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Anmutige Tänzer, Meister der Tarnung und romantische Liebende, doch auch schwerhörige Vielfraße, launische Griesgrame und langsame Faulpelze: All das und mehr sind Seepferdchen. Man findet die kleinen Fische nicht nur in Seegraswiesen und Mangrovenwäldern, sondern ebenso im Schachspiel und in griechischen Sagen – und wie kommen sie eigentlich auf Kinderbadeanzüge, Geldmünzen und Toilettenschüsseln aus dem alten Rom? Was macht sie trotz ihrer Trägheit zu erstklassigen Jägern, warum ist ein Hirnareal nach ihnen benannt, wie können sie uns helfen, besser zu schlafen, und sogar die Robotik inspirieren? Unterhaltsam und informativ erzählt Till Hein von kuriosen Erkenntnissen der aktuellen Forschung, geht Mythen auf den Grund und lüftet so Geheimnisse über die verrückten Pferde der See.
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Seitenzahl: 281
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Till Hein
Launische Faulpelze,gefräßige Tänzerund schwangere Männchen:Die schillernde Weltder Seepferdchen
© 2021 by mareverlag, Hamburg
Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag
Coverabbildung © Slim3D/istockphoto.com
Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg
Datenkonvertierung E-Book Bookwire
ISBN E-Book: 978-3-86648-395-8
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-643-0
www.mare.de
Prolog
Die Individualisten der Meere
1. Seepferdchenflüsterin
Die Quereinsteigerin aus Visselhövede
2. Wir Gen anders
Warum Schwanzflossen überschätzt werden
3. Wie alles begann
Auf der Suche nach dem Urseepferdchen
4. We don’t need no education
Lebensphasen, Lieblingsplätze & Mobilität
5. Wie viel PS hatte Poseidons Kutsche?
Mythos & Popkultur
6. Faul jagt gut
Der Trick mit der Tarnkappe
7. Miteinander reden
Warum Seepferdchen nicht die Schnauze halten
8. Unterwasserballett
Liebe, Sex & Partnerschaft
9. Willi hat schon wieder Wehen
Das Rätsel der Männerschwangerschaft
10. Wann ist ein Mann ein Mann?
Seepferdchen & Emanzipation
11. Im Dschungel der Taxonomie
Wie viele Seepferdchenarten gibt es?
12. Von Riesen und Zwergen
Die coolsten Rosse der See
13. Tierische Liebe
Joachim Ringelnatz & seine Passion
14. Mein Freund, das Seepferdchen
Aquaristik
15. Viagra mit Flossen
Seepferdchen als Medikament
16. Von Seepferdchen lernen
Robotik & Co.
17. Seepferdchen im Kopf
Der geheimnisvolle Hippocampus
18. Endstation Schleppnetz?
Bedrohung
19. Ab ins Hotel!
Schutz
20. Zugpferde
Mit Seepferdchenkraft aus der Krise?
Quellen und Dank
Register
Als die britische Meeresbiologin Helen Scales beim Tauchen in Vietnam zum ersten Mal ein Seepferdchen erblickte, war sie wie verzaubert. »Es fühlte sich an«, schreibt sie, »als hätte ich einen Blick auf ein Einhorn erhascht, das durch meinen Garten trottete.« Ich dagegen bin eher der Schnorchler als der Taucher. Seepferdchen kannte ich lange nur aus dem Aquarium im Zoo. Und manche Leute behaupten, mir fehle der Sinn für Romantik. Das erste Seepferdchen, das ich außerhalb der kleinen, geschützten Welt des Zoologischen Gartens sichtete, trottete jedenfalls nicht. Es schwamm auch nicht. Es verhielt sich regungslos. Klein und zierlich lag es auf einem Rost, unter dem Holzkohlen glühten.
Damals wohnte ich in München. Mein Lieblingsplatz war der »Kleine Chinese« an der Fraunhoferstraße. Am besten schmeckte mir dort die Nummer 18: Hähnchen süß-sauer. Einmal führte ich meinen Onkel zum »Kleinen Chinesen« aus, einen Profi-Gewerkschafter, der schon oft in China gewesen war. Nachdem wir genussvoll Nummer 18 verspeist hatten, senkte er die Stimme und vertraute mir ein Geheimnis an. »In ihrer Heimat kochen die Chinesen völlig anders«, flüsterte er. »Noch tausendmal besser!«
Natürlich war ich begeistert, als ich im Sommer 2004 für das Magazin Neon in die chinesische Hauptstadt reisen durfte, um die authentische chinesische Küche im Ursprungsland zu erkunden. Unter anderem lernte ich in Peking, dass es »chinesisches Essen« gar nicht gibt – dafür aber unzählige verschiedene, extrem leckere regionale Varianten der Kochkunst. Besonders faszinierten mich die knallbunten buddhistischen Fastenspeisen aus einer Bergregion mit einem sehr komplizierten Namen und natürlich »Peking-Ente«. Doch die Arbeit als Reporter ist nicht immer ein Zuckerschlecken: Auch gegrillte Schlangenhaut sollte ich kosten – und eben geröstete Seepferdchen. Kostenpunkt für die anmutigen, wenige Zentimeter großen Tierchen mit Pferdekopf vom Grill: umgerechnet fünf Euro.
Damals wusste ich noch kaum etwas über Seepferdchen, außer dass sie toll aussehen. Und ich gestehe: Ich habe eines verspeist. Tierleid hin oder her. Schließlich bin ich kein Vegetarier. Und als Journalist, wusste bereits die TV-Legende Hanns Joachim »Hajo« Friedrichs, darf man sich mit nichts gemeinmachen. Auch nicht mit einer guten Sache wie der fleischlosen Ernährung.
Das Seepferdchen vom Grill hatte eine sandig-körnige Konsistenz. Sein Aroma erinnerte an Pappe und Ruß. »Halb garer Schlangenhaut geschmacklich überlegen«, notierte ich. Aber ich hatte auch als junger Mensch schon mal besser gegessen. Manchen Berufsfeinschmeckern dagegen scheint gegrilltes Seepferdchen zu munden, erfuhr ich Jahre später aus einem Fachblatt. »Wie grob gemahlene Nüsse«, schwärmte ein Gastrokritiker des Kulinarik-Magazins Beef! in seinem Artikel. Auch er hatte in China Seepferdchen vom Grill gekostet. Vielleicht können diese Tierchen also nicht nur ihre Farbe, sondern auch ihr Aroma verändern?
Zuzutrauen wäre es ihnen. Denn Seepferdchen sind die großen Individualisten der Meere. Echte Freaks. Selbst Fachleute wundern sich mitunter, dass solche Wesen tatsächlich existieren. »Als Gott das Seepferdchen erschuf«, sagt der Meeresbiologe und Fischexperte Jorge Gomezjurado aus Baltimore, der viele Jahre über diese Tiere geforscht hat, »war er wahrscheinlich besoffen.« Gut möglich, dass der Alkohol den Herrgott erst so richtig locker gemacht hat. Jedenfalls hat er bei kaum einem anderen Geschöpf auf eine ähnlich schrille Konstruktionsformel gesetzt wie bei den Seepferdchen: ein Torso mit Tragebeutel wie bei einem Känguru, unabhängig voneinander bewegliche Chamäleon-Augen, eine lang gezogene Schnauze wie bei einem Ameisenbär sowie eine Art Affenschwanz zum Festklammern. Dazu eine Krone auf dem Haupt, so individuell ausgestaltet wie der Fingerabdruck beim Menschen. Wozu das alles gut sein mag?
Die Lebensweise der Seepferdchen ist nicht minder eigen als ihre Physiognomie, erfuhr ich bei der Recherche zu diesem Buch. Und die Menschheit könnte viel von diesen Tierchen lernen: Sauteure Manager-Workshops zur »Entschleunigung« benötigen die Rosse der Meere jedenfalls nicht, und sie sind auch keine Risikopatienten für Herzinfarkt. Sowohl den Hengsten als auch den Stuten der See scheinen Hektik und Stress völlig fremd zu sein. Was die Gemächlichkeit bei der Fortbewegung angeht, halten Seepferdchen sogar einen Rekord: Das Zwergseepferdchen (H. zosterae) ist der langsamste Fisch der Welt. Und auch im Vergleich zu den meisten anderen Rossen der Meere sind an Land selbst Weinbergschnecken erstklassige Sprinter. Fraglich also, ob Seepferdchen bei ihrem lahmen Tempo im Wasser das Schwimmabzeichen »Seepferdchen« schaffen würden.
Ihre Ausstrahlung ist meditativ, nicht aggressiv. Aber Seepferdchen sind Raubtiere, trotz ihres niedlichen Aussehens. Ihre enorme Gefräßigkeit ist sogar ähnlich charakteristisch wie ihr einschläfernd langsames Schwimmen: Bereits ein zwei Wochen junges Seefohlen verschlingt pro Tag bis zu 4000 Kleinstkrebse. Wie aber können solche Phlegmatiker in der Wildnis überhaupt Beute machen? Zumal sich die Rosse der See erstaunlich laut verhalten: Zwar schnauben und wiehern sie nicht, doch auf der Jagd, beim Flirten und bei Frustrationen aller Art geben sie rätselhafte Knackund Brummgeräusche von sich. Das Kuriose: Seepferdchen sind schwerhörig. Sie nehmen Töne deutlich weniger gut wahr als viele andere Fische – und riskieren durch den selbst erzeugten Lärm, dass Fressfeinde auf sie aufmerksam werden. Forscher wie der Zoologe und Bioakustiker Friedrich Ladich von der Universität Wien erkunden, warum sie dennoch nicht die Schnauze halten (vgl. Kapitel 7).
In der Welt der Wissenschaft werden Seepferdchen seit 1570 als Hippocampi (Einzahl: Hippocampus) bezeichnet – die Gattung wird in diesem Buch jeweils mit H. abgekürzt, es folgt die lateinische Bezeichnung der Art, zum Beispiel H. zosterae für Zwergseepferdchen –, nach dem Meeresungeheuer Hippokampos aus der griechischen Mythologie der Antike. Hippos bedeutet auf Altgriechisch »Pferd«, kampos steht für »Seeungeheuer« – und der Kopf dieser Tiere ähnelt bekanntlich dem eines Pferdes, während der Hinterleib fisch- oder schlangenartig aussieht.
Doch worum handelt es sich bei Seepferdchen aus biologischer Sicht? Im Mittelalter vermuteten Kaufleute aus Europa beim Anblick solcher Wesen, Babydrachen von fernen Inseln vor sich zu haben. Und frühe Naturwissenschaftler klassifizierten die Seepferdchen als »Insekten der Meere«. In Wirklichkeit aber gehören sie ins Reich der Fische, auch wenn das auf den ersten Blick – schon mangels Schuppen – nicht so aussehen mag.
Seepferdchen sind sehr verschieden: Manche ausgewachsene Seepferdchen sind kleiner als ein menschlicher Fingernagel, andere erreichen eine Länge von bis zu 35 Zentimetern. Zwergseepferdchen (H. zosterae) werden nicht einmal ein Jahr alt, europäische Langschnäuzige Seepferdchen (H. guttulatus) hingegen bringen es auf bis zu zwölf Jahre, zumindest im Aquarium. Dafür sind Zwergseepferdchen schon mit knapp drei Monaten geschlechtsreif, und in einem einzigen Jahr können bei dieser Art drei neue Generationen entstehen.
Mehr als 120 unterschiedliche Spezies von Seepferdchen haben Wissenschaftler über die Jahrhunderte beschrieben. In manchen Fällen meinten sie es dabei allerdings zu gut: In Wahrheit gibt es wohl nicht einmal halb so viele Arten dieser Tiere, zeigt die neuere Forschung. Es ist aber auch gut möglich, dass wieder andere Seepferdchenarten noch nie gesichtet wurden. Denn diese Fische sind Meister der Tarnung. Viele können ihre Farben nach Lust und Laune wechseln: von Taubenblau zu Moosgrün etwa oder von Purpurrot mit pinkfarbenen Knubbeln zu Gelb mit orangefarbenen Höckern. Andere Spezies zeigen entweder schwarze Streifen, gelbe Punkte oder ein grün-graues Camouflage-Muster. Viele Forscherinnen und Forscher sind überzeugt, dass das veränderliche Farbenspiel nicht nur der Tarnung dient, sondern – wie die Klick- und Brummtöne – auch der Kommunikation mit Artgenossen.
So mancher große Geist liebte die Rosse der Meere: »Die Wunderwerke Gottes und die Geschicklichkeit der Natur erzeigen sich in vielen wunderbarlichen Geschöpfen«, schrieb etwa der renommierte Naturforscher Conrad Gesner aus Zürich im 16. Jahrhundert, »inbesonderheit in diesem gegenwärtigen Meerthier oder Fisch.« Doch wie fast alles Interessante auf der Welt polarisieren auch Seepferdchen. »Ich halte sie für langweilige und geistlose Geschöpfe«, notierte der Zoologe Alfred Brehm aus Thüringen, Verfasser des berühmten Nachschlagewerks Brehms Tierleben, rund 300 Jahre nach Gesner über diese geheimnisvollen Flossentiere.
Ob Seepferdchen zu geistigen Höhenflügen in der Lage sind, ist in der Tat umstritten. Manche Zoologen gehen inzwischen davon aus, dass Fische so etwas wie »Bewusstsein« haben und über sich und ihre Handlungen reflektieren können. Aber vielleicht brauchen Seepferdchen und andere Flossentiere ja, im Gegensatz zu Menschen, gar nicht ständig zu grübeln? Wie singt Iggy Pop, der »Godfather of Punk«, so schön: »The fish doesn’t think – because the fish knows everything.«
Und langweilig? Wie die singenden Buckel- und Schwertwale sind Seepferdchen Künstler. Ihre Talente liegen vor allem in den Bereichen Ausdruckstanz und Farbdesign. Als Verführer sind sie erst recht eine Wucht: Ihre Hochzeitstänze lassen selbst harte Seebären dahinschmelzen. Zur Begrüßung nicken Hengst und Stute einander galant zu. Dann legen sie die Schwanzspitzen ineinander und turteln eng verbandelt herum. Manchmal halten sie für eine Weile inne und schmiegen die Schnauzen aneinander wie zu einem Kuss. Wieder und wieder umkreisen sie einander und lassen ihre Körper in unterschiedlichen Farbtönen schillern. Bis zu neun Stunden können ihre Hochzeitstänze dauern. Und während Menschen in der Regel (falls überhaupt) nur ein Mal heiraten – zumindest denselben Partner –, wiederholen Seepferdchen ihren Hochzeitstanz alle paar Wochen. Zudem haben Verhaltensforscher herausgefunden, dass viele Seepferdchen einander treu bleiben, bis der Tod sie scheidet. Inzwischen aber hat sich herausgestellt, dass diese Fische auch anders können: Je nach Lebenssituation neigen manche auch zu Partnertausch und Gruppensex.
Sie sind weder Moralapostel noch klassische Heroen, doch als Lebenskünstler kommen sie rund um den Erdball erstaunlich gut zurecht – falls ihnen der Mensch nicht das Wasser abgräbt. Viele Leute glauben, dass Seepferdchen ausschließlich in warmen Gewässern in Äquatornähe heimisch seien. In Wirklichkeit aber bevölkern sie sehr viele unterschiedliche Meeresgebiete. Mit viel Geduld und etwas Glück kann man sie fast rund um die Welt finden, außer in Schnee und Eis. Auch wenn die meisten Seepferdchen tatsächlich in den Küstengewässern der tropischen und gemäßigten Breiten hausen: Dort verbergen sie sich in Seegraswiesen oder Mangrovenwäldern. Andere bevorzugen Korallenriffe oder die Mündungsgebiete von Flüssen, sogenannte Ästuare. Aber auch weit draußen, auf hoher See, hieven Fischer mit ihren Schleppnetzen als Beifang nicht selten Seepferdchen aus den Tiefen des Meeres.
Bereits seit weit über tausend Jahren prägen sie die menschliche Vorstellungswelt: In der Mythologie der griechischen Antike ziehen Seepferde die Kutsche des Meeresgottes Poseidon und lassen Meeresnymphen auf ihrem Rücken reiten. Manche Kulturhistoriker vermuten zudem, dass die Figur des Springers beim Schach nicht dem Pferdekopf nachempfunden wurde, sondern dem Haupt des Seepferdchens. Denn als dieses Brettspiel vor rund 1500 Jahren in China erfunden wurde, spielten Pferde im Reich der Mitte noch keine Rolle – Seepferdchen hingegen sehr wohl. In unseren Breiten wiederum behauptete der »Lügenbaron« Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen im 18. Jahrhundert felsenfest, er sei auf einem Seepferdchen geritten. Und in aktuellen Pokémon-Videospielen aus Japan treibt dieser Tage eine Art Killer-Seepferdchen ihr Unwesen.
Die Namen realer Rosse der Meere regen zum Träumen an: Zebraschnauzen-Seepferdchen etwa, Paradoxes Seepferdchen oder Tigerschwanz-Seepferdchen. Manche Menschen lieben Seepferdchen über alles: Die Bankkauffrau Elena Theys etwa hängte vor gut zehn Jahren ihren Beruf an den Nagel, um sich ganz den Rossen der See zu widmen. Anderen wird angesichts von diesen Tieren gar so warm ums Herz, dass ihnen die Wahrnehmung Streiche spielt: Legendär ist eine Szene aus dem Kultfilm Man spricht deutsh aus dem Jahr 1988: Das längliche, bräunliche Gebilde, das die Urlauberfamilie aus Bayern da beim Schnorcheln im Mittelmeer voll Begeisterung aus dem Wasser fischen will, ist in Wirklichkeit nicht dem Bauch eines Seepferdchenmännchens entschlüpft, sondern dem Gesäß eines Menschen.
Dem Bauch eines Männchens? Genau. Bei den Rossen der Meere werden die Männer schwanger – ein Unikum im gesamten Tierreich. Wie und warum es zu dieser Besonderheit kam, wollen Forscher aus unterschiedlichen Ländern nun entschlüsseln. Genderforscherinnen wiederum bietet die Männerschwangerschaft eine Steilvorlage, um traditionelle Geschlechterrollen in der mensch-lichen Gesellschaft zu hinterfragen.
Seepferdchen sind so besonders, dass ihnen seit Jahr und Tag auch Heilkräfte zugeschrieben werden: Zur Zeit der Renaissance wurden sie in Mitteleuropa als Wundermittel gegen Fehlsichtigkeit und Seitenstechen ebenso genutzt wie als Arznei gegen Tollwut oder mangelnde Libido. »Diese Thier sollen bewegen zu unkeuschheit«, schrieb etwa der Universalgelehrte Conrad Gesner. »Item gedörrt, gepülvert und eingenommen, soll wunderbarlich helffen, denen so von wütenden Hunden gebissen sind.« Bis ins 18. Jahrhundert fanden sich Seepferdchenarzneien in Europa in vielen Hausapotheken: gegen Mündigkeit zum Beispiel, gegen Haarausfall oder gegen Impotenz.
In Asien verschreiben Ärzte sie bis heute im großen Stil. Ein Klassiker aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), der gegen Leiden fast aller Art helfen soll, ist gestampftes Seepferdchen, vermischt mit Honig, Ginseng und roten Oliven. Vor allem aber wird Seepferdchen in der TCM als eine Art natürliches Viagra angepriesen – was prompt auch so manche Interessenten aus dem Westen hinter dem Ofen hervorlockt. Ein Anbieter von Potenzmitteln aus Düsseldorf etwa vertreibt im Internet unter dem Produktnamen »Super Hard« Präparate gegen »geringen Liebestrieb«, Impotenz und vorzeitige Ejakulation, die (neben Hirschpenis und Ginseng) getrocknete, zu Pulver gemahlene Seepferdchen enthalten. Auch hierzulande soll also ausgerechnet der pulverisierte Leib der einzigen Tiere der Welt, bei denen die Männchen bei der Fortpflanzung die Frauenrolle spielen, dabei helfen, den Penis zu stählen.
Doch nicht nur von Erektionsschwierigkeiten geplagte Menschen suchen Hilfe bei den Rossen der Meere: Seit Jahrtausenden inspirieren diese Tiere Mystiker, Maler, Kunsthandwerker und Geschichtenerzähler aus aller Welt. Schmuckstücke, Schnitzereien, Wandgemälde und Wappen ziert ihr Konterfei ebenso wie antike Vasen und moderne Toilettenschüsseln. Seepferdchen dienen als Talismane zur Abwehr böser Geister und sollen Fischern und Seeleuten Glück bringen. Den Dichter und Kabarettisten Hans Gustav Bötticher (1883–1934) aus Wurzen inspirierten die Tierchen nicht nur zu einem seiner schönsten Gedichte. 1919 gab er sich – als Ausdruck seiner engen emotionalen Verbundenheit mit diesen Fischen – den Künstlernamen Joachim Ringelnatz. Denn »Ringelnass«, zuweilen auch »Ringelnatz« geschrieben, ist die seemännische Bezeichnung für ein Seepferdchen, das Glück bringt.
Manche Rosse der Meere sind in Wirklichkeit gar keine: Im Jahr 1972 offerierte das Londoner Auktionshaus Christie’s einen »kleinen, vertrockneten Gegenstand von der Form eines Seepferdchens«, wie es im Katalog hieß. Das Objekt war in getrocknetem Zustand zweieinhalb Zentimeter lang und zierte einst, als es noch von Blut durchströmt wurde, den Unterleib des Imperators Napoleon Bonaparte – als dessen Gemächt. 1977 wechselte dieses »Seepferdchen« für 11 000 Francs (damals etwa 3280 Deutsche Mark) erneut den Besitzer. Bei einer Auktion in Paris ersteigerte es ein Urologe.
Auch eine bedeutende, paarig vorhandene Struktur im mensch-lichen Gehirn hat die Form eines Seepferdchens – und wird seit dem frühen 18. Jahrhundert »Hippocampus« genannt, in Anlehnung an den wissenschaftlichen Gattungsnamen der Rosse der Meere. Ohne diese Hippocampi im Kopf hätten wir zum Beispiel keine lebendigen, mit Gefühlen verbundenen Erinnerungen daran, wie es zu unserem ersten Kuss kam oder wir einmal knapp dem Tod von der Schippe gesprungen sind.
Wissenschaftler, Designerinnen und Ingenieure setzen auf Seepferdchenpower: Ende des 20. Jahrhunderts stellte ein japanisches Forscherteam fest, dass seepferdchenförmige Kissen besonders erholsamen Schlaf fördern. Der raffiniert gebaute Hinterleib wiederum dient Robotikern als Anregung zur Konstruktion robuster, flexibler Greifhände. Doch welche Vorteile bietet der außergewöhnliche Körperbau dieser Tiere ihnen selbst? Sind sie mit Pferden oder Flusspferden verwandt? Wie viele Arten von Seepferdchen gibt es wirklich? Lässt sich von diesen Fischen lernen, was echte Männlichkeit ausmacht? Wie sind sie entstanden? Ist an der Heilkraft von getrockneten Seepferdchen etwas dran? Wie verbringen sie ihren Alltag? Eignen sie sich für Berufstätige als Haustier? Verehrten die Aborigines in Australien in Wirklichkeit gar nicht die Regenbogenschlange als wichtigste Schöpfergestalt, sondern das Seepferdchen? Wie könnte die Forschung zur Genetik dieser Fische HIV-Patienten helfen? Und nicht zuletzt geht dieses Buch auch der Frage nach: Lassen sich die Seepferdchen, deren größter Feind der Homo sapiens ist, noch vor dem Aussterben bewahren?
Um so manche Art aus dieser Gattung machen sich Experten nämlich zunehmend Sorgen. Insbesondere die Schleppnetzfischerei und die Zerstörung ihrer Habitate bringen viele Rosse der Meere immer stärker unter Druck. Manche Tierschützerinnen hoffen allerdings, dass gerade die Seepferdchen durch ihre Schönheit und ihr Charisma die Menschheit zur Besinnung bringen und entscheidend zur Rettung der Meere beitragen könnten: als eine Art magische Maskottchen.
Crazy Horse: eine Hommage an die großen Individualisten der Meere, die beweisen, dass auf dieser Welt wirklich alles relativ ist – auch die Normalität.
Ein blassgrauer Himmel hängt tief über dem platten Land. Regen prasselt auf den Asphalt. Irgendwo an der Hauptstraße, links und rechts Wohnhäuser, Wiesen, Felder und riesige Pfützen, prangt an einem Häuschen das Ladenschild »Meerestierhandlung Seepferdchen24«. Mitten in der norddeutschen Provinz, im Hinterland von Bremen. Hier also arbeitet die Seepferdchenflüsterin Elena Theys.
Bald darauf stehe ich neben ihr, vor einem breiten Aquariumbecken, und staune: Sechs weiß-braun gesprenkelte Seepferdchen haben ihre Wickelschwänze wild ineinander verknotet. Wie in Trance schmiegen sie sich aneinander und pressen sich gegen die Scheibe. Seepferdchen sind sehr soziale Wesen, habe ich gelesen. Und Kuschelbären. Während der Balz sollen Männchen und Weibchen ihre Hinterleiber oft anmutig ineinanderlegen und Schwänzchen haltend durch die Unterwasserwelt flanieren. Doch was geht hier ab? Eine Orgie?
Elena Theys schüttelt den Kopf. »Diese Seepferdchen folgen gerade einfach ihrem Instinkt, sich irgendwo festzuklammern«, erklärt sie und lacht. Und mangels anderer Haltegriffe in der Nähe nutzten sie dafür eben Artgenossen – daher das Kuddelmuddel. Anders als Seepferdchen in der Wildnis seien die Tiere hier an Menschen gewöhnt, betont die Chefin der Meerestier-Zoohandlung von Visselhövede. »Und momentan konzentrieren sie sich voll auf uns.« In der Tat scheinen die Seepferdchen uns anzuglotzen, genau wie wir sie. »Sie suchen den Weg zu uns«, flüstert Theys. Durch die Glasscheibe. Nach mehr als zwei Jahren hier im Aquarium.
Besonders clever scheinen Seepferdchen also nicht zu sein. Oder hat sie die Liebe blind gemacht, und sie wollen aus diesem Grund mit dem Kopf durch die Wand? »Seepferdchen sind sehr sensibel«, betont Theys. Auf unterschiedliche Menschen würden sie »äußerst differenziert« reagieren. Und ich sei den Tieren hier im Becken offensichtlich sympathisch.
Elena Theys, 59, darf man glauben. Seit 1986 hält sie Fische. Vor zwei Jahrzehnten nahm sie ihr erstes Meerwasseraquarium in Betrieb, 2004 entbrannte sie in heißer Liebe zu den Seepferdchen. Mit ihrer Rockstar-Mähne, dem verwaschenen Sweatshirt und der Jogginghose sieht sie wie eine Erzieherin aus einem Alternativ-Kindergarten aus. Doch bevor sie auf Seepferdchenflüsterin umsattelte, war sie Bankangestellte. Seit mehr als zehn Jahren verkauft Theys nun Qualitätsseepferdchen und andere Meerestiere an Liebhaber in ganz Deutschland, der Schweiz und Österreich. Viele Kunden holen die Tiere direkt im Laden ab. Andere lassen sie sich in mit ausreichend Salzwasser gefüllten Plastiksäcken, mit Styropor ummantelt, per Kurier zuschicken. Ihre günstigsten Fische, junge Guppys, kosten derzeit 0,75 Euro das Stück, eine Putzergarnele macht 14,90 Euro. Seepferdchen gehören zum gehobenen Segment. Etwa 100 Euro muss man für ein solches Tier auf den Tisch legen. Viele Kunden wünschen sich ein Pärchen. Dafür verlangt Theys rund 250 Euro.
Ohne die Expertise dieser Frau wären sogar Betreiber öffentlicher Großaquarien in Zoos mitunter aufgeschmissen. Egal, ob es um Fortpflanzung, Ernährung oder Krankheiten geht: Sind die promovierten Fachleute mit ihrem Latein am Ende, fällt der Autodidaktin aus Visselhövede oft noch immer das Richtige ein. Einmal fragten zum Beispiel Kollegen vom Zoo-Aquarium in Münster verzweifelt um Rat: Ihre Seepferdchen sahen völlig verbeult aus. Unter der Haut hatten sich Gasblasen gebildet. Durch eine Übersättigung des Wassers im Aquarium mit Sauer- und Stickstoff kann diese gefährliche Krankheit ausgelöst werden, erzählt Theys. Viele Seepferdchen sterben daran.
Wie in der Fachliteratur empfohlen, hatten die Münsteraner die erkrankten Tiere sofort in ein Quarantänebecken ausquartiert. Als die Symptome abklangen, setzten sie die Seepferdchen ins alte Aquarium zurück – und sofort bildeten sich wieder Blasen unter der Haut. Medikamente gibt es keine gegen die Gasblasenkrankheit. Was also tun? Theys empfahl, die Wassertemperatur im Becken auf 23 Grad zu senken und die Filterung mit Aktivkohle wegzulassen. Prompt wurden die Seepferdchen wieder gesund.
Seit sechzehn Jahren hat Elena Theys keinen Tag ohne Seepferdchen verbracht. Ständig lerne sie Neues über ihre Schützlinge, sagt sie. »Von manchen Menschen wenden sie sich sofort ab«, erzählt die Tierhändlerin, während wir weiter das Kuddelmuddel der braun-weißen Seepferdchen im Aquarium bestaunen. Neulich sei zum Beispiel eine Oma von deren Enkeltochter in den Laden gezerrt worden. Das Mädchen war verrückt nach Seepferdchen, die Oma hatte dafür null Verständnis. »Sobald die alte Dame ans Becken herantrat, versteckten sich die Seepferdchen im hintersten Winkel«, erinnert sich Theys. »Und sehen Sie selbst«, sagt sie. »Jetzt fühlen die Tiere sich wohl.«
Bei den sechs ineinander verknoteten Tierchen handelt es sich um Linienseepferdchen (H. erectus), eine Spezies, die im Westatlantik heimisch ist, erzählt Theys, während sie mit dem Zeigefinger zärtlich an der Scheibe des Aquariums auf und ab gleitet. Den umgangssprachlichen deutschen Namen haben sie wohl aufgrund ihrer schmalen Querstreifen erhalten.
Hat sich das Licht im Laden verändert? Oder sind die Tiere tatsächlich heller geworden? Plötzlich wirken sie, als hätte sie jemand mit einer weißlichen Lasur bepinselt. »Eindrucksvoll, nicht wahr?«, sagt Theys und lächelt. »Jedes Mal, wenn ich sie streichle, werden sie heller.« Zärtlichkeit scheinen sie also zu mögen – Glasscheibe hin oder her. »Auch bei der Balz erblassen Linienseepferdchen immer.« Elena Theys wertet das als Beleg dafür, dass die Fähigkeit zur Farbveränderung vieler Seepferdchen nicht ausschließlich der Tarnung diene, sondern auch dazu, Gefühle auszudrücken.
Auch Biologinnen vertreten diese Theorie. Doch zur Wissenschaft hat die Autodidaktin ein ambivalentes Verhältnis. »Die Meeresforscher haben bisher stärker von uns Aquarianern und Züchtern profitiert als umgekehrt«, sagt Theys selbstbewusst. Und mitunter würden Forscher über ihre Lieblingstiere gar »falsche Mythen« verbreiten. »Ich verbiete es meinen Seepferdchen daher strikt, manche Fachbücher zu lesen.« Nicht wenige Fachleute würden zum Beispiel davon abraten, Seepferdchen gemeinsam mit anderen Fischen zu halten, ärgert sich Theys. »Dabei ist das totaler Quatsch! Meine Erfahrungen aus den letzten sechzehn Jahre beweisen das Gegenteil.«
Ihr erstes Aquarium unterteilte sie noch mit Gaze in zwei Bereiche: einen für die Rosse der Meere, den anderen für die Clown- und Doktorfische. Doch bald löste der Stoff sich aus der Verankerung, und die künstliche Artentrennung war futsch. »Die Einzigen, die irritiert reagierten, waren die Clownfische«, erinnert sich Theys. »Sie brauchten eine Woche, um sich an ihre seltsamen, schuppenlosen neuen Mitbewohner zu gewöhnen.« Die Seepferdchen dagegen zeigten weder Angst noch Scheu – und das Zusammenleben klappte prima. Seither setzt Theys im Aquarium auf Multikulti. Sie hielt ihre Schützlinge zum Beispiel auch schon erfolgreich als Mitbewohner in einem Becken mit Zwergkaiserund Zwerglippfischen. Ein Zusammenleben mit Putzergarnelen dagegen könne riskant sein. Manche dieser Krebstiere räumen bei Heißhungerattacken schwangeren Seepferdchenmännchen nämlich die Bauchtasche aus und futtern die heranreifende neue Generation bereits vor deren Geburt weg. Dennoch ist Theys überzeugt, dass Seepferdchen generell lieber mit vielen verschiedenen Fischen zusammenwohnen als ausschließlich unter Artgenossen.
Regelmäßig hält sie Gastvorträge bei Aquarianern in ganz Deutschland. Auch auf YouTube gibt sie ihr Wissen weiter. Eine ihrer Botschaften: »Wenn Seepferdchen im Becken verhungern, darf man nie den anderen Fischen die Schuld geben.« Die meisten anderen Flossentiere seien zwar in der Tat schneller als ihre Lieblinge. Aber wo sei das Problem? »Manche Leute haben ja auch zwei Hunde, von denen einer dominant ist«, sagt sie. Dann müsse man den beiden eben so viel Futter geben, dass, wenn der Dominante seinen Hunger gestillt habe, auch für den Zarteren noch genug abfalle. So einfach sei das auch bei Fischen.
Einsteigern empfiehlt sie Seepferdchen, die in einem Aquarium geboren wurden. Schon weil es Geduld und Erfahrung brauche, Wildfänge von Lebend- auf Frostfutter umzugewöhnen. Ein weiterer Vorteil von Seepferdchen aus Nachzuchten: Sie sind zutraulicher, weil sie von klein auf ohne Gefährdung durch Fressfeinde aufwuchsen und Menschen kennen.
Wenn man dem Internet glaubt, brauchen diese Fische wenig Platz: Auf Portalen von Seepferdchenfans heißt es, dass für drei Pärchen ein 80-Liter-Becken ausreiche. »Ja, ja«, spottet Elena Theys und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. Dickbauchseepferdchen (H. abdominalis) zum Beispiel werden 35 Zentimeter groß, sagt sie. »Die müsste man in einem solchen Minibecken stapeln.«
Dutzende Arten von Seepferdchen gebe es auf der Welt, erzählt sie, alle mit ihren Besonderheiten. Und dennoch vertraut auch Theys auf einige Faustregeln: Meerwasseraquarianern mit Erfahrung empfiehlt sie zur Haltung von zwei bis drei Seepferdchenpärchen ein Becken, das mindestens 130 Liter fasst. Greenhorns dagegen für dieselbe Bewohnerschaft ein fast doppelt so großes Becken. Denn bei der hohen Futtermenge, die man benötige, sei es nicht immer leicht, die Übersicht zu bewahren. Und aufgrund der Panzerung dieser Tierchen falle es Neulingen zum Beispiel oft schwer, zu erkennen, ob die Bauchdecke eines Seepferdchens wegen Unterernährung eingefallen sei.
Ihre Zauberformel zur Ernährung: »Jedes Seepferdchen braucht fünfmal so viel Futter wie ein anderer Fisch gleicher Größe.« Egal ob es sich um ein Zwergseepferdchen (H. zosterae) handelt, das keine drei Zentimeter misst, oder ein riesiges Dickbauchseepferdchen. »Seepferdchen haben keinen Magen, nur einen Darm«, erklärt Theys. Daher seien sie schlechte Futterverwerter. »Das verdeutlicht aber in erster Linie, was für erstklassige Jäger sie sind. Denn sonst hätte die Evolution bei diesen Tieren sicherlich für einen effizienteren Verdauungsapparat gesorgt.« Eine weitere Faustregel: »Man muss jeden Tag so viel Futter ins Becken geben, dass die Seepferdchen sich mindestens sechzig Minuten lang satt fressen können, ohne dass ihnen schnellere, noch immer hungrige Fische das Futter streitig machen.« Dann sei man auf der sicheren Seite. Ansonsten macht sie Seepferdchenhaltern Mut zum Experimentieren. »Das Leben ist ein Abenteuerspielplatz«, sagt sie. Unterschiedliche Impulse und Anregungen seien daher auch für diese Tierchen meist vorteilhaft.
Mittagessen! Elena Theys tritt an ihren großen Kühlschrank mit Futtervorräten und greift eine Schachtel heraus. Dann öffnet sie den Deckel eines Aquariums und lässt einen schneeweißen Würfel ins Wasser gleiten, etwas größer als ein Zuckerstückchen für den Kaffee. Eine Weile schwebt der Würfel im Becken. Dann zerfleddert er. Es bilden sich unzählige Fusseln, die wie Schneeflocken aussehen. »Mini-Schwebegarnelen«, erklärt Theys. Zuvor waren sie tiefgefroren und in Würfelform gepresst, im lauwarmen Wasser tauen sie auf.
Gemächlich pirschen sich zwei Seepferdchen heran, senkrecht aufgerichtet, wie man diese Tiere aus Bilderbüchern kennt. Ohne jede Hektik kommen sie den Fusseln immer näher. Und dann – schwupp! Plötzlich sind alle Schwebegarnelen weg. War ich kurz abgelenkt? Die Meerestier-Zoohändlerin schüttelt den Kopf. »Seepferdchen saugen Beute mit ihrer Röhrenschnauze schneller ein, als das menschliche Auge gucken kann.« Besonders gerne mögen sie Mysis-Schwebegarnelen, die aufgrund ihrer Transparenz auch Glaskrebse genannt werden. Ist nichts Schmackhafteres da, verzehren sie aber auch Mini-Salzwasserkrebse (Artemia). Und: »Fressen neu erworbene Tiere nach drei Tagen noch immer nicht, sollte man sich vom Händler oder Tierarzt beraten lassen.«
Die Seepferdchenpassion von Elena Theys begann mit einem Missverständnis: 2004 war sie nach längerer Zeit mal wieder in Süddeutschland zu Besuch, in ihrer alten Augsburger Heimat, erzählt die Wahl-Visselhövederin. Im Vorbeigehen blickte sie kurz ins Schaufenster der örtlichen Zoohandlung. Die Vitrine war mit zwei riesigen Seepferdchen aus Kunststoff dekoriert, die orangefarben leuchteten. »Wow!«, dachte Theys. »Was für tolle Lampen!« Da begannen die Tiere sich plötzlich zu bewegen. »Das sind ja gar keine Leuchtkörper«, erkannte Theys. »Das sind lebendige Seepferdchen in einem Aquarium!«
Elena Theys konnte sich kaum sattsehen. Sie stürmte ins Geschäft und fragte dem Verkäufer Löcher in den Bauch. Die beiden Rosse der See, fast dreißig Zentimeter groß, seien Wildfänge aus Brasilien, erfuhr sie. Und es handle sich um ein Liebespaar. Woran man das erkenne, wollte sie wissen. In der Augsburger Zoohandlung hörte sie erstmals von den Hochzeitstänzen und der Männerschwangerschaft bei diesen Fischen.
Für 150 Mark kaufte sie die beiden Flossentiere. In einem mit Meerwasser gefüllten Plastikbeutel brachte sie das Pärchen wohlbehalten nach Norddeutschland, quartierte sie zu Hause in einem Aquarium ein – und eine verrückte Geschichte nahm ihren Lauf.
Normalerweise gebe sie ihren Seepferdchen keine Namen, sagt Theys und streicht sich die langen Haare aus der Stirn. »Es fällt mir auch so schon oft schwer genug, Tierchen an Kunden abzugeben.« Namen würden Bindung und Trennungsschmerz noch verstärken. Bei Individuen, die ihr besonders ans Herz wachsen, hält sie diese Regel aber mitunter nicht durch: Den Seepferdchenhengst Charly jedenfalls wird sie nie vergessen – das stärkste Männchen aus der Herde ihrer »Brasilianischen Riesen«. Eine orangefarbene Galionsfigur, der Physiognomie von Charly liebevoll nachempfunden, schmückt bis heute das Eingangsportal der Meerestierhandlung. »Charly wurde über sieben Jahre alt«, erzählt Elena Theys und strahlt übers ganze Gesicht. Für ein Seepferdchen im Aquarium ist das ein beinahe biblisches Alter. Aber greifen wir nicht vor.
Die Ernährung sei bei Wildfängen die Krux, hatte sie der Augsburger Zoohändler 2004 vorgewarnt: Solche Seepferdchen akzeptieren nur lebendes Futter. Sonst treten sie in Hungerstreik. Theys kam eine Idee. Sie flitzte im Auto nach Cuxhaven an die Nordsee hoch und bequatschte dort Krabbenfischer, bis diese ihr das Kleingetier aus ihren Netzen überließen. Zwei große Eimer füllte sie mit winzigen Schwebegarnelen, Flohkrebsen und Asseln. Zu Hause im Becken war die Begeisterung groß. Mit Heißhunger verschlangen die beiden Riesenseepferdchen aus Brasilien die Leckerbissen. Seit der Episode mit der Gaze-Trennwand tummelten sich ihre Lieblinge gemeinsam mit Clown- und Doktorfischen im Becken. Jetzt, mit dem Lebendfutter aus der Nordsee, schienen sich die »Brasilianischen Riesen« erst recht pudelwohl zu fühlen. »Schon bald begannen sie miteinander zu tanzen«, erzählt Theys.
Komplizierter gestaltete sich der Papierkram. Denn genau in jener Zeit wurde die Meldepflicht für Seepferdchen eingeführt. Viele Seepferdchenarten gelten als bedroht. Daher muss man als Käufer Seepferdchen bei den lokalen Naturschutzbehörden registrieren lassen, lernte Theys. Sonst macht man sich strafbar. Doch um die Tiere dort offiziell anzumelden, muss man wissen, zu welcher Spezies sie gehören.
Es gibt viele Arten von Seepferdchen, wusste Theys bereits. Und bei ihrem Pärchen handelte es sich um Wildfänge aus Brasilien. Aber welche Spezies? Die Bankangestellte wälzte Fachbücher mit Hunderten von wissenschaftlichen Beschreibungen. Nirgends wurde sie fündig. Schließlich warf sie das Handtuch. Offiziell existierte die Art, zu der ihre Schützlinge gehörten, gar nicht. Wahrscheinlich handelte es sich also um sehr seltene Tiere. »Spätestens da wurde mir klar, dass ich Seepferdchenzüchterin werden musste«, erzählt Elena Theys.
Doch dafür brauchte sie Platz. Ihr Wohnzimmer war ungeeignet. Die ersten Zuchtaquarien baute sie in der Waschküche auf. Und schon nach wenigen Monaten wurde ihr klar: Ohne Helfer ist das alles nicht zu stemmen. Immerhin: Die Riesenseepferdchen aus Brasilien gewöhnten sich schnell an gefrorenes Futter – und schon nach wenigen Monaten kam Nachwuchs zur Welt. »Wie rasant die wunderschönen, dunkelgelben Seepferdbabys heranwuchsen, bestärkte mich darin, nie aufzugeben. Auch bei den vielen Rückschlägen nicht, zu denen es bald kam«, sagt Theys.
Auch die Waschküche wurde zu klein. Elena Theys brachte ihre inzwischen siebzehn Aquarien in einer Garage unter. Mit Gleichgesinnten gründete sie einen Seepferdchen-Förderverein und veranstaltete Führungen durch ihren Seepferdchenzoo. Ein TV-Team drehte in der Garage sogar eine Tier-Doku. Immer mehr Arbeit fiel an. Sie stellte Ein-Euro-Jobber ein. »Viele kamen schon nach wenigen Tagen nicht mehr«, erzählt sie. »Denen war das viel zu stressig.« Aber einige hielten durch und fanden auf diesem Weg später wieder in den Arbeitsmarkt zurück. »Sie sehen«, sagt Elena Theys zufrieden, »Seepferdchen können dabei helfen, Gutes zu tun.«
Die Tierhändlerin bittet mich, sie eine Weile zu entschuldigen, und setzt sich an den Schreibtisch hinter der mit Seepferdchenkrimskrams verzierten Ladentheke. Sie müsse sich um Bestellungen kümmern. Unterdessen könne ich ja die tropischen Langschnäuzigen Seepferdchen im Becken ganz links beobachten.
Doch wo haben die sich verkrochen? Wasser, Grünzeug, Felsbrocken, ein paar graue Fischlein. Weit und breit kein Seepferdchen. Endlich entdecke ich doch eines: Beige-grau gesprenkelt, schmiegt es sich an die Rückseite eines Felsbrockens. Dann erspähe ich noch ein zweites Exemplar. Es ist korpulenter und hält sich hinter einem anderen Felsen versteckt. Seine gepanzerte Körperoberfläche wirkt selbst wie aus Stein. Die perfekte Tarnung! Doch wozu das Versteckspiel? Die zum Kuddelmuddel verknoteten größeren Tierchen heute Morgen waren doch total zutraulich! Ob mich Seeponys weniger mögen als Seerosse?
Wahrscheinlich liegt da ein Missverständnis vor, dämmert mir nach einer Weile. Erinnerungen an einen Familienurlaub in Italien gehen mir durch den Kopf. Eine Woche lang glaubte ich da, die Einheimischen fänden mich und mein Kauderwelsch-Italienisch charmant und seien aus diesem Grund so herzlich. Bis ich eines Morgens ohne meinen vierjährigen Sohn zum Bäcker ging und keine einzige Verkäuferin mehr lächelte. Nicht alles hängt von dir selbst ab, lernte ich damals. Auch Umfeld und Begleitung können eine Rolle spielen.
Seepferdchen jedenfalls reagieren grundsätzlich total begeistert auf mich – falls Elena Theys neben mir steht. Als die Seepferdchenflüsterin sich zu mir vor das Becken gesellt, kommen die beiden zehn Zentimeter kleinen Angsthasen mit Pipettenschnauze und Greifschwanz sofort neugierig hinter den Felsbrocken hervor. Der wissenschaftliche Name der tropischen Langschnäuzer lautet Hippocampus reidi, und sie sind im Westatlantik verbreitet, sagt die Expertin für Meeresaquaristik. Es scheinen seltsame Kerle zu sein: Das dünnere der Tierchen schwimmt nicht etwa in klassischer Seepferdchenart aufrecht im Wasser. Mit weit ausgestrecktem Greifschwanz kriecht es wie eine Schlange über den Boden des Aquariumbeckens. »Seepferdchen sind eben sehr vielseitige und besondere Fische«, sagt Elena Theys. Ihre Kiemen beispielsweise seien bis auf zwei winzige Löcher, rechts und links am Nacken, komplett geschlossen. Und was wie Ohren aussieht, seien die Brustflossen.
Ist der Dicksack da rechts schwanger? Die Tierhändlerin lächelt. Zumindest wisse ich offensichtlich, dass nicht die Weibchen trächtig würden. Das dicke Männchen sei aber nicht schwanger, sagt sie. Seine Bauchtasche habe sich nur vergrößert, weil er verliebt sei. »Beim Homo sapiens prahlen die Männchen dann ja oft mit ihrem dicken Geldbeutel.« Im Reich der Seepferdchen dagegen würden die Herren der Schöpfung versuchen, sich vor der Angebeteten mit ihrem gebärfreudigen Brutbeutel in Szene zu setzen.