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Hanna Stankowski von der Kripo Stuttgart ist nicht gerade begeistert, als sie die Aufklärung eines Unfalls übernehmen muss. Die stellvertretende Leiterin des Dezernats für Tötungsdelikte hat ohnehin schon mehr als genug Arbeit. Ihr Chef Andreas Bialas ist ausgefallen, muss sich von einem leichten Herzinfarkt erholen. Schnell stellt sich heraus, dass der vermeintliche Unfall, der den Tod eines Anlageberaters zur Folge hatte, durch Sabotage verursacht wurde. Schnell ist auch ein Verdächtiger gefunden, denn der junge Mann, der jetzt tot ist, war nicht zimperlich mit seinen Mitarbeitern umgegangen. Doch es passieren weitere Unfälle - auf dieselbe Weise. Hanna Stankowski und ihr Team können keine Verbindung zwischen den Opfern feststellen - bis auf eine: Alle sind in der Finanzbranche tätig, verkaufen Geldanlagen und bewilligen Kredite. Ist da womöglich ein Serientäter unterwegs?
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Seitenzahl: 765
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Birgit Hummler
Birgit Hummler, Jahrgang 1953, ist in Stuttgart aufgewachsen und lebt heute in Breisach am Rhein. Sie hat Sprach- und Literaturwissenschaften (Deutsch und Russisch) sowie Journalistik und Kommunikationswissenschaften studiert. Ihre Laufbahn als Journalistin führte sie bald zu Themen aus der Arbeits- und Wirtschaftswelt, in der es manchmal mörderisch zugeht. Ihr Krimidebüt »Stahlbeton« wurde 2011 mit dem Stuttgarter Krimipreis ausgezeichnet.
1. Auflage 2013
© 2013 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © Das Maddin – iStockphoto.
E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1568-0E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1569-7Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1244-3
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Der Tag hatte beschissen angefangen, und er würde wohl beschissen weitergehen. Solange Sabrina hier gewohnt hatte, war immer etwas zu essen da. Jetzt war Sabrina weg, und der Kühlschrank war leer. Es gab noch nicht einmal ein Ei, das er sich hätte in die Pfanne hauen können. Wütend knallte er die Kühlschranktür zu. Dass die Tussi verduftet war, war nur recht so. Es wurmte ihn aber gewaltig, dass sie es war, die einfach Schluss gemacht hatte. Normalerweise gab er den Mädels den Laufpass. Die Sache hatte ganz schön an seinem Ego gekratzt.
Er warf die Gaggia an. Wenigstens Kaffee gab es noch. In einer Schublade fand er ein paar letzte Kekse, die schon Wasser gezogen hatten. Er hasste es, ohne Frühstück aus dem Haus zu gehen. Aber heute schon überlegen, was man für den nächsten Tag einkaufen musste, kotzte ihn genauso an. Vielleicht würde er sich doch mal eine Haushälterin suchen. Wenn er sich eine leisten konnte. Und das war schon der nächste beschissene Punkt an diesem beschissenen Tag.
Er musste mit Bernhardt reden. So ging das nicht weiter. Schließlich hatte er ein paar finanzielle Verpflichtungen. Was konnte er dafür, dass die Geschäfte einfach nicht mehr liefen wie früher. Die Kunden stellten sich an wie Nonnen in der Peep-Show. Überall sahen sie plötzlich Risiken. Blöde Fragen stellten sie. Und sein Fußvolk, die fünf Pfeifen, die er angeheuert hatte, die waren einfach durch die Bank unfähig.
Er kippte den Kaffee hinunter, kaute lustlos auf den Keksen herum und warf dann den Mantel über. Er trat vors Haus und ging über den externen Treppenabgang in die Tiefgarage. Dort tätschelte er der roten Dodge Viper die Motorhaube, bevor er einstieg. Er musste mit Bernhardt reden. Die nächste Rate für sein Wägelchen stand an, und auf seinem Konto herrschte momentan Leere. Bernhardt musste ihm einen höheren Anteil an den Provisionen zugestehen. Schließlich machte er die Hauptarbeit. Klar würde Bernhardt zetern. Und ihn vielleicht wieder wegen des letzten Urlaubs anmachen. Natürlich war Cabarete nicht gleich um die Ecke und kein ausgesprochenes Schnäppchen. Aber in dieser Jahreszeit bei Tarifa zu surfen war bestimmt kein Vergnügen. Dann doch lieber ins Surfer-Paradies Cabarete in der Dominikanischen Republik. Und Surfen war nun mal seine große Leidenschaft.
Mit der Fernbedienung öffnete er das Tor zur Garage, das sich automatisch wieder nach unten senkte, nachdem er die Einfahrt passiert hatte. Er fuhr die Serpentinen hinauf zum Kräherwald und bog nach Westen Richtung Vaihingen ab.
Vor ihm fuhr mal wieder so eine eingeschlafene Träne, die es kaum über 50 Kilometer in der Stunde brachte. Mein Gott, warum fuhren die Leute wie die Schnecken, nur weil links und rechts ein paar Schneehaufen lagen? Die Straßen waren doch längst geräumt und quasi eisfrei.
Er überholte, wohl wissend, dass ihn dabei kein Bulle erwischen durfte. Der Fahrer, der ihm entgegenkam, schimpfte. Manchmal amüsierte es ihn richtig, die erschrockenen oder ärgerlichen Gesichter zu beobachten. Sie hatten einfach keine Ahnung, was in seiner kleinen Giftschlange steckte. Mit den 380 Pferdchen unter der Haube war sie in nur vier Sekunden von Null auf Hundert. Bernhardt musste mehr Kohle rüberwachsen lassen. Das stand ihm einfach zu. Er war es schließlich, der die Vertreter mit Zuckerbrot und Peitsche bei der Stange hielt. Er war es, der die Kunden belaberte und ihnen quasi alles verkaufen konnte, was es an Sinnvollem und Sinnlosem bei Geldanlagen so gab. Bernhardt saß meistens nur seinen dicken Arsch breit. Und sahnte dafür viel zu viel ab. Doch es würde eine richtig harte Tour werden. Bernhardt ließ sich nicht gerne die Wurst vom Brot nehmen.
Der dichte Gegenverkehr hinderte ihn daran, das Potenzial seiner Viper GTS noch einmal zu demonstrieren. Nach dem Monte Scherbelino wurde es vierspurig. Er drückte auf die Tube. Doch auf der Überholspur trieben sich mal wieder zu viele lahmarschige Spießer herum. Warum mussten diese Leute schon fünf Kilometer vor dem eigentlichen Überholvorgang nach links wechseln? Kurz vor den Vaihinger Universitätskomplexen wurden es dann drei Spuren in jede Richtung. Er trat aufs Gas. Und wieder mal fragte er sich, wer diesen Hasenhirnen den Führerschein gegeben hatte. Was suchte der Laster auf der mittleren Spur? Und dieser Golf, der kaum schneller fuhr als der Lkw, setzte tatsächlich zum Überholen an und wechselte ganz nach links.
Er überholte die Gurke rechts. Völlig easy konnte er wieder auf die linke Spur wechseln und den Laster überholen. Gerade und elegant wollte er aus der leichten Linkskurve auf die rechte Fahrbahn rüberziehen, als schlagartig der Wagen nach rechts abdriftete. Er steuerte gegen, aber das Auto tat, was es wollte. Die Lenkung schien keinerlei Einfluss auf sein Fahrverhalten mehr zu haben. Er trat auf die Bremse. Doch der Wagen drehte sich dadurch auch noch hinten weg. Fast frontal raste nun die Betonwand der Unterführung auf ihn zu. Er hörte das Bersten von Metall und Glas. Er spürte noch, wie das Adrenalin literweise in seine Adern schoss und wie sein Sitz aus der Verankerung riss. Es war ein Bruchteil einer Sekunde, in dem die Wucht des Aufpralls ihm die Knie zertrümmerte, seinen Brustkorb zerquetschte und ihm das Genick brach.
Hanna Stankowski blickte unglücklich auf die Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch. Ihr Chef hatte ihr ein Chaos hinterlassen. Er hatte sich von heute auf morgen davongemacht. In ein Krankenhaus. Mit einem Herzinfarkt. Zum Glück nur ein leichter, aber immerhin ein Herzinfarkt.
Sie schätzte Andreas Bialas sehr. Er war ein Vorgesetzter, der seine Mitarbeiter respektierte. Er hatte eine hervorragende kriminalistische Spürnase. Er arbeitete stringent und gründlich, wenn es um Aufklärungen ging. Aber dieses Chaos! Die Urlaubszettel, die nicht in die Personalakten eingeordnet waren. Die Dienstanweisungen, die sich zwischen Berichte und Urlaubszettel gemischt hatten. Diese Berichte, die nicht in den jeweiligen Akten gelandet waren. Die Staatsanwaltschaft hatte sie bereits mehrmals angemahnt. Und all das hatte sie nun am Hals.
Zum Glück gab es derzeit keine außergewöhnlichen Fälle. Trotzdem spürte sie die Mehrbelastung deutlich. Es wurde immer spät, bis sie das Haus verlassen konnte. Sie wusste abends, was sie geleistet hatte, und merkte oft, dass der letzte Urlaub auch schon eine Weile her war.
Sie seufzte und griff in die Tüte mit Schokokeksen. Ein oder zwei Stückchen nur, um den Frust zu verdauen. Dann griff sie sich in den Bauchspeck.
Ich werde zu dick, dachte sie.
Ich bin zu dick. Sie schob die Tüte weg.
Ich bin zu dick, aber ich bin ein wertvoller und einzigartiger Mensch, verdammt noch mal. Und schließlich passten ihr immer noch Klamotten in Größe 42 – wenn sie nicht allzu eng geschnitten waren. Bei »Mona Lisa« war das immerhin die kleinste Kleidergröße!
Sie griff noch einmal in die Tüte mit den Keksen.
Noch hatte sie den Mund voll, als es an die Tür klopfte, und noch nicht geschluckt, als diese sich öffnete. Wildermuth trat ein, legte ihr einen Hefter auf den Schreibtisch und sagte nur: »Schau dir das möglichst bald mal an. Sieht nach Arbeit für euch aus.« Dann wandte er sich umgehend wieder zur Tür.
Hanna sah auf das Deckblatt der Akte. Ein Bericht vom TÜV. Wenn so einer bei der Kriminalpolizei im Dezernat für Tötungsdelikte landete, dann war sein Inhalt brisant.
»Stopp!« Hanna schlug mit der flachen Hand auf die Akte vor sich. »Du wirst mich jetzt nicht mit diesem technischen Kauderwelsch alleinlassen.«
Wildermuth, der bereits unter dem Türrahmen stand, wandte sich um. Er strich sich über den noch fast schwarzen Schnurrbart und sah sie prüfend an, als ob er überlegte, ob die Kriminaltechnik dazu verpflichtet war, den ermittelnden Kollegen technische Erklärungen zu liefern.
»Ich weiß genau, dass ich davon nur die Hälfte verstehe. Und auch das nur, wenn ich mich jetzt mühsam da durchbeiße. Und dann komm ich doch zu dir gelaufen. Da kannst du mir genauso gut jetzt in aller Kürze das Wichtigste erklären, Hans.« Hanna winkte den Kriminaltechniker energisch zu sich.
Wildermuth schlenderte unwillig zurück zu Hannas Schreibtisch. Er nahm den Hefter in die Hand, schlug an einer bestimmten Stelle auf und legte ihn Hanna wieder vor die Nase. Es waren Bilder von einem Auto zu sehen. Dass es sich tatsächlich um einen Wagen handelte, sah man nur auf den Fotos, die das Fahrzeug von hinten zeigten. Die Vorderfront des Wagens war zu einer undefinierbaren Masse aus Blech und Motorteilen zusammengestaucht. Der Fahrer, der hier am Steuer gesessen war, hatte mit Sicherheit keine Chance gehabt.
»Am Montag früh ist oben in Vaihingen, wo’s zur Uni abgeht, ein schwerer Unfall passiert. Diese Dodge Viper ist gegen eine Betonwand geknallt. Dort, wo die B 14 unter der Universitätsstraße durchführt. Der Unfall war wohl nicht ganz nachvollziehbar. Deshalb hat der TÜV den Wagen ziemlich genau unter die Lupe genommen.« Wildermuth beugte sich über Hannas Schulter und blätterte ein paar Seiten weiter. Nach einigen Bogen mit Schriftsatz folgten wieder Fotos. Was genau sie darstellten, war für Hanna nicht zu erkennen. Irgendeine Art Rohr oder Stange war es wohl. Größenverhältnisse und Perspektive waren nicht erkennbar.
Wildermuth tippte auf eines der Bilder: »Was sie festgestellt haben, ist, dass die rechte Spurstange des Wagens angesägt wurde.« Damit war seine Erklärungspflicht offenbar beendet.
»Was ist eine Spurstange?« Hanna wurde ungeduldig. »Und was passiert, wenn man die ansägt?«
»Die Spurstange, wie der Name schon sagt, hält die Vorderräder in einer Spur. Wenn du links oder rechts lenkst, dann sorgen sie dafür, dass beide Räder immer genau im gleichen Winkel bewegt werden. Es gibt links und rechts jeweils eine Spurstange, die am Lenkgetriebe befestigt ist. Hier hat man die rechte angesägt.« Wildermuth tippte auf eines der rohrähnlichen Gebilde auf dem Foto. »Ich werde mir die Flächen natürlich noch mal vornehmen. Ich habe bisher auch nur diese Bilder gesehen. Aber so wie es aussieht, würde ich sagen, hat man eine handelsübliche Metallsäge dafür benutzt. Was für ein Fabrikat das war, werde ich dir wohl sagen können. Wird aber nicht möglich sein, das Werkzeug individuell zu bestimmen. Kein Randschluss, kein Abdruck des Werkzeugs oder irgendein einmaliges Muster an den Schnittkanten.« Jetzt war Wildermuth in seinem Element. »Vielleicht mit dem Rasterelektronenmikroskop. Da müsstest du eben das LKA bemühen. Und das Tatwerkzeug bräuchten wir natürlich.«
»Was passiert, wenn man diese Stange ansägt?«, fragte Hanna noch einmal. Randschlüsse und Kräfteeinwirkungen waren ihr momentan noch ziemlich egal.
»Du fährst los. Eine Weile hält das Ding noch. Und wenn’s dann zu einer Belastung kommt – ein Vibrieren über längere Zeit oder starke Lenkbewegungen – dann tut’s einen Schlag.«
»Und dann?«
»Wie ›und dann‹?«
»Was passiert mit dem Auto? Was merkt der Fahrer? Warum ist dieser Mensch auf die Betonwand geknallt?«
Wildermuth überlegte. Seine Sache waren wissenschaftlich-technisch ermittelte Fakten. Er ließ sich nicht gerne zu Spekulationen hinreißen, wie Hanna sehr wohl wusste. Aber irgendwie musste sie ja verstehen, was hier passiert war.
»Ich vermute mal, dass sich das Fahrverhalten schlagartig verändert. Am Lenkrad dürfte man noch nicht einmal etwas merken. Durch die Servo-Lenkung. Hat eine Viper mit Sicherheit auch. Aber das rechte Rad macht sich selbstständig. Wir müssen uns sicher den Unfallhergang noch mal genau anschauen. Meine Vermutung geht dahin, dass das rechte Rad weggeklappt ist. Der Wagen müsste dadurch ziemlich plötzlich ausgebrochen sein.«
»Hatten wir am Montag noch vereiste Straßen?«
»Ich glaube, nicht mehr. Aber bei der Geschwindigkeit, die dieser Dodge draufhatte, macht das dann auch keinen Unterschied mehr.«
»Wer tut so etwas? Wer sägt Spurstangen an?«
Wildermuth sah Hanna an, als hätte sie ihn aufgefordert, im Kaffeesatz zu lesen. Er war ein exzellenter Spurensicherer und Kriminaltechniker. Er lieferte absolut zuverlässig die handfesten überprüfbaren Tatsachen. Ihre Interpretation überließ er konsequent den Sachbearbeitern der Kripo. Man konnte sich schließlich in die Nesseln setzen, wenn man sich täuschte. So tickt Hans Wildermuth nun mal, ging es Hanna durch den Kopf. Und er wird einfach nicht grau. Was absolut nicht fair ist.
Der Kriminaltechniker war wie sie selbst etwa Mitte fünfzig. Doch während sie in immer kürzeren Abständen den Ansatz ihrer kurzgeschnittenen braunen Haare mit einer eklig riechenden chemischen Paste einschmieren musste, damit die graue Wahrheit nicht augenfällig wurde, glänzten Wildermuths Haupthaare und Schnauzer fast noch in makellosem Schwarz. Dabei machte sich der Kollege aus nichts weniger etwas als aus seinem Aussehen. Ihn interessierte im Grunde gar nichts außer der Kriminaltechnik, dem Marathon-Laufen und seiner Familie – und zwar genau in dieser Reihenfolge. Die Haare ließ er wachsen, bis ihn die Strähnen störten, die ihm ins Gesicht hingen, um sich dann von einem gewissenlosen Friseur einen Mecki schneiden zu lassen, mit dem er unmöglich aussah. Dann wartete er wieder, bis ihm die ersten Haare in die Augen stachen.
Hanna seufzte. Irgendwann würde auch sie die widerborstigen Drähte auf ihrem Kopf raspelkurz schneiden lassen und dann dem Grau seinen freien Lauf gewähren. Doch leider war ihre Eitelkeit dafür noch nicht reif.
»Na gut«. Sie gab auf, irgendeine Erklärung von dem Kriminaltechniker zu erwarten. »Du schaust dir die Sache genauer an und hältst mich auf dem Laufenden.«
Wildermuth nickte und verließ grußlos das Büro.
Hanna nahm sich den TÜV-Bericht nun doch vor. Die Fotos waren schockierend, auch wenn sie das Auto nur in der Werkstatt des TÜV und nicht am Unfallort zeigten. Sie versuchte genauer zu erkennen, wie die Fahrerkabine aussah. Da die Bilder rein unter technischen Aspekten gemacht worden waren, war aber noch nicht einmal richtig zu erkennen, welcher Teil des Schrotthaufens einmal die Kabine gewesen war. Zudem hatte man den Sportwagen deutlich erkennbar mit Schneidbrennern bearbeitet. Irgendwie musste man den Fahrer ja aus dem Wrack herausbekommen. Ganz sicher nicht mehr, um ihn noch zu retten. Die Bilder sprachen eine eindeutige Sprache.
Hanna überflog die technischen Beschreibungen. Sie verstand immerhin so viel, dass der Wagen in einem guten Zustand war und keine Mängel festgestellt werden konnten. Bis eben auf diese eine Spurstange. Selbst der nüchternen Technikersprache konnte man entnehmen, dass der Gutachter ziemlich lange und akribisch in der Elektronik und den Eingeweiden des Fahrzeugs gewühlt hatte, bevor er die angesägte Spurstange zwischen all den zerquetschten Karosserie- und Fahrwerksteilen ausgemacht hatte. Auch nach genauer Betrachtung der Nahaufnahmen dieser Stange konnte Hanna sich noch kein Bild machen, wie das Teil wirklich aussah und wo im Auto man es verorten musste.
Sie griff zum Telefonhörer und ließ sich bei der Verkehrspolizei mit dem Kollegen verbinden, der am Montag die Unfallaufnahme geleitet hatte.
»Oh ja, eine ziemlich üble Sache, vorgestern. Zwei Stunden Vollsperrung, morgens im Berufsverkehr, und weitere drei Stunden einspurig dran vorbei. Das hat gedauert, sag ich Ihnen, bis das THW den aus dem Auto rausgeschnitten hatte. Oder was noch von ihm übrig war. Ich sag Ihnen: Kein schöner Anblick.«
Hanna hatte im Verkehrsfunk etwas von der Sperrung gehört. »Ich brauche von Ihnen so schnell wie möglich die Akten«, bat sie den Kollegen. »Vielleicht haben Sie es schon mitbekommen: An dem Wagen muss manipuliert worden sein.«
»Oh ja, wir haben den Bericht ja zuerst bekommen, und ich hab gesagt, der muss sofort ins Präsidium. Die ganze Spurenlage. Ein Spurenknick, ohne dass vorher Bremsspuren da waren. Und dann auch nur von einem Rad. Und die Bremsspuren erst kurz vor der Mauer. Und auch die waren komisch. Sahen aus wie Driftspuren. Irgendwas hat nicht gestimmt – auch wenn ich gedacht hab, das war klar, dass es den noch mal richtig erwischt.«
»Und warum war das klar?« Der Kollege redet viel und erklärt wenig, dachte Hanna.
»Schon als ich die Nummer gesehen hatte: Ein stadtbekannter Raser. Einer von der Sorte, die meinen, die Straßen werden nur für sie gebaut. Und alle, die sich an die Regeln halten, sind Idioten. Ein Pünktchen mehr in Flensburg, und er hätte mal wieder zu Fuß gehen müssen. Und das dann zum dritten Mal. Ich bin sicher: Demnächst hätte man ihn für unzurechnungsfähig erklärt und ihm die Fahrerlaubnis für ein paar Jährchen ganz entzogen. Na ja, das bleibt ihm nun ja erspart.« Es schwang kein Mitleid in der Stimme mit. »Und zum Glück ist niemand anderes zu Schaden gekommen. Zumindest nicht ernsthaft. Der Sachschaden ist natürlich auch bei den anderen ziemlich hoch. Ich sag Ihnen, wenn der nicht wieder mit einer total überhöhten Geschwindigkeit wilde Überholmanöver vollführt hätte – der würde noch leben. Trotz der angesägten Spurstange, oder was es war.«
Hanna musste den Redeschwall unterbrechen: »Können Sie kurz, wirklich nur kurz, den Unfallhergang schildern? Dass ich mir vorab schon mal ein Bild machen kann, bevor wir die Akte hier haben.«
»Also, soweit wir das rekonstruieren konnten, und nach den Aussagen der Unfallbeteiligten – wobei die unter Schock standen, die waren richtig von der Rolle. Na ja, wenn da plötzlich so ein rotes Etwas an einem vorbeischießt und gegen die Wand knallt … Also, es muss so gewesen sein: Behrends ist mit seiner Viper rechts an einem Golf vorbeigezogen, vor ihm wieder links rübergezogen und dann wieder nach rechts vor einen Lkw. Und das alles in einem wahnsinnigen Tempo, wie der Lkw-Fahrer und die Leute im Golf bezeugt haben. Dann hat die Viper plötzlich einen Haken geschlagen, wie wenn einer das Steuer herumreißt, und ist fast ohne zu bremsen auf die Betonmauer der Unterführung gerast.«
»Ich nehme an, Name, Wohnort und Angehörige des Toten haben Sie ermittelt?«
»Ludger Behrends, steht alles in den Akten. Wird gerade beerdigt, jetzt, heute Nachmittag.«
Hanna bat noch einmal darum, möglichst rasch einen Boten mit den Akten ins Präsidium zu schicken. Sie bedankte sich und legte auf.
Der nächste Anruf war intern: »Luca, komm mal bitte so rasch wie möglich zu mir rüber … Ja, es ist wichtig.«
Fünf Minuten später stand er in ihrem Büro. Sie reichte ihm die TÜV-Akte. Er blätterte darin herum und verzog gequält das Gesicht: »Meine Fresse, das sieht übel aus. Der Crash am Montag?«
Hanna nickte: »Was für Fälle hast du gerade? Irgendetwas Dringendes?«
Luca überlegte einen Moment. »’ne Dodge Viper, ein geiles Gefährt. So ein Jammer, schade drum.« Dann schwenkte er den TÜV-Hefter, den er immer noch in der Hand hielt. »Fremdeinwirkung?«, fragte er gespannt.
»Der TÜV – und übrigens auch Wildermuth – sind der Meinung, dass die Spurstange des Wagens angesägt worden ist. Kannst du damit was anfangen?« Da Luca durchaus eine Beziehung zu Technik und vor allem zu seinem eigenen Auto hatte, war er vielleicht nicht ganz so ahnungslos wie sie selbst.
Luca zog wieder eine Grimasse und fuhr sich mit der Hand durch das dichte schwarze Haar. »So in etwa. Wenn die bricht, so ’ne Spurstange, macht Autofahren nicht wirklich Spaß. Und kann ganz schön in die Hose gehen, wie das Beispiel zeigt.« Er wedelte wieder mit der Akte. »Also gibt’s hier was zu tun?«
Hanna nickte und sah ihn forschend an.
»Also wirklich dringend ist eigentlich nichts. Irgendwie alles ein bisschen unschön. Zwei alte Leute. Dann der Obdachlose, der letzte Woche erfroren ist. Und der Suizid in Cannstatt.« Wieder verzog Luca das Gesicht: »Grande miseria, das Ganze. Die Familie ist vollkommen fertig und versteht überhaupt nichts. Aber ein Suizid war’s wohl.«
»Wie sicher ist das?«, fragte Hanna. »Gibt’s einen Abschiedsbrief?«
»Das ist der Punkt. Die haben bisher nichts gefunden. Vielleicht müssten wir mal alles gründlich durchsuchen. Von den Docs her gibt’s jedenfalls keine Hinweise auf irgend ’ne Fremdeinwirkung.«
»Ich brauch dich morgen früh, Luca«, sagte Hanna bestimmt.
Luca nickte. Er sah unglücklich aus. »Ich guck mal, was ich heute noch machen kann. Sag Bescheid, wenn Wildermuth sich meldet.«
»Umgehend.«
»Ai vostri comandi, Captain Janeway.« Luca breitete pathetisch die Arme aus, immer noch den TÜV-Hefter in der Hand. »Zu deinen Diensten, wann immer du mich brauchst.« Er legte die Akte Hanna wieder auf den Schreibtisch und ging aus dem Raum.
Hanna runzelte die Stirn. Manchmal ging ihr Lucas Italienisch-Getue gründlich auf den Wecker. Vor allem dann, wenn sie so abgespannt wie heute war. Natürlich hatte er sizilianische Vorfahren. Aber schon seine Eltern waren beide hier aufgewachsen, und zu Hause war mehr Deutsch als Italienisch gesprochen worden. Luca sprach den moderaten Dialekt der Menschen hier in der Stadt. Nur sein Aussehen, das schwarze dichte Haar, die dunklen Augen, die markante Nase und der weiche Zug um den Mund, bewiesen seine südländische Herkunft.
Ob Luca tiefschürfende Gespräche auf Italienisch führen konnte, bezweifelte Hanna sehr. Er hatte selbst einmal erzählt, dass seine sogenannten Italienisch-Kenntnisse hauptsächlich von seiner Nonna stammten, die er ab und zu in Agrigento besuchte. Sie war laut Luca vor ein paar Jahren wieder in den Süden geflüchtet, weil ihr Mann mit einer deutschen Donna fremdgegangen war, weil sie die Kälte in Germania nicht mehr ertrug und weil sie sich selbst mit den Kalabresen nicht unterhalten konnte, die ihr breites Sizilianisch nicht verstanden.
Die Italo-Duselei verband er zudem mit seinem Spleen, alles und jeden mit Namen aus den alten Star-Trek-Folgen zu versehen, die er sich bestimmt schon hundert Mal reingezogen hatte. Seit Hanna nach dem Herzinfarkt von Bialas die Dezernatsleitung übernommen hatte, hieß sie bei ihm nur noch Captain Janeway. Sie ließ sich darüber aufklären, dass dies die erste weibliche Kommandantin eines Star-Trek-Raumschiffes war. »Und das erst im Jahr 2371«, erklärte ihr Luca. Ganz unpassend fand Hanna den Vergleich nicht. Denn schließlich war sie im Jahre 2010 noch immer die einzige weibliche Kommissarin im Dezernat.
Trotzdem hatte sie Luca zu sich gerufen und keinen anderen. Sein Arbeitsstil war deutsch, zuverlässig und gründlich. Und trotz des etwas aufgesetzten Pathos – er war einfach erfrischend in seiner Art. Selbst bei deprimierenden Fällen behielt er eine Leichtigkeit und Beschwingtheit, die auf sein Umfeld ausstrahlten. Und das konnte man wirklich nicht von allen Kollegen in der Abteilung sagen. Andreas als Leiter der Abteilung und sie selbst hatten nicht selten neben der Ermittlungsarbeit auch noch damit zu tun, abgestumpfte Kripo-Leute in ihre Schranken zu verweisen oder depressiven und entscheidungsschwachen Mitarbeitern Dampf unterm Hintern zu machen.
Die Abteilung ist überaltert, dachte Hanna. Luca war nun schon ein paar Jahre im Dezernat für Tötungsdelikte. Trotzdem galt er als Youngster. Wir bräuchten ein paar junge Frauen. Dann wäre das Klima vielleicht auch ein anderes, ging es ihr durch den Kopf.
Hanna seufzte und sah auf die TÜV-Akte. Es war schon später Nachmittag. Sollte sie Franz und die Staatsanwaltschaft gleich benachrichtigen? Musste sie heute noch mit den Angehörigen des Opfers Kontakt aufnehmen? Sie legte die Akte energisch zur Seite. Sie würde warten, bis der Bericht der Verkehrskollegen da war, und vor allem, bis Wildermuth die Geschichte eindeutig bestätigt hatte. So wie sie ihn kannte, war heute noch mit einem Ergebnis zu rechnen. Keine Pferde scheu machen, solange nicht eindeutige Fakten von der Kriminaltechnik vorlagen.
Sie wandte sich wieder dem Stapel mit Verwaltungsunterlagen und Akten zu, den Andreas Bialas ihr hinterlassen hatte. Sie mochte diese Arbeit so wenig wie er. Doch das Gefühl, eine riesige Bugwelle von ungeliebten Notwendigkeiten vor sich herzuschieben, machte sie nur noch unglücklicher. Also biss sie auf die Zähne und zermalmte zwischen ihnen immer wieder mal einen ihrer Schokokekse.
Um sechs kam der Bote mit der Unfallakte. Sie blätterte sie durch, sah sich die entsetzlichen Bilder von der Unfallstelle an und fand die Kontaktdaten des Opfers und seiner Angehörigen.
Um sieben rief Wildermuth an: »Ich schick dir eben mal ein paar Bilder per Mail. Ruf mich zurück, wenn du sie hast.«
Wenige Minuten später hatte Hanna die Fotos eines metallischen runden Gegenstandes auf dem Bildschirm. »Ich will als Erstes wissen: War’s Sabotage oder nicht?«, fragte sie Wildermuth ungeduldig, sobald sie ihn wieder am Apparat hatte.
»Eindeutig Fremdeinwirkung. Die Bilder zeigen die Bruchstelle, sozusagen den Querschnitt der Spurstange. Unten, in den ersten zwei Dritteln, siehst du diese leichten Riefen, die wie Schleifspuren aussehen. Das sind eindeutig die Werkzeugspuren einer Metallsäge. Rundes Sägeblatt. Ich vermute mal eine Akku-Säge. Drüber ist die Bruchstelle. Unregelmäßiges Muster, typisches Bild für einen Metallbruch.«
»Okay, Hans. Heute bekommen wir nichts mehr gebacken. Morgen früh, sieben Uhr, Ermittlungsplanung bei mir im Büro.«
Sie wünschten sich noch gegenseitig einen schönen Abend. Hanna machte sich ein paar Notizen. Dann schrieb sie eine Mail an Franz Kallinger. Das war ein Fall, über den auch der Leiter der Kriminalinspektion 1 von Anfang an Bescheid wissen sollte. Sie informierte den Dauerdienst der Staatsanwaltschaft und schickte eine SMS an Luca. Sie sah auf den Stapel mit dem Papierkram und dann auf die Uhr. Auch wenn sie diese Sisyphusarbeit liebend gerne hinter sich gebracht hätte – jetzt musste sie aufhören und heute Abend noch etwas zur Ruhe kommen. Morgen würde ein harter Tag werden.
Sie packte sich in ihren Wintermantel. Handschuhe und Mütze hielt sie bereit. Dann verließ sie das Präsidium. Die Nacht war längst hereingebrochen. Eisige Kälte schlug ihr entgegen. Der Winter war dieses Jahr ungewöhnlich kalt und schneereich. Die Weinberge hinterm Präsidium waren immer noch von einer dicken Schneedecke überzogen. Auch in den Straßen Stuttgarts lagen bis fast hinunter in den Talkessel noch links und rechts Schneehaufen und blockierten die Parkplätze. Tagelang hatte Chaos geherrscht auf den kurvenreichen steilen Straßen der Stadt, und der Winterdienst hatte erst jetzt die letzten Nebenstraßen räumen können, nachdem es wenigstens drei Tage am Stück nicht mehr geschneit hatte. Hanna ging hinüber zum Parkplatz und kratzte die Scheiben ihres alten Ford Focus frei. Ob so eine Spurstange auch aus Altersschwäche brechen konnte? An ihrem Wagen war mittlerweile schon einiges kaputt gegangen. Aber von einer gebrochenen Spurstange hatte sie noch nie etwas gehört. Trotzdem fuhr sie behutsam hinunter in den Stuttgarter Westen.
Hanna fühlte sich ausgeschlafen und fit, als sie Punkt sieben im Präsidium eintraf. Wildermuth wartete bereits vor ihrem Büro, und zehn Minuten später trudelte auch Luca ein. Wie selbstverständlich setzte er sich an den verwaisten Schreibtisch von Andreas Bialas. Der ranghöhere Wildermuth musste sich mit dem Besucherstuhl begnügen.
»Was müssen wir wissen?« Hanna startete die Ermittlungsplanung mit dem ersten Punkt, den sie sich am Abend zuvor notiert hatte. »Wie sägt man eine Spurstange an? Braucht man dafür Spezialkenntnisse? Oder Spezialwerkzeug?«
Wildermuth strich sich nachdenklich über den Schnauzbart. »Ich denke, ich müsste mir eine Viper mal genauer anschauen. Aber eigentlich gehe ich davon aus, dass die Spurstange wie bei den meisten Wagen heute direkt hinterm Rad liegt und man von unten problemlos drankommt. Was eine Spurstange ist und wo sie sich befindet, weiß zumindest jeder Kfz-Mechaniker.«
»Und zwei von drei Kriminalern«, grinste Luca und zählte ab: »Eins, zwei, drei.« Bei drei deutete er auf Hanna.
»Du Schlaumeier hättest das gewusst? Und wie hättest du es angestellt, sie anzusägen?«
»’ne Viper liegt tief«, überlegte Luca. »Man müsste unter den Wagen kriechen. Folglich: Der Säger hatte keinen Bauch. Also quasi so ’ne Figur wie ich. Wildermuth käme natürlich auch als Täter in Frage.«
Der drahtige Kriminaltechniker sah Luca missbilligend an. Er hatte noch nie etwas mit dessen Flapsigkeit anfangen können. »Das muss man ebenfalls überprüfen, ob jemand ohne Hilfsmittel da drunterkommt.« Er angelte sich von Hannas Schreibtisch einen Notizblock und einen Stift und kritzelte ein paar unleserliche Vermerke. »Ich werde mich nach ein paar Händlern erkundigen. Vielleicht hat irgendeiner so eine Viper auf dem Hof stehen. Auf einer Hebebühne jedenfalls kommt jeder an die Stangen ran. Und Akku-Metallsägen bekommst du bei jedem Baumarkt und x Online-Händlern.«
»Kannst du in etwa einschätzen, Hans, wie lange es gedauert haben kann, bis die Spurstange gebrochen ist?«, fragte Hanna. »Wir müssen unbedingt ein Zeitfenster haben. Wie lange kann man mit einer angesägten Spurstange herumfahren?«
Wildermuth legte die Stirn in Falten: »Es kommt darauf an, wie oft und wie lange der Wagen gefahren wurde. Wenn er längere Zeit gestanden ist, dann kommt diese gesamte Zeitspanne natürlich als Tatzeit in Frage. Dann sind die Kräfte, die beim Fahren auf die Stange einwirken, natürlich wichtig. Wann sie bricht, hängt auch vom Material ab. Und von der Fahrweise.« Wieder strich sich der Kriminaltechniker nachdenklich über den Schnauzer. »Eigentlich bräuchten wir die genauen Material- und Konstruktionsdaten dieser Spurstange. Ich fürchte nur, dass es ewig dauert, bis wir da drankommen. Die Viper wird von Chrysler in den USA gebaut. Vielleicht ginge es auch mit einer Materialanalyse vom Landeskriminalamt. Wenn wir wissen, aus welchem Stahl die Spurstange ist, kann das LKA bei der Materialprüfungsanstalt an der Uni eine FEM-Analyse in Auftrag geben. Die werden ohnehin ein Gutachten erstellen müssen.«
»Okay, du bereitest alles vor. Ich werde die Untersuchungen beim LKA anleiern. Und dann haben wir beide«, Hanna wandte sich an Luca, »ein volles Programm. Wir müssen herausbekommen, wann das Unfallauto sich wo befunden hat. Wo stand es überall? Auf der Straße? In einer Garage? War es in letzter Zeit in einer Werkstatt?«
»Wir brauchen zunächst ein paar Anhaltspunkte. Wo hat der Typ denn gewohnt?«, fragte Luca.
Noch bevor Hanna antworten konnte, öffnete sich die Tür zum Büro nach einem kurzen Klopfen. Der Leiter der Kriminalinspektion 1 schob sich in seiner ganzen Leibesfülle in den Raum. Luca sprang auf: »Hi Franz, setz dich!«
Franz Kallinger ließ sich ächzend auf Andreas Bialas’ Stuhl nieder. »Hab deine Mail grade gelesen, Hanna«, brummte er. »Mal wieder was ganz Neues: Eine angesägte Spurstange. Hab gedacht, das meiste hätte ich jetzt langsam gesehen.« Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die blanke Glatze. »Dummejungenstreich oder Mordanschlag? Könnt ihr schon was sagen?«
»Ist leider noch zu früh«, sagte Hanna. »Wir stehen vollkommen am Anfang. Es ist durchaus möglich, dass der Mann überlebt hätte, wenn er nicht gefahren wäre wie ein Irrer. So schätzten es jedenfalls die Kollegen vom Verkehr ein. Auf keinen Fall war das eine sichere Mordmethode.« Sie sah Wildermuth an. Der nickte.
»Willst du keine Soko einrichten?«, fragte Franz Kallinger. Sein Atem ging schwer. Er wog einfach zu viel.
Hanna schüttelte den Kopf: »Noch nicht. Momentan wüsste ich noch nicht einmal, wonach die Kollegen suchen sollten. Ich muss mir erst ein Bild davon machen, mit wem wir’s bei dem Opfer zu tun haben. Und welche Möglichkeiten es überhaupt geben konnte, den Wagen zu manipulieren.«
Kallinger schnaufte: »Das ist jetzt natürlich dumm gelaufen. Ausgerechnet jetzt fehlt Andreas.«
Traut er mir’s nicht zu, fragte sich Hanna einen Moment lang. Sie schob den Gedanken wieder weg. »Wir haben momentan keine größeren Fälle. Ich denke, wir kommen klar.«
Kallinger erhob sich ächzend. »Ihr haltet mich auf dem Laufenden.« Damit wandte er sich zur Tür. »Ich hab gestern übrigens mit Andreas telefoniert. Es geht ihm ganz gut. Jedenfalls meinen die Ärzte wohl, er wird wieder. Und ich soll euch grüßen, was ich hiermit getan habe.« Er winkte zum Gruß mit der Hand und überließ die kleine Gruppe sich selbst.
Wenn du nicht aufpasst, dachte Hanna, dann bist du der nächste mit einem Herzinfarkt. Er aß zu gerne. Und vor allem das Falsche. Sie wusste auch, dass Franz Kallinger nicht nur dem Bier sehr zusprach, sondern auch gerne mal einen Schnaps dazu nahm. Auch sie hatte vor ein paar Tagen schon mit Andreas gesprochen und wusste, dass der bei seiner Kur in Bad Ditzenbach ganz schön rangenommen wurde. Joggen, Radfahren, Schwimmen – das würde Franz Kallinger ganz und gar nicht gefallen.
Hanna nahm den Faden wieder auf. Die meisten Punkte auf ihrer Liste betrafen die Ermittlungen, die sie selbst und Luca vor sich hatten. Eine wichtige Frage war, ob Ludger Behrends ein Zufallsopfer war oder ob es jemand gezielt auf ihn abgesehen hatte. Der Mann war ein rücksichtsloser Autofahrer gewesen. Rücksichtslose Autofahrer waren meist generell rücksichtslose Menschen. Sie zogen den Groll anderer auf sich. Viel schwieriger würde es werden, wenn irgendein Hornochse sich ein beliebiges Auto herausgepickt hatte.
»Vielleicht hat’s jemand ja nur auf Sportwagen abgesehen. Einer, dem Papa keinen geschenkt hat«, meinte Luca. Auch diese Möglichkeit mussten sie im Auge behalten.
Sie würden zunächst mit den Eltern des Unfallopfers sprechen. Die Verkehrspolizei hatte deren Adresse in Markgröningen bereits ermittelt. Eine Ehefrau gab es laut der Akte nicht. Ludger Behrends war 28 Jahre alt geworden. Die Leute heirateten heutzutage nicht mehr so schnell. Ja, man zog oft nicht einmal mehr gleich zusammen. Um Autonomie und Selbstbestimmung nicht zu gefährden. In der Wohnung in der Nähe des Kräherwaldes war außer ihm selbst niemand gemeldet. Vielleicht hatte er aber doch eine Freundin, die sie ausfindig machen mussten.
Den Arbeitgeber von Behrends hatten die Kollegen vom Verkehr ebenfalls schon ermittelt. Es war ein Finanzdienstleistungsunternehmen mit einer Dependance in Stuttgart-Vaihingen. Auch mit Kollegen und Vorgesetzten würde man so schnell wie möglich sprechen müssen.
»Nehmen wir jetzt mal an, es war wirklich irgendein Irrer, der sich ein beliebiges Fahrzeug herausgepickt hat, welche Ermittlungsansätze haben wir dann?«, überlegte Hanna laut.
»Der Wagen«, warf Wildermuth ein. »Die einzige Spur ist dann der Wagen. Wie du gesagt hast: Wo stand er wann? Wird nicht einfach für euch.«
»Du nimmst dir das Auto noch mal vor. Ich weiß ja nicht, was man in so einem Schrotthaufen noch finden kann. Aber ich will jeden Fingerabdruck, der irgendwo noch zu sichern ist. Innen wie außen. Und Werkzeugspuren. Wo setzt denn so eine Hebebühne an? Wie sieht es da mit DNA-Spuren aus? Kann man anhand von Anhaftungen am Auto feststellen, auf welchem Untergrund es gefahren oder gestanden ist? Das ganze Programm, Hans!« Der blickte aus dem Fenster und antwortete nicht, weil man das einem Hans Wildermuth eigentlich gar nicht sagen musste.
»Und wir brauchen die Spurensicherung, sobald wir einen Blick in die Wohnung des Opfers geworfen haben. Bei der Wohnung oder in der Nähe muss es ja auch irgendeinen Stellplatz für den Wagen gegeben haben. Vielleicht haben wir Glück, und er hatte einen festen Parkplatz. Verdammt noch mal, wo bleibt eigentlich der Staatsanwalt? Wir brauchen eine richterliche Anordnung.«
Hanna griff zum Telefonhörer und wählte die Kurzwahlnummer der Staatsanwaltschaft.
»Den Fall haben wir doch schon zugeteilt. Moment mal«, war die unwirsche Reaktion der Dame am andern Ende der Leitung. Nach einigem Knacken meldete sich eine wohlbekannte Stimme:
»Frau Stankowski, entschuldigen Sie bitte vielmals. Nehmen Sie’s mir ab oder nicht: Ich wollte mich in den nächsten fünf Minuten bei Ihnen melden. Bei mir ist derzeit Land unter. Morgen soll ich einen Schönheitschirurgen verknacken lassen. Sie wissen ja: Chirurgen, das sind die Aufschneider, die sich selbst wundern, wie viel sie von einem Menschen wegschneiden können, ohne ihn umzubringen, ha, ha. Der Fall ist miserabel vorbereitet. Da ist noch nicht einmal die Behandlungsakte der Patientin vollständig gesichert. Aber ich höre auf zu jammern. Schicken Sie mir alles, was Sie bisher haben. Ich schau mir’s heute Vormittag noch an und melde mich dann.«
»Herr Frenzel, wir brauchen wahrscheinlich sehr schnell eine Durchsuchungsanordnung für die Wohnung des Opfers.«
»Kriegen Sie, kriegen Sie. Sie bekommen von mir fast alles. Wissen Sie was? Wir lassen den Nasenschnippler für dieses Mal laufen. Vielleicht wird bei seinem nächsten Verstümmelungsopfer ja so gearbeitet, dass wir ihn ans Messer liefern können.« Frenzel lachte herzlich über diese Idee. »Ich freu mich ja so, dass ich mal wieder mit kompetenten Leuten bei der Kripo zusammenarbeiten kann. Wie geht es übrigens Herrn Bialas? Ich habe gehört, dass er einen Infarkt hatte.«
»Es geht ihm ganz gut. Er hatte Glück – er hat nur einen Dämpfer bekommen.«
»Na ja, Sie wissen ja: Wer vor dem fünfzigsten Lebensjahr keinen Herzinfarkt bekommt, gilt als Leistungsverweigerer. Diesen Verdacht hat er jetzt ja entkräftet. Grüßen Sie ihn bei Gelegenheit. Geben Sie mir ein Stündchen, dann kümmere ich mich um Ihre Geschichte.«
»Friedebald Frenzel«, sagte Luca. »Hab ich sofort gesehen. An deinem Grinsen.« Auch er grinste übers ganze Gesicht. Und sogar der coole Wildermuth schmunzelte ein ganz kleines bisschen.
Friedebald Frenzel, der Kugelblitz, wie Hanna ihn bei sich nannte. Es gab Menschen, die trotz einer gewissen Leibesfülle immer wie energetisch aufgeladen wirkten. Frenzel gehörte dazu. Zudem zeichnete er sich durch einen nicht zu bremsenden Humor aus. Über seine Kalauer, Scherze und Anekdoten konnte er selbst sich wie kein anderer amüsieren. Hanna freute sich, nach längerer Zeit wieder mal mit Frenzel zusammenzuarbeiten. Nicht nur seiner Fröhlichkeit wegen. Sie hatte Frenzel auch als zuverlässigen und fairen Partner der Polizei kennengelernt. Man konnte sich die Staatsanwälte nicht aussuchen. Bei vielen war das gegenseitige Verhältnis durch Respekt und ein grundsätzliches Vertrauen geprägt. Doch es gab auch die andern. Solche, die meinten, sie wären selbst die besseren Ermittler, sie müssten jede polizeiliche Maßnahme in Frage stellen, oder Paragraphenreiter, die das Wort des Gesetzes über jeden Pragmatismus stellten. Zum Ausgleich gab es Friedebald Frenzel.
Augenblicklich erinnerte sie sich auch an den ersten Fall, den die Beamten im Dezernat gemeinsam mit dem Juristen bearbeitet hatten. Damals, vor etwa fünf Jahren, gehörte Frenzel zu einer Riege junger Anwälte, die mit wenig Erfahrung und viel Engagement frisches Blut in die Stuttgarter Staatanwaltschaft gebracht hatten. Sie hatten eine harte Nuss zu knacken, und der junge Staatsanwalt hatte dabei eine erstaunlich gute Figur gemacht. Hanna sah den nachdenklichen Gesichtern von Luca und Wildermuth an, dass auch sie sich in jene Zeit zurückversetzt fühlten. Der Fall war ihnen allen unter die Haut gegangen. »Die Brüder Martschenko«, sagte sie und beide nickten.
Sie hatten einen jungen Mann an einem Eisenbahntunnel gefunden, gestorben an einer schweren Tuberkulose. Den Bruder fanden sie erschlagen zwischen den Schalbrettern für eine Betonwand, oben auf den Fildern, als dort die Neue Messe gebaut worden war. Es war ein Sumpf aus Machenschaften einer skrupellosen Baumafia, in den sie da eingetaucht waren. Und war das Terrain ohnehin schon schwierig genug, so kam erschwerend hinzu, dass politische Stellen und polizeiliche Führungskräfte es an Rückendeckung fehlen ließen. Dass das umstrittene Bauprojekt nicht in negative Schlagzeilen geriet, schien wichtiger zu sein als die Aufklärung des Falles.
»Nun gut, machen wir uns an die Arbeit«, riss Hanna die beiden Kollegen aus ihren Gedanken. »Hans, du weißt ohnehin, was du zu tun hast. Ich muss noch die Akte anlegen und sie Frenzel schicken. Dann können wir beide los«, wandte sie sich an Luca.
»Dann hab ich noch etwas Zeit«, überlegte der. »Wenn’s irgendwie geht, dann möchte ich, dass die Kollegen sich die Wohnung in Cannstatt noch mal vornehmen. Der Suizid, du weißt schon. Irgendwie kommt mir das komisch vor. Alles, was ich weiß von dem Typ, sagt mir, dass der nicht ohne Abschiedsbrief einfach so ins Sto’Vo’Kor abgehauen wäre.«
»Ins was?«
»Klingonische Mythologie. ›Die Heimat der Krieger‹, dort, wo man hinkommt, wenn man als ehrenvoller Krieger in einer Schlacht gefallen ist.«
»Du hast Vergleiche! Ehrenvoll – und das bei einem Suizid. Ich weiß ja nicht, wie das deine Klingonen sehen würden.«
»Vielleicht war’s ja doch keiner«, meinte Luca. Damit trollte er sich und überließ Hanna ihrer Schreibtischarbeit.
Es war halb zehn, als sie am Vorgarten eines Reihenendhauses in Markgröningen standen und den Klingelknopf am Gartentor betätigten. Das Haus lag ganz in der Nähe des Festplatzes, auf dem alljährlich Ende August der Markgröninger Schäferlauf stattfand. Tausende von Zuschauern lockte der historische Wettlauf jedes Jahr an, bei dem die Teilnehmer barfuß über ein 300 Schritt langes Stoppelfeld spurten mussten. Nun lag eine dichte Schneedecke auf dem Festplatz. Auch der Vorgarten der Familie Behrends war in Weiß gehüllt. Dennoch war gut erkennbar, dass er akkurat angelegt war. Die Buchsbäume mit ihren weißen Käppchen waren perfekt zu Kugeln und Spiralen geschnitten. Dutzende von Rosensträuchern streckten ihre stacheligen Zweige aus dem Schnee. Einige waren mit Tannenreisig abgedeckt und in Jutesäcke geschlagen. Der schmale Weg, der von der Straße zum Haus führte, sah aus, als ob jemand den Schnee mit einem Eiskratzer von den Steinplatten geschabt hätte.
Rosenliebhaber sind harmoniesüchtig, ging es Hanna durch den Kopf. Vielleicht war es ja auch ein Vorurteil. Und vor allem war dies im Moment wirklich nicht wichtig. Sie würden auf Menschen treffen, die ihren Sohn verloren hatten.
Hanna musste hier die Hiobsbotschaft nicht mehr selbst überbringen. Doch sie wusste nur zu gut, wie es auch Tage danach noch war. Sie war sich nicht sicher, ob es für sie in ihrem Job eine Bürde oder ein Nutzen war, dass sie selbst den Mann, die Liebe ihres Lebens, so früh verloren hatte und alleine mit drei kleinen Kindern zurückgeblieben war. Wahrscheinlich war es beides. Sie hatte lange überlegt, als Andreas Bialas ihr das Angebot gemacht hatte, ins Dezernat für Tötungsdelikte zu wechseln. Die Arbeit bei der Jugenddelinquenz hatte ihr immer gefallen. Aber irgendwie war sie das Gefühl nicht losgeworden, gegen Windmühlenflügel zu kämpfen. Wenn nicht mehr Geld in die Jugend- und Familienarbeit, in die Integration und in die präventive Sozialarbeit gesteckt würde, dann hatte auch die Polizei kaum Möglichkeiten, den Nachwuchs an straffälligen Jugendlichen zu dezimieren. Und immer häufiger hatte sie es mit Mehrfach- oder Intensivtätern zu tun. Dass die Ermittlungen bei Todesfällen – welcher Art auch immer – auch kein Zuckerschlecken waren, wusste sie natürlich. Doch Jugendliche am Beginn ihres Lebens in den Knast zu begleiten, der meist alles noch schlimmer machte und fast nie ein Heilmittel war – das war frustrierender, als das Ende eines Menschen aufzuklären und damit den Fall abzuschließen.
Wenn da nicht die Angehörigen der Opfer gewesen wären. Erst zehn Jahre, nachdem Michael Stankowski von einem amoklaufenden Asylbewerber erstochen worden war, konnte Hanna sich entschließen, das Angebot von Bialas anzunehmen. Sie hatte das Gefühl, die Vergangenheit bewältigt zu haben. Und doch: Jedes Mal, wenn sie einer Ehefrau, einem Vater, einer Tochter die Nachricht überbringen musste, erlebte sie wieder aufs Neue den Moment, in dem sie die Tür geöffnet und in die fassungslosen Gesichter der Kollegen geschaut hatte. Mit den Jahren wandelten sich die Gefühle gnädigerweise. Sie wusste nun, dass man es überleben konnte. Dass man nicht in der Trauer gefangen bleiben musste. Auch wenn die Betroffenen noch nicht einmal ahnten, durch welch tiefes Tal sie mussten, so konnte Hanna doch von dieser Sicherheit zehren und dem einen oder anderen eine Ahnung von Trost vermitteln. Mittlerweile war es nur noch der Tod von Kindern, der sie hilflos und ohnmächtig machte.
Nun stand sie am Gartentor eines solchen Elternpaares. Sie hatte angerufen, bevor sie und Luca sich auf den Weg gemacht hatten. Eine belegte dunkle Männerstimme hatte geantwortet, man würde die Beamten empfangen. Der Mann, der ihnen nun die Tür öffnete, war sicher der Eigentümer dieser Stimme, ein schlanker, steif wirkender Mensch mit mausgrauen Haaren und einer großen Hornbrille. Er wirkte unkonzentriert und sprach stockend, als ob ihm die Worte abhanden gekommen wären, mit denen man jemanden bat, hereinzukommen und abzulegen.
»Die Schuhe«, stammelte er, »die Schuhe, ich meine, könnten Sie sie …? Also wir haben da solche Pantoffeln …« Er reichte ihnen Filzpantoffeln. Hanna und Luca zogen brav die Schuhe aus und schlüpften in die Besucherschlappen.
Behrends begleitete sie ins Wohnzimmer, wo Frau Behrends gerade ein Deckchen auf dem Couchtisch glattstrich. Sie wirkte wie abwesend, als sie den Besuchern die Hand reichte. Während bei ihrem Mann die oberen Knöpfe des weißen Hemdes offen standen, war sie ordentlich in hochgeschlossenes Schwarz gekleidet. Sie hatte die Figur einer Frau, die sich auch im mittleren Alter noch beherrschen konnte und sich nicht von Schokokeksen verführen ließ. Sie wirkte gepflegt. Das Haar war zu einem modernen Bob geschnitten, bei dem die Strähnen vom Nacken zum Gesicht hin länger wurden. Man hätte sie nahezu als hübsche Frau bezeichnen können, wäre da nicht der verhärmte, strenge Zug gewesen, der sich über viele Jahre hinweg in die Mundpartie eingegraben hatte.
»Deine Krawatte«, sagte sie wie in Trance zu ihrem Mann. Der lief kopflos und nervös in die Diele, kam wieder zurück, blickte hilflos um sich und fand das schwarzgrau gestreifte Stück schließlich über einer Stuhllehne hängend. Er band sich die Krawatte unbeholfen um und vergaß dabei, die Knöpfe des Hemdes zu schließen.
Nun standen sie im Wohnzimmer und niemand sprach ein Wort.
»Können wir uns setzen?«, unterbrach Luca das seltsame Schweigen. Erst jetzt schien Frau Behrends zu bemerken, dass sie Gäste hatte.
»Ja, bitte.« Sie wies auf das Sofa. »Möchten Sie einen Kaffee?«
Hanna nahm dankend an, auch um den Behrends etwas Zeit zu geben.
Frau Behrends verschwand in der Küche, kam jedoch gleich zurück, um ihren Mann anzuzischen: »Kommst du?« Er folgte ihr gehorsam in die Küche, wo sie ihn weiter ankeifte. Er brabbelte schuldbewusst vor sich hin. Was die beiden da verhandelten, verstand man im Wohnzimmer nicht.
Selbst im größten Schmerz funktioniert der Beziehungsclinch noch, dachte Hanna. Die Abwesenheit der Hausherren gab ihr die Möglichkeit, sich in der Wohnung umzusehen. Kein Stäubchen lag auf den Möbeln, einem Stilmix aus Landhaus und Modernität. Gleichmäßig über Sofas, Sessel, Sideboards und die Schrankwand war Nippes verteilt. Deckchen und Kissen mit Blumenmustern, kleine Vasen und Schälchen und eine ganze Kompanie Rosina-Wachtmeister-Katzen aus Keramik. Vor allem aber standen und hingen an jeder Abstellmöglichkeit und fast jeder Wand Fotos in verschnörkelten Bilderrahmen.
Hanna stand auf und sah sich ein paar der Aufnahmen an. Auf den meisten war ein Junge, ein Teenager, ein junger Mann zu sehen: Ludger Behrends, wie schwerlich zu erraten war, in jedem Alter und in jeder Lebenslage. Der kleine Ludger unterm Weihnachtsbaum, beim Fasching, Hausaufgaben machend, Fußball spielend, Porträtbilder aus jedem Alter, Ludger auf dem ersten Mofa, ja sogar der junge Ludger auf einem Pferd in voller Turniergarderobe.
Ludger Behrends war ein gut aussehender Mann gewesen, mit schlankem Körperbau und ebenmäßigen Gesichtszügen. Auf manchen Bildern, auf denen der erwachsene Ludger direkt in die Kamera schaute, glaubte Hanna, eine gewisse Arroganz oder Verächtlichkeit zu erkennen, zumindest dem gegenüber, der ihn da aufs Fotopapier gebannt hatte.
Auf einigen Bildern war die Mutter zu sehen. Entweder mit Ludger. Oder auf einem Pferd, auch auf einem Springreitturnier.
Luca war neben Hanna getreten und tippte auf das Bild mit dem reitenden Sohn: »Da gibt’s doch einen Ludger Beerbaum. Hat die Mutti da einen Traum gehabt?«
»Ich weiß gar nicht, ob der schon bekannt war, als Ludger Behrends auf die Welt kam«, meinte Hanna und suchte nach einem Foto, auf dem auch der Vater zu sehen war. Sie fand zwei, jeweils mit der Mutter und natürlich Ludger.
Behrends trat ein, ein Tablett mit zwei Kaffeetassen und einer Zuckerdose in den Händen. Das Tablett zitterte leicht. Er nickte, als er die beiden Kommissare da stehen sah: »Er war unser Lebensmittelpunkt. Wir …« Die Stimme versagte ihm. Das Tablett wankte bedenklich. Er schaffte es gerade noch, Tassen und Zuckerdose heil auf dem Couchtisch zu platzieren.
»War er Ihr einziges Kind?« Hanna sprach gedämpft und bedeutete dem Mann, sich zu setzen. Vater Behrends nickte nur. Seine Augen blickten leer vor sich hin. Ein Mann, dem es fast das Herz zerriss und der nicht weinen konnte. Auch Frau Behrends gesellte sich nun wieder zu ihnen, goss Kaffee ein und setzt sich wie ein ordentliches Schulmädchen neben ihren Mann.
»Wir möchten Ihnen unser Beileid aussprechen«, begann Hanna das Gespräch. »Wir sind uns durchaus bewusst, dass das alles nicht einfach ist für Sie. Aber wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen. Sie haben verstanden, dass wir von der Kriminalpolizei sind?«
Vater Behrends nickte. Mutter Behrends strich ein Kissen neben sich glatt.
»Der Grund dafür ist, dass das Auto Ihres Sohnes manipuliert worden ist. Jemand hat die Spurstange angesägt.«
Hanna sah hinter der Hornbrille das Entsetzen in Behrends Augen. Der Rest des Mannes war wie erstarrt. Seine Frau sah wie eine Schlafwandlerin über die Beamten hinweg in eine weite Ferne. Es schien, als ginge sie das alles nichts an.
»Herr Behrends, Frau Behrends, kennen Sie Freunde oder Bekannte Ihres Sohnes? Können Sie uns Namen nennen?«
Behrends schüttelte den Kopf. Er rang noch immer um seine Fassung. Frau Behrends wurde nun jedoch lebendig: »Er hat viele Freunde. Vom Studium her noch. Wie hieß denn der eine, Walter?« Sie wandte sich an ihren Mann. »Mit dem hat er doch immer gelernt. Ich komm jetzt nicht drauf.« Vater Behrends schüttelte wieder nur den Kopf.
»Fällt Ihnen irgendein Name noch ein? Oder wo die Bekannten von Ihrem Sohn tätig sind?«
Es kam nichts, weder von ihm noch ihr, so sehr sie sich auch anstrengten.
»Er hätte nicht wegziehen sollen«, sagte Frau Behrends unvermittelt, als würde dies irgendetwas ändern. »Er hat hier doch noch sein Zimmer. Aber als er dann fertig war mit dem Studium, da hat er halt weg wollen. Er hat ja auch gleich so gut verdient.«
»Was hat Ihr Sohn denn studiert?«, fragte Luca.
»Betriebswirtschaft«, sagte die Mama stolz. »In Esslingen. Das ist eine ganz bekannte Hochschule für Führungskräfte.«
Eine gute, aber durchaus normale Fachhochschule, wie Hanna wusste. Jochen, ihr Zweiter, hatte ebenfalls dort studiert
»Und das hat er abgeschlossen?«, fragte sie.
»Aber ja. Er hatte in der Schule ja schon immer so gute Noten.«
»Und Sie meinen, dass er noch mit ehemaligen Studienkollegen Kontakt hatte?«, versuchte es Luca weiter.
»Ach, er kennt ja so viele Leute … Aber die Namen, nein. Walter, sag du doch mal was! Wie hießen die denn, die Studienkollegen, die mal hier waren, als er noch hier gewohnt hat? Der eine arbeitet doch auch in seiner Filiale. Dem hat er doch so geholfen. Einen sehr guten Job hat er dem vermittelt. Walter!«
Jetzt war es Vater Behrends, der in eine andere Welt abgetaucht war.
»Was hat Ihr Sohn beruflich gemacht?« fragte Hanna
»Er ist Finanzexperte bei einer Bank. Er berät Geschäftsleute bei Geldanlagen«, gab Frau Behrends bereitwillig Auskunft.
Hanna betrachtete das stolze Gesicht der Mutter. Sie hat ihn gestern begraben und weiß immer noch nicht, dass er tot ist, dachte sie. Es gab Fälle, in denen dieser Abwehrmechanismus wochenlang funktionierte, bevor der Zusammenbruch kam.
»Hatte Ihr Sohn eine Freundin?«, fragte sie.
Jetzt versteinerte das Gesicht von Frau Behrends. Ihr Mann war nun wieder präsent und fragte: »Hat da nicht mal eine junge Frau im Auto auf ihn gewartet? Ist das nicht seine …« Angesichts der Miene seiner Frau verstummte er jedoch.
»Die war nichts für ihn. Ein bisschen einfach. Von der Sprache her und so«, meinte Frau Behrends. »Von der hat er sich getrennt.«
»Wissen Sie, wie sie hieß?«
Beide überlegten. »Sabine, oder so ähnlich«, fiel es Mutter Behrends ein. »Den Nachnamen hat sie mir nie gesagt.«
»Hatte er sonst mit irgendjemandem Ärger oder Probleme?«, wollte Hanna wissen.
Die beiden sahen sie verständnislos an.
»Könnten wir einen Blick in das Zimmer Ihres Sohnes werfen?« Wenn Ludger Behrends schon etliche Zeit nicht mehr hier wohnte, war es unwahrscheinlich, dass hier noch Hinweise auf sein aktuelles Leben zu finden waren. Trotzdem wollte sich Hanna vergewissern.
Vater Behrends führte sie ins obere Stockwerk, während seine Frau die halbleeren Kaffeetassen in die Küche brachte.
Das Zimmer, das sie betraten, war als Jugendzimmer eingerichtet. Man sah, dass Mutter Behrends es hegte und pflegte. Das Bett war mit frischer geblümter Bettwäsche überzogen. Überall waren ein paar Plüschtiere verteilt, die der erwachsene Sohn mit Sicherheit nicht mehr toleriert hätte. Und auch in diesem Zimmer hingen unzählige Fotos an den Wänden, auf denen vor allem eines zu sehen war: Ludger Behrens in allen Altersklassen und Situationen. Am Pinnbrett darüber hingen wieder nur Fotos und ein paar Zettel mit Aphorismen, die eher auf die Mutter schließen ließen als auf einen Sportwagen fahrenden jungen Mann. »Wir stehen alle auf den Schultern unserer Vorderen.« – »Aufs Herz kommt es an, ob man durch Geld glücklich oder unglücklich wird.«
»Haben Ihnen die Kollegen von der Verkehrspolizei persönliche Dinge Ihres Sohnes übergeben?«, wandte sich Hanna an Behrends, der das Zimmer nicht betreten hatte und an der offenen Tür wartete.
Er nickte. »Unten.« Sie folgten ihm wieder ins Erdgeschoss, wo er schnell die Tür zum Wohnzimmer schloss, bevor er aus einem weiteren Raum einen Pappkarton holte und Hanna überreichte.
»Das braucht meine Frau nicht zu sehen. Es sind halt persönliche Sachen von ihm. Es würde sie nur verstören«, meinte er bedrückt und sah Hanna an, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
Sie nickte. »Sie hat es noch nicht wirklich verstanden, nicht wahr?«
Behrends schüttelte den Kopf. Er sah aus, als würde ihn die Bürde, die ihm der Tod seines Sohnes auferlegte, fast erdrücken. Es war nun auch besser, die beiden Eltern alleine zu lassen. Hanna und Luca zogen wieder die Schuhe an, legten die Filzpantoffeln neben die Garderobe und schlüpften in ihre Winterjacken.
»Noch eine Sache, Herr Behrends«, wandte sich Hanna noch einmal an ihn. »Wir möchten Sie und Ihre Frau jetzt wirklich in Ruhe lassen. Aber die Wohnung Ihres Sohnes, die müssten wir uns anschauen. Wir bekommen demnächst einen richterlichen Beschluss dafür. Das ist die rechtliche Grundlage für eine solche …« Hanna zögerte, das Wort zu sagen, es fiel ihr jedoch nichts Besseres ein. »… für eine solche Durchsuchung. Sie haben selbstverständlich das Recht, dabei zu sein. Sie müssen aber nicht«, fügte sie schnell hinzu, als sie das Entsetzen in Behrends’ Augen sah. »Und Ihre Frau will sich das wahrscheinlich auch nicht antun.«
»Sie war noch nie in seiner Wohnung. Er kam immer nach Hause«, sagte er mit fast tonloser Stimme.
»Wir brauchen allerdings von Ihnen eine Unterschrift, dass Sie auf Ihr Recht verzichten.«
Er nickte. Hanna drückte Luca den Karton in die Hände, ließ Behrends ein Formular unterschreiben und verstaute es wieder in der Mappe, in der sie Notizblock und die wichtigsten Formulare bei sich trug. Dann reichte sie dem trauernden Mann ihre Visitenkarte und drückte seine Hand länger als gewöhnlich: »Herr Behrends, lassen Sie Ihrer Frau Zeit. Aber holen Sie sich Hilfe. Rufen Sie mich an. Ich kann Ihnen die Adressen von Notfall-Seelsorgern geben. Sonst tragen Sie die doppelte Last. Und die eine ist schon schwer genug.«
Behrends sah aus, als wolle er nun doch noch losheulen. Er räusperte sich und brachte gerade noch heraus: »Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden.« Schnell schloss er die Haustür hinter den Kriminalbeamten, die sich durch den verschneiten Vorgarten auf den Weg zu ihrem Wagen machten.
Als sie wieder im Wagen saßen, mussten sie beide innehalten. Auch Luca war die Szene sichtlich unter die Haut gegangen. Aber es wäre nicht Luca gewesen, wenn er nicht bald wieder zu einem seiner unverfrorenen Kommentare fähig gewesen wäre: »Mein lieber Schwan. Ein echter figlio di mamma, dieser Ludger Behrends. Meine Mutter war froh, als ich ausgezogen bin.«
»Vielleicht war er auch froh, als er ausziehen durfte. Was ist in der Kiste?«, fragte Hanna,
Luca zog verschiedene Gegenstände hervor, die meisten in Klarsichthüllen gepackt: Eine Geldbörse, die Autopapiere, ein iPhone mit zerbrochenem Display, ein Schlüsselbund und eine blutverschmierte Aktentasche. Das Blut war bereits getrocknet. Trotzdem versuchte Luca, es nicht zu berühren, als er vorsichtig die Mappe öffnete. Es waren vor allem Prospekte und Formulare darin, wahrscheinlich Arbeitsunterlagen.
»Du nimmst dir zuerst das Handy vor. Sobald wir zurück sind«, wies Hanna Luca an. »Dann die andern Sachen. Mit Handschuhen. Sonst reißt dir Wildermuth den Kopf ab.«
Luca grinste und nickte.
Als sie wieder im Präsidium war, checkte Hanna zunächst ihre E-Mails. Der Durchsuchungsbefehl für die Wohnung von Ludger Behrends war noch nicht da. Sie versuchte Frenzel zu erreichen. Doch der war in irgendeiner Besprechung. Und ob sich bereits ein Richter mit der Sache befasst hatte, war auch nicht zu erfahren.
Sie rief beim Arbeitgeber von Ludger Behrends an. Dort verband sie eine junge Frauenstimme sofort mit dem Büroleiter, einem Herrn Bernhardt Winterstein. Hanna spulte ihr Sprüchlein ab und bat darum, möglichst rasch mit Vorgesetzten und Kollegen des Toten sprechen zu können.
»Kommen Sie einfach vorbei.« Winterstein schien unkompliziert zu sein. »Um vierzehn Uhr haben wir die ganze Truppe von Ludger hier im Haus. Besprechung, wie’s jetzt weitergeht – ohne ihn. Nicht einfach für uns. Aber …«, der Mann schien zu überlegen, »Sie sagten ›Kriminalpolizei‹? Und Sie ermitteln bei einem Verkehrsunfall? War Ludger irgendwie … na, wie soll ich sagen? … in irgendetwas verwickelt?«
»Woran denken Sie da?«, fragte Hanna augenblicklich zurück. Der Mann schien irgendeinen Verdacht zu haben.
Winterstein eierte herum: »Nein, ich denke an gar nichts. Man weiß ja nie … Wenn plötzlich die Kripo ermittelt …«
»Ich möchte Ihnen gerne im persönlichen Gespräch sagen, warum wir eingeschaltet wurden. Nehmen Sie sich einfach ein bisschen Zeit.«
Winterstein signalisierte wieder eine lässige Bereitwilligkeit. Doch er war verdammt neugierig, das spürte Hanna.
Dann machte sie sich daran, die wenigen Erkenntnisse, die das Gespräch mit den Eltern des Opfers gebracht hatte, im Bericht festzuhalten. Es war wirklich mager. Ludger Behrends hatte wohl seine Eltern regelmäßig besucht. Doch an seinem Leben, seinen Freund- und Liebschaften schienen sie wenig teilzuhaben. Hanna seufzte und griff in die Tüte mit Schokokeksen. Sie war leer.
Trotzdem fühlte sie sich wieder ertappt, als Luca ins Büro stürmte. Er hatte sich zurückgezogen, um sich die Habseligkeiten von Ludger Behrends vorzunehmen, die man bei ihm im Wagen gefunden hatte. Triumphierend hielt er das Handy in der Latex-behandschuhten Hand.
»Sabrina heißt sie«, sagte er, »nicht Sabine.« Er zog sich einen Stuhl zu Hannas Schreibtisch und legte seine Notizen so darauf, dass Hanna sie ebenfalls lesen konnte. In einer gut lesbaren, fast kindlichen Schrift hatte er Namen notiert, wie häufig sie angerufen hatten und von Behrends angerufen worden waren. Auch Datum und Länge der Telefonate hatte Luca feinsäuberlich aufgelistet.»Deutsche Gründlichkeit«, dachte Hanna, »und wenn er noch so sehr auf Latin Lover macht.«
»Dieser Ludger«, erläuterte Luca seine Hitliste, »hat seine Telefondaten offenbar nie gelöscht. Ich konnte also die Verbindungen der letzten drei Monate problemlos rausziehen. Und diese Sabrina, die war eine seiner Favoriten. Bis vor etwa zwei Wochen. Da war Schluss, und zwar komplett. Keiner hat mehr den andern angerufen. Die Mama war also auf dem Laufenden, was das Liebesleben vom Sohnemann betrifft.«
»Sonst noch Frauen?«
»Eine Vanessa gibt es. Die hat selbst nie angerufen. Aber Behrends hat sich unregelmäßig bei ihr gemeldet. Viel gelabert hat er mit diesen drei Typen. Manchmal ziemlich lang.« Luca deutete auf die Namen, die in der Liste recht weit oben standen. »Das ging hin und her, in etwa gleich häufig. Dann haben wir hier eine Nummer, von der er ziemlich oft angerufen wurde. Zwei bis drei Mal die Woche. Hat er aber oft nicht angenommen. Die Nummer seiner Eltern – die Mama, schätz ich mal. In den zwölf Wochen hat er dort von sich aus nur ein einziges Mal angerufen. Dann kommen Leute, mit denen er regelmäßig, so im Schnitt ein- bis zweimal in der Woche, gesprochen hat.«
Das waren schon einige mehr. Darunter fand Hanna auch den Namen Bernhardt Winterstein.
»Und dann haben wir eine ziemlich lange Liste mit Leuten, zu denen er über einen bestimmten Zeitraum intensiv Kontakt hatte, auch mal länger mit denen gesprochen hat. Dann aber verschwinden die wieder. Ich würde mal tippen, dass das Leute sind, mit denen er Geschäfte gemacht hat. Wie funktioniert denn so eine Finanzberatung? Die verticken dir doch irgendeine Geldanlage, und dann bekommst du doch nur noch Briefchen, wo drin steht, wie viel Kohle du gemacht hast.«
»Keine Ahnung«, sagte Hanna. Sie hatte wirklich keine Ahnung von Finanzgeschäften. Energisch tippte sie auf die oberen Namen auf Lucas Liste. »Diese Sabrina, ruf sie an. Bestell sie hierher. So bald wie möglich. Und diese drei, das scheint der engere Freundeskreis zu sein. Krieg raus, wer sie sind, in welchem Verhältnis sie zu Behrends standen. Und dann will ich die so bald wie möglich auch persönlich hier sehen.«
»Aye aye, Captain Janeway!« Luca stand auf und schlug die Hacken zusammen. »Gestattest du, dass ich vorher noch was esse, oder gibt’s heute Nulldiät?«, fragte er mit einem Lausbubengrinsen im Gesicht.
Es war bereits einiges nach zwölf. »Wir sollten um zwei in Vaihingen beim Arbeitgeber von Behrends sein. Wenn du vorher zumindest noch versuchst, diese Sabrina zu erreichen und den einen oder anderen von den Viel-Telefonierern«, Hanna grinste ebenfalls, »dann kannst du meinetwegen noch kurz an den Replikator.« Da Luca bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit seine Star-Trek-Vergleiche ins Spiel brachte, wusste selbst Hanna längst, dass man mit Replikatoren Essen erzeugen konnte, das nicht besonders gut schmeckte.
Luca verzog das Gesicht: »Dann doch lieber Gaggli-Eiernudeln in unserer Drei-Sterne-Kantine.«
Auch Hanna verspürte nun Hunger. Nachdem Luca gegangen war, holte sie den Joghurt, die Banane und den Apfel heraus, die sie sich am Morgen noch in aller Eile in die Aktentasche geschoben hatte. Eigentlich war es völliger Blödsinn, den sie da betrieb: Sie mampfte Schokokekse, und damit sie nicht zunahm, kasteite sie sich mit Joghurt und Obst, um zwei Stunden später wieder Hunger zu haben und wieder in die Tüte mit Keksen zu greifen. »Einfach keine mehr kaufen«, dachte sie. Doch das war leichter gedacht als getan, wenn man im Supermarkt das Obst und den Joghurt im Einkaufswagen hatte und dann an dem Regal mit den Süßigkeiten vorbeikam.