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Von Vulkanen, Dämonen und dem Rausch des späten Glücks. Harald Steen ist vierundsechzig Jahre alt, als er sein altes Leben hinter sich lässt. In Rotterdam besteigt der knorrige Einzelgänger ein Containerschiff und nimmt Kurs auf die legendäre Galapagosinsel Floreana, um endlich seiner rätselhaften Familiengeschichte auf die Spur zu kommen. Der Start auf der Insel gestaltet sich schwierig. Aufmerksam verfolgen die Bewohner jeden Schritt des »dürren Deutschen«, der sich allzu sehr für die dunkle Inselhistorie interessiert und damit für Unruhe sorgt. Doch nicht nur im Dorf stößt Steen auf Widerstände. Auch auf seinen Expeditionen in die faszinierende wie tückische Wildnis Floreanas gerät er an seine Grenzen. Bald aber scheinen sich die Strapazen zu lohnen. Denn mit jedem weiteren Tag auf der Insel nähert sich Steen nicht nur der tragischen Geschichte seiner Familie, die Anfang der Dreißigerjahre in die mysteriöse Galapagos-Affäre verstrickt war. Allmählich entwickelt er auch ein Gespür für das Wesen dieses unwirklichen Ortes. Und dann ist da noch Mayra und die plötzliche Ahnung von Glück … In »Die dritte Quelle« erzählt Werner Köhler von einem Mann, der zum Ende seines Lebens noch einmal alles aufs Spiel setzt und sich fernab der Heimat auf die Suche nach sich selbst begibt. Ein raffinierter Roman über den Mythos der eigenen Erinnerung und zugleich eine moderne Abenteuergeschichte, inszeniert vor magischer Kulisse.
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Seitenzahl: 485
Veröffentlichungsjahr: 2022
Werner Köhler
Roman
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Über Werner Köhler
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Inhaltsverzeichnis
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Werner Köhler, geboren 1956, ist Schriftsteller und Gründer des Literaturfestivals lit.COLOGNE. Er lebt in Köln. Bisher erschienen bei Kiepenheuer & Witsch die Romane »Cookys« (2004), »Eine ganz normale Familie« (2006), »Drei Tage im Paradies« (2011) und »Cookys Reise« (2013) sowie die Krimireihe rund um Hauptkommissar Jerry Crinelli. Unter dem Pseudonym Yann Sola veröffentlichte Köhler außerdem die in Südfrankreich spielende Krimireihe um den Kleinganoven und Hobbyermittler Perez.
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Harald Steen ist vierundsechzig Jahre alt, als er sein altes Leben hinter sich lässt. In Rotterdam besteigt der knorrige Einzelgänger ein Containerschiff und nimmt Kurs auf die legendäre Galapagosinsel Floreana, um endlich seiner rätselhaften Familiengeschichte auf die Spur zu kommen.
Der Start auf der Insel gestaltet sich schwierig. Aufmerksam verfolgen die Bewohner jeden Schritt des »dürren Deutschen«, der sich allzu sehr für die dunkle Inselhistorie interessiert und damit für Unruhe sorgt. Doch nicht nur im Dorf stößt Steen auf Widerstände. Auch auf seinen Expeditionen in die faszinierende wie tückische Wildnis Floreanas gerät er an seine Grenzen. Bald aber scheinen sich die Strapazen zu lohnen. Denn mit jedem weiteren Tag auf der Insel nähert sich Steen nicht nur der tragischen Geschichte seiner Familie, die Anfang der Dreißigerjahre in die mysteriöse Galapagos-Affäre verstrickt war. Allmählich entwickelt er auch ein Gespür für das Wesen dieses unwirklichen Ortes. Und dann ist da noch Mayra und die plötzliche Ahnung von Glück …
In »Die dritte Quelle« erzählt Werner Köhler von einem Mann, der zum Ende seines Lebens noch einmal alles aufs Spiel setzt und sich fernab der Heimat auf die Suche nach sich selbst begibt. Ein raffinierter Roman über den Mythos der eigenen Erinnerung und zugleich eine moderne Abenteuergeschichte, inszeniert vor magischer Kulisse.
Hinweis
Die Reise
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Die Insel
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Mayra
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Die dritte Quelle
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Danksagung und Quellenverzeichnis
Handlung, Orte und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Die Ereignisse in den Dreißigerjahren haben tatsächlich so oder so ähnlich auf Floreana stattgefunden.
Die Tage auf der MS Paita, einem Containerschiff unter panamaischer Flagge, taumelten in erschöpfender Monotonie der Dämmerung entgegen. Die Nächte in den fensterlosen Kabinen unter Deck waren quälend. Das Stampfen und Rauschen der Dieselmotoren ließ kaum Schlaf zu. Nur die dramatischen Sonnenauf- und -untergänge vermochten etwas Abwechslung in den Schiffsalltag der fünf Passagiere zu bringen. Ein älteres Ehepaar und drei Alleinreisende hatten die Überfahrt als Fremde angetreten und mit Ausnahme einer Niederländerin hatte niemand von ihnen so recht versucht, daran etwas zu ändern. Beim Deckspaziergang begegneten sie sich freundlich, wechselten ein paar Sätze über das Wetter, die schier endlose Weite des Ozeans, über die internationale Besatzung, von der man kaum einmal jemanden zu Gesicht bekam, und über die Verpflegung an Bord, die nach Meinung aller besser hätte sein können.
Die gemeinsamen Mahlzeiten, eingenommen im nur den Passagieren und dem Kapitän vorbehaltenen Kasino, einem engen, fensterlosen Raum im Bauch des Schiffs, verliefen zumeist schweigend. Die gesprächigste der sechs anwesenden Personen war noch der rumänische Schiffsführer. Seit dem Auslaufen in Rotterdam gab er jeden Abend mindestens einen Schwank aus seinem aufregenden Leben auf See zum Besten.
Vermutlich, so dachte Harald Steen, ein hoch aufgeschossener Deutscher aus Hamburg, verliefen die Abendessen so oder so ähnlich auf jedem Frachter der Welt. Entweder es war am Tag etwas Außergewöhnliches passiert, das für den Abend Gesprächsstoff lieferte, oder man hockte schweigend über seinem Teller und verschwand in der Koje, sobald dieser leer war. Wurde das Schweigen doch einmal als bedrückend empfunden, öffnete irgendwer die Truhe mit dem Seemannsgarn. Geschichten von Havarien, Begegnungen mit Piraten vor Somalia, biblischen Stürmen oder mysteriösen Himmelserscheinungen wurden ausgepackt und ausgeschmückt. Steen hörte eigentlich nur zu, wenn der Kapitän vergleichsweise nüchtern über sein Schiff sprach. Die Paita ist kein normaler Frachter, hob er zumeist an, das müssen Sie beachten. Dann legte Steen das Besteck beiseite und lauschte für die nächsten Minuten seinen Ausführungen.
Auch ist es kein Frachter, den man mit kleiner Besatzung über die Weltmeere steuern kann. Wir sind ein hochmodernes Panamax-Schiff. Dreihundert Meter lang, vierzig Meter breit.
Ein Panamax-Schiff. Gott sei Dank, dachte Steen. Für das, was ihnen unmittelbar bevorstand, keine unwichtige Information. Panamax-Schiffe hießen so, das wusste er, weil sie noch eben durch den Panamakanal navigiert werden konnten. Die nächstgrößeren Schiffe waren die Neopanamaxe und dafür schon zu groß.
Die übrigen Passagiere schienen sich allesamt nichts aus technischen Details zu machen.
Ihm gegenüber saß allabendlich Ruth Versteeg, die Niederländerin. Mitte fünfzig, aus Eindhoven stammend, früh ergraut mit struppig geschnittener Kurzhaarfrisur und einer sehr spitzen Nase. Ihre smaragdgrünen Augen funkelten, wenn sie sprach. Sie war groß, reichte ihm fast bis zur Schulter, und eine Frau, der einfach alles wichtig und von Bedeutung zu sein schien, was sie in seinen Augen ein wenig anstrengend machte. Dreimal hatten sie sich in den letzten Wochen an Bord miteinander unterhalten. Immer war die Initiative von ihr ausgegangen. Ohne Umschweife hatte sie ihm Fragen zu seiner Person gestellt, seinem Leben und seiner Herkunft, allesamt an Indiskretion kaum zu übertreffen. Er hatte gehüstelt und ausweichend geantwortet. Sein inzwischen vierundsechzig Jahre andauerndes Leben lang hatte er sich niemandem anvertraut. Warum sollte er ausgerechnet bei dieser Frau damit beginnen?
Außerdem war seine Vergangenheit kaum der Rede wert. Er befand sich im Begriff, sein altes Leben für immer hinter sich zu lassen. Auf der Reise in ein Abenteuer von ungeheurer Dimension. Es gab nichts öffentlich zu besprechen, hatte es noch nie gegeben.
Um sie loszuwerden, erfand er eine Geschichte. Eine Lustreise unternehme er, auf einem Frachter, weil ihn Containerschiffe halt interessierten. Nein, kein besonderes Ziel. Nein, nicht für länger. Nein, keine Verwandten im Zielgebiet. Und nein, kein Interesse an der Tierwelt, den Einheimischen und deren Sitten und Gebräuchen. Und auch nicht an architektonisch bedeutenden oder geschichtsträchtigen Stätten. Nicht an Religion oder Staatsformen. Bloß mal eine Reise auf einem Frachter, bevor er in sein normales Leben zurückkehre. Auf jede tiefergehende Frage ein eindeutiges: Nein.
So fielen seine Antworten aus. Und er hoffte, sich damit ausreichend langweilig gemacht zu haben. Aber diese Versteeg scherte sich nicht um seine ablehnende Haltung, die er, wie sie fand, nur zur Schau stellte. Eine weitere Niederträchtigkeit dieser schamlosen Person. Je weniger Antworten er gab, desto mehr neue Fragen hielt sie für ihn bereit, aus denen er sich herauslavieren musste.
An einem besonders heißen Tag an Deck hatte sie ungefragt von sich und ihrem aufregenden Leben als Hippiemädchen in den Sechzigern erzählt. Steen hätte lange überlegen müssen, ob ihn irgendetwas noch weniger interessierte, als vom Leben eines Blumenkindes in den Wäldern Nordkaliforniens zu erfahren. Trotzdem löste diese Person etwas in ihm aus. Das war so eindeutig, dass es sogar ihm auffiel. Ihm, der für menschliche Interaktion keinen Kompass besaß.
Weil sie in seine Gedanken eingedrungen war und sich dort sehr zu seinem Ungemach eingenistet hatte, sah er beim Essen immer wieder heimlich über seinen Tellerrand hinweg zu ihr hinüber. Meist trug sie ein blumengemustertes Kleid aus dünnem Seidenstoff. Auch tagsüber, an Bord, wo sie jeden Nachmittag um die gleiche Zeit ein Sonnenbad nahm. Ein Umstand, der sich schon kurz nach dem Ausschiffen in Rotterdam innerhalb der Mannschaft herumgesprochen hatte. Legte sie das Kleid ab und übergab ihren nur mit einem knappen Bikini bekleideten Körper im Liegestuhl der Sonne, war sie selten allein an Deck. Auffällig oft beobachtete Steen Matrosen, die scheinbar zufällig just in diesem Moment an Bord herumliefen oder sich an den Rettungsbooten zu schaffen machten, in Wirklichkeit aber die Holländerin anstarrten, als hätten sie schon lange kein weibliches Wesen mehr gesehen, was vermutlich sogar der Wahrheit entsprach.
Mit der Einfahrt in den Panamakanal bei Colón änderte sich das Klima. Die frischen Seewinde fielen in sich zusammen, schlagartig wurde es heiß und feucht. Schwärme von Stechmücken gingen auf das Schiff und seine Passagiere nieder. Trotzdem verfolgten das ältere Ehepaar sowie ein weiterer Passagier unbestimmten Alters das Eintreffen der Lotsen an Bord. Auch während der anschließenden Fahrt durch den Kanal verharrten sie an Deck, als sei dieses Meisterwerk der Ingenieurskunst der Grund für ihre Reise.
Steen blieb wegen der elenden Mücken in seiner Kabine. Die Luft dort war beinahe unerträglich stickig. So gut es eben ging streckte er sich auf dem zu kurzen Bett aus und starrte während der zwölfstündigen Passage abwechselnd an die fleckige Decke oder versuchte aus dem Lärm der Motoren einen Rhythmus, eine Melodie herauszuhören. Zwischendrin las er ein wenig Nietzsche und fiel darüber in Schlaf. Erst als der Lautsprecher über der Kabinentür knisterte und eine Stimme in gebrochenem Englisch verkündete, man habe soeben Balboa, einen Vorort von Panama City am Ausgang des Kanals, passiert und befinde sich nun wieder auf offener See, legte er das Buch beiseite und begab sich an Deck.
Unter dem Licht eines vollen Mondes stand er ganz vorne im Bug des Schiffs. Im Rücken viertausend bunte Container und sein altes Leben. Er breitete die Arme aus und erlag einem Lachkrampf. Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, stemmte er die Fäuste in die Hüften und nickte theatralisch.
Bereit, Herr Kaleun!, brüllte er gegen den Wind. Zu einem Plan, der in Rotterdam seinen Anfang genommen und für den er kein Ende erdacht hatte. Nannte man es dann überhaupt noch einen Plan? Er hatte eine Idee, einen Wunsch, das Gefühl, etwas zu Ende bringen zu müssen. Er fühlte sich prächtig.
Vor sich hatte er das von einem abklingenden Sturm noch brodelnde Wasser des Südpazifiks. Eine Schule Weißseitendelfine kreuzte die Buglinie des Schiffs. Die Haut der Tiere reflektierte das Mondlicht. Der Geruch des Meeres umwehte ihn. Während der Deckspaziergänge in den vergangenen Wochen hatte er immer wieder innegehalten, die Luft eingeatmet und sie so tief in die Lunge gesogen, wie er nur konnte. Am liebsten hätte er nie wieder ausgeatmet. Der stete Horizont und dieser wundervoll würzige Duft – er nannte ihn Geschmack – waren es, die ihn die See lieben ließen. Viele Menschen fürchteten das Meer, für ihn war es ein ganz und gar angstfreier Raum. Mit fast schon kindlicher Freude verfolgte er die geschmeidigen Bewegungen der Delfine, fand Gefallen an ihrem ausgelassenen Treiben. Alles zusammen bescherte ihm einen kurzen Moment des Glücks. Der Panamakanal bedeutete ihm nichts, einzig die Natur vermochte sein Herz zu berühren. Pazifik … endlich im Pazifik, murmelte er halb konstatierend, halb entzückt. Dann verpasste er sich selbst eine schallende Ohrfeige.
In drei Tagen würde der Frachter Guayaquil erreichen. Dort gedachte er sich fürs Erste einzuquartieren. Ein paar wichtige Einkäufe wollte er tätigen und nach einem geeigneten Schiff zur Weiterreise Ausschau halten. In sechs Wochen erst wollte er sein endgültiges Ziel erreichen, nicht früher und nicht später, in exakt sechs Wochen. Er lag absolut im Zeitplan.
Beim Gedanken an die größte Stadt Ecuadors musste Steen sich eingestehen, nichts über deren Geschichte oder Gegenwart zu wissen. Seiner Natur entsprach dies beileibe nicht, Überraschungen waren ihm ein Graus. Vielleicht lag sein geringes Interesse daran, dass Guayaquil nicht der Endpunkt seiner Reise war. Über Floreana wusste er alles. Jedes Buch, jeden Bericht, jede Mutmaßung über die als Galapagos-Affäre bekannt gewordenen Ereignisse der Dreißigerjahre hatte er gelesen. Regelrecht aufgesogen. Besonders die Memoiren der damals in die Vorgänge verstrickten Personen. Selbst diejenigen, die nur in englischer Sprache publiziert worden waren. Was schon etwas heißen wollte, denn sprachbegabt war er nicht.
Auf Spanisch konnte er sich inzwischen leidlich verständigen. Seit er vor einigen Jahren den zunächst vagen Plan zu dieser Reise gefasst hatte, hatte er erst einen Volkshochschulkurs für Anfänger, danach noch einen für Fortgeschrittene besucht. Der dritte und letzte Teil des Sprachkurses war seiner dann doch etwas überstürzten Abreise zum Opfer gefallen. Trotzdem fühlte er sich in der fremden Sprache nicht mehr ganz so heimatlos.
Vielleicht also lag es an seiner Unkenntnis über die Millionenstadt, dass er so erschrocken war, als er nun, nach der Einfahrt der MS Paita in den Río Guayas knappe sechzig Kilometer flussaufwärts, erste Blicke auf Guayaquil werfen konnte. Nichts, was er von diesem Moment an bis zum Anlegen im Puerto Santa Ana zu sehen bekam, war dazu angetan, seine in den letzten Tagen wieder heftiger aufgetretenen Attacken, das Herzrasen und den Druck auf der Brust, niederzuhalten. Auch nicht die fröhlich anmutenden bunten Häuschen, die sich den Hügel, an dessen Fuß sie nun anlegten, hinaufzogen. Ganz oben ragte ein Leuchtturm ins schmutzige Grau des Himmels.
Der Asphalt der Docks war aufgesprungen, ein Krakelee aus feinen und weniger feinen Bruchlinien, manche Bodenplatte bereits auf Flussniveau abgesunken, andere auf dem Weg dorthin. Mit den Wellen schlugen Plastikkanister, Blecheimer, aufgeweichte Kartonagen, zerschlissene Kleidungsstücke und tote Ratten gegen das Dock. Der erste Mensch, den Steen erblickte, nachdem er mit unsicheren Schritten die Gangway hinabgewankt war, war ein Lastenträger, der sich mit dem Hintern über der Kaimauer hockend in die braunen Fluten des Guayas erleichterte.
Die Passagiere rückten an Land instinktiv näher zusammen. Fünf Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Zielen. Und doch schienen sich gerade alle dieselbe Frage zu stellen: Warum bin ich an diesem unwirtlichen Ort und wie geht es von hier aus weiter? Ruth und der kleine Herr ohne Alter hatten, wie sich erst jetzt herausstellte, von Europa aus dasselbe Hotel gebucht, das, wie der Mann betonte, erste Haus am Platz. Rein aus praktischen Erwägungen verabredeten sie, das Taxi miteinander zu teilen.
Taxis gab es in Guayaquil, das würde Steen bald feststellen, wie Ratten im Wasser des Río Guayas. Zwanzig bis dreißig der quietschgelben bis orangen Wagen parkten keine hundert Meter von der Anlegestelle entfernt. Fein säuberlich hintereinander aufgereiht standen sie da, im schmalen Schattenstreifen, den die Warenspeicher und Silos warfen. Die Fahrer lehnten an deren Wänden. Nahezu jeder rauchte. Dabei warfen sie gierige Blicke auf die Neuankömmlinge.
Steens Herz raste. Weshalb er wohl ausgerechnet beim Betreten eines fremden Kontinents an Hamburg denken musste? An seinen gewohnten Trott. Die Bank, den Vater, seine Mutter. Sie war ein halbes Jahr vor seiner Abreise gestorben. Deshalb war plötzlich alles sehr schnell gegangen. Er hatte sich selbst nicht die Möglichkeit einräumen wollen, in letzter Minute doch noch vom lange gehegten Wunsch abzulassen. Sein Vater war schon einige Jahre tot und weitere Familie hatte er nicht. Mit Freundschaften hatte er sich zeitlebens schwergetan.
Nervös nestelte er an seiner Brille. Schließlich nahm er sie ab. Er hob den Blick. Es half, wie meistens.
In diesem Augenblick schleppten zwei Männer aus der Besatzung seine Koffer und kurz darauf auch die Seemannskiste an Land. Er bedankte sich bei den beiden mit einem Kopfnicken. Das Trinkgeld, das sie allem Anschein nach eher erwartet hätten, verweigerte er. Ohne sich von den Mitreisenden zu verabschieden, winkte er in Richtung der Taxis.
Der winzig kleine Mann mit der Basecap auf den Locken und der verspiegelten Brille auf der Nase, der nur Sekunden später aus der Fahrerkabine hüpfte, sah an ihm hoch, bis er den Zettel bemerkte und die darauf in perfekter Schreibschrift notierte Adresse erfasst hatte. Einen Wimpernschlag lang schien er zu überlegen. Steen entging dieses leichte Zögern nicht.
Der Taxifahrer machte nicht den Eindruck, als stelle ihn die angegebene Adresse vor Probleme. Eher schon, als schätze er ab, ob dieser bleiche Mann mit dem Strohhut auf dem flammend roten Haar zu dem Ort passte. Das Zaudern wich schließlich einem fröhlichen Geplapper. Der Mann griff nach den beiden Überseekoffern und wuchtete sie auf die Ladefläche seines Pick-ups. Die Seemannskiste, die Steen noch kurz vor seiner Abreise in Altona gekauft hatte, bereitete ihm schon mehr Mühe. Kurzerhand zog er sie hinter sich her übers Pflaster zum Wagen und warf seinem Fahrgast von dort einen auffordernden Blick zu. Zusammen hievten sie die schwere Kiste zu den Koffern.
Der Mann quasselte während der gesamten Fahrt in einer Mischung aus bruchstückhaftem Englisch und spanischer Muttersprache. Ohne Unterlass bis zu ihrer Ankunft irgendwo mitten auf dem Cerro Santa Ana. Über die Stadt sprach er, deren freundliche Menschen und das herrliche Wetter. Besonders aber über die schönen Frauen von Guayaquil, von denen er einige besonders prächtige Exemplare kenne, die er dem Fremden auf Wunsch gerne vorstellen würde, am Abend vielleicht, wenn die Sonne untergegangen wäre und Guayaquil einiges zu bieten hätte. Inmitten des Wortschwalls versteckten sich immer wieder kurze Fragen, die Steen zunächst gar nicht als solche identifizierte. Für ihn verschwammen die Außengeräusche mit dem Geplapper des Taxifahrers zum Sound Guayaquils. Nur wenn er durch die Wiederholung einer dieser Fragen aus seinen Gedanken gerissen wurde, antwortete er. Allerdings kaum ausführlicher als mit einem Sí oder No, einem Yes oder No.
Inzwischen hatte er sich eine Sonnenbrille ohne Sehstärke aufgesetzt, dafür den Strohhut mit der breiten Krempe abgenommen und neben sich auf den Plastikbezug der Sitzbank gelegt. Das Haar klebte ihm an der Stirn, von Zeit zu Zeit rann ihm ein Schweißfaden übers Gesicht und tropfte von der Kinnspitze auf die Hose. Er spreizte die Beine. Das Taschentuch hielt er wie eine nasse Badehose zwischen zwei Fingern von sich weg. Seine Haut war eins geworden mit der Kleidung.
Die Stadt war heiß und stickig. Sie roch nach feuchtem Putz, nach Ausscheidungen und fauligem Wasser. Es war laut wie im Maschinenraum des Frachters, den er gerade verlassen hatte. Auf den Straßen herrschte Krieg. Wie Guayaquil aussah, wie es sich vom Hafen stadteinwärts und dann den Hügel hinauf veränderte, nahm er nicht bewusst wahr. Während der halbstündigen Fahrt sah er kaum einmal aus dem Fenster, die unbekannte Umgebung hätte ihn bloß weiter verunsichert. Stattdessen schloss er hinter der Brille die Augen, spitzte die Lippen und sehnte sich nach Privatsphäre, etwas zwischen sich und diesem Moloch, vier Wände mit einer abschließbaren Tür. Ein geschlossener Raum und Stille – endlich wieder Stille!
Der Empfang beunruhigte ihn nicht. Kaum stand er vor Señora Obando, der Besitzerin einer Sieben-Zimmer-Pension auf dem Cerro Santa Ana, verzog sich das Gesicht der rundlichen Frau, die ihrerseits noch einmal kleiner als der Taxifahrer war, auch schon zu einer schiefen Grimasse. Nicht angewidert, sondern belustigt war sie, was er erst sicher wusste, als sich ein Gekicher Bahn brach, wie man es sonst nur von kleinen Mädchen hörte. Ein Anfall, der nicht mehr abebben wollte und der ihn, ob seiner Dauer, dann doch verunsicherte. Was in aller Welt war an ihm so lustig, dass auch der Taxifahrer in seinem Rücken trotz der Lasten des Gepäcks nicht anders konnte, als in das Lachen einzustimmen? Hatten die beiden Winzlinge noch nie einen Mann gesehen, der die Zwei-Meter-Marke um ganze vier Zentimeter überstieg? Wenn seine Körpergröße der Grund wäre, würde er in den kommenden Wochen für erhebliche Erheiterung auf Guayaquils Straßen sorgen, aber irgendetwas sagte ihm, dass es nicht allein daran lag. Den Hut hielt er in der Hand, auch der konnte nicht der Grund sein, außerdem sollte man in diesen Breitengraden, anders als in seiner Heimat, an Männer mit Hüten gewöhnt sein. Er sah an sich hinab. Er trug braune Budapester. Als er das Schiff verlassen hatte, waren sie noch sauber gewesen. Sein Anzug war weiß. Es war für Außenstehende unmöglich festzustellen, wie sehr er unter dem Futter schwitzte. Das Tuch befand sich in einwandfreiem Zustand. Waren es vielleicht die breiten Hosenträger, die er anstelle eines Gürtels trug? Die Hose, das gab er gerne zu, hätte auch eine Konfektionsgröße kleiner nicht gezwackt. Er war ratlos.
Endlich beruhigten sich die beiden wieder. Señora Obando wandte sich um und eilte ihm voraus die Treppe hinauf. Sie trug keine Schuhe an den Füßen.
Das Zimmer befand sich im ersten Stock am Ende des Flurs. Den Tipp für diese Bleibe verdankte Steen einem pensionierten Seemann aus Hamburg und es war nicht der einzige gewesen, den der Glatzkopf ihm gegeben hatte. Nicht alle stufte Steen als nützlich ein. Die Wirtin stieß die Tür auf. Steen hielt die Luft an. Dann die Erleichterung: Das Zimmer war klein, aber sauber und vor allem ruhig. Ruhiger jedenfalls als jeder Meter, durch den er in dieser ersten Stunde gekommen war. Das Fenster zum Hinterhof war schmal und geschlossen, eine Klimaanlage hielt das Zimmer angenehm kühl, allerdings schepperte sie blechern.
Steen zahlte den Taxifahrer, nachdem der mithilfe eines Jungen von der Straße das restliche Gepäck die Stiege hinaufgewuchtet hatte. Mit Koffern und Seemannskiste in der einen Ecke war das Zimmer nochmals kleiner. Er drückte die Tür ins Schloss und lehnte sich von innen gegen das Türblatt. Sein Atem ging unregelmäßig. Je mehr er sich dessen bewusst wurde, desto mehr geriet er aus dem Rhythmus. Er versuchte, sich zu beruhigen, drückte die Schulterblätter nach unten, versuchte, die Tür in seinem Rücken zu spüren, atmete bewusst in den Bauch. Ein Zittern erfasste ihn, von der Unruhe im Fuß ausgehend über die Wade bis hinauf in Arme und Hände steigend. Er spreizte die Finger der linken Hand ab. Die andere griff ins Sakko und umfasste das kleine goldene Döschen.
Zwei Wochen später zwang eine selbst für Guayaquil ungewöhnliche Hitzewelle jede menschliche Aktivität in ein Korsett der Trägheit. Steen hatte sich mit seiner Umgebung so gut es ging arrangiert. Das lag auch daran, dass er sich tagtäglich in der Kunst des Wegsehens schulte. Wie heruntergekommen die Gegend rund um seine Pension oder der Hafen, den er beinahe täglich aufsuchte, tatsächlich waren, fiel ihm immer seltener auf. Das Wegsehen half vor allem gegen die Bettler auf den Straßen. In den ersten Tagen seines Aufenthalts hatte immerzu jemand an ihm herumgezerrt, wurden ihm Pappbecher entgegengestreckt, machten die aus dem sozialen Netz Gefallenen mit Gesten der Hilflosigkeit auf eine Behinderung oder gar Verstümmelung aufmerksam, deuteten sie mit den Fingern zum Mund, um auf ihre leeren Mägen hinzuweisen. Er hatte durch sie hindurchgesehen. Es waren ihrer einfach zu viele, als dass ein einzelner Tourist ihre Armut hätte mildern können. Inzwischen kannten die Bettler auf dem Cerro den Deutschen im Anzug – schließlich nahm er jeden Tag denselben Weg. Sie machten sich erst gar nicht mehr die Mühe, ihr Schauspiel aufzuführen, wenn seine hagere Silhouette auf der Straßenkuppe auftauchte. Ins Wanken geriet er, wenn Kinder das Tableau des Elends bevölkerten. Halb nackt hockten sie am Straßenrand und flehten mit laufenden Nasen und entzündeten Augen um etwas Geld. Dann fühlte er sich schlecht. Manchmal, wenn nicht zu viele von ihnen in der Nähe waren, verteilte er ein paar 500-Sucre-Scheine, was in etwa einem Achteldollar entsprach. Um all das Elend, dem er hier auf Schritt und Tritt begegnete, auch nur halbwegs lindern zu können, hätte er Milliardär sein müssen. Und davon war er so weit entfernt wie diese Kinder von einem Aufwachsen in Geborgenheit. Ein Bankangestellter aus Hamburg-Eimsbüttel, das war er zeitlebens gewesen. Mit geringen Ersparnissen zu Beginn des Jahres in Frührente gegangen. Das schmale Erbe seiner Mutter finanzierte ihm diese Reise ins Ungewisse.
Wie jeden Tag verließ er die Pension gegen acht am Morgen. Gegenüber, im Lebensmittelgeschäft, bestellte er einen Becher Kaffee mit extraviel Milch und einem Stück Zucker. Zwischen eine Lieferung Obstkisten und einer von Kreppband zusammengehaltenen Tiefkühltruhe gequetscht, wartete er, bis der Kaffee etwas abgekühlt war. Dabei studierte er die Titelseite von El Universo, Guayaquils einziger Tageszeitung. Nicht weil ihn die aktuellen Ereignisse rund um den Globus interessierten, sondern um sein Spanisch zu trainieren.
Nach dieser ersten Routine des Tages lief er auch heute, häufig die Straßenseite wechselnd, damit seine bleiche Haut so wenig wie möglich der Sonne ausgesetzt war, den Cerro in Richtung Malecón hinunter. Nachts das Terrain der Prostituierten und Dealer, war die Gegend bei Tag ein nach verbrauchter Lust stinkendes Armutsviertel. Auch in Sankt Pauli hatte er sich fremd gefühlt, in der Millionenstadt am Río Guayas aber war das Gefühl des Nichtdazugehörens noch mal stärker, tiefgreifender und auch etwas angsteinflößend. Vor den Häusern standen leere Bierfässer und aufgestapelte Kisten. Der gröbste Dreck der Nacht lag zu Haufen zusammengekehrt in unregelmäßigen Abständen auf der Straße. Bereit zur Abholung, wenn nicht wieder einmal gestreikt wurde. An manchen Tagen folgte auf das Müllauto ein Tanklaster, der Straßen und Bürgersteige abspritzte.
Neben einem besonders hoch aufgetürmten Müllhaufen stolperte Steen über ein Bündel Hühner. An den Füßen zusammengebunden lagen sie im Staub der Straße und schlugen mit den Flügeln. Daneben verweste ein Schafskopf, die Augen waren bereits aus den Höhlen gefressen. Er beschleunigte seinen Schritt.
In früheren Jahren, bevor man den neuen Hafen außerhalb des Zentrums in Betrieb genommen hatte, war über den Malecón nahezu der gesamte Warenverkehr von Guayaquil abgewickelt worden. Heute legten hier kaum noch größere Schiffe an. Die Uferpromenade präsentierte sich zweigeteilt. Ein Abschnitt wurde gerade komplett umgestaltet. Der andere, jener, den er täglich aufsuchte, befand sich nach wie vor in marodem Zustand. Ganze Steinquader waren einfach in den Río Guayas abgerutscht.
Der neue Bürgermeister hatte wohl große Pläne und auch schon mit der Umsetzung begonnen. Das hatte er in den bisher vierzehn Tagen seines Aufenthalts häufig gehört und mit eigenen Augen gesehen. Doch bevor das neue Zeitalter eingeläutet werden konnte, verstärkten die vielen Baustellen das Chaos erst einmal. Ein noch mal deutlich erhöhter Lärmpegel, noch mehr Staub, Gestank und verstopfte Straßen. Stress für alle, Bewohner wie Besucher. Er war jedes Mal froh, wenn er aus der Hektik des Umbruchs wieder in sein unsaniertes Viertel einbog.
Auf dem Malecón klapperte er bis zum Mittag die Büros der Schifffahrtsgesellschaften ab. Man kannte ihn dort schon. Er war auf der Suche nach einem geeigneten Schiff mit Ziel Floreana. Nur wenige Frachtschiffe liefen die kleine Insel überhaupt an, außerdem gehörte Personentransport zur absoluten und meist auch unzulässigen Ausnahme bei dieser Art von Schiffen. Die Fahrten zu den Galapagosinseln kamen nicht selten spontan zustande. Fahrpläne gab es nicht. Zumindest keine, die man Leute wie ihn einsehen ließ. Dringend benötigtes Baumaterial konnte zu einer vorher nicht geplanten Überfahrt führen. Es musste einfach nur ausreichend lukrative Fracht auflaufen, um ein Schiff bereitzustellen. Dann aber, wenn Geld lockte, konnte alles ganz schnell gehen. So schnell, dass er, so hatte man ihm versichert, sich schon würde sputen müssen, um in diesem Fall rechtzeitig vor Ablegen an Bord zu sein.
Wenn er die Büroangestellten nach der Manuel y Cobos fragte, mit der er gerne übersetzen würde, blickte er in ratlose Gesichter. Ein Schiff dieses Namens schien keinem der Angestellten bekannt zu sein. Bis er in seiner zweiten Woche auf einen ausgemusterten Seemann traf, der als Türsteher vor einer Kneipe Dienst schob. Der Alte hatte auf seine Nachfrage hin etwas in seinen struppigen Bart gebrummt, das er kaum verstanden hatte. Am ehesten noch gab das Gemurmel Auskunft über das Sinken eines Schiffs gleichen Namens vor langer Zeit.
Wenn überhaupt, so teilte man ihm in den Büros mit, dann würde für seinen Wunsch am ehesten die Virgen de Montserratte infrage kommen. In jedem Fall würde ihn die Überfahrt einhundertfünfzig Dollar kosten, mit welchem Schiff auch immer. Die Büroangestellten schienen zu hoffen, ihn über den Preis abschrecken zu können. Passagiere verkomplizierten ihre Arbeit bloß. Der Preis war zudem – selten genug für diese Region der Welt – nicht verhandelbar und – noch eigentümlicher – bei allen Büros, in denen er in den letzten zehn Tagen vorstellig geworden war, gleich hoch.
Warum fliegen Sie nicht nach Baltra auf San Cristóbal und nehmen von dort die Fähre?, lautete eine Frage, die ihm gut ein Dutzend Mal gestellt und sogleich begründet wurde. Das ist weitaus billiger, schneller und komfortabler noch dazu. Die Überfahrt auf einem Frachter, da machen Sie sich mal nichts vor, ist nichts für Anfänger. Unsere Schiffe sind keine Luxusliner, wie ihr sie aus Europa kennt. Außerdem kann der Pazifik ein ausgesprochen unangenehmer Ort werden für Landratten wie Sie.
Während man die Gefahren vor ihm auffächerte, lächelte Steen stets freundlich. Die Warnungen erreichten sein Ohr, seinen Entschluss änderten sie nicht. Er kannte die Gefahren auf See, wenn auch vorerst nur aus Büchern und von Kanutouren auf diversen Seen, aber was wussten diese Leute schon von seiner Mission, in manchen Augenblicken begriff er ja selbst kaum, dass er es sich wirklich getraut hatte. Und mit seinem zweiten Ansinnen ging er sogar noch weiter. Ihm war überaus wichtig, gewisse Abläufe exakt einzuhalten. Abläufe, die ihm – so seine Idee – das Einfühlen in sein kommendes Leben erleichtern würden. Eigentlich waren sie sogar schon ein Teil davon.
Unter den Angestellten führte diese weitere Bedingung zu Mutmaßungen. Der ohnehin schon als seltsam verspottete Deutsche wollte nicht nur als Passagier auf einen Frachter, er hatte zudem noch ganz genaue Vorstellungen vom Termin seiner Abreise. Unter allen Umständen sollte das Schiff am 31. August auslaufen und – noch wichtiger – exakt am 4. September auf Floreana eintreffen. Die Spekulationen, was hinter diesem Wunsch stecken mochte, schossen bei den Agenturmitarbeitern ins Kraut und sorgten für reichlich Erheiterung und somit für etwas Abwechslung im Einerlei ihres Arbeitslebens.
Mittags kehrte er, wie auch die Angestellten der umliegenden Firmen, in eine der zahlreichen, überaus preiswerten Hafenkneipen ein. Während die Männer und Frauen am Verkaufstresen auf ihre bestellten Sandwiches oder Suppen warteten, deuteten sie im Gespräch untereinander häufig mit dem Finger auf den an einem der wenigen Tische sitzenden Deutschen. Bemerkte er ihre Blicke, lächelten sie ihm freundlich zu. Manche bildeten aus kleinem Finger und Daumen ein Telefon, das sie sich wackelnd ans Ohr hielten. Er hatte zur Kontaktaufnahme die Nummer eines geliehenen Mobiltelefons hinterlegt.
Steen aß meist Ceviche und einen Teller Suppe. Dazu trank er ein lokales Bier. Der Rechnungsbetrag lag bei umgerechnet zwei Dollar, so viel hatte er für sein tägliches Mittagessen einkalkuliert.
An diesem Tag wich er von seinen Routinen ab. Nach dem Mittagessen machte er sich auf zu einem Geschäft in der Avenida Eloy Alfaro, spezialisiert auf den Verkauf von Faltbooten, Kanus und Kajaks. Nach Beratung und Probesitzen erstand er ein gebrauchtes gelbes Kajak, das er sich in seine Pension liefern ließ. Er zahlte in bar und lief trotz der Schwüle noch rüber zur Touristeninformation. Den Namen verdiente der Laden, den er kurz darauf betrat, eher nicht. Prospekte, Angebote zu Stadtführungen oder Souvenirs suchte man vergebens. Ein spärlich möblierter Raum, verblichene Poster an den Wänden und zwei Schreibtische aus den Anfängen der Bürokultur. Die diensthabende Dame mittleren Alters aber verkaufte Karten für Kulturveranstaltungen.
Steens Pensionswirtin hatte ihn auf die Möglichkeit sogenannter Last-Minute-Tickets aufmerksam gemacht, die man ausschließlich in diesem Büro und nur für den gleichen Abend, dafür aber zu einem reduzierten Preis schießen könne. Das war ihre Wortwahl gewesen: schießen. Deshalb war er hier. Er wollte ein Billett schießen und brauchte außerdem noch ein Zugticket für den folgenden Tag.
Er sehnte sich regelrecht nach einem klassischen Konzert oder einer Opernaufführung. In Hamburg war er regelmäßig Gast der Staatsoper, über Jahre hinweg sogar treuer Abonnent gewesen. Bereits auf der Überfahrt hatte er den Verlust betrauert. Er brauchte gute Musik wie andere Leute die Gesellschaft Gleichgesinnter. Allein aus diesem Grund war ihm nahezu gleichgültig, wen oder was er hören würde. Die Vorfreude auf einen Opern- oder Konzerthausbesuch würde ihn für vieles entschädigen, dem er sich hier tagtäglich ausgesetzt fühlte.
Sein Einsatz wurde belohnt. Er ergatterte ein Ticket für das Jugendorchester Simón Bolívar unter der Leitung von Gustavo Dudamel. In Europa erschienen schon seit einiger Zeit wahre Elogen über den jungen Dirigenten. Man handelte ihn als Wunderkind und als den nächsten Superstar im weltweiten Musikzirkus. Steen erinnerte sich an eine hymnische Kritik in der Opernwelt. Er war außer sich vor Freude. Und dann auch noch Mahler.
Steen trat vor die Tür. Die Sonne war bereits untergegangen. Er putzte sich die Brille mit einem weichen Tuch, setzte sie wieder auf und sah die Straße hinab. Während der Nachtstunden übertünchte buntes Treiben die Tristesse des Ortes. Der Cerro zeigte sich belebt. Anzügliche Leuchtreklamen lockten vorwiegend männliche Passanten. Aus den Nachtclubs drang lustvolles Gestöhn hinaus auf die Straße, vor den mobilen Imbissständen hatten sich lange Schlangen gebildet. Die Luft war gesättigt vom Geruch nach Frittiertem.
Das Taxi wartete am Rinnstein gegenüber. In Wahrheit wurde der Cerro Santa Ana nach Einbruch der Nacht zu einem weitaus gefährlicheren Ort als während der zwölf Sonnenstunden zuvor. Das wurde einem hier oben von jedem Einheimischen eingebläut. Zu Fuß den Hügel hinabzulaufen, verbot sich nachts nicht nur Fremden. Vor allen anderen hatte ihn seine Wirtin, die inmitten dieses Sündenpfuhls geboren und aufgewachsen war und hier, wo sie ihr Geschäft betrieb, immer noch wohnte, die also niemals vom Cerro heruntergekommen war, inständig gebeten, sich ausschließlich in einem sicheren Taxi fortzubewegen. Dafür hatte sie ihm eine Telefonnummer zugesteckt. Sie gehörte einem Mann, der auf den keineswegs ecuadorianischen Vornamen Hannes hörte und einen Pick-up sein Eigen nannte, der ihm Geschäft und Schlafzimmer in einem war.
Äußerlich unterschied den Mann wenig von den übrigen Taxifahrern der Stadt, den Unterschied machte Señora Obandos Vertrauen in seine Aufrichtigkeit.
Hannes brachte Steen in weniger als dreißig Minuten zum Teatro Centro de Arte in der Innenstadt. Noch aus dem Taxi heraus warf er einen ersten Blick auf das Gebäude. Es hätte ebenso gut ein Aquarium beherbergen können. An ein Theater oder ein Opernhaus, wie er es aus Deutschland kannte, erinnerte ihn der futuristische Quader jedenfalls nicht. Die Glasfront war fassadenhoch und eingerahmt von türkisfarben gestrichenem Mauerwerk. Zu beiden Seiten wuchs eine Gruppe hoher Palmen. Eine Freitreppe führte von der geschwungenen Vorfahrt hinauf ins Foyer.
Gegenüber der Treppe empfing die Besucher eine Skulptur. Steen betrachtete das Kunstwerk einen Moment lang. Sinfonía en Moviemento stand auf einer Plakette am Marmorsockel. Darüber himmelwärts strebende Figuren, die sich, auf elliptischen Ringen balancierend, umeinanderwanden.
Über die große Treppe gelangte er in den Vorraum des Opernhauses. Von dort führte eine weitere Treppe hinauf zum eigentlichen Konzertsaal. Zu seiner Freude entsprach der schon eher seinen Vorstellungen. Der Saal war vergleichsweise klein. Er suchte nach den Stehplätzen, besah sich die Eintrittskarte und stellte erfreut fest, dass sein Platz – der äußerste in der letzten Reihe und damit ganz sicher der schlechteste des ganzen Auditoriums – immerhin ein Sitzplatz war und damit viel besser als erwartet. Zufrieden ließ er sich auf dem Klappsessel nieder, streckte die Beine seitwärts in den Gang und parkte seine Arme auf den breiten Lehnen. Er fühlte sich durch und durch bereit. Die Zeit bis zum Beginn des Konzerts verbrachte er in kontemplativer Versenkung. Und wie stets vor einem Konzert summte er die zu erwartende Sinfonie vor sich hin.
Alle Besucher hatten ihre Plätze eingenommen, die lauten Gespräche waren aufgeregtem Gemurmel gewichen, als die vordere Tür noch einmal geöffnet wurde und eine verspätet eintreffende Frau die Aufmerksamkeit aller im Saal auf sich zog. Eine der Platzanweiserinnen schob sie hektisch zu ihrem Platz. Zeitgleich betraten die ersten Musiker die Bühne.
Steen stockte der Atem. Graues Haar, kurz und struppig geschnitten. Die Niederländerin von der Paita, die in diesem Augenblick auch noch ausgerechnet in seine Richtung sah. Sein rechter Arm wollte sich schon zum Gruß heben. Die linke Hand, offensichtlich besser mit seinem Gehirn vernetzt, konnte gerade noch rechtzeitig eingreifen, sonst hätte er seiner Reisebekanntschaft wahrscheinlich zugewinkt. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Das Saallicht erlosch. Applaus brandete auf.
Mahlers Fünfte geriet zu einem berauschenden Erlebnis. Die Musik entführte Steen in eine andere Welt, absorbierte ihn vollkommen. Der traurige erste Satz rührte ihn zu Tränen. Es folgte der wilde zweite und der kraftvolle, aber wieder etwas langsamere dritte. Das darauffolgende, sehr langsame Adagietto, die Liebeserklärung Mahlers an seine Frau Alma, führte dazu, dass Steens Haut kribbelte wie bei einem Nesselfieberschub. Den fünften und letzten Satz durchlebte er mehr, als dass er ihn hörte. Schwerfällig kam die Musik daher, fast als könne sie ihren Rhythmus nicht finden. Dann aber nahm sie Fahrt auf, wurde wild und störrisch. Nur um zum Schluss, einem Malstrom gleich, alles mit sich zu reißen. Das Ende, ein gewaltiger Tutti-Akkord, riss Steen aus dem Sessel. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, gleichzeitig war ihm kalt. Am liebsten wäre er auf den Sitz geklettert, um seinen Bravorufen zu größerer Wirkung zu verhelfen. Vielleicht hätte er es sogar getan, wenn er die übrigen Besucher nicht ohnehin schon um Haupteslänge überragt hätte.
So bewegend die Musik gewesen war, so merkwürdig berührt war er kurz darauf. Ruth Versteeg verschwand im Pulk der dem Ausgang zustrebenden Menge. Er eilte ins Foyer, lief hinüber zur Bar, weiter zur Garderobe. Mit dem Gesicht nah an den Scheiben ließ er seinen Blick von oben über den Vorplatz schweifen. Nirgends eine Spur von ihr. Er ging zurück zur Bar, kaufte sich ein Bier und hockte sich damit in die äußerste Ecke auf eine Bank.
Was er wohl als Erstes zu ihr gesagt hätte, wenn sie sich begegnet wären? Sie waren ja, wenn überhaupt, bloß flüchtige Bekannte. Seit der Landung hatte er nicht mehr an sie gedacht. Wahrscheinlich war sie jedem an Bord auf die Nerven gegangen. Besonders dem Kapitän. Während eines der Abendessen hatte sie sich bei ihm über zwei Männer der Besatzung beschwert, die sie, wie sie es formuliert hatte, mit Blicken auszögen, wenn sie ihr Sonnenbad nahm. Daraus hatte sich eine heftige und äußerst kontroverse Diskussion zwischen den beiden entwickelt. Sehr zum Ärgernis der übrigen Passagiere, die ihre Ruhe haben wollten. Niemand hatte sich eingemischt, auch er selbst nicht. In diesem Moment erinnerte er sich, dass er bloß seine Brille abgenommen und darauf gewartet hatte, dass sich die Situation entspannte. Versteeg hatte den Raum schließlich mit einer nicht stubenreinen Bemerkung verlassen. Warum ihm in diesem Augenblick gerade diese Szene wieder in den Kopf kam? Es hätte andere gegeben. Einmal, er war zum Sonnenaufgang an Deck gegangen, kam auch die Holländerin aus ihrer Kabine. Doch anstatt sich dem prächtigen Farbenspiel am Himmel hinzugeben, bestürmte sie ihn gleich wieder mit Fragen. Anscheinend trieb es sie um, dass sie nicht wusste, wo er hinfuhr und zu welchem Zweck. Reisen Sie eigentlich weiter auf die Galapagosinseln?, hatte sie gefragt. Bei der Frage war er zusammengezuckt. Woher wusste sie davon? Und wenn sie das schon wusste, was wusste sie noch? Das größte Geheimnis aber blieb, weshalb ihr Auftauchen in diesem Konzerthaus ihn derart erregt, ja fast schon aus der Bahn geworfen hatte. Die durch die Musik angefachte Euphorie fiel in sich zusammen. Das ärgerte ihn. War es vielleicht, weil sie das erste vertraute Gesicht seit zwei Wochen gewesen war?
In dieser aufgewühlten Stimmung ließ er sich von einem Taxifahrer, der nicht Hannes war, in die nächstbeste Bar bringen.
Dass er damit einen Fehler begangen hatte, bemerkte er, kaum dass er durch die Tür aus dünnem Blech ins Innere der Bar trat. Er verharrte, bis sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnten. Der aus Brettern zusammengehauene Tresen lag dem Eingang gegenüber. Ein Mann stand dahinter. Langes fettiges Haar und eine für das ausgemergelte Gesicht viel zu große Hornbrille waren das Erste, was Steen an ihm auffiel. Er interessierte sich für Brillen. Diese stand dem Typen überhaupt nicht.
Ein Impuls riet ihm zur Flucht, doch irgendetwas in ihm ließ nicht zu, dem nachzugeben. Er ging die wenigen Meter rüber zur Bar. Trotz der Dunkelheit konnte er das von Narben übersäte Gesicht des Barkeepers jetzt deutlicher erkennen. Und auch den Rest von ihm. Die Arme hinauf rankten sich Tattoos in einheitlichem Schwarz. Das Unterhemd, aus dem graues Brusthaar quoll, war fleckig. Der Typ verfolgte jede seiner Bewegungen aus eisgrauen Augen.
Ein Bier, bitte, sagte Steen, als er den Barhocker unter seinem Hintern spürte.
Die Antwort des Dürren bestand in einem lang gezogenen Grunzen. Er zapfte ein Pilsener und knallte es vor Steen auf den Tresen. Dabei schwappte ein Fingerbreit Flüssigkeit über den Glasrand und ergoss sich über die Holzplatte. Die dort zurückgelassenen Erdnussschalen schaukelten auf der Bierpfütze wie Nachen auf einem windbewegten See.
Steen nahm einen Schluck und sah sich dabei um. Unterschiedlich breite Wellblechstücke bildeten die Wände der Bar. Die Bodenplatte, aus Beton gegossen, war zu gleichen Teilen mit Holzmehl und Zigarettenstummeln übersät. Man saß auf Barhockern am Tresen oder in über den Raum verteilten Sesseln, deren Cordbezug nur mehr zu erahnen war. Die Wellblechwand entlang zogen sich Sitznischen, halbrund, die Bänke in Samtoptik.
Voll war der Laden nicht. Außer ihm hockte noch ein Pärchen am Ende des Tresens. Ein untersetzter Mann mit gelbweißem Haar. Die Augenlider auf Halbmast starrte er auf das leere Schnapsglas vor sich. Auf dem Barhocker daneben eine Frau, deren Perücke verrutscht war. Stark geschminkt, kurzer Rock, Netzstrümpfe. Ein hochhackiger Schuh steckte neben dem Hocker in einem feuchten Sägemehlklumpen. Den anderen trug sie noch. Steen sah sich außerstande, das Alter des Paars zu schätzen. Beide hatten hoffentlich schon bessere Zeiten erlebt.
In einer der Nischen, direkt neben der Tür zu den Toiletten, hielt ein Mann Hof, der einem Marvel-Comic entsprungen zu sein schien. Er steckte in einem beigen, viel zu weiten Anzug. Auf dem Kopf thronte ein Stetson mit breiter Krempe, eine Sonnenbrille verdeckte die Augen. Im Gesicht ein pechschwarzer Fu-Manchu-Bart. Um ihn herum wuselten einige junge Männer, die meisten von ihnen gekleidet wie der Barkeeper. Verwaschene, supereng sitzende Jeans mit breiten Gürteln und auffälligen Schnallen. Die trainierten und stark tätowierten Oberkörper steckten in ebenfalls eng anliegenden Feinrippunterhemden. Die Haare waren mit viel Pomade streng nach hinten gekämmt, obenauf eine Sonnenbrille, verspiegelt oder nachtschwarz. Am Hals trug man eine oder mehrere mehr oder weniger dicke Goldketten. Was er hier sah, hielt er für die Arbeitsuniform von Guayaquils Unterwelt.
Allein schon wegen der Kleidung passte er in diese Bar wie ein weißer Farmer aus Wyoming in einen Jazzclub nördlich der 110th Street in New York. Und natürlich erregte er Aufsehen. Für einen wie ihn konnte es, da schienen sich alle in dieser Kaschemme unabgesprochen einig zu sein, nur einen einzigen Grund geben, hier aufzukreuzen. Welcher das war, würde er schon sehr bald erfahren.
Vorerst hielt er sich an seinem Bier fest. Wenn er nur dieses eine tränke und sofort wieder ginge, würde das ganz sicher nicht gut gelitten sein, durchfuhr es ihn. Forsch bestellte er ein frisches. Vor lauter Nervosität würde er mehr trinken, als ihm zuträglich war, in jedem Fall aber trank er zu schnell. Er mochte Bier, immer schon. Langsam, aber stetig trinken, das war seine Art, den Feierabend zu begehen. An diesem Abend, nach dem erhebenden Erlebnis der Musik und dem viel zu schnellen Erlöschen des Feuers, in ein Lokal geraten, in dem er nicht sein sollte, ließ er seine Routinen fahren und erhöhte die Schlagzahl deutlich. Der Barkeeper mit dem Pokerface verblieb während der gesamten Zeit, wo er von Anfang an schon gestanden hatte: direkt vor ihm – schweigend, ihn, den Fremden, nicht aus den Augen lassend.
Nach dem fünften Bier verspürte Steen das Bedürfnis, sich zu erleichtern. Als er vom Hocker rutschte, fühlte er sich wackelig. Er brauchte einen Moment, um sich in Bewegung zu setzen. Den Blick streng zu Boden gerichtet, stapfte er auf die Tür neben dem Fu-Manchu-Bart zu. Der Rhythmus, in dem sich junge Männer am Tisch dieses Westentaschen-Paten die Klinke in die Hand geben, entspricht einem Presto, wenn nicht einem Prestissimo, dachte er im Vorübergehen, vermied aber jeden Augenkontakt.
Ohne Probleme erreichte er das Pissoir. Es lohnte nicht, sich über den Zustand der Toilettenanlage zu beklagen. Nach dem Gastraum wäre es naiv gewesen, hier hinten einen hygienisch einwandfreien Sanitärbereich zu erwarten. Er hielt sich die Nase zu und versuchte abwechselnd die Zigarettenstummel oder den Klostein im Becken mit seinem Strahl zu treffen. Dabei grunzte er. Ein Versuch, den Barkeeper zu kopieren. Er kicherte, weil er es nicht schaffte, das Geräusch derart in die Länge zu ziehen. Was für ein übler Schuppen, in den er hier geraten war.
Während er noch überlegte, wie er, ohne Probleme zu bekommen, das Etablissement wieder verlassen könne, schlug ihm die Schwingtür ins Kreuz. Einer der Jünglinge aus der Nische nebenan stellte sich vor das zweite Pissoir, zog geräuschvoll die Nase hoch, rotzte ins Becken und kramte parallel dazu in seiner Hose. Wie magisch zog der Schwanz des Jungen seinen Blick an, er konnte nichts dagegen tun.
Was suchst du?, fragte der Junge. Steen zuckte zusammen. Nichts. Entschuldigung. Er stotterte. Willst du mich anmachen, hermano? Meinen Schwanz kriegst du ganz sicher nicht. Sein dreckiges Lachen erfüllte den Raum. Disculpe!, wiederholte Steen. Er fühlte sich … er wusste nicht, wie. In einer solch verrückten Situation hatte er noch nie zuvor gesteckt. Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen, stotterte er. Er schlug ab und schloss seinen Hosenstall schnell wieder.
Weiber? Der Junge blieb seiner Linie treu. Ein Weißer betrat ein Etablissement wie dieses hier höchstens, um sich etwas Illegales zu besorgen. Und der Junge schien herausfinden zu wollen, was es in Steens Fall war.
Hey, hermano, ich bin Julian. Wenn du Weiber brauchst, bist du bei mir genau an der richtigen Adresse. Latinas, Schwarze, auch Weiße, wenn du drauf bestehst – aber von denen würde ich dir abraten. Putas blancas! Er spuckte ins Pissoir. Hundert Prozent sauber … Was ist? … Warum sprichst du nicht? Willst du dich mit mir anlegen? Er drehte sich Steen zu und pinkelte ihm auf die Schuhe. Steen wollte zurückspringen, hatte aber die Wand im Rücken. Aaah, stieß der junge Kerl aus, du treibst es lieber mit Männern! Hombre con hombre, claro que sí!
Nein, bitte, ich gehe jetzt. Nichts für ungut.
Willst du vielleicht cocaína? Beste Qualität. Na klar, her-mano! Keine Weiber, keine Jungs, du willst cocaína. Warum sagst du das nicht gleich? Wie viel willst du? Máxima calidad! Máxima calidad!
Steen stürmte aus dem engen Toilettenraum hinaus zurück an die Bar. Zahlen, bitte!, rief er dem Barkeeper zu und blickte über die Schulter. Noch war der Kerl nicht zu sehen. Dafür starrten ihn die anderen aus seiner Gruppe jetzt ungeniert an.
Was ist auf dem Klo passiert? Es waren die ersten Worte, die den Mund des Barkeepers verließen. Steen überschlug sich fast in der Schilderung der Ereignisse. Er stürzte sich in die Hoffnung, der Mann hinter der Bar könne ihn vor dem Paten und seinem Gefolge beschützen.
Der Wirt hörte sich alles seelenruhig an, fuhr sich mit der tätowierten Hand über die Bartstoppeln am Kinn und zeigte ein dünnes Lächeln. Sind bloß Kinder, hermano, sagte er dann. Steen riss die Augen auf. Mach keine Geschäfte mit Kindern, hörst du? Das ist nicht gut für dich.
Aber der Señor im Anzug …, presste Steen heraus. Sein Gegenüber beließ es bei dem Lächeln.
In der Nische sorgten derweil die Erzählungen des zurückgekehrten Dealers, Zuhälters, Jungkriminellen, oder womit auch immer der Bursche sein Geld verdiente, für reichlich Erheiterung. Steen sah genau, dass er die Szene am Pissoir pantomimisch nachstellte. Kein Zweifel möglich, so oft, wie er sich während seiner Schilderungen in den Schritt fasste.
Mister, sagte in diesem Moment der Barkeeper. Wenn du etwas brauchst, okay? Was auch immer, claro? Dann bin ich dein Mann, niemand anderer, comprendes? Ich, Joaquín!
Aber …, stieß Steen aus, während die Richtung seines Blicks verdeutlichte, was ihn beunruhigte.
Die müssen dich nicht interessieren. Solange du mit mir Geschäfte machst, bist du sicher. Alles cool. Aber …, hob Steen erneut an.
No, forastero! Der Einzige, den du kennen musst, steht vor dir. Joaquín! Also sprich mit Joaquín, sprich mit mir. Chicas, chicos, cocaine, anything you want, zählte er seine Geschäftsfelder ins Englische verfallend auf.
Mit letzter Kraft schüttelte Steen den Kopf. Ein Bier, bitte, bloß ein Bier … Nein, warten Sie, geben Sie mir noch einen Aguardiente dazu.
Dann schwiegen sie eine Weile.
Joaquín, ja?, sagte Steen schließlich mit niedergeschlagenen Augen.
Am 31. August des Jahres 1999 bestieg Harald Steen zum letzten Mal Hannes’ Taxi. All sein Hab und Gut lag sicher verstaut auf der Ladefläche des Trucks. Zum Abschied drehte er sich noch einmal nach der winkenden Señora Obando um. Bis zum Schluss hatte sie versucht, ihn von dieser ungesunden Überfahrt, wie sie die Schiffspassage zu den Inseln nannte, abzubringen. Er winkte zurück, bis die Señora hinter der ersten Straßenbiegung aus seinem Gesichtsfeld verschwand.
Der Cerro Santa Ana hatte während der Wochen in Guayaquil doch noch seinen Schrecken verloren, ihm war hier oben, trotz offensichtlicher Gefahren, nichts Schlimmes widerfahren. Die Pension war für ihn zu einer Art Heimat auf Zeit geworden und Señora Obando ihm sogar ein wenig ans Herz gewachsen.
Von der verbliebenen Wartezeit auf dem Festland hatte er fast eine Woche in der Hauptstadt Quito zugebracht. Einmal an die dünne Luft auf beinahe dreitausend Metern Höhe gewöhnt, hatte er die erfrischende Kühle der Nächte und das Klima des ewigen Frühlings bei Tag sehr genossen.
Die Zugreise von Meeresniveau durch den Regenwald hinauf auf eine grüne Weide-und-Gras-Landschaft war beeindruckend gewesen. Bei jedem Halt im Dschungel enterten Verkäufer die Waggons. Sie boten gebratenes Gemüse an, gegrillte Früchte, klebriges Gebäck und frittierte Meerschweinchen, Säfte, Kaffee, Zigaretten und Zigarren. Was den Trip noch weiter verlängerte, waren die vielen Menschen, die an den Haltestellen den Zug verließen, um sich am nächsten Baum zu erleichtern, eine Zigarette zu rauchen oder ein Schwätzchen zu halten. Eilig schienen es weder die Fahrgäste noch die Zugführer zu haben. Hatte man sich einmal an das Verschleppen der Zeit gewöhnt, war es keine unangenehme Art des Reisens.
Während eines ersten kurzen Rundgangs am Nachmittag verliebte er sich spontan in die Altstadt Quitos. Die schmalen Gassen und bunten Häuser, die parkähnliche Plaza Grande, die zahlreichen Kirchen, Paläste, Klöster und zweigeschossigen Wohnhäuser, all das verzauberte ihn auf eine Weise, wie er es nicht für möglich gehalten hatte.
Unter all den architektonischen Schönheiten der Stadt beeindruckte ihn besonders die Jesuitenkirche La Iglesia de la Compañía de Jesús. Ihre barocke Fassade südamerikanischer Prägung hatte ihn angelockt, ohne dass er Besonderes dahinter vermutet hätte. Der Innenraum der Kirche haute ihn dann allerdings um. Minutenlang stand er mit offenem Mund da und starrte das riesige Mittelschiff entlang. Wo sonst gab es so viel Gold an Wänden und Säulen, in den Gewölben oder am Altar wie in diesem sakralen Prachtbau?
In der Kirche verbrachte er auch nach dem ersten Besuch noch viele Stunden des Nachdenkens. Über sich, seine Reise, den Zielort. Was er tat, war in gewisser Weise unausweichlich. Sinnlos, sich dagegen zu wehren. Er wusste seit Jahren, dass er es zu tun hatte und es tun würde. Der Sog der eigenen Geschichte war immer stärker geworden. Es hätte kein Entrinnen gegeben, selbst wenn er es gewollt hätte. Er war unterwegs.
Gläubig war er zu keiner Zeit seines Lebens gewesen. Und doch bekreuzigte er sich jedes Mal, wenn er diese Kirche betrat. Und er schickte, auf den rohen Brettern einer Kirchenbank kniend, zumindest ein Vaterunser gen Himmel.
Zurück im stickigen Guayaquil, hatte er sich noch zweimal mit Joaquín getroffen, dem Barkeeper und Mann für alle Fälle. Einmal, um dessen noch offene Frage nach seinen Wünschen mit fester Stimme zu beantworten. Das andere Mal, um die Bestellung in Empfang zu nehmen. Beide Treffen fanden während der Nachtstunden statt. Beide Male zerrissen sich die Schmalspurganoven in der Nische das Maul über ihn. Seine Angst vor ihnen war jedoch verflogen, die Toiletten suchte er dennoch nicht mehr auf.
Nun lag das in braunes Packpapier eingeschlagene Päckchen sicher verstaut auf dem Grund seiner Seemannskiste. Mit dem schlechten Gewissen, das ihn noch in der Nacht des Deals überfallen hatte, kam er inzwischen klar. Überhaupt hatte er das Gefühl, sich mehr und mehr in seine neue Existenz hineinzufinden.
Kurz nach dem Zwölf-Uhr-Läuten stand er inmitten seiner Koffer, der Überseekiste, des Kajaks und der Hängematte – einem Souvenir aus Quito – auf dem Verladekai. Sein Anzug war frisch gereinigt und aufgebügelt, die Budapester glänzten wie eine Speckschwarte in der grellen Sonne, das Hemd befand sich dank Señora Obando in tadellosem Zustand und strahlte heller als die Kleidchen der Kommunionkinder am Weißen Sonntag.
Vor ihm wuchs das Schiff in den Himmel, das ihn auf die Galapagosinseln bringen würde. Die Virgen de Montserratte mit Ziel Isla Isabela und dem für ihn viel wichtigeren Zwischenstopp auf der Isla Santa María, wie die Einheimischen Floreana nannten. Der Frachter passte zu Guayaquil wie die Rickmer Rickmers zu Hamburg. War der Dreimaster vor den Landungsbrücken seiner Heimatstadt herausgeputzt, so spiegelte die Virgen den Niedergang der Millionenstadt am Río Guayas. Ihre Flanken waren von Rost überzogen, von den Metallwänden blätterten gleich mehrere Schichten Farbe großflächig ab. Der Kahn stank nach Schiffsdiesel, hatte Schlagseite und deutlich bessere Tage gesehen. Aber es war sein Schiff in die Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen.
Zwei Stunden später waren nicht nur Dutzende Paletten Bier und noch mehr Trinkwasser, Blocksteine, Zement und Saatgut, ein Jeep, stapelweise Konservendosen sowie allerhand Mobiliar an Deck vertäut worden, sondern endlich auch sein Gepäck. Er selbst stand derweil etwas verloren an Bord, bis ihm einer der Seeleute seinen Platz zuwies – im Heck des Schiffs unter freiem Himmel. Der Frachter verfügte lediglich über zwei Kabinen für Mitreisende. Sind bereits belegt, Señor, hatte man ihm am Telefon gesagt – ein letzter vergeblicher Versuch, ihn abzuweisen. Was er hätte tun können, um trotzdem eine dieser Kabinen zu ergattern? Nach sechs Wochen Guayaquil und einem windigen Geschäft mit Joaquín fiel ihm die Antwort leicht: Man hätte sie ihm niemals gegeben. Weil er ein Fremder war. Weil er keine Beziehungen hatte und über keine finanziellen Mittel verfügte. Die beiden Geschäftsleute, die kurz nach ihm an Bord gingen, schienen zumindest eine dieser Bedingungen zu erfüllen.
Die Angestellten in den Reedereien wussten natürlich nur zu gut, weshalb mancher darauf sann, mit einem Frachter wie der Virgen de Montserratte überzusetzen, man entging auf diese Weise den lästigen Einwanderungsbestimmungen und anderen unangenehmen Fragen. Es war diese Möglichkeit, sich als Fahrgast eines Frachters unter dem Radar der Behörden zu bewegen, auf die der erfahrene Seefahrer in Hamburg Steen aufmerksam gemacht hatte. Einmal auf Floreana, wäre er relativ sicher. Die Locals, wie der Alte sie nannte, würden sich nämlich einen Scheiß für ihn interessieren. Dahinten, hatte er gesagt, am anderen Ende der Welt, herrschen eigene Gesetze. Da kümmert sich jeder nur um sich und seinen eigenen Kram. Wirst schon sehen, min Jung.
Im Gegensatz zu den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts waren an der Schwelle zum neuen Jahrtausend Fremde auf Galapagos nicht mehr willkommen, außer sie bewegten sich auf einer festgelegten Reiseroute, am besten noch innerhalb einer von den Behörden geführten Gruppe, und sie zahlten die üppigen einhundert US-Dollar Tagesgebühr.
Sein Platz war mit einem Segeltuch vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt. Er spannte seine Hängematte darunter auf und verstaute das Gepäck. Als er sich vorsichtig, zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt, in die doch arg schaukelnde Stoffbahn gleiten ließ, war er noch nicht überzeugt, dann aber, nach einem Moment der Unsicherheit, lachte er laut auf. Ich bin unterwegs, murmelte er vor sich hin. Ich habe es getan. Niemand von den Kollegen auf der Arbeit hätte mir das zugetraut.
Er befand sich endlich an Deck dieses Seelenverkäufers und hatte nun auch den festen Willen, die Überfahrt zu genießen, wie auch immer sie verlaufen würde. Etwas Sorgen um die Seetüchtigkeit der Virgen de Montserratte machte er sich dann allerdings doch. Der Kahn lag ungeheuer tief im Wasser und hatte mächtig Schlagseite, die durch das wenig ausbalancierte Beladesystem nicht eben korrigiert worden war. Er fragte sich, was wohl geschehen würde, gerieten sie in den prognostizierten von Feuerland die südamerikanische Küste heraufziehenden Sturm.
Als die Virgen die Anker lichtete, rollte das Schiff besorgniserregend. Schon jetzt ächzten die Motoren, als liefen sie seit Tagen im hochtourigen Bereich.
Eintausendzweihundert Kilometer, sagte er an niemanden außer sich selbst und den Wind gerichtet. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Stadt blieb allmählich hinter ihnen zurück. Am späten Nachmittag erreichten sie zwischen der Hafenstadt Posorja und der Isla Puná hindurchmanövrierend das offene Meer.
Das Erste, was er von der Insel sah, war ein grün bewachsener Vulkankegel. Tief hängende Wolken verhinderten den Blick auf den Gipfel des Cerro Pajas, des Strohbergs. Rund um Floreanas höchsten Berg wuchsen weitere Erhebungen aus dem Grün des Dschungels. Der niedrigste dieser Nebenkrater war mit gerade einmal vierhundertfünfzig Metern Höhe der Asilo de la Paz. An seinen Hängen lagen die sagenumwobenen Pirate Caves, die Piratenhöhlen, und, für das Leben auf der Insel um einiges bedeutender, eine Frischwasserquelle.
Erst als auf der Virgen bereits die Vorbereitungen zum Anlegemanöver liefen, hatte er Augen für den Rest der Insel. Überwiegend flach und ziemlich öde erschien ihm der kreisrunde Flecken Land. Eine Insel aus Feuer geboren. Ihre Böden aus erkaltetem scharfkantigem Lavagestein. Darauf ein dichtes Geflecht aus flach wachsenden Büschen, dornigem Gesträuch und mannshohen Sukkulenten. Undurchdringliches Dickicht überall dort, wo der Mensch nicht eingegriffen hatte. Eine Piste, die im Neunzig-Grad-Winkel von der Küste in Richtung Cerro Pajas führte, war das einzige von See aus erkennbare Ergebnis eines solchen Eingriffs.
Während es an den Hängen der Vulkane gerade zu regnen schien, brannte die Sonne auf die Ansiedlung und die Besatzung der einlaufenden Virgen de Montserratte herab.
Steen schützte sich mit der Hand über den Augen gegen das gleißende Licht. Seine Gefühlslage war im Moment, da er sein lang ersehntes Ziel endlich erreichte, zwiespältig. Die Nadel seines seelischen Kompasses pendelte im schnellen Wechsel zwischen Glück und Furcht hin und her. Dabei war er eigentlich nur müde. Die Überfahrt hatte Kraft gekostet. Das Auge des Sturms war östlich an ihnen vorbeigezogen, doch auch so hatten Wind und Wellen dem Schiff zugesetzt. Kaum dass ein Wellenkamm erklommen war, raste der stählerne Rumpf auch schon wieder zu Tal. Bei jedem Aufschlag fürchtete Steen um sein Leben. Einzig die Ruhe, die von den Besatzungsmitgliedern ausging, gab ihm die Zuversicht, diese Achterbahnfahrt überleben zu können. Auch was die Sicherung der an Bord befindlichen Waren anging, erwies sich seine anfängliche Sorge als unbegründet. Nichts war über Bord gegangen oder planlos übers Deck geschlittert, sah man einmal von seinen persönlichen Dingen ab. In der Hängematte war ihm zwar mehrfach speiübel geworden, aber an und für sich hatte sie die schlingernden und schwankenden Bewegungen des Schiffs ganz gut austariert.
Auf wackeligen Beinen stand er an Bord, beide Hände fest um die Reling gekrallt, und beobachtete die Prozedur des Anlegens. Einen echten Hafen gab es nicht. Hinter der Mole erhob sich die einzige Ansiedlung Floreanas, Puerto Velasco Ibarra. Eine Handvoll Steinhäuser und Holzschuppen entlang einiger weniger der Wildnis