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Eine atemberaubende Jagd nach einem Mafia-Killer – Crinelli ermittelt im Fall seines Lebens Eine Mordserie führt Hauptkommissar Crinelli nach Süditalien. In der Kälte der kalabresischen Berge jagt er direkt unter den Augen der 'Ndrangheta einen skrupellosen Auftragsmörder. Dabei stößt er auf verstörende Details aus seiner eigenen Familiengeschichte. Tief in dunkle Erinnerungen verstrickt, muss er sich dennoch auf den Killer konzentrieren, denn der setzt seine Serie unbeirrt fort. Die Leiche eines Unbekannten wird am Rheinufer gefunden. Ein Schuss in die Brust, einer ins Gesicht – das Werk eines Profikillers. Doch in wessen Auftrag handelt der Mann? Und wer ist der Tote? Gleichzeitig hält ein anderer Fall Crinelli in Atem: ein Krieg zwischen der russischen und der italienischen Mafia. Crinelli will einen Drogendeal zum Platzen und die Drahtzieher hinter Gitter bringen. Zunächst läuft alles nach Plan, doch dann taucht im Haus eines der verhafteten Drogenbosse ein geheimnisvolles Gruppenfoto auf, das dort ganz und gar nicht hingehört. Crinelli vermutet einen Zusammenhang zwischen dem Toten vom Rhein und dem Foto, doch als er die blutige Spur des geheimnisumwitterten Mörders aufnimmt, macht er eine weitere furchtbare Entdeckung: Die Spur führt ihn direkt nach Kalabrien, in die Heimat der Crinellis, an jenen Ort, aus dem sein Vater vor fünfzig Jahren über Nacht geflüchtet ist. Was zunächst wie ein klarer Fall von Mafiakrieg und Auftragsmord aussieht, entpuppt sich für Crinelli als Reise zu sich selbst. Der Fall berührt seine Familienehre, gefährdet eine große Freundschaft und wird zum Schluss zu einer Bedrohung für sein eigenes Leben. Und während der Kommissar versucht, seine Dämonen niederzukämpfen, bleibt ihm der Killer immer um eine Nasenlänge voraus.
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Seitenzahl: 606
Werner Köhler
Crinellis dunkle Erinnerung
Roman
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Für Michael Wübbelsmann
Crinelli erwachte aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Er schlug träge die Augen auf und erschrak: Vor ihm erstreckte sich eine Landschaft aus leuchtend weißem Gewebe. Sanft ansteigende Hügel und lieblich geschwungene Täler. Eine Reliefkarte, die sich unter ihrer Oberfläche zu bewegen schien. Das Gewebe dehnte sich rhythmisch aus, um einen Augenblick später wieder in seine ursprüngliche Form zurückzufallen. Crinelli richtete seinen Blick dorthin, wo sich die Landschaft mit einer letzten Wölbung ins Nichts verlor, dorthin, wo in unregelmäßigen Abständen das Licht tanzte.
Er befand sich nicht in seiner gewohnten Umgebung, so viel begriff er selbst in schlaftrunkenem Zustand. Zu mehr war sein Verstand jedoch noch nicht in der Lage. Dann drehte er sich in die Richtung, aus der das Licht kam. Eine eiskalte Brise strich durch die offen stehenden Fensterflügel und bauschte sanft die Vorhänge. Erste zaghafte Sonnenstrahlen leckten an der Dämmerung. Fröstelnd zog er die Decke wieder über die Schultern, bevor er sich zurück in die Ausgangslage wälzte. Mit den Fingerkuppen strich er sanft über Marias Rücken. Ein wohliges Brummen war die Antwort. Während er die Linie der Sommersprossen auf ihrem Schulterblatt nachfuhr, lächelte er beseelt. Es bestand nicht die leiseste Gefahr.
Das Summen des Telefons riss ihn aus dem trägen Dämmerzustand, in den er gefallen war. Um Marias Ruhe besorgt, stieg er schnell aus dem Bett, wühlte in seiner achtlos über den Boden verstreuten Kleidung nach dem Handy und rettete sich damit vor der ungemütlichen Kälte in die warme Küche.
Während er stumm in den Hörer lauschte, zündete er sich eine Zigarette an. Immer noch nackt stellte er sich ans Fenster. Marias Wohnung lag im obersten Stock, der Ausblick war beeindruckend. Die niedrigen Häuser der Innenstadt ließen dem Blick Raum. Einzig die Kirchtürme durchstachen wie Nadelspitzen die geschlossene Phalanx der Dächer. Am Horizont zeichnete sich die Höhenlinie des Siebengebirges vor einem graublauen Morgenhimmel ab. Es würde ein klarer, kalter Tag werden. Gut so, dachte Crinelli kurz, schließlich war der Februar tiefster Winter – auch wenn die Temperaturen in der vergangenen Woche vereinzelt bis auf frühlingshafte vierzehn Grad geklettert waren.
Hammerschmidts Nachrichten waren so frostig, wie es sich für einen solchen Tag gehörte – und machten Crinelli schlagartig wach. Ein Toter war kurz vor der Südbrücke auf den Pollerwiesen gefunden worden, dort also, wohin Crinelli sich häufig zum Nachdenken oder zum Angeln zurückzog – meistens verband er das eine mit dem anderen. Dort, wo er vor vielen Jahren eine Fernsehjournalistin kennengelernt hatte, die jetzt seine Frau war: Maria.
Vielleicht hatte er Angst, sein eigener Einsatz würde diesen nahezu magischen Ort für immer entweihen, vielleicht wollte er sich aber auch nur diesen perfekten Morgen nicht zerstören lassen. Nach der mühsamen Annäherung an seine Frau war die zurückliegende ihre erste gemeinsame Nacht seit einer gefühlten Ewigkeit gewesen. Jedenfalls wies Crinelli Hammerschmidt an, den jungen Bohlen an den Tatort zu schicken. Er selbst ging in das winzige Badezimmer. Wie selbstverständlich benutzte er Marias Zahnbürste. Vor dem Spiegel bleckte er die Zähne. Zufrieden mit dem Ergebnis, nickte er sich selbst aufmunternd zu.
»Wer war dran?«, fragte Maria, als Crinelli sich bibbernd an sie kuschelte.
»Niemand. Nur Hammerschmidt.«
»Schlimm?«
»Nichts Besonderes. Schlaf noch ein bisschen.«
Sie räkelte sich. »Wie wär’s mit Kaffee?«
»Ich mach dir ’ne Tasse.«
Crinelli stützte sich auf den Ellbogen und sah zu Maria hinab. Sanft ließ er seine Finger durch ihr rotes Haar gleiten, schob Strähne um Strähne aus ihrem Gesicht und betrachtete anschließend ihr klares, markantes Profil. Maria hielt die Augen geschlossen, aber sie lächelte. Er beugte sich hinab und liebkoste ihren Oberarm. Ganz langsam wanderten seine Lippen den Schultergrat entlang. Dann verloren sie sich in ihrer Halsbeuge.
»Schön«, flüsterte Maria, »hör nicht auf.« Sie drehte sich ihm zu. »Der Kaffee kann warten.«
Eine Stunde später stand Crinelli unrasiert, dafür aber frisch geduscht, vor der imposanten Kaffeemaschine in der Küche. Wie schön, wieder zu Hause aufwachen zu können. Er klopfte das Sieb aus und füllte frisch gemahlenen Kaffee ein. Das Mehl anpressen, den Träger in die Maschine einhängen, die richtige Barzahl einstellen, warten, bis sich der Druck aufgebaut hat, die Starttaste drücken. Über seine Zeit als Single hatte er ganz vergessen, welch begnadeten Barista er selbst abgegeben hätte.
»Hey«, sagte Maria. Sie stand im Bademantel in der Tür – barfuß und mit vom Duschen nassen Haaren.
»Hey. Cappuccino, die Dame?« Crinelli reichte Maria die Tasse und erhielt einen Kuss zur Belohnung. Er kehrte zurück an die Maschine und brühte sich einen Espresso: sehr kurz, mit einer festen Crema. Dazu einen halben Löffel Zucker.
»Was für einen Superkaffee du machen kannst«, sagte Maria mit dem Klang des Erinnerns in der Stimme.
»Ja, oder?« Crinelli lachte und warf sich in die Brust.
»Kein Grund anzugeben«, ermahnte sie ihn. »Wie hast du in der letzten Zeit eigentlich gefrühstückt?«
»Überhaupt nicht. Jedenfalls nie in meiner kleinen Absteige …«
»…, die ich ja noch gar nicht kenne.«
»Da hast du auch nichts verpasst. Du weißt doch, dass ich mich dort gar nicht eingerichtet habe.«
»Weil du Dickschädel immer zu mir zurückwolltest.«
»Jetzt bild dir bloß mal nichts ein, ja?«
Sie tranken ihren Kaffee, und wann immer es ging, küssten sie sich flüchtig und berührten einander.
»Unsere erste gemeinsame Nacht nach …«, Crinelli brach ab.
»Unsere erste gemeinsame Nacht seit dem Unfall – ja. Ich habe oft daran gedacht, wie es wohl sein würde.«
»Und ich erst … Aber im Augenblick muss ich nicht über die Vergangenheit reden. Ich fühle mich einfach sauwohl.«
»Geht mir genauso … Was wollte Hammerschmidt so früh?«
»Sie haben am Fluss einen Toten gefunden. Nichts Besonderes.«
»Also wirklich … ihr von der Mordkommission …«
»Ja, oder? Nicht zu fassen. Aber dich bringt ein Dreh in Neapel ja auch nicht gerade um den Verstand.«
»Das ist ja wohl was anderes.«
»Schon … und auch wieder nicht: Beruf ist Beruf. Ohne Morde wäre ich arbeitslos. Jedenfalls hab ich Bohlen auf den Fall angesetzt.«
»Wunderbar.« Maria schmiegte sich an seinen Rücken. Er spürte ihren Atem im Nacken. »Wird das jetzt immer so sein?«
»Du kennst doch meinen Job. Wahrscheinlich landet der Fall am Ende doch wieder auf meinem Schreibtisch.«
»Und was macht die Russengeschichte? Du bist die letzten zwei Tage ja kaum zum Schlafen gekommen.«
»Heute Nacht läuft der Einsatz, dann dürfte aber endgültig Schluss sein. Jedenfalls für mich. Ich habe schließlich genug mit meinen eigenen Sachen zu tun. Und dealende Russen gehören nicht zu meinem Aufgabengebiet.«
»Sieht Böker das denn auch so?«
»Kann man nie sagen …« Er dachte kurz nach. »Kann man nie sagen«, wiederholte er dann.
»Und wann sehen wir uns wieder?«
Crinelli drehte sich zu Maria um und ließ seine Hände unter ihren Bademantel gleiten. »Wann immer du willst.«
»Pah! Versprichst du es?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Kann ich wohl nicht.«
Sie lachten beide.
»Sag mal, was ganz anderes«, unterbrach Maria die ausgelassene Stimmung. »Hast du eigentlich mal über die andere Sache nachgedacht … über Italien?«
Maria hatte gerade einen Job angenommen, der sie über die Karnevalstage nach Neapel verschlagen würde. Eine Food-Doku – ihr Spezialgebiet. Und sie hatte die Idee, Crinelli könne sie dabei begleiten.
»Ich überlege es mir, Maria, versprochen«, antwortete er zögerlich. Verreisen war definitiv nicht seine Sache. Und wenn die Rede auf Italien kam, wechselte er ohnehin lieber das Thema.
»Irgendwann musst du mal was gegen deine Italophobie tun.«
»Ja klar. Irgendwann schon, aber im Augenblick kann ich es mir nicht vorstellen.«
Maria umarmte ihn. Sie wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, auf dem Punkt zu beharren. Crinellis kindisches Verhältnis zu Italien war nur das Symptom einer viel tiefer liegenden Krankheit. Kein Thema jedenfalls für den Morgen nach ihrer »ersten Liebesnacht«.
Von Marias Wohnung fuhr Crinelli nicht direkt zur Arbeit. Er brauchte frische Wäsche und eine wärmere Jacke gegen die schneidende Winterkälte. Natürlich hatte er am gestrigen Abend im Stillen darauf gehofft, bei Maria zu übernachten, doch in manchen Dingen war er halt abergläubisch. Um also das Glück nicht unnötig herauszufordern, war er zu dem Rendezvous erschienen, wie er auch zu jeder anderen Einladung gegangen wäre: anständig gekleidet, aber ohne frische Wäsche und Zahnbürste, bereit, nach dem Essen brav und allein den Heimweg anzutreten – schön, dass es anders gekommen war.
Angemessen gekleidet, entschied er sich für den kleinen Umweg über die Südbrücke. Rational betrachtet war es absolut richtig, den Fall an Bohlen abzutreten, schließlich hatte er mit dem Russen wirklich genug zu tun. Aber …
Direkt neben dem Brückenaufgang lehnte er sein Rad gegen einen Baumstamm und hockte sich für einen Moment auf das morsche Holz der Parkbank. Unten auf der Wiese, unmittelbar am Wasser, zerrte der böige Wind an dem rot-weißen Absperrband. Bohlen hatte eine Fläche von der Größe zweier Fußballfelder abtrennen lassen. Innerhalb des erweiterten Spielfelds wuselten die Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen umher wie Figuren beim Blitzschach. Schaulustige wurden von der Schutzpolizei schon auf dem Damm abgefangen. Gegen die Typen, die mit Ferngläsern auf den Terrassen ihrer Luxuswohnungen am anderen Ufer standen, konnte man nicht vorgehen. Ebenso wenig gegen die vorbeifahrenden Schiffsbesatzungen, die für jede Unterbrechung ihres monotonen Alltags dankbar waren.
Auf Crinellis unrasiertem Gesicht entstand ein Grinsen. Dort, wo die Atemluft seiner Kollegen auf die Kälte des Morgens traf, stiegen weiße Dampfwölkchen auf. Friedenszeichen aus der Mitte eines Krisenherdes.
Den Fundort des Toten markierte ein weißes Schutzdach aus Zeltbahnen. Zu dieser Jahreszeit musste mit schnellem Wetterwechsel gerechnet werden. Und wenn es auf kleinste Partikel ankam, schadete nichts der gründlichen Auswertung eines Tatorts mehr als plötzlich einsetzender Regen. Crinelli nickte anerkennend. Die Vorkehrungen, die Bohlen getroffen hatte, machten auf ihn einen guten Eindruck.
Erst jetzt fiel ihm der Symbolgehalt der Bank auf, auf der er gerade saß. Diese, zumindest aber die nächste Sitzgelegenheit musste es gewesen sein, von der aus er vor drei Monaten nach dem kräftezehrenden Abschluss seines letzten großen Falls Maria angerufen hatte. Anschließend hatten sie Weihnachten zusammen verbracht. Es war die erste Annäherung nach ihrer Trennung gewesen. Das hier war tatsächlich geweihter Boden. Ein Toter, hier, an dieser Stelle behagte ihm ganz und gar nicht.
Crinelli schnippte die Kippe auf den Gehweg, schulterte sein Rad und rutschte mehr, als er ging, die steile Böschung hinab. Unten angekommen, legte er das Rad in die Wiese und steuerte Bohlen an, sorgsam darauf bedacht, die Arbeit der Kollegen nicht zu behindern. Die Männer der Spurensicherung waren dabei, alles einzusammeln, was für den Fall eventuell von Bedeutung sein konnte. Und bei einem Tatort wie diesem war das nicht eben wenig. Jedes Papierchen, jeder Zigarettenstummel, leere Glasbehälter, abgerissene Knöpfe, Einwegspritzen, Drachenschnur, alles landete in großen Plastiksäcken. Natürlich würden sie den ganzen Krempel nicht tatsächlich auswerten können – ein solches Vorhaben würde das Labor auf Monate blockieren – und trotzdem musste das Material zunächst sichergestellt werden. Am Ende würden 99,9 Prozent von dem hier zurück in den Müll wandern.
»Morgen, Chef«, rief Bohlen, sobald er erkannt hatte, wer da über die Wiese auf ihn zukam. Die Erleichterung über Crinellis Erscheinen stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, die Röte auf seinen Wangen stammte nicht allein von der Kälte. »Gut, dass du doch noch gekommen bist. Das hier ist ’ne ganz schön fiese Sache.«
»Guten Morgen, Edgar. Du hast ja mächtig schweres Geschütz aufgefahren. Sind die Fotografen schon durch?«
»Ja, alles aufgenommen und gefilmt. Die Kollegen von der Wache haben den Tatort gesichert, und die Leiche wurde nicht angerührt, bis der Doktor eingetroffen ist.« Bohlen hörte sich an, als zitiere er das Polizeihandbuch.
»Vorschriftsmäßig«, sagte Crinelli und legte dem jüngeren Beamten beruhigend die Hand auf die Schulter. »Wer ist der Kerl?«
»Wissen wir noch nicht. Ich habe die Spurensicherung angewiesen, großräumig alles abzusuchen. Wir brauchen Fußabdrücke, Geschosshülsen, Gewebe … alles eben. Ist aber nicht ganz einfach …«
Crinelli verstärkte den Druck auf Bohlens Schulter. »Sehr gut gemacht, Eddy. Prima Job. Ganz ruhig bleiben und bloß nichts überstürzen, okay? Habt ihr bei dem Toten irgendwelche Papiere gefunden?«
Bohlen schüttelte den Kopf. »Weder Papiere noch Portemonnaie, nicht mal Schlüssel.«
»Ausgeräumt?«
»Ziemlich sicher, ja. Es sei denn, er hatte irgendwo einen persönlichen Sekretär, aber danach sieht er eigentlich nicht aus.«
»Wonach sieht er denn aus?«
»Normal, finde ich. Nichts Besonderes an ihm. Er ist anständig angezogen, trägt gute Schuhe, soweit ich das beurteilen kann. Es ist aber nichts Außergewöhnliches an ihm.«
»Uhr?«
Bohlen schob den Ärmel seines Mantels hoch. »Zehn durch.«
»Ob er eine Armbanduhr trägt?«
»Entschuldige, keine Ahnung, ich hab noch nicht nachgesehen«, sagte er kopfschüttelnd und fügte entschuldigend hinzu: »Also, hier ist echt ’ne Menge los …«
»Schon gut, Eddy, alles kein Problem. Kannst du was über seine Nationalität sagen?«
»Eher weniger«, sagte Bohlen und fügte erklärend hinzu: »Kopfschuss. Weißer … irgendwie … na ja … mehr vorläufig noch nicht.«
»Wir sind nicht in New York, mein Freund.« Crinelli lachte. »Das ist ja, alles in allem, noch nicht allzu viel. Was sagt Weymann?«
»Frag ihn doch selbst«, antwortete Bohlen in einem Ton irgendwo zwischen Frustration und Verärgerung. Bohlen nahm alles wahnsinnig persönlich, Crinelli wusste das, und überdies war er krankhaft ehrgeizig. Schlechte Mischung, aber das würde sich mit der Zeit noch geben.
»Gute Arbeit, Eddy, bleib gelassen, nimm dir ein Beispiel an mir.«
In Bohlens Augen erschien ein dickes Fragezeichen. Herr Crinelli und Frau Gelassenheit waren Antipoden.
Crinelli schob sich unter das Zeltdach. Bohlen hatte nicht übertrieben, der Tote sah selbst für eine Leiche nicht gut aus. Der Mann war etwa 1,75 groß und lag lang hingestreckt auf dem Rücken, als hätte ihn ein Baseballschläger in vollem Lauf erwischt. Der Täter hatte ihm direkt ins Gesicht geschossen, was eine Identifizierung in der Tat erschweren würde. Aber noch viel schlimmer war der Treffer, der ihm die Brust aufgerissen hatte. Nur ein echtes Höllenkaliber riss ein solches Loch. Das gleiche Geschoss ins Gesicht, und es hätte ihm vermutlich den gesamten Kopf weggehauen. Zwei verschiedene Waffen – bedeutete das auch zwei verschiedene Täter?
»Morgen, Doktor. Wie lange liegt der schon hier?«
»Morgen, Crinelli. Ich dachte schon, Sie hätten mich übersehen.« Weymann sah zu dem Kommissar hoch und lächelte einen Moment später. »Sie sind guter Laune, oder irre ich mich?«
»Aha, ein Spürhund«, rief Crinelli laut und lachte kehlig. »Haben Sie mal daran gedacht, sich bei der Polizei zu bewerben? Sie verfügen nämlich über einen regelrechten Röntgenblick, wissen Sie das? … Jawohl, gut gelaunt, sehr gut sogar, könnte kaum besser sein.«
Weymann nickte wissend. »Sehr gut, Jerry, sehr gut.« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Man brauchte kein übermäßiges psychologisches Talent, um an Crinellis Verhalten in den letzten Wochen deutliche Veränderungen festzustellen. Auf dem Präsidium wurde bereits über seine auffallend gute Laune getuschelt.
»Na, was nun?« Crinelli zog mahnend die Augenbrauen hoch.
»Drei Uhr in der Nacht plus zwei Stunden – maximal«, antwortete Weymann ergeben.
»Sonst noch was?«
»Hm. Ich weiß ja, dass es Ihnen nicht gegeben ist zu warten …«
»Ich bin die Ruhe selbst, sehen Sie mich doch an.« Crinelli hielt die Arme im rechten Winkel vom Körper gestreckt und sah aus wie Jesus ohne Kreuz. »Aber wenn Sie bereits etwas wissen sollten, können Sie es getrost bei mir platzieren, in meinem Kopf ist es gut aufgehoben und es kommt auch bestimmt nicht weg.«
»Zwei Waffen. Das große Kaliber dürfte ihn gestoppt haben. Es ist wahrscheinlich von dort hinten abgeschossen worden.« Weymann deutete in Richtung Damm. »Hundert Meter, vielleicht auch etwas näher. Ich vermute, er war sofort tot. Das Geschoss hat ihn voll erwischt und ist hinten wieder ausgetreten. Sehen Sie hier.« Weymann drehte die Leiche auf die Seite.
»Das Austrittsloch ist verdammt groß«, rief Crinelli überrascht.
»Ja, noch größer als üblich. Das Projektil ist auf das Brustbein getroffen und dadurch ins Trudeln geraten. Näheres nach der Obduktion.«
»Und warum dann der zweite Schuss?«
»Keine Ahnung, Herr Kommissar. Sie müssen ja auch noch was zu tun haben.«
»Bohlen macht das hier.« Crinelli sah zu ihm rüber. Der junge Kommissar nickte, machte dabei aber keinen sehr zuversichtlichen Eindruck.
»Ach ja? Ist das nicht ein bisschen viel Gelassenheit, so aus dem Nichts heraus?«, wollte Weymann wissen.
»Das hat nichts mit Gelassenheit zu tun. Ich habe im Augenblick einfach keine Zeit.«
»Na, dann machen wir hier mal schnell weiter. Also, der zweite war ein aufgesetzter Schuss. Genau zwischen die Augen. Sehen Sie hier: Rund um das Einschussloch zeigen sich lauter Verbrennungen – ein typisches Zeichen. Allerdings ein wesentlich kleineres Kaliber, sonst hätte es das Schädelskelett auseinandergerissen oder den Kopf sogar ganz abgetrennt.«
»Sie sagten, dass er bereits nach dem ersten Schuss tot war?«
»Ja. Der Brustschuss hat einen Teil vom Herzen weggerissen. Und selbst wenn das nicht genug gewesen wäre, ein Treffer mit einem solchen Kaliber ist einfach tödlich.«
»Es könnten zwei Täter gewesen sein«, überlegte Crinelli laut.
»Möglich. Dazu kann ich nichts sagen. Fragen Sie die Spurensicherung. Aber auf dem Gelände gibt es eine Million Fußabdrücke, das wird Ihnen ihre Arbeit nicht eben erleichtern.«
Die Pollerwiesen waren eine der beliebtesten Grünflächen der Stadt. Im Sommer ließ sich hier so ziemlich jede Freizeitaktivität beobachten, inklusive Nacktbaden. Im Winter beschränkten sich die meisten auf Spaziergänge.
»Die Wiese ist gefroren«, schaltete sich Bohlen ein. Die beiden anderen sahen ihn an. Ihre Blicke forderten ihn auf fortzufahren. »Die meisten dieser vielen Fußabdrücke, von denen der Doktor spricht, liegen gewissermaßen unter Eis, dünnem Eis zwar, aber immerhin. Es hat ja erst gestern angefangen zu frieren. Dadurch hat sich eine frische Schicht gebildet, jungfräuliches Terrain gewissermaßen. Unter den Füßen des Opfers und natürlich denen des oder der Täter ist das Eis gebrochen. Frische Fußspuren also.«
»Hervorragend, Edgar. Das könnte uns weiterbringen. Vertrauen wir also auf die Spusi. Und mal abwarten, was sie sonst noch findet. Was ist da drüben los?« Crinelli deutete auf einen Mann, der mit einem Handstaubsauger einen großen Findling absaugte.
»Gewebeproben«, antwortete Weymann. »Könnten von der Hose des Toten stammen. Um nichts zu verlieren, saugen sie den Stein ab. Sie untersuchen den ganzen Kram später im Labor.«
»Interessant. Das würde ja bedeuten, dass unser Toter dort gesessen hat, eine Weile zumindest. Aber warum setzt man sich mitten in einer kalten Nacht auf einen feuchten Stein, noch dazu an einem so unbelebten Ort?«
»Angeln?« Weymann zuckte die Achseln.
»Ich nehme Sie gerne mal mit zum Fischen, Doktor, dann sehen Sie mal, wie man sich dazu angemessen kleidet.«
»Nee, nee, lassen Sie mal. Feuchte Freizeitbeschäftigungen sind nicht mein Ding. Aber mal im Ernst: Woher sollen wir wissen, was der Mann hier wollte? Über etwas nachdenken, vielleicht. Er war besorgt, oder er hatte Probleme im Job. Krach mit der Ehefrau? Es kann doch viele Gründe für einen nächtlichen Spaziergang geben.«
»Und dann sieht er einen Mann auf sich zukommen, steht auf und geht ihm entgegen. Wie viele Meter sind das? Zehn, fünfzehn vielleicht? Der Neuankömmling bekommt es mit der Angst zu tun und erschießt unseren Freund hier sicherheitshalber mit einer schweren Waffe. Nein, nein, Leute. Der Tote hat auf ihn gewartet.«
»Auf seinen Mörder?«, fragte Bohlen.
»Das wusste er in dem Moment natürlich nicht. Er erwartete einen Mann oder zwei Männer, das werden wir herausfinden. Er erkennt den Ankömmling, steht auf, geht auf ihn zu und wird niedergestreckt. Damit hat er ganz sicher nicht gerechnet. Dann kommt der Täter näher und versetzt ihm noch eine, zur Sicherheit.«
»Oder der zweite Mann tut das.«
»Ja. Obwohl … nein … das ist doch Quatsch.« Crinelli sah kurz zu Boden. »Nein, keine zwei Leute, einer allein, ihr werdet sehen.«
»Also ein Täter. Und warum wechselt er für Schuss Nummer zwei die Waffe? Die erste wäre definitiv sicherer gewesen«, fragte Bohlen.
»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht ist es eine Art Markenzeichen.«
»Hoho, Jerry, ein ganz wichtiger Killer, einer mit einem eigenen Markenzeichen«, sagte Weymann.
»Warum nicht? Soll es alles geben. Egal, das alles werden wir herausfinden. Das heißt, du, Edgar, du findest es heraus.«
»Keine Sorge, Bohlen«, sagte Weymann aufmunternd, »das schaffen Sie mit links. Der Chef hat den Fall ja fast schon gelöst.«
Crinelli lachte. »Fast, Edgar, fast. Es fehlen nur noch ein paar unwichtige Details. Pass auf«, er zog den Beamten von Weymann weg, damit der seiner Arbeit wieder nachgehen konnte, »das hier ist kein gewöhnlicher Mord. Dafür gibt es schon auf den ersten Blick zu viele Ungereimtheiten.«
»Ungereimt … Was meinst du denn jetzt damit? Kannst du mir das vielleicht mal erklären?«
»Mach ich gerne. Also, warum hockt ein Mann nachts am Wasser, mitten im Winter, und warum trägt er dabei lediglich einen dünnen Sommeranzug und einen Trenchcoat? Einen ungefütterten wohlgemerkt.«
Bohlen versuchte, unbemerkt einen schnellen Blick auf die Leiche zu werfen. So weit war er noch gar nicht gekommen. Auch das mit der Armbanduhr eben.
»Hör mir zu, Eddy«, sagte Crinelli, der Bohlens nachlassende Konzentration zu bemerken schien. »Hat ihn das Wetter etwa überrascht? Kennt er keinen Winter, oder hatte er nur vor, hier ganz kurz auszusteigen? Aussteigen – das ist die nächste Frage. Wie ist der Kerl überhaupt hierhergekommen? Soviel ich weiß, fährt hier kein Bus. Und zu Fuß ist es ein ganzes Stück vom nächstgelegenen Hotel und von der Innenstadt sowieso. Das musst du überprüfen. Der Tote hat keine Papiere bei sich und sein Gesicht ist zerschossen, aber wir müssen trotzdem herausfinden, wer er ist. Lass sein Gesicht rekonstruieren, wir brauchen auf dem schnellsten Weg ein Phantombild. Dafür dürfte noch genug Substanz vorhanden sein. Und dann natürlich Fingerabdrücke und Zähne, aber das wird der Doc schon von sich aus erledigen. Übrigens, die fette Uhr an seinem Handgelenk ist mit Sicherheit keine Hongkong-Rolex und die Diamanten auf dem Zifferblatt sind bestimmt nicht aus Glas. Und dass er sie überhaupt noch am Handgelenk trägt, beweist wohl auch, dass es sich hierbei keinesfalls um einen Raubmord handelt.«
Crinelli sah zu Bohlen auf. Dessen Pupillen zuckten hektisch hin und her. Die Verantwortung im Feld schien ihm mehr zuzusetzen, als Crinelli erwartet hatte. Seltsam, dachte er, für Rechercheaufgaben war Bohlen ja echt zu gebrauchen. In Sitzungen blieb er cool und argumentierte immer sachlich. Aber das hier war wohl doch noch eine Nummer zu groß für den Jungen. Hätte Crinelli sich etwa stärker zurücknehmen, Bohlen mehr Zeit lassen müssen, selbst etwas herauszufinden? Für derartige Fragen war es jetzt allerdings etwas spät.
»Verdammt noch mal, Eddy, das hier ist ein sehr interessanter Fall, ich würde mich gerne selbst darum kümmern, aber ich muss ja leider schon der Drogenfahndung unter die Arme greifen. Halt mich bitte auf dem Laufenden, ja? Und geh’s ruhig an, okay? Wie besprochen. Lass die Jungs hier ihre Arbeit machen, dann sammle alle Ergebnisse zusammen und komm damit zu mir, hast du verstanden? Ich fahre währenddessen aufs Präsidium und kümmere mich um die Haftbefehle für meine Russen.«
»Böker ist schon ganz nervös deswegen.« Es schien, als sei Bohlen froh, seinen eigenen Fall, wenn auch nur für einen Moment, verlassen zu können.
»Nervös? Schiss hat der. Aber das kann uns gerade egal sein. Also, konzentrier dich ganz auf deinen Fall hier.«
Crinelli wandte sich zum Gehen. Mitten in der Bewegung hielt er inne und drehte sich nochmals zu Bohlen um.
»Ach, Eddy, eins noch. Wir sollten überprüfen, ob es kürzlich irgendwo vergleichbare Fälle gegeben hat. Mit zwei Waffen, großes Kaliber, kleines Kaliber, du weißt schon. Könnte doch ’ne Masche sein. Das war nur ein Täter, du wirst sehen, aber einer mit ’ner Masche.« Crinelli nickte wie zur Bestätigung seiner eigenen Worte und setzte dann seinen Weg fort. »Ist bestimmt ’ne Masche«, brummte er vor sich hin.
»Jerry«, flötete Hannelore Wächter und errötete leicht, als Crinelli ihr Büro betrat. Doch ihr Kollege war heute nicht zu Neckereien aufgelegt.
»Wo ist Böker?«, rief Crinelli.
Nachdem René Böker, der Leiter der zentralen Kriminalitätsbekämpfung und Crinellis oberster Vorgesetzter, es drei Tage lang versäumt hatte, die notwendigen Papiere bei der Staatsanwaltschaft zu besorgen, hatte er Crinelli am Morgen in die Hand versprochen, sich endlich darum zu kümmern. Gegen Mittag kam der erlösende Anruf. Die darauf folgenden Nachmittagsstunden waren dann allerdings erneut ergebnislos verstrichen, und nachdem Crinelli nun über den Flur gerannt war und vergeblich an Bökers Tür geklopft hatte, stand er kurz davor zu explodieren. Immerhin, Hannelore Wächter, Bökers Sekretärin, war noch im Dienst.
»Der Chef nimmt eine gesellschaftliche Verpflichtung außer Haus wahr.«
Wenn das alles nicht so traurig gewesen wäre, Crinelli hätte laut gelacht. Eine gesellschaftliche Verpflichtung außer Haus – seine Vorstellung davon, wie eine Führungsaufgabe ausgestaltet werden sollte, unterschied sich definitiv und erheblich von Bökers.
»Er hat Ihnen nicht vielleicht einen Durchsuchungsbefehl für mich dagelassen?«
»Nein. Davon weiß ich nichts. Worum geht es denn?«
»Sokolow, Sergej und Alexej.«
»Ach, die Russen. Wir können auf seinem Schreibtisch nachsehen, wenn Sie möchten. Ist es denn eilig?«
»Wäre ich sonst so unhöflich, Ihnen kein Kompliment für Ihr schickes Kostüm zu machen?«
Hannelore Wächter schlug die Augen nieder, schüchtern wie ein kleines Schulmädchen. Um ihrer Verlegenheit zu entkommen, beeilte sie sich, auf Bökers Schreibtisch nach den Unterlagen zu suchen, was schnell erledigt war, weil sich dort bis auf das Bild seiner Frau und einer ledernen Schreibtischunterlage nichts weiter befand.
»Wissen Sie, wo genau er sich aufhält?«
»Er ist auf einer privaten Geburtstagsfeier. Warten Sie, ich sehe nach. Irgendein Mitglied des Stadtrats«, sagte sie, während sie mit flinken Fingern durch die Unterlagen blätterte. »Hier, Herr Baranello.« Sie seufzte und unterstrich das Wehklagen noch mit einem gehauchten »Oje!«.
»Baranello? Oje?« Crinelli imitierte ihre Stimme. »Was heißt das?«
»Dass das ein sehr wichtiger Empfang ist, fürchte ich. Der Bürgermeister ist da, der Oberstaatsanwalt, jede Menge Politiker aus Düsseldorf – da können wir ihn unmöglich stören.«
»Drauf geschissen … Entschuldigung, Frau Wächter, tut mir leid, aber in diesem Fall kommen die Ermittlungen vor Bökers gesellschaftlichen Verpflichtungen. Ich versuch’s auf seinem Handy.«
»Das wird er ausgestellt haben.«
»Ja, wie meistens.« Crinelli griff sich verzweifelt in die schwarzen Locken.
»Sagen Sie bloß, das käme Ihnen normalerweise nicht gelegen?«
Über Crinellis Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. »Ich versuch’s trotzdem, ansonsten muss ich zu diesem … wie hieß er noch?«
»Baranello.«
»Ja, ansonsten fahr ich hin. Haben Sie eine Idee, wo der Typ wohnt?«
»Ihnen sagt der Name tatsächlich gar nichts, Jerry, oder?«
»Sollte er?«
»Ich denke doch. Herr Baranello ist sehr reich, einflussreich vor allem. Der Bauunternehmer … den Schriftzug kennen Sie, wenn Sie ihn sehen.«
»Ich hab kein Geld zum Bauen. Sorry. Also, die Adresse?«
»Im Hahnwald, ich suche sie Ihnen heraus. Versuchen Sie aber in jedem Fall vorher, den Chef telefonisch zu erreichen. Da lässt man Sie bestimmt nicht so einfach vor.«
»Keine Sorge, bisher bin ich noch überall reingekommen. Darf ich Ihr Telefon benutzen?«
Crinelli hatte Glück. Böker meldete sich nach dem zweiten Klingeln und war sich auch unmittelbar seines Versäumnisses bewusst.
»Verdammter Mist, Crinelli«, zischte er verschwörerisch leise ins Telefon. Crinelli versuchte, sich vorzustellen, wo sein Chef gerade stand. »Ich habe die Papiere schon den ganzen Tag einstecken. War einfach zu viel los. Ist es denn so dringend?«
Crinelli schüttelte resigniert den Kopf, blieb aber um Ruhe bemüht. »Doch, schon. Die Drogen sind da. Ich habe alle Truppen in Einsatzbereitschaft versetzt. Wir hängen uns bei der ersten Bewegung an die Jungs dran. Und bei der Übergabe greifen wir zu. Wir lassen den Deal platzen, riegeln Sergejs Nachtklub ab und Alexejs Bordell und stürmen die Privathäuser der beiden Brüder. Und das alles gleichzeitig. Man könnte schon sagen, dass es wichtig ist.«
»Und wenn Sokolow – Sergej meine ich – doch nicht dabei ist? Wenn wir uns geirrt haben, ich meine, Sie sich geirrt haben, Jerry?«
»Dann fügen wir ihnen zumindest den größtmöglichen Schaden zu. Hundert Kilogramm reinstes Heroin stecken auch die Russen nicht so einfach weg. Aber keine Sorge, Chef, Sergej Sokolow wird dabei sein. Und dann kriegen wir ihn auch wegen Mordes dran.«
»Sicher, sicher. Das hängt schließlich alles zusammen oder jetzt doch wieder nicht?«
Crinelli hatte keine Lust, die Diskussion schon wieder zu führen. Bökers Unentschlossenheit ging ihm auf die Nerven. Sogar noch mehr als die Tatsache, dass er ihm die Leitung dieses Falls zusätzlich zu seiner normalen Arbeit aufgebrummt hatte. Und das nur wegen der Schießerei auf dem Ring und obwohl er das Ganze genauso gut beim Drogendezernat hätte belassen können.
»Die Sache ist mehrere Nummern zu groß für die Drogenleute«, hatte er geheimbündlerisch orakelt, als Crinelli sich heftig gegen den Verschiebebahnhof gewehrt hatte, und nicht mit sich darüber reden lassen.
»Was ist jetzt mit den Papieren, Herr Böker? Kann ich Ihnen einen Wagen schicken?«
»Natürlich … einen Wagen … gute Idee. Crinelli, ich wünschte, ich könnte dabei sein, aber das hier … Hallo? … Crinelli? … Sind Sie noch dran?«
Der Einsatz lief vorschriftsmäßig und für Crinellis Geschmack fast schon zu perfekt. Sergej Sokolow wurde bei der Geldübergabe in einem hochpreisigen Landhotel überrascht, während eine andere Spezialeinheit zur selben Zeit fünfzig Kilometer weiter westlich zuschlug. Alexej und seine Männer wurden bei der Übergabe der Drogen auf freiem Feld beobachtet und zusammen mit den Lieferanten in einer spektakulären Aktion verhaftet. Die ganze Truppe befand sich in diesem Augenblick bereits auf dem Weg ins Präsidium.
Im Gepäck der Beamten lag der säuberlich dokumentierte Mitschnitt eines Telefonats, das die beiden Brüder kurz vor dem Zuschnappen der Falle noch miteinander geführt hatten. Zwar hatten die Sokolows sich auf Russisch unterhalten, aber Crinelli war sich über den Inhalt des Gesprächs keinen Moment lang im Unklaren. Durch eine beglaubigte Übersetzung würden die Lügengebilde der Dealer Lage um Lage zerfallen wie eine Sandburg unter der Wucht der auflandenden Flut.
Crinelli hatte sich zu Beginn der Aktion entscheiden müssen. Wollte er an Sergej Sokolow, dem Chef der Bande, dranbleiben oder doch eher den Feldeinsatz gegen dessen Bruder führen? Er hatte schließlich seiner Kollegin Hammerschmidt den Bruder überlassen und war selbst hinaus zu dem Landhotel gefahren, weil er sich davon mehr versprach.
Jetzt hatte er es nicht mehr eilig. Er wies seinen Fahrer an, beim Wagen auf ihn zu warten, und ging gemächlichen Schrittes auf das Hotel zu. In der Lobby sah er sich nach der Bar um. Erleichtert stellte er fest, dass es hier selbst für Raucher die Möglichkeit gab, sich würdig zu betrinken.
Zu dieser frühen Abendstunde saßen nur wenige Menschen im Dämmerlicht des holzgetäfelten Raums. Crinelli bestellte sich ein Bier und verschwand damit in einem tiefen Klubsessel in der Nähe des Fensters. Dunkle Vorhänge verhinderten, dass Licht eindrang und man von außen gesehen wurde. Er rauchte und nippte an seinem Bier.
Der Einsatz wäre mit den noch anstehenden Hausdurchsuchungen abgeschlossen, der Fall damit aber noch lange nicht. Angefangen hatte alles mit einem siebzehnjährigen Fixer, der nach einer Überdosis tot im Grüngürtel gefunden worden war. Ein klarer Fall für die Drogenfahndung und nicht weiter erwähnenswert – wären da nicht kurz darauf weitere Leichen aufgetaucht. Auch sie Fixer, und auch sie verstorben infolge einer Überdosis, viele von ihnen noch mit der Nadel im Arm. Erst die Serie von Drogentoten versetzte die Kollegen in erhöhte Alarmbereitschaft.
Das Rauschgiftdezernat schickte seine eigenen Leute auf die Straßen und schon sehr bald stand fest, dass zu den alten Bezugsquellen, die sich ausschließlich in Händen der italienischen Mafia befanden, eine neue hinzugekommen war. Und während das normale Heroin kaum je einen Reinheitsgrad von fünfundzwanzig Prozent erreichte, war der neue Stoff deutlich reiner. Zwar entzückte die neue Wunderdroge die Süchtigen, brachte einigen von ihnen aber den Tod.
Nach Wochen intensiver Ermittlungsarbeit gab es ausreichend Beweise dafür, dass die neuen Verteiler aus Osteuropa stammten. Aber niemand konnte sich erklären, warum man bislang noch nichts von dieser Connection gehört hatte. Die Spekulationen schossen ins Kraut. Mitten hinein in die hitzigen Diskussionen und gegenseitigen Schuldzuweisungen platzte eine nächtliche Schießerei auf dem Hansaring. Zwei Männer starben, beide Italiener mit langem Vorstrafenregister. Damit erhielt die Vermutung, dass tatsächlich zwei rivalisierende Gruppen um den lukrativen Markt kämpften, eine tödliche Bestätigung.
An dieser Stelle war Crinelli zu den Ermittlungen hinzugezogen worden. Mord auf offener Straße betraf sein Dezernat unmittelbar. Darüber hinaus vertrat er wieder einmal seinen Vorgesetzten Jo Kleinert und als kommissarischer Leiter der KG 1 nahm er grundsätzlich an allen großen, die Kriminalgruppen übergreifenden Sitzungen teil. Er war also zu dem Zeitpunkt, als die Morde geschahen, bereits bestens mit dem Drogenfall vertraut.
Als es kurz darauf zu ersten Meinungsverschiedenheiten zwischen seinem und den zuständigen Kollegen vom Rauschgiftdezernat kam, traf Böker eine für seine Verhältnisse schnelle und klare Entscheidung. Er übertrug Crinelli die Gesamtverantwortung.
Crinelli hatte die Rolle zunächst mehr als widerwillig angenommen, führte die Untersuchung dann aber umsichtig und hatte stets versucht, die Belange der Drogenfahnder nicht aus den Augen zu verlieren. Nach kurzer Aufregung hatten sich die Gemüter deshalb auch wieder beruhigt.
Da die laufenden Ermittlungen aber nicht in der von Crinelli gewünschten Geschwindigkeit vonstattengingen, hatte er sich schon bald höchstpersönlich näher mit den handelnden Parteien im Drogengeschäft vertraut gemacht. Über die Italiener und deren Strukturen glaubte er, wie jeder anständige Polizist, einiges zu wissen. Schließlich war die Mafia ja keine Unbekannte. Ihr kalabresisches Pendant, die ’Ndrangheta, war für den größten Teil der Rauschgiftkriminalität in der Region Köln verantwortlich, jedenfalls bevor die Osteuropa-Connection in den Markt eingedrungen war.
Ein erster entscheidender Hinweis auf die Identität der Eindringlinge war dann unerwarteterweise aus Crinellis privatem Umfeld gekommen. Eines Morgens rief ihn Anja Salowski, seine Ziehmutter, an und gab ihm einen Tipp. Sehr schnell wurde Crinelli klar, dass sie lediglich als Überbringerin einer speziell für ihn gedachten Information benutzt wurde. Und diese Information hatte im Wesentlichen aus einem einzigen Namen bestanden: Sergej Sokolow.
Crinelli nippte an seinem zweiten Bier. Er war müde, gleichzeitig aber auch wunderbar entspannt – wie ein Sportler am Ende eines Langstreckenlaufs. Was nun folgen würde, waren stundenlange Verhöre, Beweissicherungsverfahren, meterdicke Akten, aufgeregte Anwälte in teuren Anzügen, dezente Einschüchterungsversuche und am Ende vielleicht das Angebot zu einem Deal mit der Staatsanwaltschaft. Alles Dinge, auf die er gerne verzichten wollte, bei denen ihn letztlich nur das Ergebnis interessierte, nicht aber dessen Zustandekommen, Dinge also, die ihn, kurz gesagt, langweilten. Aber, und das war immerhin die gute Seite an seiner momentanen Position, wenn er wollte, konnte er sich aus dem operativen Geschäft weitestgehend heraushalten – und genau das beabsichtigte er ab sofort auch zu tun.
Die Russen waren erledigt. Und mit ihnen würde auch der lebensgefährlich reine Stoff von der Straße verschwinden. Aber eigentlich war mit der Zerschlagung des Russenrings nichts gewonnen. Im Gegenteil, der kurzzeitige Erfolg bedeutete lediglich, dass sich die bisherigen Pusher, die Italiener, mithilfe der deutschen Polizei ihres schärfsten Konkurrenten entledigt hatten. Die Festnahme der Russen war nichts weiter als ein Pyrrhus-Sieg.
Crinelli wäre selbst dann noch an Sokolows Haus vorbeigefahren, wenn es nicht unmittelbar auf seinem Heimweg gelegen hätte. Er konnte dem Verlangen, sich in den Privaträumen des Drogenbarons umzusehen, einfach nicht widerstehen. Vielleicht weil er im Laufe der Ermittlungen so häufig an der Straßenecke gegenüber gestanden und das Haus beobachtet hatte. Irgendwie war er sich diesen Besuch noch schuldig.
Überall im Haus herrschte Unordnung. Die Spurensicherung steckte mitten in der Arbeit. Die Beamten in ihren Mondanzügen durchwühlten Schubladen, Schränke und Truhen. Systematisch wurde Raum für Raum durchkämmt. Crinelli sah den Männern über die Schulter, stellte Fragen, gab hier und da Anweisungen, wonach zu suchen war, interessierte sich darüber hinaus aber eher für die Einrichtung als für die Fundstücke.
Das Haus war groß und passte so gar nicht zu dem modernen Chic von Sokolows Club, wo Metall und Glas dominierten und Farbtupfer ausschließlich in Lila erlaubt zu sein schienen. Zu Hause lebte der achtunddreißigjährige Mann zwischen wuchtigen Eichenmöbeln, tiefen Sitzlandschaften und schweren Teppichen. Von den Decken hingen ausladende Leuchter und vor den Fenstern schwere Samtstores.
Einzig die Küche fiel aus dem Rahmen. Perfekt ausgestattet und ausgeleuchtet, wirkte das Designerstück wie eben erst eingebaut. Crinelli öffnete den doppeltürigen Kühlschrank. Etwas Butter, ein wenig Aufschnitt, Käse, Milch und ein ausgesuchtes Sortiment an Joghurts aller Geschmacksrichtungen deuteten darauf hin, dass im Hause Sokolow lediglich gefrühstückt wurde.
In der ersten Etage waren mehrere Schlafzimmer untergebracht, jedes in einem anderen Farbton gehalten, alle mit separatem Bad und Balkon. Am ungemachten Bett, ebenso wie an der Raumgröße, erkannte Crinelli, wo der Hausherr selbst seine Nächte zubrachte. Das Zimmer trug alle Insignien eines selbstverliebten Mannes. Eine der Wände wurde fast komplett von einem Flachbildfernseher eingenommen, das runde Bett drehte sich auf Knopfdruck, und ein darüber in die Decke eingelassener Spiegel sollte wohl die Manneskraft des Russen reflektieren. Die Stereoanlage im Kopfteil deutete auf weitere Vorlieben hin. Crinelli schaltete den CD-Wechsler ein, worauf sich aus unsichtbaren Lautsprechern Musik ins Zimmer ergoss. Crinelli schüttelte den Kopf. Lounge-Jazz, künstlich wie alles hier.
Als ähnlich geschmacklos erwies sich das angrenzende Badezimmer. Crinelli war sich sicher, das überwiegend in Gold und Marmor gehaltene Interieur mit der eher an einen Pool erinnernden Badewanne und Schwanenhälsen als Wasserspeier schon in einem amerikanischen Gangsterfilm gesehen zu haben, erinnerte sich bloß nicht mehr an dessen Titel.
Für eine Zigarettenlänge begab er sich in den Garten des Anwesens, danach setzte er seine Inspektion im Keller fort. Schon auf der Treppe nahm er den Geruch von Gas und schmelzendem Stahl wahr. Hinter einer einfachen Holztür hatten die Kollegen Sokolows Safe gefunden. Der Einsatzleiter stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und beobachtete, wie sich die Schweißnaht Millimeter um Millimeter vergrößerte. Crinelli gesellte sich zu dem Kollegen.
»Erfolgreicher Einsatz?«, fragte er fast schon beiläufig.
»Wie man’s nimmt. Wir haben schon ein bisschen was gefunden, aber nichts, was den Kerl ernsthaft gefährden könnte. Mal abwarten, was noch in dem Tresor steckt.«
»Und, was habt ihr bis jetzt gefunden?«
»Koks.«
»Ach.«
»Keine große Menge. Vielleicht sieben, acht Gramm. Nicht der Rede wert. Das Zeug lag obenauf in seiner Nachttischschublade.«
»O Gott, das passt.«
Der Beamte lachte. »Nicht wahr, hier sieht’s ein bisschen aus wie in Scarface. Al Pacino … Sie erinnern sich? Der Mafiafilm?«
»Genau«, rief Crinelli, »so hieß der Film – Scarface. Glauben Sie, ich wäre da eben drauf gekommen? Furchtbar – Nutten und Koks. Die Wirklichkeit kann ganz schön grausam sein.«
»Und dann haben wir noch ein Messer gefunden. Ein höllisch scharfes Ding. Es steckte in einer Scheide, die man sich ums Fußgelenk schnallen kann.«
»Ein Messer fürs Fußgelenk?«, fragte Crinelli erstaunt. »Ist das nicht aus der Mode? … Die spinnen, die Russen.«
Im Safe befand sich eine 45er Smith & Wesson. Der Colt lag direkt auf einem gültigen Waffenschein, ausgestellt auf Sergej Sokolow. Dumm war der Russe nicht, aber das hatte auch niemand erwartet. Die Herkunft des Geldes würde er trotzdem erklären müssen. Hier lag mehr, als Crinelli in seinem bisherigen Berufsleben zusammengenommen verdient hatte. Mit dem, was Sokolow bei seiner Verhaftung bei sich getragen hatte, waren es etwa zwei Millionen in bar. Sollte es sich tatsächlich um hundert Kilogramm reines Heroin handeln, das da vorhin auf freiem Feld den Besitzer gewechselt hatte, konnten daraus schnell fünfzehn bis zwanzig Millionen werden, je nachdem wie stark der Russe den Stoff vor dem Weiterverkauf streckte und nur wenn Crinelli sich auf der Fahrt hierher nicht verrechnet hatte.
»Wir sind dann mal weg.«
Crinelli blickte auf. Die Spurensicherung stand abmarschbereit auf den Stufen der Kellertreppe.
»Seid ihr mit allem fertig?«
»Ja. Im Tresor lagen noch ein paar Papiere, Besitzurkunden, Policen und so ’n Zeugs. Wir nehmen alles mit aufs Revier. Sollen wir den Karton mit den Fotos in Ihr Büro bringen lassen?«
»Fotos?«
»Familienbilder, alte Aufnahmen.«
»Gehört so was in einen Tresor? Lass mal sehen.«
Sie gingen nach oben, wo Crinelli den Karton an sich nahm.
»Wenn es euch recht ist, behalte ich den noch hier. Ihr könnt schon mal abrücken. Lasst mir bloß das Klebeband hier, dann versiegle ich die Tür später.«
»Sie bleiben noch? Trauen Sie unserer Arbeit mal wieder nicht?«
»Quatsch. Ich sehe mir bloß die Bilder an, rauche noch eine und fahr dann nach Hause. Geht nicht gegen euch, Kollegen. Gute Nacht und danke für die Arbeit.«
Die Bilder waren tatsächlich wenig mehr als ein unsortiertes Familienalbum der Sokolows. Im Wesentlichen stammten die Aufnahmen aus deren alter Heimat, zumindest glaubte Crinelli das – die Landschaften, Häuser und Straßen, die im Hintergrund zu sehen waren, erschienen ihm ebenso fremd wie die Gesichtszüge der fotografierten Menschen. Außerdem lag in dem Karton noch eine ganze Serie Bilder, die Sokolow als jungen Burschen zeigten. Als Halbwüchsigen auf einem schäbigen Motorroller, zusammen mit seinem Bruder im Gebirge und immer wieder er allein mit den unterschiedlichsten Frauen im Arm. Der Stolz über die jeweilige Errungenschaft stand ihm jedes Mal deutlich ins Gesicht geschrieben.
Crinelli lehnte sich in die Polster von Sokolows Sofa und rauchte, während er sich weiter durch die Galerie wühlte. Auf dem Boden der Schachtel stieß er auf eine Fotografie, die so gar nicht in die Sammlung zu passen schien. Das Bild zeigte weder Sergej noch Alexej und auch keine der Personen, die Crinelli auf den übrigen Fotos schon einmal gesehen hatte. Sechs Männer standen dort, in einer Reihe aufgestellt, die Arme um die Schultern gelegt. Den linken Rand des Fotos hatte jemand sauber abgerissen, sodass man zwar noch eine Hand auf der Schulter des letzten Mannes in der Reihe sah, aber nicht mehr erkennen konnte, zu wem diese gehörte. Dennoch erregte nicht das, was fehlte, Crinellis Aufmerksamkeit, es war der Mann in der Mitte. Um seinen Kopf war mit schwarzem Filzstift ein Kreis gezogen. Crinelli drückte sich aus den Polstern hoch und ging hinüber zum Schreibtisch. Er legte das Bild vor sich und betrachtete es durch ein Vergrößerungsglas. Lange besah er das Gesicht des Mannes, dann sah er auf und zündete sich eine weitere Zigarette an.
Crinelli blickte nachdenklich aus dem Fenster auf die einfahrenden Züge und dann wieder zurück auf das Gruppenbild. Die Fotografie lag vor ihm auf der Schreibtischunterlage. Mit der stumpfen Seite des Bleistifts tippte er unentwegt auf den Mann in der Bildmitte.
Ein sicheres Zeichen dafür, dass er sich um den Fund kümmern musste, war, dass er sich fast unmittelbar nach dem Erwachen wieder an das Foto erinnert hatte. Beim Zähneputzen hatten die übrigen Bilder der vergangenen Nacht den Mann im Kreis fürs Erste wieder verdrängt. Der gesamte Einsatz lief nochmals vor Crinellis geistigem Auge ab. Während er sein Rad um die vielen Baustellen herum zur Ferrari-Bar geschoben hatte ebenso wie beim morgendlichen Espresso. In der Bar hatte er schließlich damit begonnen, sich Notizen zu machen. Er hielt fest, was er nicht vergessen durfte, und ließ dann den Film in seinem Kopf weiterlaufen. In den Schreibpausen sah er gedankenverloren durch die große Fensterscheibe hinaus auf die Straße. Auf dem Spielplatz gegenüber fanden sich erste Gruppen spielender Kinder mit ihren Müttern und vereinzelt auch Vätern ein, während gleichzeitig Menschen hektisch zu ihren geparkten Autos rannten und zur Arbeit fuhren.
Aber immer wieder tauchte aus dem Strom seiner Gedanken dieses Foto auf. Und auch wenn er es nicht mit dem laufenden Fall zusammenbringen konnte, da war dieses unbeschreibliche Gefühl in der Magengegend, das immer dann auftrat, wenn etwas Bedeutsames geschah oder bald geschehen würde. Und weil er gelernt hatte, diesem Gefühl zu vertrauen, war er an dem Foto hängen geblieben.
Wie war das Foto in Sokolows Besitz gelangt? Wieso bewahrte er es zusammen mit seinen Familienfotos im Safe auf? Ging von dem Mann im Kreis Gefahr aus, oder war er selbst in Gefahr? Hatte Sokolow das Foto als Warnung erhalten, oder wollte er es jemandem geben, damit der Mann im Kreis beseitigt wurde? Wer könnte ein Interesse daran haben, Sergej Sokolow zu warnen? Hatte der Absender des Fotos sich selbst aus dem Bild genommen, die linke Seite abgetrennt, oder war es Sokolow, der sich selbst abgerissen hatte?
Schluss! Aus! Keine weiteren Spekulationen. Das Nächstliegende wäre ohnehin, sich direkt mit Sokolow über das Foto zu unterhalten. Der Russe würde alle diesbezüglichen Fragen beantworten können, wenn er inzwischen bereit war, ihm mehr zu schenken als ein arrogantes Lächeln. Doch für ein erfolgreiches Verhör brauchte man eine ordentliche Strategie, und die ergab sich in aller Regel aus einem Gemisch von Fakten und dem Gefühl für den richtigen Zeitpunkt. Und an Fakten mangelte es Crinelli ganz eindeutig noch.
Er sprang auf. Wofür hatte man denn eine Fahndungsabteilung?
»Morgen, Yildaz, hast du mal einen Augenblick Zeit für mich?« Crinelli legte das Bild vor den jungen Beamten auf den Tisch. Yildaz griff nach der Lupe und beugte sich damit tief über den ausgeblichenen Abzug. »Kannst du herausfinden, wer der Mann im Kreis ist?«
»Ich kann’s versuchen«, sagte Yildaz, »aber das Foto ist ziemlich unscharf, außerdem ist es schon älter. Lass mal sehen.« Er sah auf der Rückseite des Abzugs nach. »Schade, kein Datum. Aber anhand der Farben und des verwendeten Papiers könnten wir das Alter bestimmen. Ist das wichtig für dich?«
Crinelli zog ein Ich-weiß-nicht-Gesicht. »Vielleicht«, sagte er, »das kann ich im Moment noch nicht sagen. Kannst du es denn vergrößern?«
»Ja sicher, aber damit ist es ja nicht getan. Wenn ich es einscanne und noch ein bisschen aufblase, wird die Qualität eher schlechter. Wir müssten es zur Identifizierung später ja durch den Computer jagen, und ob’s dafür reicht? Pah, wird echt schwer. Weißt du was? Ich mache erst mal die Vergrößerung und versuche, das Bild am PC ein bisschen nachzuschärfen. Ich rufe dich an, wenn ich damit fertig bin, dann können wir ja entscheiden, wie wir weiter vorgehen, einverstanden?«
»Ja, das ist gut. Ich bin in meinem Büro.« In der Tür blieb Crinelli abrupt stehen. Der Kollege hatte halblaut etwas vor sich hin gemurmelt, was offensichtlich nicht für Crinellis Ohren bestimmt gewesen war. »Was hast du da gerade gesagt, Yildi?«
»Nichts von Bedeutung. Der Typ erinnert mich nur an jemanden.«
»Scheiße, dich auch?« Crinelli griff sich mit einer Geste der Verzweiflung ins Haar.
»Aber ich weiß nicht, an wen«, fuhr Yildaz fort. Er durchforstete angestrengt sein fotografisches Gedächtnis – ohne Erfolg. »Weißt du«, sagte er am Ende seiner Bemühungen, »wie sehr ich so was hasse?«
»Denk weiter nach, bitte. Mir geht es nämlich auch schon seit gestern Abend nach.«
»Woher stammt das Foto eigentlich?«
»Wir haben es in Sokolows Haus gefunden.«
»Aber Russen sind das hier keine – die Jungs auf dem Bild, meine ich.«
Zwei Stunden später stand Crinelli wieder im Büro der Fahndung und starrte zusammen mit seinem Kollegen auf das Foto. Auf der Vergrößerung war jetzt nur mehr das Bild eines einzigen Mannes zu sehen. Yildaz hatte auch den Kreis um den Kopf wegretuschiert, damit nichts die Aufmerksamkeit von den Gesichtszügen ablenkte.
»Du gibst zu, dass eine gewisse Ähnlichkeit besteht, oder?«, fragte Yildaz.
»Ja, vielleicht, ja. Aber ich bin doch nicht verrückt. Glaubst du tatsächlich, ich hätte mich die ganze Zeit über gefragt, an wen mich der Typ erinnert, wenn die Antwort so leicht gewesen wäre?«
»Keine Ahnung. Aber auf das Naheliegende kommt man doch oft erst zum Schluss.«
»Ach was! Ich hätte doch bloß in den Spiegel zu sehen brauchen.« Crinelli machte eine resignative Geste. »Ist letztlich aber auch nicht wichtig. Ich muss mich wohl damit abfinden, dass ich italienische Gene habe und auch entsprechend aussehe. Aber selbst wenn man mir den Italiener ansieht, fühle ich mich doch nicht wie einer.«
»Willst du mit ’nem Türken über Identität reden? Wir denken immer, wenn wir nur die Sprache beherrschen und sowieso hier geboren sind, sieht man uns unsere Herkunft nicht mehr an. Doch die Leute sehen in uns leider doch nur den Türken oder den Italiener. Na ja, was heißt leider, also ich hab damit kein Problem.«
»Hast du doch … Hab ich auch …« Crinelli winkte ab. »Scheißegal. Kümmern wir uns lieber wieder um unseren Freund hier. Der Mann ist also vermutlich italienischer Abstammung. Kannst du ihn mit dem Bild zur Fahndung ausschreiben, am besten international?«
»Ich werde es in jedem Fall versuchen. Wir hatten schon mit schlechteren Vorlagen Erfolg.«
In diesem Augenblick flog die Tür auf und Bohlen stürmte mit hochrotem Kopf ins Zimmer. Crinelli hatte noch keine Zeit gefunden, mit ihm zu sprechen, obwohl ihm sehr bewusst war, dass er ihm dringend bei seiner Untersuchung unter die Arme greifen musste. Aber dafür wäre ja nun, wo er die Russengeschichte bald abgab, auch wieder Gelegenheit.
»Jerry, ich hab dich überall gesucht«, rief Bohlen grußlos.
»Was kann ich denn für dich tun? Du siehst ja aus, als hätte man dich überfallen und dir die letzten Kröten geklaut.«
»Wir haben ein Bild«, platzte er heraus, ohne sich näher zu erklären.
»Super! Wir auch. Und, sieht dein Typ auch so aus wie ich?«
Yildaz und Crinelli sahen sich kurz an, bevor sie beide losprusteten. Bohlen hingegen stand wie versteinert auf der Schwelle des Büros. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er seine beiden feixenden Kollegen an wie Besucher aus einer fremden Galaxie.
»Woher …«, brachte er schließlich heraus.
»Woher was?« Crinelli fand zu einer ernsteren Haltung zurück. Irgendetwas stimmte nicht mit Bohlen.
»Woher weißt du das?«
»Was? Was soll ich wissen? Nun red schon, verdammt noch mal.«
»Dass er dir ähnlich sieht.«
Erst jetzt sah Crinelli das Bild in Bohlens Hand. Er streckte es ihm schon die ganze Zeit über entgegen.
»Wer ist das?«, fragte er mit einem schnellen Blick auf die Computersimulation.
»Der Tote.«
»Welcher Tote?«
»Der von der Rheinwiese. So hat er ausgesehen. Die Kollegen haben das Bild anhand unserer Tatortfotos rekonstruiert. Du erinnerst dich doch, dass du mir den Auftrag dazu gegeben hast?«
»Was sagst du da? Das hier ist der Typ mit dem Loch im Schädel?« Crinelli winkte mit dem Foto in der Luft herum. »Scheiße.« Er blies die Backen auf und gönnte sich so einen Moment des Nachdenkens. »Yildaz, gib mir bitte mal das andere Bild«, sagte er dann entschieden.
Crinelli legte die Bilder nebeneinander auf den Schreibtisch. Die drei Männer besahen sie sich eine Weile stumm, gerade so, als bestünde die Aufgabe darin, zehn Unterschiede aufzuspüren.
Crinelli fand als Erster, wenn auch keinen Unterschied, so doch seine Sprache wieder.
»Bestehen für euch irgendwelche Zweifel?« Er sah die beiden einen nach dem anderen an. Bohlen und Yildaz schüttelten den Kopf. »Das sehe ich genauso«, stellte Crinelli dann viel geschäftsmäßiger fest, als ihm zumute war, und atmete dabei hörbar aus. »Mein lieber Mann, jetzt wird die Sache hier aber echt interessant.«
»Und du kennst den Toten?«, fragte Bohlen, der immer noch nicht begriff, was genau hier vor sich ging.
»Nein, natürlich nicht. Ein Mann italienischer Abstammung – vermutlich. Yildaz findet, dass er mir ähnlich sieht, aber so ein Foto kann täuschen. Wahrscheinlich liegt es an den Haaren. So schöne schwarze Locken haben eben nicht viele, jedenfalls nicht viele Deutsche.«
»Nun mal halblang«, sagte Yildaz und sah zu Bohlen rüber. »Sag selbst, Eddy, das ist doch Crinelli. Wenn wir das Bild rausschicken, wirst du an jeder Ecke aufgehalten, Jerry, darüber solltest du dir im Klaren sein.«
»Ja sicher. Wer kennt diesen Toten? Und dann werde ich aufgehalten. Die Nacht der lebenden Leichen. Hör endlich auf mit dem Scheiß …«
»Aber ich finde auch …«, startete Bohlen einen eigenen Versuch, brach aber sofort unter Crinellis gestrengem Blick wieder ab.
»Leute, viel interessanter ist doch, dass der Russe den Toten von der Wiese gekannt haben muss. Und damit …«, Crinelli brach ab. »Heilige Scheiße! Und damit haben wir keine zwei Fälle mehr, sondern aller Voraussicht nach nur noch einen.«
»Noch einen weiteren Mord, meinst du«, sagte Bohlen fast tonlos.
»Oder so, ja, genau, noch einen. Oder anders gesagt: Der Fall Sokolow wurde soeben um eine weitere Mordgeschichte erweitert.«
»… nicht zu Ende … die Russengeschichte.« Bohlen brachte nur noch einzelne Satzstücke zustande.
»Nee, noch nicht zu Ende, aber dafür auf einmal wieder sehr, sehr spannend, findet ihr nicht?« Crinelli sah die Kollegen gut gelaunt an. Seine plötzliche Heiterkeit vermochte sie nicht anzustecken. »Ich glaube, ich werde mich doch noch nicht sofort aus dem Russenfall zurückziehen. Ganz im Gegenteil. Den sauberen Herrn Sokolow werde ich mir jetzt mal ernsthaft vorknöpfen müssen.«
»Du musst dich mit den Kollegen abstimmen.«
»Keine Angst, Edgar, das mache ich schon, bleib ruhig. Weiß man schon, wer sein Anwalt ist?«
»Der Beste«, rief Bohlen triumphierend, als habe er ihn selbst verpflichtet.
»Sagt wer?«
»Sagt Böker.«
»Oje. Und, hat der Beste auch einen Namen?« Crinelli stand höhnisch grinsend direkt vor Bohlens Nase.
»Dr. Weitbrecht.«
»Ralf Weitbrecht?«, rief Crinelli. »Ach du meine Güte. Den konnte ich schon in der Schule nicht leiden.«
»Du kennst ihn? Das ist schlecht. Dann bist du befangen.« Bohlen wuchs die Sache eindeutig über den Kopf.
»Unsinn! Weitbrecht ist mir seit unserer gemeinsamen Schulzeit nicht mehr persönlich begegnet. Ich lese über ihn in der Zeitung und weiß von Kollegen, dass er sehr unangenehm werden kann, aber das kann ich auch.«
»Richtig«, stimmten Bohlen und Yildaz im Chor zu und nickten zur Bestätigung eifrig mit dem Kopf.
»Na, seht ihr.« Crinelli lachte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kein Grund zu verkrampfen, Männer. Sorgen muss sich in dieser Angelegenheit nur einer machen, und der heißt Sergej Sokolow.«
»Herr Dr. Weitbrecht, Herr Sokolow, guten Tag. Ich bin Hauptkommissar Crinelli von der Mordkommission.«
Weitbrecht, ein sehr großer und korpulenter Mann mit stahlgrauen Stoppeln auf dem Kopf und im Gesicht und einer markant tiefen Stimme, erhob sich, um den eintretenden Kommissar zu begrüßen. Mitten in der Bewegung überfiel ihn die Erinnerung.
»Wir kennen uns doch, sagen Sie nichts …«
Crinelli sah den Rechtsanwalt mit ausdruckslosem Blick an.
»Crinelli«, rief Weitbrecht, »mein Gott, ich konnte ja nicht ahnen … lange her, nicht wahr? Mein Gott. Natürlich! Ich habe deinen Namen zwar Dutzende Male in der Zeitung gelesen, aber dass du das bist … Wir waren Schulfreunde«, fügte er erklärend in Richtung Sokolow an. »Wie war noch mal dein Vorname? Irgendwas Französisches, mein Gott, wie lange ist das her?«
»Hauptkommissar reicht, Herr Dr. Weitbrecht. Setzen Sie sich, bitte, ich möchte mit der Vernehmung beginnen.«
Sokolow saß währenddessen unbeteiligt auf seinem Stuhl und starrte ausdruckslos ins Leere. Die ganze Begrüßungsszene war ihm nicht einmal einen Augenaufschlag wert gewesen.
In aller Ruhe zog Crinelli sein Sakko aus, hängte es sorgfältig über die Lehne des Stuhls, auf dem er sich dann, fast wie in Zeitlupe, niederließ. Er zog seine Uhr vom Handgelenk und legte sie ordentlich vor sich neben das Tischmikrofon. Der Anwalt beobachtete ihn amüsiert, als wolle er sagen: die alten Tricks, also nein, wirklich …
Doch das nahm Crinelli gar nicht wahr. Er drehte dem Anwalt nochmals den Rücken zu, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Innentasche seiner Jacke und zündete sich, nachdem er sie von allen Seiten ausgiebig betrachtet und damit zweimal vor sich auf den Tisch geklopft hatte, eine Kippe an. Nach einigen tiefen Zügen beugte er sich mit der Zigarette zwischen den Lippen vor und nuschelte ins Mikrofon.
»Vernehmung von Sergej Sokolow, Mittwoch, 12. Februar, 17:34 Uhr. Anwesend: der Beschuldigte Sergej Sokolow, Dr. Ralf Weitbrecht als Rechtsbeistand des Herrn Sokolow und Hauptkommissar Crinelli.«
Um zu verstehen, was er sagte, mussten der Angeklagte und sein Verteidiger schon sehr genau hinhören. Crinelli drosselte seine Lautstärke so weit, dass beide Männer intuitiv ihre Oberkörper in seine Richtung neigten. Für die Beobachter im Nebenraum sah es während der folgenden Minuten so aus, als unterhielte Crinelli sich mit dem Aschenbecher.
»Herr Sokolow, Sie sind achtunddreißig Jahre alt, leben seit 1991 in Deutschland und sind ledig. Sie entstammen einer Familie von Deutschrussen. Sie besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft seit Anfang 1992. Sie sind Besitzer und Betreiber eines Klubs namens Paradiso hier in Köln. Bis heute haben Sie keine Vorstrafen. Ist das so weit richtig?«
Crinelli hielt seinen Kopf die ganze Zeit über weiterhin gesenkt. Er vermied jeden Augenkontakt mit Weitbrecht und dessen Mandanten, wartete nur seelenruhig auf eine Antwort.
»Alles in Ordnung, Herr Hauptkommissar«, antwortete Weitbrecht. Der spöttische Unterton entging Crinelli nicht.
»Ihnen wird vorgeworfen, der Kopf eines Drogenrings zu sein«, fuhr er unbeeindruckt fort.
»Für eine solche Anschuldigung gibt es keinerlei Beweise …« Weitbrecht verstummte, als Crinelli abwehrend den Arm hob und in die Bewegung hinein schon wieder weitersprach.
»In der gestrigen Nacht wurden hundert Kilogramm reinstes Heroin sichergestellt. Dies geschah innerhalb einer Polizeiaktion, bei der neben Ihnen und weiteren fünf Männern auch Ihr Bruder Alexej Sokolow als Empfänger der Drogen festgenommen wurde. Die Geldübergabe für das Heroin fand im »Hotel Burg« im Bergischen Land statt, genauer gesagt im angrenzenden Restaurant »Die Scheune«. Dort übergaben Sie, Sergej Sokolow, das Geld an Kadir Özal, den Anführer der türkischen Drogenkuriere. Beide Aktionen sind lückenlos dokumentiert.«
»Hören Sie, Crinelli«, rief der Anwalt, offensichtlich von der ersten Überraschung gut erholt. »Das sind doch alles haltlose Behauptungen. So plump sollten Sie erst gar nicht versuchen, mit uns zu diskutieren …«
Er hielt abermals inne, nachdem er feststellen musste, dass Crinelli nicht aufgehört hatte zu reden. Der Kommissar sah weiterhin stoisch in Richtung Aschenbecher.
»Dann reden Sie wenigstens lauter, wir können Sie nicht verstehen«, versuchte Weitbrecht Crinellis Monolog zu stören.
Aber auch diesen Gefallen tat Crinelli ihm nicht. Wie eine ferngesteuerte Maschine, deren einziger Auftrag darin bestand, einen Tatverdacht zu formulieren, spulte er seine Eröffnung ab.
»… zu einer kriminellen Vereinigung«, sagte Crinelli gerade, als es Weitbrecht endlich gelang, sich wieder auf seinen Widersacher zu konzentrieren. »Beweise hierfür werden wir finden. Nach der Verhaftung wurden Ihr Privathaus und Ihr Klub durchsucht.«
»Hören Sie, Crinelli …«
»Hauptkommissar Crinelli, bitte.«
»Herr Hauptkommissar, Sie machen einen großen Fehler. Das Geld meines Mandanten war für eine größere Liegenschaft in der Türkei bestimmt. Es ist beileibe kein Drogengeld, was wir natürlich beweisen können. Außerdem, was den Klub angeht, mein Mandant ist ein erstklassiger Steuerzahler. Der Klub gehört zu den besten und angesehensten der Stadt, alle Mitarbeiter sind tadellos beleumundet, und die Gäste, die dort verkehren, gehören zu den Spitzen der Gesellschaft. Nichts, was Sie dort finden werden oder gefunden haben, vermag ein schlechtes Licht auf Herrn Sokolow zu werfen – da sind wir uns absolut sicher. Seine Bücher sind in Ordnung, keine Drogen, keine Frauen, nichts, außer einigen Flaschen besten Champagners und einem legendären Ruf. Vielleicht stört es Sie, dass nicht jeder Zutritt zu diesem exklusiven Kreis erhält, aber das allein ist ja noch nicht justiziabel, habe ich recht?«
Crinelli ließ Weitbrecht diese erste Verteidigungsrede ungehindert halten, ging aber nicht darauf ein. Es war nicht wichtig, wie sich die beiden verhielten, wichtig war nur, dass er selbst an seiner Dramaturgie festhielt. Ruhig fuhr er fort.
»Die Auswertung der dabei sichergestellten Fundstücke steht noch aus. Die großen Mengen Bargeld, die wir im Safe Ihres Privathauses gefunden haben, werden Sie sicher erklären müssen. Das Koks aus Ihrem Nachttisch interessiert mich eigentlich nicht. Natürlich wurde auch das Bordell Ihres Bruders durchsucht. Dabei konnten weitere Drogen sichergestellt werden. Während der vergangenen Monate wurden Sie beide übrigens observiert. Sie können also getrost davon ausgehen, dass wir den Weg der Drogen kennen und auch wissen, wer sie übernimmt und schließlich auf die Straße bringt. Ihr Bruder ist übrigens gesprächiger als Sie, Sokolow, genauso wie Manuel Obruschnik, der bereits ausgepackt hat und für uns als Kronzeuge antreten wird.« Obruschnik war der Mann, der die Drogen von Sokolow übernahm, um sie auf den Markt zu bringen. Er stand schon lange ganz oben auf der Wunschliste der Drogenfahnder. »Ich bin sicher, dass auch Alexej in den nächsten Stunden zusammenbricht, bedenkt man, was ihm sonst noch alles angelastet wird – abgesehen von den Drogengeschäften, meine ich.«
Crinelli blinzelte erstmals zu dem Russen hinüber. Sokolow wirkte ruhig und gelassen, ein Mensch, der sich seiner Sache völlig sicher schien. Hinter Weitbrechts unbeweglicher Fassade stellten sich allerdings erste Zweifel ein, das meinte Crinelli deutlich erkennen zu können. Wahrscheinlich fragte der Anwalt sich gerade, was sein ehemaliger Schulkamerad in der Hinterhand haben könnte, worauf das alles hinauslaufen mochte.
»Mein Mandant hat nichts mit dem Drogengeschäft seines Bruders zu tun«, sagte Weitbrecht und tatsächlich war seine Stimme dabei weniger fest als zuvor.
»Ich hörte schon, das Geld war für einen guten Zweck«, sagte Crinelli.
»Herr Hauptkommissar, vielleicht gefällt es Ihnen ja nicht, dass es Menschen gibt, die sich eine große Immobilie im Ausland leisten können, aber dafür sollte das Geld nun einmal verwendet werden.«
»Die Handys aller Angeklagten wurden sichergestellt. Bislang haben wir nur die Gespräche Ihres Mandanten und seines Bruders abgeglichen. Fest steht, dass die beiden miteinander telefoniert haben, während der eine auf einer Wiese stand und der andere seinen Schwanz in der Hand hielt. Was möchten Sie zuerst sehen, die Fotos oder die übersetzte und beglaubigte Abschrift des Gesprächs?«
Ohne Weitbrechts Antwort abzuwarten, zog er einen Zettel aus der Tasche und schob ihn dem Anwalt über den Tisch.
»Sergej?«
»Ja, Brüderchen, ich bin’s. Wie geht es dir?«
»Danke, sehr gut. Ich komme gerade von einem Spaziergang zurück. Die Nacht ist so wunderbar.«