllte sie ein und verbarg ihre Knochen vor meinen Blicken, während sie die Stufen des Podiums herabstieg. »Es wird Zeit, dass sie wieder anständig ausgebildet werden. Wir werden jedes Jahr zwölf neue Schülerinnen und Schüler von außerhalb von Crystal Hollow aufnehmen und wir haben sie persönlich ausgewählt, anhand der bei ihnen entdeckten Kräfte. Es wird keine offizielle Ankündigung geben.« Sie hielt eine Liste in der Hand, auf der in ihrer unordentlichen Handschrift die Namen der Kandidatinnen und Kandidaten standen, die sie erwählt hatten.
»Wer garantiert uns, dass wir keine Wiederholung des letzten Mals erleben werden?« Ich dachte bei dieser Frage tatsächlich bloß an die Sicherheit von all jenen meiner Art. Obwohl wir nur schwer zu töten waren, so hatten doch sogar einige von uns bei dem Massaker, das sich vor fünfzig Jahren ereignet hatte, erheblichen Schaden genommen.
»Wenn wir unsere Tore nicht wieder öffnen, werden die Hexen niemanden finden, um sich fortzupflanzen. Und sollten wir aussterben, stirbt auch Ihre Art aus. Vergessen Sie nicht, dass Sie alle das Blut unseres Volkes brauchen, um zu überleben, Alaric.« Mit diesen Worten wendete sich Susannah von mir ab und ging zum verwaisten Thron zurück.
Ich biss mir auf die Lippen und zwang meinen Körper zu einer angedeuteten Verbeugung. »Als würden Sie mir jemals erlauben, das zu vergessen«, erwiderte ich und zerdrückte die Liste in meiner Hand. »Auch wenn Sie sich vielleicht intensiver mit der Überlegung beschäftigen sollten, weshalb die Anzahl der Hexen schneller abnahm, als von uns erwartet. Ich frage mich, wie das nur geschehen konnte, Covenant.«
Ich drehte mich um, ohne eine Antwort auf das Spiel zu erwarten, das wir hier spielten. Die Muskeln in meiner Wange zuckten, sobald sie mich nicht mehr sehen konnten.
Verfickte Hexen.
Willow
Zwei Monate später
Geflüsterte Worte riefen mich, schwebten unmittelbar außerhalb meiner Reichweite. Ich konnte nicht mehr als das gedämpfte Gemurmel der Toten wahrnehmen, konnte die Worte nicht verstehen, die sie mir mitzuteilen versuchten.
Nicht einmal für die Frau, die vor mir im Sarg lag, konnte ich die Magie ergreifen, die in Wahrheit noch nicht mir gehörte. Wenn ich meine Augen lange genug geschlossen hielt, konnte ich mir vielleicht einreden, dass die letzte Woche ein Traum gewesen war. Der Spuk eines Albtraums, ein Hirngespinst meiner schlimmsten Fantasie, genau der Tag, für den ich ausgebildet worden war.
Und der, dem ich einfach nur entkommen wollte.
Das Geraune hinter meinem Rücken existierte in einer Blase, abgetrennt von dem schwachen Summen, das die Stimme meiner Mutter bildete; fast war es, als hätte ich es geschafft, mich von den Lebenden abzuspalten, um sie zu hören. All die Leute, die sonst hinter dem Rücken meiner Mutter getuschelt hatten, warteten nun in der Schlange darauf, sich von der Frau zu verabschieden, die sie nie verstehen würden. Selbst das konnte mich jedoch nicht dazu bringen, die Augen zu öffnen.
Ich stand da, die Füße schulterbreit auseinander in den Boden gestemmt, eine Angewohnheit, die mir mein Vater mein ganzes Leben lang eingeimpft hatte. Ich war auf alles gefasst; darauf, dass ein Jäger jederzeit angreifen könnte – oder auf etwas noch Schlimmeres. Die Fliesen unter meinen Schuhen waren unnatürlich, eine Barriere. Sie hielten mich davon ab, das Einzige zu berühren, mit dem sich meine Seele vollständig fühlte.
Die Erde unter meinen Füßen.
»Low«, sagte eine dünne Stimme.
Eine Hand glitt in meine, viel kleinere Finger verschränkten sich in einem Muster, das wir gut kannten. Ash blieb an meiner Seite, auch nachdem er meinen Namen gesagt hatte, und gab mir die Chance, mich zu beruhigen. Um die Kraft zu stoppen, die mich zu verschlingen drohte. Zu seiner eigenen Sicherheit hatten wir meinen Bruder vor dem Wissen geschützt, was wir waren. Vor dem, was ihn erwarten würde, wenn er jemals seine Magie entdeckte und den Coven auf uns hetzte.
Ich hätte diejenige sein sollen, die stark für ihn war. Schließlich war es nicht nur meine Mutter, die vor aller Augen verrottend in einem Sarg lag, sondern auch seine.
Ich zwang mich, die Augen zu öffnen, und betrachtete die Bilder unserer Mutter und unserer Familie. Lächelnde Gesichter starrten in die Menge und sahen trügerisch menschlich aus. Als ob wir hierher gehörten – obwohl das einzige Zuhause, das wir je wirklich hatten, uns niemals in seine Mitte aufgenommen hätte, hätten sie gewusst, was wir waren.
Die Herzen der Menschen waren nur begrenzt in der Lage, Verständnis zu zeigen. Sie neigten dazu, vor echter Hexerei zurückzuschrecken, wenn man als Maßstab die Prozesse nahm, die meine Vorfahrinnen und Vorfahren fast ausgelöscht hatten.
Ich warf einen einzigen, langsamen Blick auf das Gesicht meiner Mutter und zog eine Grimasse, denn ich wusste wieder, warum ich meine Augen geschlossen hatte – um meine Verärgerung niederzukämpfen.
Ihr Lippenstift war falsch. Die Farbe war viel zu rot und auffällig für meine Mutter, die es immer vorgezogen hatte, sich im Hintergrund zu halten. Es war leicht zu erkennen, dass die Person, die sie auf ihre Beerdigung vorbereitet hatte, sie überhaupt nicht gekannt und darum auch die Lachfalten überdeckt hatte. Sie hatte sie wertgeschätzt als ein Ergebnis ihres glücklichen, erfüllten Lebens, das sie frei vom Coven geführt hatte, der sie nur unter größtem Protest zurück nach Crystal Hollow hätte schleppen können.
Es war schon schlimm genug, dass sie nach menschlichem Brauch begraben werden musste – ihre Überreste in einer Kiste in der Erde gefangen, die sie von den Elementen aussperrte –, es sei denn, mein Vater hielt seinen Teil der Abmachung ein. Solange das Grab noch frisch war, sollte er sich mitten in der Nacht auf den Friedhof schleichen, sie auf dem Sarg zur letzten Ruhe betten und noch einmal begraben, damit sie Frieden finden konnte.
Ich griff schnell nach vorne, packte das Amulett, das sie um ihren Hals trug, und zog daran, bis die Kette riss. Das Amulett löste sich, während die flüsternden Idioten hinter mir schockiert aufstöhnten. Aber Ash an meiner Seite blieb unbeeindruckt, als ich schließlich zu ihm hinunterblickte.
Seine braunen Augen waren ein perfektes Spiegelbild von denen meiner Mutter, hätte sie nur ihre Lider geöffnet; sie waren so ganz anders als meine, dank unserer verschiedenen Väter. Ash hatte jedoch das gleiche mahagonifarbene Haar, das so dunkel war, dass es fast schwarz wirkte, und die hellen Lichter des Bestattungsinstituts brachten den warmen Ton darin leicht zum Schimmern.
»Lass uns hier verschwinden«, sagte ich und deutete mit dem Kopf zum Eingang der Empfangshalle. Ash nickte schwach und warf einen letzten zögernden Blick auf unsere Mutter.
Wir wussten beide, was jetzt kam. Sie hatte mir klare Anweisungen gegeben, was ich mit Ash tun sollte, wenn sie schließlich der Krankheit erlag, die ihren Körper geplagt und sie Stück für Stück von uns genommen hatte.
Ash ließ meine Hand los und bahnte sich den Weg durch die Kirchenbänke in Richtung Ausgang. Er reckte den Kopf auf eine Weise, die mich fast zum Schmunzeln brachte, denn seine Wildheit erinnerte mich so sehr an die von Mom. Ich drängte den Gedanken zurück, als die Leute um mich herum über den Tod flüsterten, der uns folgte, über die Tatsache, dass jeder, der meinem Bruder und mir zu nahe kam, viel zu früh im Grab endete.
Die Magie hatte die Angewohnheit, sich durch die Umgebung einer Hexe zu brennen, wenn man sie nicht nutzte, und schließlich wandte sie sich gegen die Hexe selbst, wenn man sie zu lange ignorierte.
So war es auch bei meiner Mutter gewesen.
Schlamm bedeckte die weißen Fliesen auf dem Boden, als wir uns dem Ausgang näherten, und blieb an den Schuhsohlen derer haften, die gekommen waren, um sich von meiner Mutter, Flora Madizza, zu verabschieden.
In gewisser Weise war es passend, dachte ich. Schon bald würde Flora in die Erde zurückkehren, aus der sie gekommen war. Sie würde in den Grund gebettet werden, wenn mein Vater ihren letzten Wunsch erfüllte. Endlich würde sie an dem Ort zu Hause sein, der ihr Frieden schenkte, und ihre Kraft würde wieder in die Natur aufgenommen, mit der wir verbunden waren.
Eine Hand packte meinen Unterarm, als ich auf den Ausgang zuhastete, meinem Bruder hinterher, der sich beeilte, der erstickenden Enge zu entfliehen, in einen Raum mit so vielen gepfercht zu sein, die uns nicht leiden konnten. Er mochte vielleicht nicht die Angst verstehen, die so viele vor uns hegten, aber er nahm sie nichtsdestotrotz wahr.
Ich riss den Kopf herum und starrte den Mann an, der mich gepackt hatte. Seine Finger krallten sich für einen Moment an meinem Arm fest, dann schluckte er.
»Es ist Brauch, dass Sie bleiben, damit die Stadt Ihnen die letzte Ehre erweisen und Ihnen ihr Beileid aussprechen kann«, sagte er und beobachtete, wie mein Blick an seiner Brust hinunter zu der Hand wanderte, die mich unerlaubt berührt hatte.
Langsam zog er sie weg und tat so, als ob er mich nur losgelassen hätte, weil er es so gewollt hatte. Ich sah erneut zu ihm hoch und lächelte schief, als er bei dem Augenkontakt mit dem, was er sicherlich für einen Dämon hielt, zurückwich. Ich wusste das, denn ich hatte den unheimlichen Blick jedes Mal zur Kenntnis genommen, wenn ich in den Spiegel schaute. Die Bernsteinfarbe des einen Auges wäre vielleicht noch als natürlich durchgegangen, träte es nicht zusammen mit dem hellen Violett meiner linken Iris auf. Die meisten hielten es für einen seltsamen Blauton, ungewöhnlich, aber nicht unbekannt. Erst aus nächster Nähe erkannten die Menschen die Wahrheit.
Ein Geschenk aus der Abstammungslinie meines Vaters – eine Eigenschaft, die schon vor Jahrhunderten verblasst war.
»Wann habe ich mich jemals um Ihre Bräuche gekümmert, Mr. Whitlock?«, gab ich zurück und schlang meine lockere graue Strickjacke fester um mich, als die Woge seines Misstrauens über mich hinwegspülte. Ich drehte mich zu meinem Bruder um, der am Ausgang wartete, und schürzte die Lippen, als ich den ersten Schritt auf ihn zu machte.
Ab jetzt würden sie mit dem Leichnam meiner Mutter anstellen können, was sie wollten, während ich weiterhin ihre Wünsche erfüllen würde, wie sie es verlangt hatte. Ash drückte sich an meine Seite, als ich ihn erreichte, dann riss ich die Tür auf, damit er durchgehen konnte. Ich warf einen letzten Blick auf den Sarg meiner Mutter und wusste, dass es bald kein Zurück mehr geben würde.
Ohne die Schutzzauber meiner Mutter würde mich das Schicksal, das meine Eltern gewählt hatten, einholen, ob ich es wollte oder nicht.
***
»Hol deine Sachen«, sagte ich und schluckte die Welle aus Emotionen hinunter, die meine Kehle zu verstopfen schien. Die Menschen in der Stadt nannten es oft »Frosch im Hals«, wegen der Heiserkeit. Ich hatte diesen Vergleich nie verstanden und fühlte mich stattdessen, als wäre es Graberde, die mich von innen heraus zu verschlingen drohte.
»Ich will nicht gehen«, flehte Ash und starrte zu mir hoch, als ich die Haustür hinter mir zuschlug. Sie ließ sich leicht schließen, völlig im Widerspruch dazu, wie das Holz in der Feuchtigkeit des Sommers aufquoll und wie schwer es dann war, es in den Rahmen zu zwängen. Ich drehte mich um und wandte Ash den Rücken zu, während ich den Riegel vorschob und die Kette vor den Spalt zog, durch den viel zu viel von der ungewöhnlich kühlen Luft hereindrang.
Im September war es normalerweise nicht so kalt, nicht einmal in unserer kleinen Stadt in den Bergen von Vermont.
Ich zog die schwarzen Ballerinas aus, die ich zu Moms Beerdigung getragen hatte, schob sie beiseite und wandte mich dann wieder meinem Bruder zu. Auch wenn Mom nicht mehr da war, und ich wusste, dass dieses Haus bald leer und verlassen sein würde, konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihre Regeln zu missachten.
Regeln, um die sie sich nicht länger kümmerte.
Tränen brannten mir in den Augen, als ich mich nach vorne beugte und meine Lippen auf Ashs Stirn drückte. Ich spürte, wie er unter der Berührung seufzte und mich mit seinem Blick fixierte, als ich mich zurückzog.
»Du weißt, dass wir hier nicht bleiben können«, erklärte ich und legte einen Arm um seine Schulter. Ich führte ihn aus dem engen Eingangsbereich und hielt auf die Treppe am Eingang zum Wohnzimmer zu.
Er schüttelte mich ab und drehte sich mit finsterer Miene zu mir um. »Warum nicht? Warum willst du mir nicht sagen, wohin du gehst?«
Ich schloss die Augen, denn ich wusste, dass die Verschwiegenheit, zu der mich meine Mutter verpflichtet hatte, seinem eigenen Schutz diente. Ich wünschte nur, ich könnte ihm klarmachen, wie wenig ich mich um die Pflicht scherte, die sie mir auferlegt hatte.
Wenn es nach mir ginge, könnte mich das Schicksal mal kreuzweise.
»Ich werde es dir erzählen, wenn du älter bist. Ich verspreche es«, erklärte ich und machte mich daran, die Treppe zu erklimmen.
Ich legte meine Hand auf das alte Geländer aus Walnussholz und schaute nach oben in Richtung meines Zimmers, als ich die erste Stufe nahm. Der Drang, mich unter den Decken zu vergraben, war übermächtig. Ich wollte mich vor der Welt verstecken, vor der Verantwortung und den Erwartungen, die auf mir lasteten.
»Das sagst du schon seit Jahren! Wann ist es denn so weit?«
Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht, stieg von der Stufe herunter und ging vor Ash in die Hocke. »Wenn du sechzehn bist, werde ich dir alles erzählen. Ich verspreche es.«
»Warum nicht jetzt?«, fragte er und seine Unterlippe zitterte.
Unsere Mutter hatte nie vorgehabt, ein weiteres Kind zu bekommen, nicht nachdem sie erfahren hatte, was ich war und was das für die Menschen bedeuten würde, die mir am nächsten standen. Das Mindeste, was wir tun konnten, war, ihn mit allem, was wir hatten, zu beschützen – auch wenn das bedeutete, ihn Leuten zu überlassen, die er kaum kannte.
Bei der Familie seines Vaters zu leben, war weitaus besser, als neben mir für diese dumme, irrwitzige Pflicht zu sterben, der ich scheinbar nicht entkommen konnte.
»Ich würde dich nicht verlassen, wenn ich eine Wahl hätte. Bitte glaub mir das«, sagte ich und nahm seine Hände in meine. Ich hielt sie fest, und an den Tränen, die sich in seinen Augen sammelten, erkannte ich, dass er mir wirklich glaubte. Sein ganzes Leben lang war er mein Ein und Alles gewesen. Er war derjenige, den meine Mutter benutzt hatte, um mich zu motivieren, die Magie zu praktizieren, die sich anfangs so fremd angefühlt hatte.
Das Versprechen, ihn zu beschützen, reichte mir, um zu wissen, dass es das wert war.
»Dann komm mit mir«, sagte er und grub die Zähne in die Unterlippe. »Mein Vater wird sich um dich kümmern, bis du einen neuen Job gefunden hast. Du weißt, dass er das macht.«
Ja, das würde er. Ashs Vater war nicht wie mein eigener Erzeuger. Er war ein Mensch, gut und geduldig, liebevoll und warmherzig. Er war alles, was ein Vater sein sollte, und nur wegen der Geheimniskrämerei unserer Mutter hatte er nicht mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen können. Im Gegensatz dazu hatte mein Hexenvater viel zu viel Zeit mit mir verbringen dürfen und mich mit allen notwendigen Mitteln zu einem perfekten Instrument der Rache geformt. Es gab keine Zuneigung zwischen uns, keine Wärme oder Liebe. Ich war nichts weiter als ein Mittel zum Zweck für den Mann, der mich nur aus einem einzigen Grund gezeugt hatte.
Doch Ashs Vater konnte mich nicht vor dem schützen, was kommen würde. Schlimmer noch, er konnte Ash nicht vor der Gefahr bewahren, sollte der Junge an meiner Seite bleiben.
»So einfach ist das nicht, Bug«, sagte ich, und der Kosename, den ich seit Monaten nicht mehr benutzt hatte, ging mir leicht über die Lippen. Es war der Name, den meine Mutter ihm gegeben hatte, aber ihre Krankheit hatte ihr die Fähigkeit zu sprechen genommen.
Den Namen zu benutzen, ohne dass sie da war, kam mir irgendwie falsch vor.
Moms Mantel schien an seinem Haken zu schaukeln, als würde ein Phantomwind durch das Haus wehen, und mir rieselte ein kalter Schauer über den Rücken. Eine Mahnung, dass ich unmöglich mit ihnen gehen konnte, wenn sie kamen. Als letzte verbliebene Madizza-Hexe war mir mein Platz in Hollow’s Grove sicher, wenn sie Susannahs Blutlinie weiterführen wollten.
»Könnte es aber sein. Versprich es mir einfach. Versprich mir, dass wir, egal wohin wir gehen, zusammen gehen«, sagte er und grub sich noch tiefer in meine Brust. Ich zog ihn fester an mich, schluckte gegen das Brennen in meiner Kehle an und widerstand dem Drang zu schniefen.
Ich tat das, was ich mir geschworen hatte, niemals zu tun.
»Ich verspreche es, Bug«, sagte ich und drückte ihn noch fester an mich.
Ich log.
Gray
Als ich den Tribunalraum betrat, ließ ich den Blick schweifen, um mich ringsum umzusehen. Zu beiden Seiten des Podiums, auf dem das Covenant-Paar wartete, saßen sechs Hexen in ihren bunten zeremoniellen Roben.
»Zwei Vorladungen in ebenso vielen Monaten. Was verschafft mir die erneute Ehre einer Audienz, Covenant?« Ich verbeugte mich und vollführte mit dem Arm einen lächerlichen Schnörkel in der Luft.
»Vorsichtig, Alaric. Auch wenn wir Sie meist unterhaltsam finden, so hat doch auch unsere Geduld ihre Grenzen«, warnte mich Susannah.
Ich zuckte mit den Schultern und blickte zu den Hexen, die mich ablehnend betrachteten. »Mir war gar nicht bewusst, dass Sie überhaupt etwas fühlen können.«
Susannah führte eine Knochenhand an ihr Gesicht und schob die Kapuze über den Schädel zurück, um ihre äußerste Verärgerung anzuzeigen. Es war so schwer, die Stimmung eines Wesens einzuschätzen, das nicht einmal eine Haut besaß.
Es gab keine rollenden Augen, keine Zuckungen in der Wange, keine gekräuselten Lippen. Die Laune des Covenant zu enträtseln war im Laufe der Jahrhunderte, die ich in diesem halbsterblichen Fleisch an seiner Seite verbracht hatte, zu einer Art Spiel für mich geworden.
»Bevor in zwei Tagen der Unterricht beginnt, müssen wir noch eine letzte Schülerin gewinnen«, erklärte George und lenkte damit von meinem Vergnügen ab, jene quälen zu können, die mich umgehend auslöschen würden, wenn sie könnten. Mein Glück war, dass ihnen die dazu nötige Macht fehlte und sie mit mir in diesem unendlichen Elend gefangen waren.
Ich hätte die Höllenfeuer den Beschränkungen des Körpers vorgezogen, der geschaffen worden war, um mich gefangen zu halten.
»Ich war der Meinung, wir hätten bereits zwei neue Schülerinnen und Schüler für jede Hexenkunst gefunden. Oder gehe ich falsch in dieser Annahme?«, erkundigte ich mich und runzelte die Stirn. Meine Männer hatten außerhalb der magischen Grenze um Crystal Hollow erfolgreich zwei Weiße gefunden, die mithilfe von Kristallen hexten, zwei Violette: die kosmischen Hexen; Graue, die mit Luft hexten; Blaue, die Wasser nutzten; zwei rote Sexhexen sowie Gelbe, die mit Feuer von außerhalb der magischen Grenze um Crystal Hollow hexten. Wir hatten auch einen einzelnen Grünen eingesammelt, was die Abwesenheit einer der Erbfamilien betonte. Da die Madizza-Linie seit dem Tod des letzten Nachkömmlings vor zwanzig Jahren fehlte, war das Haus Bray das einzige, das noch die Macht der Grünen besaß. Zu ihnen kamen die Häuser Petra und Beltran der Weißen, Realta und Amar der Violetten, Aurai und Devoe der Grauen, Tethys und Hawthorne der Blauen, Erotes und Peabody der Roten sowie Collins und Madlock der Gelben als verbleibende Erbfamilien. Das Haus Hecate, die einzige schwarze Erblinie, war in dem Massaker vor fünfzig Jahren untergegangen.
»Wir sind auf eine neue Hexe gestoßen«, erklärte Susannah, die nun noch aufrechter auf dem Podium saß. Sie sah zu den symmetrisch platzierten zwölf Hexen herab, die jeweils eines der Häuser innerhalb der Stadt leiteten. Sie waren die Vertreterinnen und Vertreter der ursprünglichen sechzehn Familien, die Crystal Hollow gegründet hatten – alles, was von diesen edlen Geschlechtern nach den vergangenen Jahrhunderten noch übrig geblieben war.
»Dann wird sie doch sicher nächstes Jahr aufgenommen werden können? Wenn sie noch keine zwanzig ist, muss sie ohnehin noch eine Weile warten, um in Hollow’s Grove anfangen zu können.« Ich blickte mich im Kreis um, während ich darauf wartete, dass jemand der Anwesenden auf meinen Einwand reagierte. Um als Schülerin oder Schüler in Hollow’s Grove aufgenommen zu werden, musste man mindestens zwanzig Jahre alt sein, was mit den Vorlieben zu tun hatte, die sich einmal wöchentlich bei der Ernte ergaben.
Eine der Weißen erhob sich aus dem Stuhl. Die winzigen, in den Stoff ihrer schimmernden Robe eingenähten Kristalle funkelten, als sie mir einen Ordner reichte. Ich nahm ihn entgegen, öffnete das bräunliche Deckblatt und warf einen Blick auf das Foto, das auf einen dicken Stapel an Informationen geheftet war.
Die Augen, die mich anblickten, passten überhaupt nicht zusammen – das linke hatte ein schwaches, blasses Violett, das rechte funkelte wie flüssiges Gold. Sie saßen tief im Kopf und waren an den äußeren Enden etwas nach oben gezogen und von olivfarbener Haut umgeben. Das Haar des Mädchens fiel in dichten Wellen bis auf die Schultern, ein dunkles Mahagoni, das beinahe schwarz genannt werden musste und im Vergleich zur schwarzen Lederjacke glänzte, mit der sie erste Hinweise auf faszinierende Kurven zu verbergen versuchte.
Ich schob das Foto ein wenig nach unten, und der Name, der oben auf der Seite auftauchte, ließ mich meine Augenbrauen verwundert anheben. »Willow Madizza?«, fragte ich mit einem Blick auf das, was von Susannah übrig war. Sie war die Letzte aus der Madizza-Linie, wobei ich mir nicht sicher war, ob sie in dieser Hinsicht wirklich zählte. Im Grunde konnte man sie wohl kaum zählen, da sie nicht wirklich lebendig war und zwar neben, aber doch getrennt vom Rest der Hexen existierte.
»Sie ist die Letzte aus einer der Gründerfamilien, Alaric. Sie können sicher verstehen, dass es von äußerster Wichtigkeit ist, dass sie unverzüglich nach Hollow’s Grove gebracht wird«, erklärte Susannah.
»Wie hat sie sich all die Zeit über verstecken können? Warum wussten Sie nicht, dass sie existiert?« Ich blickte mich fragend im Saal um.
Für die Hexen war es ein Sakrileg, den Covenant infrage zu stellen. Ich gab vor, mich um solche Formalitäten nicht zu scheren, nicht, wenn meine Seele deutlich älter war, als sie jemals träumen konnte zu werden. Ich existierte seit Anbeginn der Zeit, seit der Erschaffung der Erde selbst.
Ein paar Jahrhunderte waren da für mich nicht mehr als ein Blinzeln.
»Ich muss annehmen, dass ihre Mutter sie vor dem Blick geschützt hat, genau wie sich selbst, nachdem sie vor fast zwei Jahrzehnten ihren eigenen Tod vorgetäuscht hat. Letzte Woche nun ist sie tatsächlich verstorben«, ließ mich Susannah wissen.
Da war kein Kummer über die Nachfahrin, die ihre Ur-, Ur-, irgendwas-Enkelin gewesen sein dürfte. Nur der Wunsch, ihre Blutlinie in der von ihr geführten Stadt wiederhergestellt zu sehen.
»Ich werde Juliet hinschicken. Das Mädchen dürfte sich wohler fühlen, wenn eine Frau den ersten Kontakt aufnimmt. Weiß sie, was sie ist?« Ich blätterte durch die Akte. Das Mädchen hatte eine Menschenschule besucht und arbeitete für eine Menschenzeitung. Es fand sich kein Hinweis auf eine magische Ausbildung.
»Nein. Ich will, dass Sie selbst sie einsammeln. Wir haben keinen Grund zur Annahme, dass sie weiß, was sie ist. Aber falls doch, besitzt sie die Magie einer gesamten Blutlinie, Alaric. Sie ist bestenfalls unberechenbar – und sehr wahrscheinlich gefährlich, sobald sie sich in die Ecke gedrängt fühlt. Nehmen Sie Juliet mit, außerdem Kairos. Sorgen Sie dafür, dass ihr nichts geschieht, aber machen Sie ihr deutlich, dass sie in diesem Fall keine Wahl hat, was ihre Anwesenheit in Hollow’s Grove betrifft.« Susannah erhob sich aus ihrem Stuhl.
Die anderen Hexen taten es ihr gleich und senkten respektvoll den Kopf, als Susannah in der Mitte des Kreises auf mich zutrat. Sie legte eine Knochenhand auf meine Schulter, und die dunkle Magie, die sie antrieb, durchzog mich in Wellen. Sie rief nach mir, wie Gleiches nach Gleichem ruft, und ich erkannte, dass wir gar nicht so verschieden waren.
Unsterbliche Seelen, gefangen in etwas, das nicht ganz lebendig, aber auch nicht ganz tot war.
»Sie wollen, dass ich sie zwinge mitzukommen?« Mein Flüstern hallte zwischen uns wider.
Ich besaß keine Moralvorstellungen. Mir war das Mädchen, das ich überhaupt nicht kannte, völlig gleichgültig, genau wie ihr freier Wille, den viele ihr zugesprochen hätten. Doch der Hexenzirkel kümmerte sich nicht um solche Dinge. Der Coven schrieb vor, dass in Crystal Hollow nichts geschehen durfte, was er nicht erlaubt hatte.
Von der Fortpflanzung bis zur Ernährung beaufsichtigten sie jeden Schritt. Und wenn sie die Umstände so hinbiegen mussten, dass sie ein Einverständnis bekamen, so taten sie, was sie tun mussten, um ihr schuldbeladenes Bewusstsein mit Lügen zu beruhigen.
»Ganz gleich, was es kostet. Haben Sie mich verstanden?«, wollte die Covenant wissen, und sogar ohne das Fleisch ihrer Augäpfel spürte ich den Nachdruck in ihrem Plan. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Linie ausstarb, nicht, wo sie nun endlich die Chance erkannte, sie zu einer neuen Blüte zu führen. »Zum Wohle des Coven müssen Sie das Mädchen hierher bringen.«
»Und was, wenn das bei ihr nichts als Hass auf meinesgleichen auslöst? Was dann?«, fragte ich, als Susannahs Hand meine Schulter verlassen hatte und sie an mir vorbei in Richtung ihrer Privatgemächer am Ende des Tribunalraums geeilt war, wohin sie und George sich zurückzogen, es sei denn, sie mussten als Hirten zu ihrer Herde sprechen.
»Dann wird es eine weitere Hexe geben, die Sie hasst, wenn Sie Ihren Hunger an ihr stillen. Ich denke, daran sollten Sie inzwischen gewöhnt sein.« Susannah bellte etwas, das beinahe einem Lachen ähnelte, öffnete die Tür und verschwand aus meinem Blickfeld.
Ich drehte mich um, um Juliet und Kairos über unseren Auftrag über die Staatengrenze hinweg aufzuklären. Wenigstens lebte die junge Hexe nur ein paar Stunden Autofahrt entfernt von hier und wir würden sie rasch erreicht haben.
Eine der Roten Hexen fiel mir im Vorbeigehen ins Auge. Sie lächelte heißblütig, während sie mich ansah, als sei ich ihre nächste Mahlzeit und nicht umgekehrt.
Sie hassten uns, was sie aber nicht davon abhielt, jenen von Hass angestachelten Sex zu wollen, der sich so oft beim Ernähren ergab. Jahrhunderte der Verachtung konnten nichts an der Tatsache ändern, dass eine Hexe und eine Hülle in vielerlei Hinsicht sehr gut zusammenpassten.
Meine Reißzähne pochten aus dem Drang, etwas zu fressen, doch ich hielt mich zurück. Das konnte bis zu meiner Rückkehr warten.
Zunächst war noch eine Aufgabe zu erledigen.
Willow
Mein Telefon vibrierte in meiner Hand und ich erhob mich vom Tisch, ließ Ash sein Abendessen beenden. Ich verließ die Küche und ging zur Treppe, wo ich den Anruf leise murmelnd entgegennahm.
»Du weißt, dass es zu gefährlich ist, mich jetzt anzurufen.«
»Warum hast du dein Telefon oder deinen Bruder noch nicht entsorgt?«, fragte die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Ich werde meinen Bruder nicht entsorgen«, schnauzte ich halblaut und blickte zurück in Richtung der Küche, wo Ash saß, während ich meine Stimme gedämpft hielt. Ich stieg langsam die Stufen hinauf und spürte, wie meine enge schwarze Jeans meine Beine einschnürte; ein Versuch, mich von der Dringlichkeit abzulenken, die ich fühlte. »Ash hat klargemacht, dass er nicht ohne mich gehen will. Wir treffen uns heute Abend mit seinem Vater an der Bushaltestelle. Er kann also helfen, wenn Ash sich weigert, ihn zu begleiten. Ich kann das Risiko nicht eingehen, ihn nach Maine zu fahren. Nicht jetzt.«
»Du hättest ihn schon vor Tagen wegschicken sollen. Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte mein Vater und seine Stimme wurde tiefer, nahm den tadelnden Ton an, den ich nur allzu gut kannte.
Größere Sorgen hätte ich mir nur dann gemacht, wenn er mit mir gesprochen hätte, ohne diesen Tonfall zu nutzen.
»Ich habe mir dabei gedacht, dass er es verdient hat, an der verdammten Beerdigung seiner eigenen Mutter teilzunehmen«, flüsterte ich, schwang meine Zimmertür zu und lehnte mich dagegen. Ich hatte eine kleine Tasche gepackt, vor allem um Ash davon zu überzeugen, dass ich ihn auf jeden Fall zu seinem Vater nach Hause begleiten wollte. Aber ich hatte sie auch mit den kleinen Stücken aus meinem Leben gefüllt, die mir etwas bedeuteten: ein Stein und eine Muschel, die meine Mutter und ich, als ich noch ein Kind war, in einem der seltenen Urlaube an einem Strand in New Hampshire gesammelt hatten. Ein Fotoalbum, das meine Mutter und ich in ihren letzten Monaten zusammengestellt hatten. Der Käfer aus Plüsch, den Ash als kleiner Junge überall mit hingeschleppt hatte und der sein Namensgeber wurde. Die getrockneten Blumen und Kräuter, die mir meine Mutter hinterlassen hatte.
Wie mir immer gesagt wurde, würde ich die Kleidung, die ich bevorzugte, nicht tragen dürfen. Die grauen und schwarzen Töne, die mich von Kopf bis Fuß einhüllten, passten nicht zu jemand Grünem. Schon allein deshalb war es sinnlos, meine eigene Kleidung mitzunehmen. Ich schlurfte mit den Stiefeln über den Teppich zu meinem Bett, setzte mich auf die Kante und stützte den Kopf in die Hand.
»Du spielst mit dem Feuer, Mädchen. Wenn sie das mit ihm herausfinden …«
»Ich weiß.« Ich seufzte und rieb mir über die Augen. Meine Fingernägel waren mattschwarz lackiert, und der Lack war an den Kanten abgesplittert. Ich runzelte die Stirn, als ich sie von meinem Gesicht wegzog.
»Wenn er unbedingt zu der Beerdigung wollte, hättest du verschwinden und woanders hingehen sollen. Sein Vater hätte ihn mitnehmen können«, erwiderte mein Vater Samuel, seine düstere Stimme wurde noch barscher. Das war der Ton, den er immer dann anschlug, wenn ich ihn enttäuschte, ein Ton, den ich viel zu oft hörte. Ich malte mir aus, wie er streng die Stirn über seinen außergewöhnlichen violetten Augen in Falten legte. Sein Haar war reines Schwarz, ohne den roten Schimmer, der an den Spitzen stärker hervortrat. Vielleicht lag es daran, dass es zu kurz geschnitten war, um die Farbe richtig zur Geltung kommen zu lassen, oder vielleicht lag es auch daran, dass die Magie ihn nicht auserwählt hatte. Vielleicht war das in Blut getauchte Haar ein Zeichen für die Hüter der Knochen, eine Aufgabe, für die mein Vater ignoriert wurde und die bis zu meiner Geburt geruht hatte.
»Du verlangst, dass ich meine gesamte Zukunft für deine Rache aufgebe. Das Mindeste, was du tun kannst, ist, zu verstehen, dass ich an der Beerdigung meiner eigenen Mutter teilnehmen möchte«, erwiderte ich und ließ mich mit einem Seufzer auf meine Matratze zurücksinken.
»Es geht nicht nur um meine Rache. Sie war deine Tante, Willow«, hielt er dagegen und seine Stimme wurde so ruhig, wie es nur der Fall war, wenn er über sie sprach. Die ältere Schwester, die alles gegeben hatte, um das Wissen um seine Existenz zu schützen. Sie hatte ihren kleinen Bruder aus seiner Wiege gestohlen und ihn irgendwo weit weg vom Coven aufwachsen lassen.
So konnte ihn niemand zwingen, sich zwischen seiner Hexenkunst und seiner Fähigkeit, Kinder zu zeugen, zu entscheiden.
Jahrelang hatte mein Vater darauf bestanden, dass es die Obsession einer Hülle ins Unermessliche treiben würde, wenn ich unberührt blieb, und jahrelang hatte ich unter seinen brutalen Trainingstaktiken gelitten. Was hatte er doch für eine liebevolle Beziehung mit dieser Gabe aufgebaut und seine einzige Tochter in die Waffe verwandelt, die das tun sollte, wozu er nicht in der Lage gewesen war …
Die Knochen meiner Vorfahrinnen zu finden – die Knochen seiner Schwester und aller Schwarzen Hexen, die vor ihr gewesen waren – und sie zu benutzen, um die Hüllen unschädlich zu machen und den Covenant zu zerstören. Nur die Knochen würden es mir ermöglichen, mich der Magie der Hecate-Linie vollständig zu bemächtigen.
»Ich weiß, dass sie das war«, antwortete ich.
Auch wenn ich sie nie kennengelernt hatte, konnte ich nicht anders, als für die junge Frau Rache zu üben, die der Coven vor fünfzig Jahren ermordet hatte. Ich wollte es nur nicht so dringend, dass ich meinen Bruder nie wieder sehen würde. So sehr ich mir auch die Anerkennung meines Vaters verdienen und das eine tun wollte, wozu er und meine Mutter mich erzogen hatten, ich hätte alles stehen und liegen lassen, hätte bloß die geringste Chance bestanden, dass Ash und ich uns irgendwo an einem sicheren Ort verstecken könnten.
»Sie verdient es, Frieden zu finden, Willow«, sagte mein Vater und seine Stimme wurde leiser, bevor er fortfuhr. »Und du verdienst es, das zu bekommen, was dein Geburtsrecht ist.«
»Ich pfeife auf mein verdammtes Geburtsrecht«, gab ich zurück. Meine Freiheit und Ash waren jetzt meine einzigen Sorgen.
Das Geständnis stand zwischen uns. Das Sammeln der Knochen war ein Mittel zum Zweck, eine Notwendigkeit für meine Tante und all diejenigen, die vor ihr kamen, um den Weg nach Hause zu finden.
Die meisten Hexen des Coven schöpften ihre Kraft aus der Natur. Die Grünen, wie meine Mutter, zogen sie aus der Erde, die Weißen aus Kristallen und die Gelben aus dem Feuer.
Aber bei den Schwarzen war es anders.
Wir generierten unsere Kraft aus den Knochen unserer Vorfahren, aus der Magie, die nur in unserer Blutlinie vorkam. Ohne diese Knochen waren wir nichts und sie waren irgendwo innerhalb der Grenzen von Crystal Hollow sicher verborgen.
Ich spürte sie – ich wusste, dass sie existierten. Jeder kluge Mensch hätte sie mit Salz verbrannt, als sie die letzte von uns getötet hatten, nur um sicherzugehen, aber stattdessen hatte jemand sie aufbewahrt.
Es war ein perverses Sammlerstück, hundertprozentig.
Die Knochen der letzten der Totenbeschwörerinnen.
Als mein Vater wieder sprach, schnaubte ich, denn seine Worte waren ein Wiederkäuen all dessen, was er im Laufe meines Lebens gesagt hatte. Ich war zu jung, um mich daran zu erinnern, wie er mir die Grundlagen der Beschwörung beigebracht hatte, wie ich mein Blut und die Knochen meiner Vorfahrinnen benutzen konnte, um die Toten zu erwecken.
»Kannst du dir vorstellen, was ich dafür geben würde, der Hexer zu sein, der von unseren Vorfahren dazu auserkoren wurde, die Knochen zu tragen?«
»Ich habe da eine gewisse Ahnung«, antwortete ich und ließ die Bitterkeit in meiner Stimme durchschimmern. Ich wusste genau, was er dafür geben würde, auserwählt zu werden.
Er würde ihnen mich dafür geben. Er würde mich innerhalb eines Atemzugs dafür opfern, wenn er glaubte, dass die Knochen an das einzige verbliebene Mitglied der Hecate-Linie fallen würden. Deshalb hatte er nur ein Kind bekommen, damit ihm nur eine Person im Weg stehen würde.
Das Opferlamm.
Er hat ihren Ruf nie gespürt. Er hörte nicht, wie sie ihm in der Nacht zuflüsterten, wenn es eigentlich still sein sollte.
Um Ashs willen durfte das nicht passieren. Ich war mit dem Wissen aufgewachsen, dass ich eines Tages entweder meinen Vater töten würde oder zuließ, dass er mich tötete.
Das Klingeln an der Tür bewahrte uns davor, diese Wirklichkeit anzuerkennen, denn ich setzte mich schnell auf und blickte zur Tür.
»Scheiße«, zischte ich und hoffte zum ersten Mal, dass es nur eine nervige, neugierige Nachbarin war, die mit einem Auflauf auftauchte, um ihre Nase in unsere Angelegenheiten und meine Pläne zu stecken, wie ich mir das Leben für Ash und mich ab jetzt vorstellte.
Mein Vater legte ohne ein Wort auf. Es gab keinen rührenden Abschied – auch wenn er wusste, dass er mich vielleicht nie wiedersehen würde, sollte die Person vor der Tür stehen, von der ich befürchtete, dass sie es war. Die Chance war groß, dass ich die Hollow’s Grove University nicht überleben würde. In dem Moment, in dem meine Mutter gestorben war, hatte ihr Schutzzauber, der mich vor dem Augenmerk der anderen verbarg, Risse bekommen und war im Laufe einer Woche zusammengebrochen. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis der Coven mich erspürte und jemanden schickte, der mich abholte und an die berühmte Universität schleppte, die man nur auf Einladung betreten durfte.
Ich eilte zur Tür und weiter zur Treppe. Meine Erleichterung war fast greifbar, als Ash sich im Haus nicht rührte und außer Sichtweite blieb. Man hatte ihm schon vor Jahren verboten, zur Tür zu gehen, um ihn zu schützen, und so atmete ich erleichtert auf, während ich meinen grauen Pullover zurechtzupfte und die Treppe hinuntereilte.
»Geh in die Küche und halt den Kopf unten«, flüsterte ich und scheuchte ihn so weit wie möglich von der Haustür weg.
Er tat wie ihm geheißen und versteckte sich in der Küche, blieb aber in der Nähe der Tür, um zu hören, was geredet wurde.
Seine Neugierde würde noch mein Ende sein.
Ich atmete tief ein und versuchte, mir weiszumachen, dass es nur Mrs. Johnson war, die auf der anderen Seite stand. Dass sie nachsehen wollte, ob wir schon gegessen hatten, und uns noch eine Lasagne brachte. Ich legte eine Hand auf den vergoldeten Türknauf und schaute auf das Amulett hinunter, das ich mir bereits um den Hals gehängt hatte. Die Kette war unwichtig, aber der schwarze Turmalin, der sicher in dem roségoldenen Drahtkäfig steckte, würde mich vor Zwang schützen. Alle Hexen im Coven trugen sie, wenn sie volljährig wurden, und ich wäre verdammt fahrlässig, würde ich es riskieren, jemandem die Tür ohne die Kette zu öffnen.
Mit der freien Hand griff ich nach oben und löste die Türkette und den Riegel. Ich drehte den Knauf und vergewisserte mich mit einem letzten Blick hinter mich, dass Ash nirgendwo zu sehen war, dann öffnete ich die Tür einen Spalt und spähte nach draußen.
Ich schluckte, als mein Blick auf dem Mann landete, der auf der Veranda stand. Er war allein und seine Lippen waren zu einem dünnen Lächeln verzogen. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass es beruhigend wirken sollte, als er die Anspannung, die hinter dieser ungewohnten Geste lauerte, aus seinen vollen Lippen löste.
Das war definitiv nicht Mrs. Johnson.
Die Kraft, die von ihm ausging, machte klar, dass er nicht meine neugierige Nachbarin war und auch kein Mensch, und schon gar nicht wirklich lebendig. Seine Augen blitzten auf, als sein Blick auf meinen traf, und das Stahlblau darin verdunkelte sich für einen Moment, ehe er zu dem Amulett auf meiner Brust sah. Mir stockte der Atem, als dieser glühende Blick über meinen Körper wanderte, und es sich anfühlte, als strichen Krallen leicht über meine Haut.
Er war wunderschön und verheerend – eine Naturkatastrophe, die nur darauf wartete loszubrechen.
Seine Haut war makellos, kein Fleck und keine Narbe zu erkennen. Sein Mund war üppig, aber maskulin, die perfekten weißen Zähne blitzten hervor, während er versuchte, unscheinbar zu wirken. Er trug einen Anzug, der sich für meine Veranda in den Wäldern von Vermont viel zu schick ausnahm, doch er passte irgendwie zu ihm. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass etwas so Alltägliches wie eine Jeans seine sehnigen Muskeln verdeckte, denn seine ätherische, überweltliche Schönheit stach so hervor, als wäre er ein in Ungnade gefallener Engel. Mein ganzes Leben lang war ich zu seltsam gewesen, nicht menschlich genug, aber plötzlich fühlte ich mich schrecklich menschlich angesichts der unsterblichen Kreatur vor mir.
»Miss Madizza, nehme ich an?«, fragte er mit tiefer, rauer Stimme, während er seinen Kopf langsam zur Seite neigte. Sein Blick wanderte immer wieder an meinem Körper hinunter, glitt über meinen Bauch und meine kräftigen Oberschenkel, bis sein Lächeln breiter wurde, als er die Kampfstiefel an meinen Füßen bemerkte.
»Reden Sie mit mir? Oder mit meinen Füßen?«, erkundigte ich mich und zog meinen Pullover eng über meiner Brust zusammen. Sein Blick wanderte langsam und träge wieder nach oben. Er hatte es nicht eilig, mir noch einmal in die Augen zu sehen. Auch wenn ich ihm verbal auf die Finger geklopft hatte, erlaubte ihm die Arroganz eines jahrhundertelangen Lebens, sich auf eine Art und Weise zu benehmen, die nicht den Anstandsregeln entsprach.
»Ich rede auf jeden Fall mit dir«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Er lehnte sich mit der Schulter an die Eisensäule, die das Dach der offenen Veranda stützte, und machte es sich in dem Bereich, der eigentlich mir gehören sollte, viel zu bequem.
»Was wollen Sie von Miss Madizza?«, fragte ich und widerstand dem Drang, meine Finger um mein Amulett zu schlingen. Die beste Chance, Ash in Sicherheit zu bringen, bestand darin, so zu tun, als wüsste ich nicht, wer sie waren. Auch wenn sie mich bereits gefunden hatten. Wenn ich meine Unschuld vortäuschte, konnte ich meinen Bruder vielleicht rausschmuggeln.
»Ich vertrete eine angesehene Universität. Wir bieten ihr die einmalige Gelegenheit, zusammen mit den besten und klügsten Schülerinnen und Schülern ihres Jahrgangs am Unterricht teilzunehmen. Könnte ich vielleicht reinkommen, um das zu besprechen?«, fragte der Mann und stieß sich mit der Schulter vom Geländer ab. Er machte einen Schritt auf mich zu, als ich durch den Rahmen hinaustrat, die Tür hinter mir zuzog und ihm so den Weg versperrte.
»Nein«, sagte ich und mein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.
Zu schnell.
Er hob die Augenbrauen und seine Lippen öffneten sich leicht, als er sich mit der Zunge über die unteren Zähne fuhr. Ich lächelte, um den Nachdruck in meiner Stimme abzumildern, und schluckte meine Angst herunter, einem Raubtier so nah zu sein. Er trat einen weiteren Schritt auf mich zu und blieb stehen, als er so nahe war, dass ich meinen Kopf neigen musste, um zu ihm aufzuschauen.
»Heutzutage kann ein Mädchen nicht vorsichtig genug sein. Ich bin sicher, Sie verstehen das«, erwiderte ich und konzentrierte mich auf den Rhythmus meines Herzschlags.
Ich atmete tief ein und dann wieder aus.
Mein Amulett wurde warm an meiner Brust, als er auf mich herabschaute und meinen Blick festhielt, während er versuchte, mir seinen Zwang aufzuerlegen. Ich tat so, als ob ich es nicht spüren würde, als ob der Kristall nicht alles bestätigte, was ich bereits anhand seiner unnatürlichen Schönheit vermutet hatte.
Hülle.
Er musterte mich eingehend, seine stahlblauen Augen waren entflammt. Von so Nahem war ich fasziniert von dem goldenen Ring, der die Pupille seines Auges umgab, ein Funken Wärme in seinem sonst so kalten Blick.
»Natürlich«, murmelte er und verzog seine Lippen zu einem sorgfältig kontrollierten Lächeln. Er hatte jahrhundertelang geübt, um keine Fangzähne zu zeigen, die selbst die dümmsten Menschen in Panik versetzen würden.
»Die Hollow’s Grove University heißt dich in zwei Tagen herzlich willkommen.« Er warf einen Blick über meine Schulter auf das Haus. Meine Mutter hatte zu keinem Zeitpunkt zugelassen, dass es verfiel, und sich darum gekümmert, auch wenn das hier kein Buckingham Palace war, aber die Verachtung, mit der er die alternde Fassade betrachtete, ließ meine Kehle vor Wut kribbeln. »Es ist die Art von Gelegenheit, bei der ein Mädchen wie du dumm wäre, sie so leichtfertig auszuschlagen.«
Ich verlagerte das Gewicht und wandte meinen Blick nach unten, während ich ungläubig lächelte. »Ein Mädchen wie ich? Was genau soll das heißen?«
»Eine Waise«, sagte er und ließ mich für keine Sekunde aus den Augen, als das Wort über seine Lippen kam. Es gab weder Anteilnahme noch Mitgefühl für meinen kürzlichen Verlust, nur diese sachliche Aussage, die mir Tränen der Wut in die Augen trieb.
»Muss man nicht ein Kind sein, um als Waise zu gelten?«, fragte ich und bohrte meine Zähne in die Innenseite meiner Wange. Ich beugte mich nach vorn und kam ihm diesmal zu nah. Seine Nasenflügel blähten sich, als ich dichter rückte, und der Geruch meines Blutes erfüllte zweifellos seine Lunge. »Wenn ich ein Kind bin, zu was macht es Sie dann, wenn Sie mich andauernd so angaffen?«
»Du bist kein Kind«, sagte er und sein Kiefer spannte sich an, als ich seinen Blick herausfordernd erwiderte. »Ich hätte diesen Begriff nicht benutzen sollen. Ich meinte nur, dass du plötzlich auf dich allein gestellt bist. Ein Ort, an dem du neu anfangen kannst, könnte einen Vorteil für dich bedeuten …«
»Ich werde das hier ganz einfach halten, damit wir nicht noch mehr Zeit miteinander verschwenden«, unterbrach ich ihn. »Ich bin nicht daran interessiert, eine Universität zu besuchen, die einen absolut zwielichtigen Mann an meine Haustür schickt. Jede seriöse Universität würde es mir erlauben, mich selbst zu bewerben. Wenn Sie mir direkt ein Bewerbungsformular dalassen wollen, um so eine Briefmarke zu sparen, mein Briefkasten ist gleich da drüben.« Ich deutete hinter ihm auf das Ende der Einfahrt in der Ferne – auf den kleinen roten Briefkasten, der dort stand.
»Es gibt keine Bewerbungsformulare für die Hollow’s Grove University. Das geht nur per Einladung«, erklärte der Mann und trat einen Schritt zurück. Er hielt mir seine Hand hin und starrte mich aufmerksam an, während er mir aufzwingen wollte, sie zu nehmen. Ich reckte das Kinn und ignorierte es. Er fuhr fort: »Ich hätte mich vorstellen sollen. Ich bin der Direktor von Hollow’s Grove, Alaric Thorne. Dies ist deine offizielle Einladung …«
»Dann lassen Sie meine Einladung doch am besten in meinem Briefkasten«, stellte ich richtig.
»Ich bin die Einladung«, erwiderte er zähneknirschend und funkelte mich wütend an.
Er zog die Hand zurück und schob sie in seine Hosentasche. Der dreiteilige Anzug verfälschte für meinen Geschmack viel zu sehr den Eindruck von ihm, es war eine absolute und vollkommene Ablenkung. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass das genau der Sinn der Sache war, als ob sein ganzes sündiges Wesen in den feinsten Stoff eingehüllt war.
Ich griff hinter mich und umschloss den Türknauf, um die Tür gerade so weit zu öffnen, dass ich meinen Körper hindurchzwängen konnte. Ohne Einladung konnte er nicht eintreten, und ich würde in die neun Kreise der Hölle verdammt werden, bevor ich ihm eine aussprechen würde.
Ich lächelte, als ich mich ins Haus manövrierte, und schaute ihm entgegen, während er mich wolfsgleich beobachtete. »Dann bin ich definitiv nicht interessiert.«
Gray
Schnell preschte ich vor, drängte mich in die Lücke zwischen uns und stellte meinen Fuß in den Türrahmen, bevor die Hexe die Tür schließen konnte. Die Tür prallte gegen meinen Fuß, öffnete sich wieder einen Spalt und die Finger der Hexe griffen eilig nach dem Türknauf. Ihre Augen weiteten sich angesichts meiner Geschwindigkeit und blinzelten, als ich so plötzlich dicht vor ihr stand.