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„Es gibt nur eine Möglichkeit wie wir deine Freunde und Familie retten können. Araxa, du kannst deiner auferlegten Rolle nicht entkommen.“
Der zweite Teil einer epischen Geschichte geht weiter und sie entführt euch in eine Zeit vor der Veränderung des Schicksals: Die junge Abiturientin Araxa ist ein Schlüsselstück, mit der die wahren Pläne aller Beteiligten aufgeschlüsselt werden.
Craensarg. Es ist ein Name einer Märchenfigur des Dorfes Zenzo, die Kinder in Angst und Schrecken versetzt. Doch für Araxa, einer jungen Abiturientin, ist es kein Märchen. Von Albträumen geplagt, begreift sie nach und nach, dass sich Traum und Realität immer mehr vermischen, und bald steht sie vor einer schweren Entscheidung: Soll sie sich von dem Ghul Craensarg fressen lassen, um dem Schrecken ein Ende zu setzen?
Dieser Teil kann unabhängig von der Reihe gelesen und verstanden werden.
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In der Welt der Menschen, genannt Raquel, gab es Wesen, die zu dieser Zeit für wenig Aufsehen gesorgt haben. Und doch stellten sie für uns eine immense Gefahr dar. Menschen verschwanden spurlos und die Kriminalermittler waren ratlos. Manchmal wurden riesige Blutlachen und Überbleibsel gefunden, doch in den meisten Fällen tauchte die Person nicht mehr auf. Das war der Beginn eines Schauermärchens, das nur als mikroskopische Vorführung dienen sollte. Denn die wahre Tragödie sollte erst noch folgen...
Grausame, realistische Albträume brachten uns um den Verstand. Niemand kannte die wahren Gefahren, die von den magischen Wesen, genannt Unterweltler, ausgingen. Doch was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wussten, war, dass sie selbst untereinander kämpften und dies für die Zukunft schwere Folgen haben würde.
Eine Nachricht ploppte aus dem heiterem Himmel auf. Misstrauisch schielte ich auf die Nachricht.
Könntest du bitte herauskommen? Ich habe dein Lieblingsessen gekocht.
Schwarze Punkte versperrten mir eine freie Sicht. Benommen starrte ich auf die Mitteilung. Erneut wurde ich von ihm herausgebeten. Von ihm, dem Ghul, der meinen Vater gefressen hatte, um mir nah zu sein. Mein Hals schnürte sich schmerzhaft zu. Als sich das Zwerchfell unweigerlich aufstellte, verspürte ich diesen zunehmenden Druck, der sich in der Luft ausbreitete und laut knisterte. Der Gedanke an diese Kreatur brachte Erinnerungen hervor, die ich bis jetzt in den innersten Winkel meiner selbst verschlossen hatte. Kreidebleich stützte ich mich an der hellblauen Wand ab. Ich versank gänzlich in meiner Vorstellung dieser Bestie, die mir alles genommen hatte.
Ein Ghul war eine Verkörperung des Todes, ein Geschöpf der Finsternis, der sich durch Menschen nährte und mit jedem Mahl stärker wurde. Mit seinem großen Maul hatte er schon etliche Personen in meinem Umfeld gefressen. Allein die Erinnerungsfetzen ließen mich erschaudern. Mein Herz klopfte stark gegen meinen Brustkorb. Niemand konnte ihm entkommen. Nicht einmal mein starker Vater hatte sich gegen ihn behaupten können. Eine Träne lief mir über die Wangen. Der Verlust hatte mich in ein Gefängnis aus Verzweiflung und Hass gestürzt.
Der Ghul wurde von Vampiren erschaffen, die sich von ihm beschützen ließen, damit sie in Ruhe jagen konnten. Im Gegensatz zu einem Ghul konnte der Vampir nicht durch Menschenblut stärker werden, sondern allein durch das Blut von Dämonen und Teufeln.
Darüber hinaus konnte es zwischen beiden Rassen wiederholt zu Machtungleichheiten kommen, sodass sich der Ghul seinem Erzeuger widersetzte. Es kam zugleich vor, dass die Vampire ihn töteten, um so an Stärke zu gewinnen. Auch in der tiefsten Finsternis strebten die Wesen stets nach Macht und Ansehen. Denn nur so konnten sie ihr eigenes Überleben sichern. Sie raubten Leben, um zu überleben. Das war ein tragischer Kreislauf, den wir Lebewesen nicht entkommen konnten. Schließlich wurden nur wenige mit der Eigenschaft ausgestattet, die magischen Kreaturen wahrzunehmen. Schwerfällig keuchte ich auf. Je mehr ich über die magischen Lebewesen erfuhr, umso aussichtsloser erschien meine Lage. Meine Knie schlotterten. Die Tatsache, dass ein solch mächtiges Geschöpf mit mir zusammen unter einem Dach lebte, hinterließ schwarze Schlieren in meiner tristlosen Seele, die sich durch immense Gefühlsausbrüche zu einem großen Meer an Depressivität zusammengesaut hatte.
Doch der Ghul wies eine riesige Schwäche auf. Mit jeder Mahlzeit unterschied er sich weiter von den Vampiren und vermenschlichte. Er konnte einerseits das Aussehen einer Person annehmen und andererseits nahm er dessen Seele an, die sich wie eine Skulptur von Zeit zu Zeit zusammenfügte.
Der Ghul, der meinen Vater gefressen hatte, konnte mich nicht umbringen. Nein. Er war mir nah, wie er es immer sein wollte, um mich zu fressen. Doch jetzt schaffte er es nicht das zu tun, was ein Unterweltler normalerweise tat, um zu überleben. Lange hatte ich überlegt, was der Grund dafür war, gerade mich fressen zu wollen. Allerdings konnte ich kaum mit der Bürde leben, der Grund für das Verderben meiner Mitmenschen zu sein.
Craensarg, so wie ich ihn nannte, war die Verkörperung von Leben und Tod, wie er noch nie dagewesen war. Ich wusste, dass es meine Pflicht war, von ihm gefressen zu werden. Jedoch hätte ich zu jenem Zeitpunkt niemals daran gedacht, diese Option überhaupt in Erwägung zu ziehen.
Das gesegnete Licht,
unser ewiger Wanderkamerad,
dessen Schatten weite Folgen reicht
und uns die wahre Hoffnungslosigkeit aufzeigt.
Sorglos ist die Zuversicht,
die sich durch das Land,
wie ein wundersames Licht
in alle Himmelsrichtung ausbreitet
und uns zur Hilfe eilt.
Mächtig ist das Gehör der Verzweiflung,
das uns mit harten Worten niederschmettert.
Doch das ist uns keineswegs von großer Bedeutung,
denn wir werden immer wieder auferstehen,
wie der Phönix aus der Asche
und siegreich aus dem Kampf hervorgehen.
Lebendig war die Glückseligkeit,
die von Zeit zu Zeit verschwand',
wie ein Fellkleid in der tiefsten Eiszeit
durchdrang es jede Seele unvorbereitet,
dass uns heute in zwei Hälften teilt.
Entschlossen ist die Zuneigung,
die uns wie ein Buch blättert,
und uns bei jeder Abzweigung
begleitet und einen Blick erhasche'
auf unseren beschwerlichen Pfad,
der uns nicht oft guttat,
obwohl wir uns stets das Licht herbeisehnen.
Das gesegnete Licht,
unser ewiger Wanderkamerad,
dessen Schatten weite Folgen reicht
und uns die wahre Hoffnungslosigkeit aufzeigt.
Eine durchdringende Kälte ließ mich bis ins Mark erzittern, indem sie mich einkesselte und plötzlich überkam, als wäre sie von einem Eismonster heraufbeschworen worden. Ich hörte es klirren, leises Grummeln folgte, als ich lange Kratzspuren an den Wänden erkannte. Das Blut gefror in meinen Venen, doch ich war mir nicht sicher, ob von der Kälte oder meiner überkommenden Angst, die mich gebannt auf die zunehmende Dunkelheit starren ließ.
Nach einigen Augenblicken gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis. Schatten zogen bis in den hintersten Winkeln des Zimmers. Doch sie blieben nicht die einzigen Kreaturen, die hervorkrochen und den Raum aufsuchten. Zwei lange, schwarze Beine tauchten vor mir auf. Mein Herz klopfte aufgeregt gegen meinen Brustkorb, während ich mich, langsam, aber sichtlich, aus der Starre lösen konnte. Es bewegte sich zunächst in meine Richtung, klapperte und knackte, ehe es sich in Gänze vor mir aufstellte. Die Pracht des Monstrums ließ mich erschaudern. Es war eine riesige Spinne mit drei Köpfen, mit je vier Augenpaaren, die sich jeweils um dreihundertsechzig Grad bewegen konnten. Sie waren wie Antennen ausgerichtet, um nach ihrer Beute Ausschau zu halten. Seine riesigen Klauen brachten mich um den Verstand.
Obwohl mir mein Instinkt befahl wegzulaufen, konnte ich mich nicht rühren. Mein Körper gehorchte mir nicht und dass ausgerechnet in einer heiklen Situation wie diese. Es schaute mich mit seinen vierundzwanzig Augen direkt an und schrie laut, wodurch ein dunkelgrünes Sekret abgesondert wurde. Es schien auf mich zuzuspringen. Meine Adern pulsierten. Atemlos kauerte ich in mich zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich das Monstrum an. Unfähig mich zu bewegen. Dabei könnte es Hier und Jetzt mein Ende bedeuten. Doch jegliche Mühe war zum Scheitern verurteilt. Regungslos bibberte ich hilflos. Es war, als würde ich als Zuchttier zum Schlachter geführt werden und müsste auf den plötzlichen Tod warten. Doch ich konnte nichts dagegen tun.
Es setzte an. Kreischend schloss ich meine Augen und wartete auf den Todesstoß. Das einzige Geräusch, das ich vernahm, war mein lauter Herschlag. Auf den Schmerz ausharrend, spannte ich jegliche Muskeln an. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete ich verwundert meine Lider. Die Spinne fiel schwarzes Blut spuckend in sich zusammen. Keuchend krabbelte ich zurück, bis ich die harte Wand hinter mir spürte. Blitzartig zuckte ich in mich zusammen und wagte einen kurzen Blick zurück. Die Wand war mit einer weißen, kalten Eisschicht überzogen. Mein Rücken brannte durch die kurze Berührung mit der scheußlichen Kälte. Doch das war nicht die einzige Stelle, die gefror. Der ganze Raum glich einer Eishalle.
Die Hände umgriffen meinen bibbernden Körper. Durch den Temperaturenunterschied, der plötzlich herrschte, atmete ich schwerer. Wenn ich die Luft ausstieß, erzeugte es einen weißen Nebelschleier. Die Kälte umfing mich wie seine Beute in der Dunkelheit, die mich von Minute zu Minute schwächer werden ließ. Durch die Kälte färbten sich meine Hände blau, brannten und wurden anschließend taub. Immer wieder versuchte ich mich in Bewegung zu setzen, doch mein Körper gehorchte nicht - es war vergeblich.
Langsam wurde ich schläfrig. Aber das durfte ich nicht. Ich versuchte mich zusammenzureißen. Wenn ich jetzt einschlief, bedeutete es meinen sicheren Tod.
Ein seltsames Geschöpf tauchte vor mir auf – mit blutigen, langen Klauen. Mein Mund wurde trocken. Stiche erfüllten mich mit Schmerz, die wie ein rostiger Nagel wiederkehrend den Weg in die gleiche Bruststelle fanden. Mit großen Pupillen starrte ich auf seine langen Reißzähne, die er sich grinsend beleckte. Meine Augen trafen auf seine. Sie waren blutunterlaufen und pupillenlos. Ein hässlicheres Wesen hatte ich bislang nicht erblickt. Trotzdem konnte ich meine Augen nicht von der großen Gefahr abwenden. Eine Weile hielten wir Blickkontakt. Sein unschuldiges Weiß ließ mein Herz schneller schlagen. Ich versuchte seine nächsten Schritte vorher zu sehen, doch meine Gedanken rauschten an mir vorbei. Die aufkommende Panik hatte mich gänzlich beflügelt und brachte mich in einen unumstößlichen Zustand, der meine Sinne benebelte.
Es leckte das Blut der Spinne ab und blickte mich weiterhin neugierig an. Entgegen der blanken Angst, die in meinem Nacken saß, konnte ich den Blick abermals nicht von ihm lassen. Obgleich er von Mal zu Mal größer und gefährlicher wirkte, hatte es den Anschein, dass er auf eine Reaktion wartete. Ein kleiner Funke rührte sich in mir. Es rief nach mir, doch erreichte es mich nicht.
Meine passive Einstellung machte ihn nervös Er streckte seine Gliedmaßen durch. Ich fuhr keuchend in mich zusammen. Die Kreatur warf den Leichnam der Spinne achtlos weg und baute sich vor mir auf. Neugierig musterte er mich, während seine biegsamen Knochen in alle Richtungen standen. Seine Füße wiesen viele Krallen auf, doch auch an seinen Armen und Beinen ragten sie heraus. Es hatte weder Geschlechtsteile noch ein richtiges Gesicht. Die Nase war nicht richtig ausgebildet, sodass lediglich die Nasenlöcher umrissen wurden. Die Haut wies eine gräulich-lilafarbene Farbe auf.
Es beugte sich über mich und schnupperte an mir, bevor es seine Hand mit seinen messerscharfen Klauen nach mir ausstreckte. Meine Atmung ging schneller. Die Nähe raubte mir den letzten Energieschub, der mir die Panik eingebracht hatte.
Seine Augen erwarteten eine Reaktion, doch ich schaffte es selbst in dieser heiklen Situation nicht, mich zu rühren. Innerlich verfluchte ich meine Schwäche dafür. Die Kälte hatte die komplette Kontrolle über mich erlangt. Obwohl ich weiterhin den eigenen Atem sah, spürte ich wie sich eine Wärme um mich schloss und sie meine Sinne benebelte. Traurig neigte er seinen Kopf. Seine Augen funkelten in einem seltsamen Glanz. Eine Träne kullerte von seiner Wange. Mitsamt den Wassertropfen breitete sich eine Welle nach der anderen aus und fing mich in einem gesponnenen Netz aus Angst und Verzweiflung. Ich tauchte in die tiefe Dunkelheit ab.
Nach einer Weile hörte ich ein schrilles Geräusch und spürte die Sonne, die in meinem Gesicht kitzelte. Grummelnd regte ich mich und suchte mir ein Kissen, das ich mir auf meinen Kopf drückte. Als eine laute Stimme ertönte, die an meine Tür klopfte, wusste ich, dass mir keine andere Wahl blieb, als aufzustehen. Meine Lider öffneten sich. Doch das stellte sich als fataler Fehler heraus. Das Sonnenlicht blendete mich. Schnell schloss ich sie wieder und blinzelte mehrfach. Eine kleine Weile verstrich, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnten. Die Tür öffnete sich und meine Mutter trat ein.
Sie hatte blondes, nackenlanges Haar, die hinten kurz und vorne lang waren. Ein paar Strähnen ihres schiefen Ponys glitten über ihr linkes Auge, das in der Farbe von Haselnuss funkelte.
„Guten Morgen Schlafmütze“, säuselte sie energisch, „wir haben keine Zeit zum Träumen. Deine Freunde warten zur frühen Stunde auf deine Person. Wenn deine Wenigkeit sich nicht beeilt, werden sie alle unpünktlich zur Stunde erscheinen und das möchtest du doch sicherlich nicht, oder?“
Wie gewohnt hetzte sie durch den Raum, griff galant nach meinem azurfarbenen Rucksack und packte Obst und eine Thermoskanne mit frisch aufgebrühtem Hibiskus-Tee ein. Obwohl ich bereits neunzehn war und das letzte Jahr meines Abiturs genoss, war ich nicht wirklich überlebensfähig. Es verstrich kein Tag, an dem ich nicht verschlief und von meiner Mutter frische Kleidung rausgelegt bekam.
Heute trug sie wie gewöhnlich eine schwarzviolette Militäruniform und die dazu passende Militärmütze. Ihre goldene halbrunde Brille glitt ihr von der Nase, als sie in meinen Rucksack kramte.
„Schlafmützen haben keinen Anstand“, sie schüttelte vorwurfsvoll ihren Kopf, „seiner Mutter vom Bett aus bei der Arbeit zuzusehen. Du kleines, ekeliges Bettmonster.“
Lange schielte ich auf ihre gepiercten Ohren, bevor ich ihr stumm zunickte.
Für Außenstehende mochte die Ausdrucksweise und die Art meiner Mutter als ruppig und beleidigend angesehen werden, doch war es die schönste und liebevollste Zuneigung, die sich ein Kind von seiner Mutter nur wünschen konnte.
Gemächlich streckte ich mich und gähnte, bevor ich mich grummelnd ins anliegende Bad begab. Meine Mutter war eine große Frau mit ihren 1,81 Metern, die durch Kabarett ihr Geld verdiente. Sie trat oft in anderen Ortschaften auf und reiste kontinuierlich durch die Region. In meiner Jugend hatte sie mich oft mitgenommen. In unserem Land modelte sie als eine der größten Frauen für diverse Label, die ihre Individualität mit dunklen und militärischen Outfits förderten.
Als ich in das lichtdurchflutete Bad trat, das mit allerlei grauem Marmor und Spiegeln ausgestattet war, bemerkte ich, dass ich einen Fehler bei der Farbauswahl gemacht hatte – es strahlte mir entgegen und schmerzte in meinen Augen. Als ich zuletzt das Bad eingerichtet hatte, war ich zwölf gewesen und hatte eine Schwäche für neonfarbene Accessoires, die durch die großen Spiegeln mächtig wirkten. Dennoch war ich um die riesige Badewanne froh. Es gab abends nichts, was mehr entspannte.
Summend streifte ich mir zwei schwarze Strümpfe über. Den einen zog ich bis über die Wade und den zweiten bis zu dem Knie. Darauf trug ich einen hellblauen karierten Rock, einen schwarzen Gürtel, der mit silbernen Nieten und einer silbernen Kette versehen war. Für einen Augenblick blinzelte ich verwirrt und suchte panisch nach meinem Oberteil. Während ich im Bad wie ein aufgescheuchtes Huhn wütete, spürte ich eine unerträgliche Hitze in mir aufsteigen. Grummelnd blieb ich stehen und atmete tief ein. Aus dem Blickwinkel erhaschte ich ein schwarzes trägerloses Top. Achtlos griff ich danach und zog es mir über. Heute entschied ich mich für eine karierte Bluse, die meine Mutter mir gebügelt hingelegt hatte. Meine hellblau glänzenden Boots perfektionierten das Outfit.
Nachfolgend wusch ich mir das Gesicht und kämmte mir mein kastanienrotes, gewelltes Haar, das mit blonden Strähnen besetzt war. Ich suchte den Mittelscheitel und steckte einige Strähnen, mit einer Seerose als Haarklammer, hoch. Vorne ließ ich zwei lange Strähnen raushängen, die mir bis zur Taille gingen.
In Windeseile zog ich mich um und streckte mich herzlich. Doch rückblickend betrachtet, stand meine Sorglosigkeit mit den rückblickendem Traum im Zwiespalt. Nichtsahnend summte ich leise vor mir hin. Schwarze Schatten fingen mich ein. Eine grinsende, hässliche Fratze spiegelte sich im Wandspiegel. Pupillenlose Augen stierten mich begierig an. Das Blut gefror mir in den Adern. Es beleckte seine spitzen Zähne. Mit einem spitzen Schrei schreckte ich auf.
Zitternd hielt ich mich am Waschbecken fest. Meine Kehle schnürte sich zu. Womöglich schlief ich noch. Mit diesem Gedanken sah ich erneut in den Spiegel. Dort erblickte ich lediglich meine rotunterlaufenen schwarzbraunen Augen. Als ich keine andere Person erkannte, schaute ich um mich und stellte erleichternd fest, dass es lediglich in meiner Einbildung vorkam.
Ächzend und stöhnend begab ich mich in mein buntes Schlafzimmer, um nach meiner Tasche zu greifen - die jedoch nirgends auffindbar war. Verwirrt blickte ich um mich, hörte meine Mutter erneut nach mir rufen. Seufzend fuhr ich nochmal um mich. Mein kleines Gemach war minimalistisch und modern gehalten. Dennoch erkannte ich die Unordnung an Stellen wieder, an denen ich gewütet hatte. Seufzend schloss ich die verschnörkelte Tür hinter mir und lief eine schmale Wendeltreppe runter. Diese führte mich direkt in den offenen Wohn- und Essbereich, der durch die vielen Sonnenstrahlen glitzerte. Meine Mutter liebte glänzende Objekte. Sie erinnerte mich stets an eine Elster. Die Dekorationen im Haus erschienen mir manchmal kitschig. Ein Geruch von aufgebrühtem Tee trat in meine Nase. Unbewusst sog ich ihn tief ein und entspannte mich abrupt.
„Araxa, denke bitte daran deinen Wohnungsschlüssel mitzunehmen. Wir möchten doch beide nicht, dass ein gewisser junger Wildfang wieder wie ein Streuner vor der Eingangstür nächtigt.“
Meine Mutter hatte eine faszinierende Art sich auszudrücken. Ihre Redegewandtheit war unbeschreiblich. Wenn ich es umschreiben müsste, würde ich glatt sagen, dass ihr nie die sprachlichen Mittel ausgingen. Jeder Deutschlehrer der Welt wäre stolz und gleichzeitig frustriert gewesen, sie im Unterricht sitzen zu haben.
Man könnte meinen, dass sie, gerade wegen den vielen Beschimpfungen, einfache Ausdrücke bevorzugte. Doch sobald eine Person ein Wort falsch verwendete, konnte sie zur Furie werden. An ihr war ein furchterregender Lehrer vorbeigezogen – was für die nächste Generation ein Segen und ein Fluch zugleich war, wenn man bedachte in welchen Umständen sie heranwuchsen.
Im schmalen, dunklen Flur griff ich nach meiner Tasche und meinen Schlüsseln, bevor ich meiner Mutter stumm einen Kuss auf die Wange hauchte und zur großen, hölzernen Eichentür stolperte.
Grinsend winkte sie mir zu, ehe ich bereits von meinen Freunden abgefangen wurde.
„Wurde ja auch Zeit!“, meckerte meine beste Freundin Banya Fjan, die ihre Hände in die Hüften gestemmt hatte. Ihre Wangen waren aufgeplustert. Sie war bereits am frühen Morgen voller Tatendrang. Ihre dunkelblauen Augen stierten mich finster an.
„Da sie da ist, sollten wir uns endlich beeilen“, klaffte Zäin nervös, der es hasste unpünktlich zu erscheinen. Er war ein schlaksiger Mann, der es bevorzugte, figurenbetonte Kleidung anzuziehen und sein feuerrotes Haar zu einem Zopf zu tragen.
„Wann lernst du es endlich?!“, schrie Banya weiter und ballte ihre Hände zu Fäusten. Dadurch waren die Buchstaben, die auf jeden einzelnen Fingerknöchel abgebildet waren und zusammen das Wort Frei ergaben, gut sichtbar. Grummelnd richtete sie ihr gewelltes, blauschwarzes Haar. Auf der linken Kopfseite war ein Raster in das Haar reinrasiert. Die Spitzen waren türkis.
„Spar dir den Atem und lauf!“, meinte Zanara harsch, die auf Zäin deutete, der bereits über alle Berge war. Banya seufzte schwer, während Zanara abwehrend ihre Hände vor sich hielt. Unweigerlich erkannte eine fremde Person, das Zäin und Zanara Zwillinge waren - blaugrüne Augen, blasser Teint, rote Mähne.
Haji, ein schwarzhaariger großer Mann, winkte mir zu und ging stumm neben mir her, während Gwan mir einen freundschaftlichen Klaps gab und uns breit grinsend über die neusten Promi-Skandale aufklärte. Sein platinblondes Haar war hinten kurz und vorne lang. Er wurde wegen seiner weiblichen Gesichtszüge und seinem stark geschminktem Gesicht oft mit einer Frau verwechselt. Dabei war es lediglich sein Stil, der wirklich atemberaubend an ihm aussah.
Während er sich direkt bei mir einhakte und mit uns Seite an Seite zur Schule lief, hing ich noch leicht in meinen eigenen Gedanken fest.
Der Traum ging mir eine Weile nach, doch ich vergaß ihn kurz darauf und der Alltag brach erneut über mich herein. Zu dieser Zeit wusste ich nicht, wie kostbar und kurzweilig die Zeit mit meinen Freunden sein sollte.
In einer kleinen Stadt namens Zenzo, nördlich von der Hauptstadt Kesserlan, einer Stadt, in der bereits der Krieg auf dem Vormarsch war und sich das Schicksal in weniger als zwei Jahren erfüllen würde, lebten meine Familie und ich ein relativ ruhiges Dorfleben. Als einer der wenigen, die die magischen Wesen zu jenem Zeitpunkt wahrnehmen konnte, spürte ich die Schnüre, die sich immer enger um das Dorf schlossen.
Eine Woche verstrich im Bruchteil eines Wimpernschlages, als ich in der Dunkelheit eine Stimme durch meinen Kopf rauschen hörte. Sie klang finster, als sie meinen Namen wiedergab. Es hallte und rauschte in der weiten Finsternis, im Abgrund meiner selbst gefangen, sprach es einen immer wiederkehrenden Satz aus, der mich von den innersten Fesseln befreite und nach meinem wahren Sein rief.
Die Adern pulsierten, während die Wärme mich umwarb und es sich zu einer lodernden Hitze ausbreitete. Obgleich die Worte etwas tief in mir auslösten, verstand ich sie nicht. Sie waren wie Messer, die mich durchbohrten und gleichzeitig nicht an mich ran traten.
Das gesprochene Wort konnte ich keiner Sprache zuordnen, die mir geläufig war und doch kam mir der Klang und die Satzstruktur vertraut vor, als ob ich die gleichen Laute schon einmal vernommen hätte. Die Aussprache klang rau und hart. Jede zweite Silbe, die einen Vokal in sich trug, wurde überbetont.
Die männliche Stimme dröhnte immer lauter werdend durch mein Ohr. nachtraglich erklang die gleiche Phrase abermals.
„Ruinae Trinitas, Agastus, orie sordass.”
Mein Herz raste aufgeregt gegen meinen Brustkorb, während sich die Szenerie der absoluten Dunkelheit langsam veränderte.
Widerhallende Schritte ertönten in einer großen Halle aus Steinsäulen und einem riesigen Thron, der von Artefakten und einigen satanistischen Symbolen eingeschlossen war. Heißer Dampf schoss aus der Lava, die sich in Form eines Hexagramms ausbreitete. Der Boden war rundherum mit heißem Gestein bedeckt. Inmitten dieses Hexagramms stand eine schwarzhaarige Frau mit schwarzroten Hörnern und riesigen Schwingen. Sie glich einer düsteren Märchengestalt, vor denen uns die Autoren aus Kinderbüchern warnten. Doch empfand ich keine Furcht vor ihr. Ein Teil von mir wurde bei dem Anblick nostalgisch und klammerte sich daran fest.
Ihr Haar war mit Stäben und Broschen zu zwei Zöpfen hochgesteckt. Goldene, geflochtene und geschnürte Bänder hingen bis zu ihren Schultern herunter. Ihre schwarzen Augen blickten tonlos auf mich herab. Mit ihrer Erhabenheit wirkte sie wie eine Königin, die mich allein mit ihrer Anwesenheit erniedrigte. Schwarzrote Markierungen blichen ihre goldene Haut aus. Aus ihren Händen ragten gigantische Klingen, die einen drohten aufzuspießen. Mein Herz setzte aus. Die Sicht verschwamm. Es erinnerte mich an jene Gestalt, die mich in meinem letzten Traum heimsuchte. Es war, als wenn ein Todesengel mein Schicksal besiegelte. Mein Atem wurde schwer, während ich weiter in diesem endlos erscheinendem Szenario gefangen war.
Ein goldener Umhang verdeckte ihre weiblichen Rundungen. Als sie ihre Schwingen ausbreitete und in die Höhe flog, flatterte der Umhang. Eine fliederfarbene Unterbrust-Corsage blitzte darunter auf. An diesem war ein goldenes Tuch befestigt, dass bis zur Mitte des linken Oberschenkels hing und dort mit einer schwarzen Brosche befestigt wurde. Die fremde Frau trug violette Strumpfhalter mit einer netzartigen Strumpfhose und schwarze Lackschuhe mit einem hohen Absatz, an denen umgekehrte Kreuze hingen. Ihre Kleidung war wie aus einer anderen Welt. Es faszinierte mich auf einer merkwürdigen Art und Weise, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstand.
Ihre Augen starrten wie gebannt auf mich, als ihre biestartigen Gesichtszüge ein erhabenes Grinsen formten. Bevor ich die Charakteristik dieses Wesens begreifen konnte, wendete sich die Frau ab.
„Erste“, dröhnte die Stimme erneut. Doch dieses Mal rauschte es verzerrt und schmerzhaft durch meinen Kopf. Ein wildes Durcheinander war zu vernehmen. Das Adrenalin stieß durch meine Adern. Mein Körper kribbelte und brannte. Die Schritte und Stimmen wurden lauter. Ich konnte die Geräusche nicht mehr voneinander unterscheiden. Die Lava leuchtete rot auf. In binnen eines Augenblicks krümmte sich die fremde Kreatur vor Schmerzen. Sie fiel auf den Boden und zitterte am ganzen Leib. Blitzartig pulsierten meine Adern. Obwohl ich vorpreschen wollte, um ihr zu helfen, stand ich weiter reglos da. Ein schriller Schrei ertönte, der durch Mark und Knochen ging. Ein heftiger, kurzer Schmerz ließ mich erwachen.
Schwerfällig öffnete ich meine Augen und registrierte den älteren Herrn vor mir.
"Frau Shanil, haben Sie auch schön geträumt in meinem Unterricht?!"
Nach ein paar Augenblicken erkannte ich ihn als meinen Lehrer wieder, der gebeugt an meinem Tisch stand. Seine grimmige Miene ließ mich hart schlucken. Der Schmerz fuhr weiterhin in den Kopf. Erst dann bemerkte ich wie die Klasse lachte. Herr Sudakun war bekannt für seine Schimpftiraden. Womöglich ging der Schmerz von einem Schlag auf den Hinterkopf aus. Erst dann verstand ich, dass ich eingeschlafen war.Nickend stimmte ich ihm zu.
Im Unterricht hatte ich ständig Konzentrationsprobleme gehabt. Dadurch bin ich bei unserem Klassenlehrer des Öfteren negativ aufgefallen. Doch war es das erste Mal, dass ich in der Stunde eingenickt war. Seit einer Woche konnte ich kein Auge zubekommen. Die schattenhaften Monster verfolgten mich stets. Auch jetzt verschonten sie mich nicht – nicht einmal in der Schule. Das frustrierte mich zutiefst.
„Sie sollten besser aufpassen und-“
„Herr Sudakun, entschuldigen Sie für die Unterbrechung, aber Araxa war bereits mit den Aufgaben fertig. Dann ist das doch kein Problem, oder?“ Haji unterbrach forsch den Lehrer. Stille kehrte in der Klasse ein. Die Atmung meiner Mitschüler wurde leiser und bedachter. Die Spannung im kleinen Klassenraum ließ die Luft zerschneiden. Niemand traute sich Herr Sudakun das Wort zu unterbinden. Er war für seine strenge Ader gefürchtet. Doch der Musterschüler Haji, der direkt neben mir saß, setzte sich Hier und Jetzt für mich ein und riskierte mit diesem Verhalten eine Strafe zu erhalten.
„Wie?“, Herr Sudakun schielte verdutzt auf die Aufgaben und schob irritiert seine Brille hoch, „sie sind sogar richtig. Na gut, für das eine Mal werde ich ein Auge zudrücken, aber erlauben Sie sich das nicht nochmal.“ Damit wendete er sich ab und schlug das zerknitterte Buch in seiner Hand auf. Diese Reaktion führte dazu, dass alle den Klassenbesten verwundert anstierten. Dieser ignorierte wiederum die brennenden Blicke seiner Mitschüler. Da wir in der ersten Reihe saßen, konnte er sich perfekt von ihnen abschirmen. Er saß direkt an der Fensterfront und beobachtete jede Bewegung unseres Lehrers.
In mir breitete sich ein wohlig warmes Gefühl aus. Als ich mir die Aufgaben ansah, musste ich breit grinsen. Niemals wäre ich im Stande gewesen komplizierte Algorithmen innerhalb von wenigen Minuten perfekt aufzuschreiben und zu lösen. Doch Haji war dazu in der Lage.
„Danke dir, Haji", flüsterte ich vorsichtig und blätterte nach der richtigen Seite in dem Aufgabenbuch. Der Staub, den ich dadurch aufwirbelte, ließ mich aufhusten. Aus dem Augenwinkel erkannte ich eine Schamesröte in seinem Gesicht.
„Ich weiß nicht was du meinst.“ Er winkte ab und verzog keine Miene, bevor er sich wieder auf seine Aufgaben konzentrierte. Meine Mundwinkel zuckten unweigerlich hoch. Er mochte es nicht, wenn Menschen ihm gegenüber Dankbarkeit empfanden oder dachten, sie würden in seiner Schuld stehen. Zumal er nicht gern seine eigenen Gefühlen zeigte und es sich auch selbst oft nicht zugestand.
Kurz ließ ich meinen Blick in die Ferne schweifen. Das Klassenzimmer war rustikal und eng gehalten. Wir saßen auf vermoderten Stühle, die jederzeit durchbrechen konnten. Doch das Risiko gingen wir ein, um uns Wissen anzueignen. Die Kreide des Lehrers quietschte, als diese die grüne Tafel berührte. Es erinnerte mich daran, dass ich aufpassen sollte. Herr Sudakun hatte schließlich eine besondere Abneigung gegen mich entwickelt. Das vermochte einerseits an meinen mittelmäßigen Noten und andererseits an meiner Mutter zu liegen. Ich war das Kind einer Berühmtheit. Viele blickten mit gemischten Gefühlen auf ein Kind, das nichts von dem Talent ihrer Eltern geerbt hatte. Darum hatte ich nur wenige Freunde, die ich sehr schätzte.
Als die Stunde endlich endete, streckte ich mich herzlich, bevor ich mit Haji den staubigen Raum verließ. Kurz blieb ich stehen und holte tief Luft. Selbst die Gänge waren stickig. Es verwunderte mich nicht, dass meine Konzentration bereits nach zwei Stunden rapide abstürzte. Doch die kleine Dorfschule hatte nicht die nötigen Mitteln, um eine Restaurierung vorzunehmen oder geschweige die Räume besser auszustatten. Wir waren eine Gesamtschule, die den Pausenhof mit Grundschülern teilte. Im Gegensatz zu anderen Dörfern mussten wir zumindest unsere Schule nicht gänzlich schließen. Darum genossen wir jede Sekunde hier, selbst wenn das morsche Gebäude einer baufälligen Ruine glich.
Vor der Tür warteten bereits unsere Freunde. Gwan hakte sich grinsend bei mir ein. Den Weg bis zum Pausenhof schwärmte meine beste Freundin Banya über ihr Idol Ronog. Er war der Sänger einer Rockband namens 4tesSchlammgrab. Wegen seines Aussehens war er bei Frauen und Mädchen gleichermaßen beliebt. Ich betrachtete diese Schwärmerei als oberflächlich. Es konnte dem Sänger oder der Band nie gerecht werden, jemanden nur nach seinem Äußeren und seiner Performance zu beurteilen. Es lag immerhin einen riesigen Unterschied zwischen Realität und Starimage. Ihr schwarzblaues Haar wehte im Wind. Auch heute trug sie ein Fanshirt der Band.
Nach ein paar kleinen Staus durch die engen Flure und Treppenaufgänge konnten wir endlich die frische Luft einatmen. Den Augenblick genoss ich sehr. Zäin stürzte sich bereits auf den Pausenhof, um unseren geliebten Platz zu schützen. Seine Energie brachte mich zum Schmunzeln. Seine Schwester schlurfte stattdessen lustlos hinter uns her und hatte bereits ihre Konsole hervor gekramt. Haji polierte gähnend seine Brille und lief uns stumm hinterher.
Der Pausenhof war klein und übersichtlich gehalten. Jeder hatte seine Grüppchen. Es gab nicht viele Spielemöglichkeiten, noch große Sitzgelegenheiten. Darum wollte Zäin tagtäglich pünktlich in die Pause. Nachdem wir an mehreren Mitschülern vorbeiliefen, kamen wir endlich an einer großen Weide vorbei.
Das war unser Lieblingsplatz. Hier setzten sich Banya und Gwan auf eine dunkle Bank hin. Gwan war ein riesiger Fan von der Musik der Rockband, nicht nur weil sein ältester Bruder selbst ein Mitglied war und als Drummer den Songs seine gewisse Dynamik verschaffte.
Zanara verdrehte genervt die Augen, als Banya freudig aufkreischte. Sie setzte sich im Schneidersitz auf dem Boden und zockte wie üblich mit ihrem Bruder ein Kampfspiel. Obwohl Zäin ständig verlor, lachten sie ausgeglichen. Zanara aß dabei Fingerfood und benutzte lediglich einen Joystick zum Kämpfen. Dennoch hatte er keine Chance. Das hatte womöglich niemand.
„Eigentlich verehre ich ihn als mein Vorbild – und das nicht nur, weil er mein Cousin ist. Auch ich muss zugeben, dass er schon heiß ist.“
Gwan und Banya befanden sich auf derselben Wellenlänge, wenn es um Männer- und Musikgeschmack ging. Bedauerlicherweise sprachen sie fast täglich von dieser einen Band. Dadurch konnten wir die Gesprächsfetzen voraussagen, als wäre es ein einstudierter Text.
Haji und ich saßen auf der Mauer, über den Bänken, direkt unter einer Weide, die genug Schatten spendete. Wir tauschten wortlos unser Essen aus. Während er Obst liebte, bevorzugte ich sein selbstzubereitetes Gemüse-Sushi. Wir beide redeten nicht viel miteinander und verstanden uns dennoch gut. Im Gegensatz zu Gwan und Banya mochten wir die Stille. In der Nähe der beiden Chaoten konnten wir uns diese nur erträumen.
Die Pause verlief wie gewohnt ruhig. Durch die frische Luft erholte sich mein Bewusstsein. Dadurch traten Erinnerungen an den seltsamen Traum in den Vordergrund. Doch sobald die Stunden anfingen, begriff ich die wahre Hölle, in der ich mich befand. Sie nannte sich Realität.
Ich war eine mittelmäßige Schülerin, die weder Ambitionen noch Ziele aufwies. Dennoch hatte ich mich stets bemüht, gute Noten zu erzielen. Dies funktionierte auch, bis ich die heutige Klausur mit einem ungenügendem Ergebnis zurückbekam. Niedergeschlagen machte ich mich auf dem Heimweg, während mich meine Freunde versuchten aufzuheitern.
„Das war eine Note, das reißt du wieder raus.“
Natürlich war es lediglich eine Beurteilung von vielen, doch die Aussage baute mich gewiss nicht auf. Mein Versagen verwandelte sich in binnen von Sekunden in Verzweiflung und Hilflosigkeit. Auch wenn ich für die anderen lachen wollte, schaffte ich es nicht, mir ein Lächeln aufzuzwingen.
Plötzlich fuhr etwas in mein Bewusstsein. Abrupt blieb ich stehen. Eine klirrende Kälte umschloss mich. Es fing mich gänzlich ein und erinnerte mich an jenem Traum. Die Form der seltsamen Kreatur raste in meine Gedanken, als formte die Silhouette ein wahres Ungetüm. Die Situation entsprach der Lebensform, die mir die Hand ausgestreckt hatte. Als ich mich keuchend umdrehte, hörte ich in meinem Innern den wiederkehrenden Satz. Mit zitternden Händen blickte ich in die Leere. Ich schluckte hart. Mein Herz pochte wild gegen den Brustkorb. Das Rauschen musste vom Wind, das durch die Bäume und verlassenen Winkel des Dorfes fegte, gekommen sein. Wahrscheinlich hatte ich mir die Anwesenheit nur eingebildet. Schließlich war es lediglich ein Traum.
„Was ist los?“, raunte Haji mir besorgt zu.
Als ich meinen Kopf neigte, erkannte ich sein fragendes Gesicht, weshalb ich meinen Kopf schüttelte. Mein paranoides Wesen wurde von Tag zu Tag stärker. Aber ein Funken in mir vertraute meiner Intuition. Das besorgte mich.
„Wir gehen auch ohne euch weiter!“, schrie Zäin uns entgegen. Immer hatte er es eilig. Womöglich wurde heute eine Folge seiner Animeserie ausgestrahlt. Haji seufzte leise und beobachtete mich tonlos. Nervös kauerte ich auf meine Unterlippe und zupfte an meiner Kleidung rum. Etwas war dagewesen, ich konnte es mir nicht eingebildet haben. Doch was geschah, wenn ich doch langsam den Verstand verlor?
Haji bemerkte meine stumme Angst, die sich wie Schauder über den Rücken entfalteten und spinnenartig über meinen ganzen Körper krochen, bis sie sich in die Organe fraßen und mir ein tiefes Unwohlsein bescherten, dass sich in meinem Herzen letztendlich verankerte.
Er streckte mir seine Hand aus und legte seinen Kopf schief. Nickend nahm ich diese an. Unsere Hände verschränkten sich, während wir den anderen stumm folgten.
Der Gedanke daran, dass mich etwas verfolgte, hielt auch weiter an. Doch in der Gegenwart meiner Freunde fühlte ich mich sicher. Ich wusste, dass mir nichts geschehen konnte, wenn wir zusammenhielten. Niemals.
Doch ich musste feststellen, dass diese Annahme weithergeholt war. Meine Naivität traf bald auf die harte Realität, die alles verändern sollte.
"Die Szene war so episch", schwärmte Zäin breit grinsend. Zäin bewarf ihn kichernd mit einem großen Kissen.
"Mein geliebter Zäin ist verliebt in einen Anime", zog sie ihn auf, "aber der Humor war wirklich gut."
"Sogar meine Schwester kann dieser Serie nicht widerstehen."
Zanara und Zäin redeten und lachten, bevor sie friedlich aneinander gekuschelt einschliefen. Verwundert über das Szenario vor mir, vernahm ich die knisternde Kälte, die in jede Ecke des verwinkelten Raumes reichte. Womöglich handelte es sich hierbei um einen Traum. Ansonsten müsste ich mich zu einem Stalker erklären. Nein, so war ich nicht. Natürlich konnte ich meine Freunde sehr umsorgen. Doch ich würde mich ihnen niemals aufdrängen. Es konnte sich hierbei lediglich um eine Illusion handeln. Meine Adern pulsierten. Der Gedanke ließ mich hart schlucken.
Langsam streckte ich die Hand aus und bewegte meine Finger. Im Gegensatz zur letzten Vision war ich aktiv daran beteiligt. Doch das war nicht der einzige Unterschied. Das Schlafzimmer der Zwillinge war eine vertraute Umgebung. Zanara besaß eine riesige Zockerecke mit hochwertiger Technik und einem großen Eventplan, der über das halbe Zimmer hing. Zäin hatte seine üppige Figurenansammlung in verschiedenen Vitrinen untergebracht. Überall hingen Bilder zu unterschiedlichen fiktiven Charakteren aus Serien und Spielen. Auf eine farbliche Abstimmung hatten sie dabei nicht geachtet. Sie schliefen seelenruhig in einem großen Himmelsbett. Es war ein friedliches Bild, das mich zum Lächeln brachte. Dennoch fühlte ich mich Fehl am Platz. Das sollte ich nicht sehen. Mein Brustkorb verkrampfte sich und zog sich zusammen. Nach Luft ringend erkannte ich meinen eigenen Atem. Die Fingerkuppen liefen blau an. Meine Intuition warnte mich abrupt.
Lauter werdende Geräusche nahmen mich gänzlich ein. Ich sprang auf und blickte mit ballenden Fäusten um mich.
"Das ist nur ein Traum", sagte ich mir selbst. Doch die Schauder breiteten sich weiter über den bibbernden Körper aus. Kurz darauf nahm ich eine schwarze, riesige Gestalt wahr und stockte verängstigt. Wie gelähmt starrte ich auf die dreiköpfige Spinne, die mich einst in der Vergangenheit bereits heimgesucht hatte. Sie bewegte sich durch den Raum, als wäre sie schon einmal hier gewesen. Doch das konnte nicht der Wahrheit entsprechen. Der Anblick der scheußlichen Gestalt hatte mich gefangen. Obwohl ich meine Freunde warnen wollte, wusste ich nicht, ob die Stille sicherer war. Für meine Freunde und mich. Ich wollte sie nicht durch einen kleinen Fehler in Gefahr bringen. Das Herz klopfte laut gegen meinen Brustkorb. Der Ton stieg bis in den brummenden Schädel, den ich mir mit grimmiger Miene hielt. Durch meine unbewusste Bewegung schluckte ich hart. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich das knirschende Geschöpf, das mich gänzlich ignorierte. Es blieb stehen und erblickte die schlafenden Zwillinge. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Mit einem Mal konnte ich meine Furcht nicht mehr unterdrücken. Ich schrie laut auf und erhoffte mir, dadurch die Aufmerksamkeit der Spinne zu erhaschen. Doch es regte sich nicht. Kurz holte ich Luft und brüllte laut.
„Wacht auf, ihr müsst aufwachen!“ Mehrfach schrie ich ihnen diesen Satz entgegen. Zanara bewegte sich und mit ihr regte sich ein mikroskopischer Hoffnungsschimmer in mir.
"Du verpasst dein Event, Zanara!", rief ich ihnen weiter zu, "Zäin, deine Animeserie beginnt gleich!"
Zäin streckte sich gähnend. Seine Augen waren halbgeöffnet. Langsam setzte sich mein Körper wieder in Bewegung. Somit lief ich auf sie zu, während ich weiter meine Stimme erhob, um sie aus ihrem tiefen Schlaf zu holen. Mein Puls stieg in die Höhe. Zwischen mir und den Zwillingen stand die riesige Spinne. Ihre haarigen Beine waren fast ein Meter lang. Die Tatsache, dass sie mich in binnen eines Augenblickes zerreißen könnte, brachten meine Pläne kräftig ins Wanken. Die Entscheidungsfreudigkeit nahm rapide ab. Ich wartete auf die Reaktion des Ungetüms. Doch es regte sich nicht, sah weiterhin nur zu den Zwillingen.
Zanara legte sich auf die andere Seite und zog sich ihre Decke über den Kopf. Zäin suchte brummend nach seiner Schwester und drehte sich mit um. Er zog sie nah an sich und schlief weiter. Die Weckrufe hatten nichts gebracht. Also musste ich aktiv tätig werden. Für den Schutz meiner Freunde lief ich mitten durch die Beine der großen Spinne durch. In meinem Gehirn ratterte es. Doch ich ließ meine Emotionen beiseite. Es regte sich nicht. Dadurch erreichte ich in Windeseile das grüne Himmelsbett. Auch hier zögerte ich nicht. Jede Sekunde könnte die mächtige Kreatur aktiv werden.
Panisch griff ich nach den Zwillingen. Ich wollte sie rütteln. Doch dann stockte ich atemlos. Meine Hand glitt direkt durch die Decke durch. Mehrfach blinzelte ich, bevor ich meine Hand auf Zäins Wangen legte. Allerdings griff ich durch ihn hindurch. Mein Magen drehte sich um. Zitternd näherte sich die Leere um mich, die sich wie Fäden eines Spinnennetzes um mich schlossen. Nein, das konnte nicht sein. Eine Art der Hilflosigkeit und eine Spur von Verzweiflung konnte ich mir nicht leisten, um sie zu beschützen. Immer wieder griff ich nach ihnen oder sprang auf das Bett. Die Matratze bewegte sich kein Stück, obgleich ich mich darauf bewegte.
"Zanara", schrie ich weiter, "Zäin!" Tränen stiegen mir in die Augen. Nässe breitete sich über das ganze Gesicht aus. Mein Körper fühlte sich schwer an. Ich starrte auf meine Hand, die sie nicht erreichte. Glich der Traum einer Halluzination? Wenn es der einzige Weg war, um meine Freunde zu schützen, musste ich jetzt erwachen. Durch einen Schlag auf dem Hinterkopf hatte mich Herr Sudakun geweckt. Möglicherweise konnte ich durch Schmerzen wach werden. Es war meine einzige Möglichkeit den Spuk zu beenden. Mehrmals zwickte ich mich. Ein leichter Schmerz durchströmte mich. Doch ich wachte nicht auf.
Panisch schlug ich mir mehrmals ins Gesicht. Meine Wangen brannten. Auch das half nichts.
Ich realisierte einen schwarzen Schatten hinter mir. Als ich mich umdrehte, schluckte ich hart. Das Herz blieb stehen. Kalter Schweiß tropfte von meiner Stirn. Die Spinne hatte sich vor uns aufgebaut. Nach Luft ringend schrie und keuchte ich. Pure Verzweiflung stand in meinem Gesicht geschrieben, als ich sie auf jede erdenkliche Weise versuchte zu wecken.
Keuchend erkannte ich, dass mir keine andere Wahl blieb, als die Spinne von ihnen abzulenken. Bisher hatte sie mich vollständig ignoriert. Das musste ich ändern. Somit sprang ich todesmutig auf den Koloss zu. Ich drohte von den riesigen Fängen aufgespießt zu werden. Innerlich bereitete ich mich auf die Verletzung vor. Obgleich meine Aktion dumm oder naiv war, so stellte ich die Sicherheit meiner Freunde an erster Stelle. Aber die Realität ließ mich stocken. Schmerzverzerrt landete ich auf dem orangenem Teppich. Erneut stierte ich auf meine Hände. Sofort sprang ich auf und griff nach dem Spinnenbein. Es schritt durch mich hindurch – direkt auf die Zwillinge zu. Es war, als wenn meine Existenz nicht in der Welt der Träume real war. Dadurch kam in mir die Frage auf, ob das Umfeld nur einer Illusion glich, die sich gänzlich von der Realität unterschied. Schnell verwarf ich diese Theorie. Es war nichtig. Ich durfte meine Freunde nicht in Gefahr bringen. Dabei tangierte es nicht, welche Welt der Realität entsprach.
Verzweifelt griff ich nach dem riesigen Monster, jedoch erreichte ich es nie. Es schien undenkbar. Immer wieder glitt ich durch ihm durch. Wütend bewarf ich es mit meiner Strickjacke und einem Haargummi, doch es fiel belanglos durch die Spinne hindurch.
Eine aufklaffende Schlucht aus Angst und Hilflosigkeit machte sich in mir breit. Ein letzter Kraftschub ließ mich loslaufen. Grölend warf ich mich zwischen der Spinne und den Zwillingen.
Bevor ich mir etwas anderes einfallen lassen konnte, fuhr es bereits seine schwertartigen Klingen aus und rammte es in die Körper der Zwillinge – direkt in ihr Herz. Ein spitzer Schrei entfuhr meiner Kehle, ehe ich kraftlos auf die schlotternden Knie sackte. Mein Herz setzte im Augenblick der Wahrheit aus. Ich konnte sie nicht vor den Klauen des Monstrums bewahren. Kein Ton entfleuchte ihren Mündern. Sie rührten sich nicht, blieben wie Gestein reglos liegen.
Heiße Tränen liefen meinen Wangen entlang, während ich verschwommen erkannte, dass es seine Klingen wieder einfuhr und durch mich hindurchlief – direkt aus dem Schlafzimmer. Mit ihm verschwand die Kälte, die jedoch mein Herz eingefroren hatte. Schmerzen durchfuhren mich, als ich hochstürmte und nach meinen Freunden sah. Sie lagen friedlich da – als ob niemand ihnen etwas angetan hätte. Zitternd sah ich auf meine Hand und legte sie auf Zanaras Wange. Meine Augen weiteten sich vor Schreck. Plötzlich konnte ich sie berühren. Ihre Haut war noch warm. Ängstlich horchte ich ihren Atem und fühlte bei beiden den Puls. Sie lebten. Als sie atmeten, beruhigte ich mich allmählich. Meine Hände umschlossen ihre Handgelenke. Erneut bahnten sich heiße Tränen einen Weg zu meinem Kinn. Sie leuchteten auf und verschwanden im Nichts.
„Es tut mir so leid", sagte ich kraftlos und strich Zäin eine Strähne aus dem Gesicht. Zum ersten Mal empfand ich Reue. Doch verstand ich weiterhin nicht die Bedeutung von Realität und Traum. In dem Augenblick waren sie mir nah, sodass ich glaubte, dass sie gleich aufwachten, wenn ich einen weiteren Laut von mir gab. Aus einem mir unerklärlichen Grund genoss ich die Zeit bei ihnen - mehr als sonst. Es war, als wenn meine Seele zersplitterte. Die Zeit mit meinen Freunden war mir kostbar. Mein ganzer Körper kribbelte urplötzlich. Es war, als wenn eine andere Person meinen Körper kontrollierte. Ich sprang wildgeworden aus dem Bett. Meine Beine knickten weg. Ich stürzte zu Boden. Dieser gab unter mir nach. Es zog mich in ein tiefes Loch, in der die ewige Dunkelheit wütete.
„Erste“, dröhnte es, bevor eine riesige knochige Hand nach mir griff.
Keuchend schreckte ich hoch und fand mich schweißgebadet in meinem Bett wieder. Die Träume wurden mit jedem Tag realistischer.
Mein Körper zitterte, während ich schluchzend um mich fasste und mich festhielt.
Nach dieser Nacht, in der ich kein Auge mehr zugetan hatte, begrüßte ich meine Freunde stürmischer als sonst. Erleichtert empfing ich Zäin und Zanara, die gesund und munter vor mir standen. Grundlos fiel ich ihnen in die Arme.
Die Anwesenden betrachteten es mit einem argwöhnischen Blick, als ich den ganzen Weg über stets nach deren Gesundheitsempfinden fragte. Sie waren sichtlich verwirrt, doch sie beließen es auf sich beruhen.
„Mir geht es besser als je zuvor!“, strotzte Zäin energisch und summte lächelnd ein Lied einer Animeserie. Zanara stimmte mit und beruhigte mich mit einem Schulterklopfen, bevor wir in unserem Alltag zurückkehrten.
Innerlich hoffte ich, dass es nur ein Traum war. Ich wollte es mir regelrecht einhämmern, doch etwas sagte mir, dass dem nicht so war.
Zu jenem Zeitpunkt verstand ich nicht, was genau mit meinen Freunden geschah, noch was die Spinne mit ihnen gemacht hatte. Wenn ich an jenem Tag das nötige Wissen über die verschiedenen Kreaturen gesammelt hätte, möglicherweise hätte ich sie vor ihrem Schicksal bewahren können.
Erneut spürte ich die Präsenz, die mich beobachtete. Schnell blickte ich um mich, doch auch dieses Mal konnte ich nichts Verdächtiges um uns herum entdecken. Eine starke Brise wehte an mir vorbei, die meine Angst bekräftigte.
Immer und immer wieder fühlte ich etwas, dass mich verfolgte. Mitnichten wollte ich es meinen Freunden erzählen. Womöglich war das der größte Fehler, den ich begangen hatte. Noch heute beklagte mich das Unwissen zu jener Frage: Hätten sie mir zu jenem Zeitpunkt geglaubt, wenn ich ihnen von den Vorfällen berichtet hätte?
An einem Samstagabend saßen meine Eltern mit mir auf einem beigen Ottomanen. Wir hatten uns um einen großen Glastisch verteilt. Darauf waren verschiedene Karten gestapelt. Wir spielten diverse Kartenspiele und vereinten die Regelwerke wie es uns gefiel. Jedes zweite Wochenende verbrachten wir Zeit miteinander und schätzten das Beisammensein. Da meine Eltern hart arbeiteten und oft sehr spät heimkamen, war ich glücklich, dass sie die Familie an erste Stelle setzten. Obwohl ich mich in der Vergangenheit oft einsam gefühlt hatte, verstand ich heutzutage das Prinzip dahinter. Nur so konnten sie mir ein gutes Leben ermöglichen.
Mein Vater hatte kurzrasierte kastanienbraunes Haar, durch das er sich fuhr, wenn er nervös wurde. Er war kein Mann, der seine Emotionen perfekt im Griff hatte, dennoch war er mir oft ein Rätsel. Ein langer goldbestickter Steampunk Mantel zierte seinen Körper und überdeckte seinen Anzug, den er nicht einmal bei einem gemütlichem Abend auszog. Für uns wollte er sich stets schick kleiden, da es eine Seltenheit war, wenn wir zusammen an einem Tisch hockten. Seine Haut war dunkel wie meine, sodass nur meine Mutter aus der Reihe sprang. Des Öfteren wurden wir gefragt, ob sie wirklich meine leibliche Mutter war. Doch dem war so. Daran bestand kein Zweifel.
„Nein, nein – das glaube ich dir nicht!“, rief mein Vater und hielt meine Mutter auf, als diese gerade lachend ihre letzte Karte wegwarf, „du hast deine restlichen Karten bestimmt irgendwo versteckt. So oft wie heute gewinnst du sonst nie.“