Custodes - Uwe Schwartzer - E-Book

Custodes E-Book

Uwe Schwartzer

0,0

Beschreibung

Peter Sandmann (75) ehemaliger Geschäftsführer eines Hamburger Industrieunternehmens, befasst sich seit Jahren mit allen Aspekten der Sciencefiction und Parapsychologie. Eines Tages erschließt sich ihm die Möglichkeit sein Leben wesentlich zu verlängern. Er lädt seine langjährige Mitarbeiterin Julia Reuter (78) zu einem Seminar ein, in dem er sie mit Telepathie, Psychokinese und der zeitlichen Fortbewegung durch reine Gedankenkraft vertraut machen will. Um ihre geistige Gesundheit nicht zu gefährden möchte er sie behutsam an die neue Materie heranführen. Es bleibt ihm jedoch nur wenig Zeit, da Julia todkrank ist und in wenigen Tagen sterben wird. Die lebensverlängernde Transmutation gelingt jedoch rechtzeitig. Beide erwachen in gesunden, jungen Körpern. Ihre Lebenserwartung beträgt über 5000 Jahre. In ihrem neuen Lebenszyklus befinden sie sich noch in der Pubertätsphase. So transportieren sie das größte Passagierschiff der Welt, die Queen Mary 2 vom Trockendock Elbe 17 auf die Binnenalster, um Hamburg zu noch mehr Touristen zu verhelfen. Es begegnet ihnen Ahasver, der Wanderer über die Erde und durch die Zeiten, der sie überzeugt ihre Fähigkeiten nicht mit Spielereien zu vergeuden. So werden sie sich ihrer Macht und Verantwortung bewusst und beschließen das unkontrollierte Bevölkerungswachstum zu stoppen. Sie sehen sich als Custodes, deren Ziel es ist die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren. Da ihnen die Polizei auf den Fersen ist, fliehen sie ins Hamburg des Jahres 1911. Durch einen Irrtum Julias werden sie Zeugen des Beinah-Untergangs der Erde im Jahre 2330. Zurück in ihrer Realzeit versetzen sie den Eiffelturm auf den Petersplatz in Rom, um den Vatikan zur Änderung seiner Einstellungen zur Pille und Abtreibung zu bewegen. Als sie von der internationalen Raumstation ISS eine Nachricht an die Völker der Welt verbreiten, werden sie von den Geheimdiensten sämtlicher Nationen gejagt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 518

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Uwe Schwartzer

CUSTODES

Impressum:

© 2012 Uwe Schwartzer

Autor: Uwe Schwartzer

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8491-2008-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de

Inhalt

Cover
Titelseite
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Über tredition

1. Kapitel

Ahasver, Schuhmacher aus Jerusalem, verwehrte dem Kreuztragenden Jesus von Nazaret eine Ruhepause auf seiner Türschwelle. Ich werde gehen, sagte ihm Jesus, und du wirst warten bis ich wieder komme. Seitdem wandert Ahasver über die Erde und durch die Zeiten.

Gestern Nacht hatte er sich endlich dazu durchgerungen sich bei ihr zu melden. Da er seit über vierzig Jahren mit ihren Lebensgewohnheiten vertraut war, rief er sie erst kurz nach elf Uhr an, da sie nach ihrer Pensionierung vor achtzehn Jahren buchstäblich jeden Morgen bis zu dieser Zeit im Bett verbracht hatte.

„Hab ich Sie geweckt?“ Er verzichtete auf überflüssige Formalitäten, da sie ihn an der Stimme erkennen würde und zudem langatmiges Gesülze hasste.

„Dumme Frage“, entgegnete sie unhöflich, „ich stehe seit sieben Uhr in der Küche und bereite mein Mittagessen vor.“ Peter Sandmann grinste zufrieden, sie schien heute bester Stimmung zu sein. Er wusste, Julia Reuter war kein Genussmensch und hatte noch nie einen Gedanken ans Essen verschwendet. Wenn sie Hunger verspürte, aß sie das, was im Kühlschrank oder sonst irgendwo herumlag. Er hätte jede Wette darauf abgeschlossen, dass sie ihren Herd in all den Jahren noch keine dreimal benutzt hatte.

„Ich wollte mich nur nach Ihrem werten Befinden erkundigen“, witzelte er seinerseits.

„Hören Sie Sandmann, ich dachte Sie hätten sich längst zu Ihren Ahnen versammelt. Seit Jahren habe ich nichts von Ihnen gehört. Und jetzt klingeln Sie mich zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett. Ich hoffe für Sie, es gibt einen triftigen Grund dafür.“

„Ich wollte Ihnen einen Vorschlag machen“, begann er vorsichtig, da er nicht ganz sicher war ob er die schnurrende Doris Day oder Golda Meir, Israels eiserne Lady der frühen siebziger Jahre, in ihr geweckt hatte.

„Wie ich Sie kenne sicher einen unsittlichen“, fuhr sie ihm triumphierend ins Wort, da ein langes Berufsleben in einem von Männern dominierten Unternehmen, sie gelehrt hatte, dass Angriff die beste Verteidigung war.

Er versuchte es spaßig zu nehmen. „Frau Reuter, in Ihrem Alter. Ich bitte Sie. Können Sie denn an gar nichts anderes denken?“

„Genau wie früher. Sie haben sich überhaupt nicht verändert Sandmann. Schon wieder wollen Sie mir vorschreiben wie und was ich zu denken habe“, erwiderte sie ernsthaft.

„Das war durchaus nicht meine Absicht. Hätten Sie mich ausreden lassen, wüssten Sie jetzt schon worum es geht.“ Er bemühte sich dieses Reizthema schnell zu verlassen, denn sollte sie sich daran festbeißen, konnte er seinen Vorschlag vergessen. Dies war auch einer der Gründe, warum sie nie geheiratet hatte. Der Gedanke von einem Mann dominiert zu werden ließ sie innerlich erschauern und gleichzeitig in Wut ausbrechen. Selbst jetzt im Alter von achtundsiebzig Jahren kam ihr diese Vorstellung immer noch unerträglich vor. Sie hatte es ihm selbst erzählt, damals, als er noch ihr Chef war und sie außerdem eine sehr enge Freundschaft verband.

„Ich möchte Sie zu einem Seminar einladen“, sagte er nach einer kleinen Pause.

„Seminar?“ wiederholte sie ungläubig. „Ich dachte, das hätten wir hinter uns.“

„Es geht auch nicht um Firmenstrategien und Marketing-Konzeptionen.“

„Worum dann?“

„Das kann ich so am Telefon nicht sagen. Es hängt mit dem zusammen, was ich in den letzten Jahren gemacht habe.“

„Und was haben Sie gemacht?“

„Bitte, Frau Reuter.“

„Na gut. Wo und wie viele Teilnehmer?“

„Ich dachte an den Schäferhof bei Schneverdingen.“ In diesem Hotel hatten sie früher öfter getagt und er hoffte, die vertraute Atmosphäre würde sie günstig stimmen.

„Und wer kommt alles?“

„Nur Sie und ich.“ Er vernahm keine Antwort und dachte bereits sie wäre ohnmächtig zusammengebrochen, als sie hörbar einatmete.

„Wenn das eine neuartige Form der Anmache sein soll, dann…“

„Keine Sorge, ich schlafe nur mit Frauen, die mich auch wollen.“

„Frauen“, fauchte sie verächtlich, „müssen es denn gleich so viele sein? Sie verstummte weil sie sich nicht lächerlich machen wollte.

„Dann nehme ich Ihr Schweigen als Zustimmung.“

„Nein, es ist völlig unmöglich.“

„Hören Sie. Ich fahre Sie hin und zurück. Sie haben keinerlei Kosten, weder fürs Zimmer noch…“

„Es geht nicht ums Geld.“

„Ist Ihnen meine Anwesenheit unangenehm?“

„Auch nicht. Sie haben eben schon auf mein fortgeschrittenes Alter hingewiesen. Das muss Ihnen Erklärung genug sein.“

„Es tut mir Leid. Sie wissen genau wie es gemeint war. Außerdem bin ich auch nicht jünger.“

„Immerhin drei Jahre.“

„Aber dafür sind Sie in besserem Allgemeinzustand. Ich zähle Ihnen nur mal meine lebensbedrohenden Krankheiten auf. Prostatakrebs, Morbus Crohn, Bluthoch…“

„Hören Sie auf! Oder meinen Sie, das würde mich erheitern?“

„Ich dachte nur, gleiche Krankheiten schmieden zusammen und sorgen für Gesprächsstoff.“

„Sorry, aber mit Prostatakrebs kann ich nicht dienen.“

Sandmann überlegte fieberhaft. Er wusste, dass Sie unheilbar krank war. Außerdem war sie die intelligenteste Frau der er je begegnet war. Wenn ihm jetzt nicht sehr schnell etwas Kreatives mit innewohnender Überzeugungskraft einfiel, sah er seinen sorgfältig ausgearbeiteten Plan bereits auf dem Friedhof der gescheiterten Ideen vermodern.

„Ich könnte zu Ihnen kommen“, begann er mannhaft.

„Für zwei Tage? Sind Sie verrückt?“

„Frau Reuter, auch für Sie wird die Zeit zwischen den Schlafperioden zunehmend ereignisloser. Außerdem nähern wir beide uns dem Alter in dem man mehr tote als lebende Freunde und Bekannte hat. Sie sollten sich über die Abwechslung freuen.“ Da sie nicht reagierte, fuhr er fort: „Nur für zwei Stunden. Wenn es Ihnen dann nicht mehr gefällt, werfen Sie mich raus. Ich werde keinerlei Schwierigkeiten machen, verspreche Ihnen jedoch, Sie vorher mit Erkenntnissen zu konfrontieren, die Sie nicht mal im Traum für möglich gehalten hätten.“

„Einverstanden. Heute 16 Uhr. Bis dahin brauche ich um mir ein präsentationsreifes Aussehen zu verleihen. Aber ich warne Sie, zum Friseur schaffe ich es nicht mehr.“

„Die wahre Schönheit strahlt von Innen“, erwiderte er zufrieden und legte den Hörer auf.

Er hatte nur eine Chance, das war ihm bewusst. Er musste schnell handeln und durfte es nicht vermasseln. Zum Glück war sie neugierig wie ein kleines Mädchen. Sie las viel und zeigte Interesse für alles. Keine Spur von Altersstarrsinn, Demenz oder Alzheimer. Wahrscheinlich trug hierzu auch die Tatsache bei, dass sie noch nie einen Fernseher besessen hatte. Telefon mit Festnetzanschluss und CD-Player waren ihre einzigen Zugeständnisse an die ausufernde Übermacht der Technik. Neben ihrer ungezügelten Freiheitsliebe hatte sie nur noch Probleme mit ihrem Aussehen. Ihr Körper war verbrauchter als ihr Intellekt. Sie schämte sich für ihr ausgedünntes Haar und litt unter den Auswirkungen der Schwerkraft auf den menschlichen Organismus. Hier boten sich ihm wunderbare Ansätze seine Anwesenheit über die zwei Stunden hinaus auszudehnen.

Nachdem er die Klingel zu ihrer 2-Zimmer Eigentumswohnung in Othmarschen gedrückt hatte, flog die Tür sofort auf, als hätte sie dahinter gewartet.

„Wirklich geglaubt habe ich nicht, dass Sie kommen“, kokettierte sie, „wo es doch so viele andere Möglichkeiten für Sie gibt sich die Zeit zu vertreiben.“ Sie ließ ihn herein und sah ihn fröhlich an, auf Widerspruch wartend. Er tat ihr den Gefallen.

„Ein Date mit Ihnen ist für mich attraktiver als ein Tango mit Tina Turner“, erwiderte er artig und erschrak zugleich über ihr beklagenswertes Aussehen. Sie hatten sich zuletzt vor etwa zwei Jahren getroffen, nach dem Verfall in ihrem Gesicht hätte es zwanzig sein können.

„Gehen wir doch ins Wohnzimmer“, schlug sie vor und nahm ihm den Prosecco aus der Hand. Wohin auch sonst dachte er und schloss die Wohnungstür hinter sich,

„Wissen Sie Sandmann, ich überlege mir bereits seit Stunden von welcher Art Ihre neuen Erkenntnisse denn nun sein könnten. Ich platze vor Neugier.“ Sie füllte zwei Gläser mit dem Perlwein. „Prost!“

„Hoch interessant“, warf Julia Reuter ein, „außerdem kannte ich die Geschichte schon.“

„Hören Sie! Erst setzen Sie mich zeitlich unter Druck und nun auch noch mit defätistischen Äußerungen. Ich bestehe darauf, das Seminar nach den Regeln kreativer Sitzungen durchführen zu können. Keine Killerphrasen und so weiter.“

„Einverstanden“, nickte Julia milde.

„Ich habe das lediglich vorausgeschickt“, fuhr er fort, „um Ihnen verständlich zu machen warum ich mich in den letzten zwanzig Jahren intensiv mit Science-Fiction auseinandergesetzt habe. Ich habe TV-und Kinofilme gesehen und alles gelesen was auf dem Markt war. Von Groschenheften bis hin zu wissenschaftlichen Abhandlungen. In diesem Metier gibt es nämlich ebenfalls Leute, die Dinge beherrschen zu denen ich auch gern imstande

wäre.“

„Die Welt ist voller Träume und Menschen die sie träumen.“

„Das ist wahr“, sagte er zu ihrer Überraschung.

„Sie haben sich also mit Science-Fiction beschäftigt, weil Gauß Sie dazu gebracht hat?“, wollte Julia wissen. „Dabei waren Sie doch noch nie ein Technik-Freak.“

Sandmann schüttelte den Kopf. „Das erinnert mich nun wieder an frühere Zeiten. Sie konnten noch nie zuhören. Zumindest nicht, wenn ich was gesagt habe. Nun, seitdem ich begriffen hatte, dass SF sich nicht nur mit der zukünftigen Technik und der Entwicklung phantastischer Maschinen beschäftigt, sondern sich zunehmend auch auf die menschliche Gesellschaft und die Entfaltung einzelner Personen konzentriert, habe ich …“

Julia sah Peter ungeduldig an. „Verraten Sie mir jetzt endlich, was Sie mir eigentlich sagen wollen.“

„Finden Sie es selbst heraus.“ Er drehte seinen Stuhl um und wendete ihr den Rücken zu. „Haben Sie Schreiber und Papier?“ Als er ihr „Ja“ hörte, sagte er: „Notieren Sie ein Wort, einen Satz, eine Zahl oder eine Kombination von allem.“

„Hab ich“, sie klang zum ersten Mal interessiert.

„Männer sind Ignoranten“, verkündete Peter Sandmann.

„Was soll das?“ schrie sie erregt. „Wo ist der Trick dabei? Sie haben mich beobachtet, außerdem kennen Sie mich schon so lange. Sie wussten was ich schreiben würde. Ich will noch mal.“

Er sah sie zwar nicht, wusste aber, dass sie mit einer Hand den Zettel verdeckte und misstrauisch zu ihm hinüber sah. „Ich bin soweit“, frohlockte sie siegessicher.

„Frauen sind die besseren Männer“, verkündete Peter Sandmann.

Ihre Stimme klang jetzt schrill. „Sie machen mir Angst!“ schrie sie hysterisch. „Das kann einfach nicht sein. Das ist unmöglich.“ Sie knüllte das Papier zusammen und warf es auf den Boden.

„Sie könnten es weiter versuchen. Das Ergebnis wäre immer das gleiche.“ Er drehte sich zu ihr um. „Vertrauen Sie mir, um der alten Zeiten willen.“

„Wie machen Sie das?“ Sie füllte mit zittriger Hand ihr Glas, wobei einiges daneben ging.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht genau. Außerdem ist es in der verbleibenden Zeit nicht erklärbar.“

„Nun hören Sie doch auf mit diesen blöden zwei Stunden.“ Sie sah ihn prüfend an und plötzlich erschien ein Ausdruck des Verstehens auf ihrem Gesicht. „Sie können meine Gedanken lesen“, stammelte sie ungläubig. „Hab ich Recht?“

„Das ist korrekt“, antwortete Sandmann.

„Sie wussten also auch eben an der Tür schon was ich wirklich dachte.“

Er nickte stumm.

„Ich könnte Sie erwürgen.“ Sie leerte ihr Glas in einem Zug. „Dann wissen Sie also auch was mir in diesem Augenblick durch den Kopf geht.“

„Natürlich.“

„Und das wäre?“

„Sie wollen mich gar nicht erwürgen. Sie wollen, dass ich es Ihnen beibringe.“

„Können Sie das?“

„Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht, wenn Sie mir helfen.“

„Was muss ich tun?“

„Wenn ich das bloß wüsste. Bei mir kam es einfach so angeflogen und war plötzlich da.“

„Steht es mit Ihrem Interesse für Science-Fiction in Verbindung?“

„Das scheint mir fast so.“ Er sah sie an und war froh, dass sie sich wieder etwas beruhigt hatte. Außerdem gingen keine hysterischen Impulse mehr von ihr aus. „Wissen Sie“, fuhr er fort, „ich würde Ihnen gern alles erzählen, wenn ich meine zwei Tage hätte.“

„Einverstanden.“

Er setzte sich erleichtert. Die erste Hürde war genommen. „Haben Sie Alkohol im Haus? Ich meine etwas Hochprozentiges.“

„Wäre Cognac recht?“

„Ganz ausgezeichnet.“ Sandmann setzte sich in einen Sessel. „Ich werde Ihnen jetzt etwas Grundlegendes über das Wesen der Science-Fiction erzählen. Diese Wissenschaft findet immer in der Zukunft statt, denn sonst wäre sie ja keine Fiktion mehr sondern Realität. Es gibt sie also heute noch nicht, sie könnte aber künftig möglich sein. Es existieren beispielsweise Raumschiffe die mit Überlichtgeschwindigkeit fliegen oder sich unsichtbar machen können. Ähnliches gilt für die Menschen. Sie haben durch Evolution oder Kontakte mit Außerirdischen, Fähigkeiten entwickelt, die wir heute noch nicht besitzen. Die bekanntesten sind Telepathie, also die Informationsübertragung ohne Vermittlung durch die uns bekannten Sinnesorgane. Dann die Telekinese oder Psychokinese, die Bewegung von Gegenständen durch geistige Einwirkung…“

„Ist das nicht Teleportation?“ Julia Reuter schenkte Cognac in zwei Gläser.

„Mit Teleportation wird ein Gegenstand oder eine Person von A nach B transportiert, ohne dass das Objekt dabei physisch den dazwischenliegenden Raum durchquert.“ Er trug den Satz so vor, wie er ihn im Lexikon gelesen hatte.

„Verstehen Sie das?“ Sie leerte ihr Glas mit einem Zug.

„Nein, überhaupt nicht.“

„Und was ist beamen?“

„Eine besondere Form der Teleportation. Ein Körper wird in seine Atome zerlegt, per Richtstrahl an einen anderen Ort bewegt und wieder materialisiert.“

„Verstehen Sie das?“

„Auch nicht.“

„Aber wie können Sie sich nur so intensiv mit Dingen beschäftigen, die Sie überhaupt nicht begreifen?“

„Aber das tun Sie doch auch. Wir alle machen das. Oder verstehen Sie wirklich was passiert wenn Sie jetzt mit dem Ding da“, er zeigte auf ihren Telefonapparat, „eine Nummer in China anrufen und Ihre Stimme dort ankommt und die des Angerufenen hierher. Sie können sich zwar technische Erklärungen geben lassen über öffentliche Telefonnetze, Funk und Satelliten aber wirklich verstehen können Sie es doch nicht. Oder? Ich kann es jedenfalls nicht. Verstehen Sie etwa wie es möglich ist, dass beim digitalen Fernsehen mit einem daumendicken Kabel über zweihundert TV-Sender und noch hundert Hörfunkprogramme gleichzeitig in Ihre Wohnung transportiert werden? Mir ist soviel Verständnis nicht gegeben, aber trotzdem benutze ich diese Technik.“

Als sie nicht reagierte fügte er noch hinzu. „Ich wollte nur sagen, dass wir uns zunehmend von Dingen abhängig machen, von denen wir keine Ahnung haben. Eines Tages verstehen wir unsere eigene Welt nicht mehr.“

„Sind Sie in der Lage Gegenstände durch geistige Einwirkung zu bewegen?“

„Darüber möchte ich nicht reden. Nicht zu diesem Zeitpunkt.“

„Halten Sie mich für zu blöd?“

„Das ist nun wirklich das Letzte wofür ich Sie halten würde.“ Er lachte. „Ich halte Sie für zu jung.“

„Hören Sie mal. Ich bin älter als Sie.“

„Aber nicht auf diesem Sektor, da bin ich Ihnen um Jahre voraus.“

„Lesen Sie jetzt meine Gedanken?“

„Nein, jetzt nicht.“

„Wie steuern Sie das?“

„Man kann es gewissermaßen abschalten. Sonst könnte man nicht mehr aus der eigenen Wohnung gehen. Stellen Sie sich bloß mal vor, wie viele Gedanken in einem vollen Kaufhaus herumschwirren. Man würde wahnsinnig werden. Es ist so etwas wie ein geistiges Ohropax.“

„Haben Sie schon einmal Gedanken aufgefangen, die sich mit der Planung krimineller Aktivitäten beschäftigt haben?“

2. Kapitel

Sandmann erwachte gegen sieben Uhr und bemerkte beruhigt, dass Julia noch schlief und von ihrem harten Leben als Werkstudentin träumte. Er wusste, dass sie in ihrer Jugend einen schweren und entbehrungsreichen Lebensabschnitt zu bewältigen hatte. Mit achtzehn, einem Alter in dem junge Mädchen sich vorwiegend für Klamotten, Fun und Partys interessieren, musste sie durch den plötzlichen Unfalltod ihrer Eltern, praktisch über Nacht, ihren beiden schulpflichtigen Geschwistern Vater und Mutter ersetzen. Sie selbst studierte damals in Hamburg im zweiten Semester BWL, hatte kein festes Einkommen und verfügte auch über keine nennenswerten finanziellen Mittel. Es gab eine kleine Lebensversicherung, einige Wertpapiere und eine Waisenrente für Bruder und Schwester. Im Gegensatz zur heutigen Sozialgesetzgebung verteilte der Staat keine weiteren Segnungen. So wurde sie beim Asta vorstellig und begann ihre Karriere als Werkstudentin. Danach verbrachte sie mehr Zeit mit einkommenssteigernden Nebenjobs als mit der Fortführung ihres Studiums. Als direkte Folge davon wandten sich auch ihre Freunde von ihr ab, was wiederum dazu führte, dass sie sich auf ihre Geschwister konzentrierte und deren Betreuung weniger als lästige Pflicht sondern als hingebungsvolle Aufgabe empfand. Gegen jede Wahrscheinlichkeit beendete sie ihr Studium mit einem Diplom, erkämpfte sich eine verantwortungsvolle Position und hielt den engen Kontakt zu Bruder und Schwester aufrecht, der jedoch zeitlebens geprägt war durch die Gewährung finanzieller Beihilfen.

Er benutzte das Bad und ging in die Küche, da er Appetit auf knusprige Brötchen mit delikaten Leckereien hatte. Eine kurze Überprüfung des kläglichen Kühlschrankinhalts sagte ihm jedoch, dass die Verfalldaten der beiden verbeulten Yoghurtbecher bereits zwei Wochen zurücklagen und das einsame Stückchen Edamer Schimmel angesetzt hatte. Ihm blieben noch knapp vier Stunden bis elf, ihrer Outofbedtime. Er hätte also gut mit dem Wagen zu irgendeinem Supermarkt am Hauptbahnhof fahren können. Ihn plagten jedoch Kopfschmerzen, das Kreuz tat im weh, und er hatte es auch irgendwie satt zur Befriedigung der öffentlichen Erwartungshaltung Dinge tun zu müssen, die ihm unnötig erschienen und zuwider waren. So konzentrierte er sich auf einen bestimmten Punkt, stellte fest, dass sich dort niemand aufhielt und materialisierte vor der Kühltheke des Delikatessengeschäfts Kruizenga in der Maria-Louisen-Straße. Natürlich war das Personal noch nicht anwesend; er fand sich jedoch auch ohne Hilfe zurecht, besonders da der Bäcker die frischen Brötchen bereits im Vorraum deponiert hatte. Da er Julias Geschmack nicht so genau kannte, nahm er zum Kaviar und der Gänseleberpastete noch einige Scheiben Graved Lachs sowie zwei Hummerschwänze mit. Er legte einen Hundert Euroschein auf die Theke und stand nach zehn Minuten wieder in Julias Küche.

Gerade noch rechtzeitig, denn er hörte Wasserrauschen im Bad und nahm Bruchstücke ihrer Gedanken wahr, aus denen hervorging, dass sie sich mit der Frage beschäftigte wie sie ihn am besten und möglichst umgehend aus ihrer Wohnung entfernen könnte.

Sie hat es noch nicht gelernt sich gedanklich abzuschotten, schoss es ihm durch den Kopf. Aber warum will sie mich so schnell loswerden?

„Weil wir jetzt in einer Liga spielen. Ich habe Sie aufs Kreuz gelegt Sandmann und Ihnen Wünsche vorgegaukelt, die fern meiner Absichten liegen. Von wegen keine Lügen und Täuschungen mehr. Es eröffnen sich ungeahnte neue Möglichkeiten.“ Triumphierend betrat sie die Küche.

„Ist dieses Abschotten mit dem Abschalten von gestern identisch?“ wollte sie dann wissen und sah sich interessiert die Leckereien auf dem Tisch an.

„Zuerst wünscht man seinem Mentor einen ‚Guten Morgen’“ begann er, um Zeit zu gewinnen. Sie entwickelte sich viel schneller als zu erwarten war. „Genau, es bedeutet seine Gedanken vor Dritten zu verbergen, damit sie nicht gelesen werden können. Sie haben sich ja schon damit vertraut gemacht.“

Sie probierte ein Stück von dem Lachs. „Wo sind diese Sachen her?“

„Wieso sind Sie überhaupt schon auf?“ versuchte er sie abzulenken. Ihm war aufgefallen, dass sie noch nicht einmal den Mund geöffnet hatte um sich verbal zu äußern. Sie kommunizierte vollkommen telepathisch als ob sie nie etwas anderes getan hätte. Das war phantastisch. Er konnte heute viel weiter kommen als geplant.

„Wenn sich fremde Männer in meiner Wohnung befinden ändere ich gelegentlich meine Lebensgewohnheiten. Aber woher ist der Lachs denn nun? Hier in der Gegend gibt es so was nicht. Schon gar nicht um diese Zeit.“

Er ahnte was auf ihn zukommen würde und wollte trotzdem schon Kruizenga sagen, als ihm eine bessere Möglichkeit einfiel. „Große Elbstraße, Frau Reuter, da gibt es eine Menge Händler die mit diesen Krustentieren handeln und auch jetzt schon geöffnet haben.“

„Und wie sind Sie dahin gekommen?“

„Mit dem Auto. Muss ich jetzt für jeden meiner Schritte Rechenschaft ablegen?“

„Natürlich nicht. Ich dachte nur… Wieso kann ich jetzt nur wahrnehmen was Sie sagen und sonst nichts?“

„Weil Sie noch nicht gelernt haben in meinen PC einzudringen“, er zeigte auf seinen Kopf, „und sich Infos von meiner Festplatte herunter zu laden.“

„Wann machen wir das?“

„Später. Jetzt wird gefrühstückt.“

„Ich glaube, jeder Mensch besitzt telepathische Fähigkeiten“, dozierte Sandmann eine Stunde später. „Sie werden nur nicht entwickelt, weil es kein Lehrpersonal dafür gibt. Es ist wie mit der verbalen Kommunikation, wenn man einem Kind die Sprache nicht beibringt, kann es sich später auch nicht verständlich machen. Und zwar unabhängig vom I.Q. oder von sonstigen Begabungen.“ Er unterbrach sich. „Sagen Sie Frau Reuter, jetzt wo wir gegenseitig die Tiefen unserer Seelen ergründen, könnten wir uns da nicht auch wieder duzen? So wie früher?“

„An mir soll es nicht scheitern. Ich habe mich schon gefragt, wann Du endlich damit rausrückst.“

„Wieso?“

„Na, Du beschäftigst Dich doch schon seit gestern damit.“

„Und ich dachte …“

„… Du hättest Dich gut abgeschirmt. Nichts da. Ab sofort hast Du eine Hackerin in Deinem System.“

„Du bist phantastisch Julia. Demnächst wirst Du mich unterrichten.“

„Lieber nicht. Warst Du nicht ein mittelmäßiger Schüler?“

„Welche Empfindungen löst der Begriff Psychokinese bei Dir aus?“ Peter kam zurück zum Thema.

„Eigentlich keine.“

„Und die Vorstellung, Gegenstände wie aus dem Nichts bewegen zu können? Ängstigt Dich das?“

Sie überlegte kurz. „Nein. In meinem Alter ängstigt mich nichts mehr.“

„Wer solche Sprüche klopft, weiß nicht wovon er redet.“ Peter beschloss ihr einen Schock zu versetzen. „Sag mir was Du hier im Raum gern an einem anderen Platz sehen würdest.“ Sie saßen wieder im Wohnzimmer; er entspannt auf dem Ledersofa, sie in einem Ohrensessel. Er hätte gern die Füße auf den Tisch gelegt, traute sich aber nicht, da er nicht wusste, wie sie darauf reagieren würde.

„Ha, jetzt werden Stühle gerückt und Löffel verbogen, das typische Rudi-Geller-Party-Syndrom.“ Sie kicherte wie ein Teeny.

„Nun sag schon!“

„Ich möchte die Cognacflasche von der Anrichte da“, sie deutete mit dem Finger in die Richtung, „hier vor mir stehen sehen.“ Jetzt lachte sie kopfschüttelnd. „Wir sollten uns lieber mit seriösen Themen wie Telepathie beschäftigen.“

Das Lachen gefror ihr im Gesicht, als sich die Flasche von ihrem Platz erhob, sich durch die Luft auf die angegebene Position zu bewegte und dort wohlbehalten landete.

„Ich hätte es auch in Null-Zeit machen können, so dass Du die kurze Reise nicht bemerkt hättest“, warf er beiläufig ein. Dann erst sah er das Entsetzen in ihren Augen. „Beruhige Dich, es sind weder dunkle Mächte im Spiel noch ist etwas Unnatürliches daran. Alles verläuft konform mit den physikalischen Gesetzen unseres Universums. Ich habe nur den dritten Schritt vor dem zweiten gemacht.“

Sie starrte ihn an.

„Dabei ist diese Methode noch die simpelste.“ Peter tat so, als würde er ihr den Gebrauch eines ganz normalen Handys erklären. „Auf diese Weise könnte ich nicht einmal das kleinste Hindernis durchdringen.“ Er ließ die Flasche gegen eine auf dem Tisch stehende Kristallvase stoßen. „So geht es also nicht. Wenn ich jedoch eine andere Technik anwende, gibt es keine Probleme.“ Die Flasche diffundierte durch die Vase und befand sich plötzlich auf ihrer anderen Seite, ohne dass ein Tropfen Flüssigkeit verloren gegangen wäre.

„Ich weigere mich, das alles zu glauben.“

„Dazu besteht auch kein Grund. Glaub mir doch einfach nicht und sieh es Dir nur an. Die Dinge tun, was ich von ihnen verlange.“

„Aber es ist völlig unmöglich.“

„Nein, es kommt Dir nur unmöglich vor. Wenn Du einem Bauern aus dem Mittelalter sagen würdest, gemeinsam mit mehr Menschen als in seinem Dorf wohnten, in einem stählernen Vogel, der hundertmal schwerer ist als sein Haus, meilenweit über dem Boden, durch die Luft reisen zu können, was glaubst Du wohl, wie dessen Reaktionen wären? Wo er doch weiß, dass schon sein Haus schwerer ist als Luft. Der würde für Dich hinter Deinem Rücken einen Termin bei der Inquisition machen.“ Peter seufzte. „Immer wenn wir sagen, etwas sei unmöglich, dokumentieren wir damit nur unsere Unwissenheit.“

„Wieso kann das Niemand sonst?“

„Ich bin mir überhaupt nicht sicher, der Einzige zu sein. Ich weiß sogar, dass es noch andere gibt.“

„Wer bist Du?“

„Nun hör aber auf. Ich bin der, den Du seit über vierzig Jahren kennst. Ich habe mich lediglich mit Dingen beschäftigt, die Dir bisher fremd waren. Hätte ich mich für Zirkus interessiert, könnte ich jetzt wahrscheinlich mit zehn Bällen jonglieren und auf dem Hochseil laufen.“ Er versuchte das Ereignis herunterzuspielen, damit sie nicht begann ihn zu bewundern und ihre charakterlichen Eigenschaften zu verlieren. „Es ist ganz simpel. Ich erkläre es Dir. Du beginnst mit der zweidimensionalen Ortsveränderung.“ Die Cognacflasche bewegte sich einige Zentimeter von ihr weg, vollführte eine Wende von hundertachtzig Grad und kehrte an den Ausgangspunkt zurück.

„Mit dieser Übung werden wir gleich beginnen. Sie sollte kein Problem für Dich sein.“

„Ach Peter, wie soll ich denn so etwas schaffen?“

„So wie Du die nonverbale Kommunikation auch geschafft hast.“

Zweifelnd und doch hoffnungsvoll sah sie ihn an. Sie war ihm dankbar für das was er getan hatte, obgleich ihr idiotischer Weise dazu jetzt nur einfiel, dass sie nie wieder mit vollem Mund reden musste, wie sie es als kleines Mädchen zum Ärger ihrer Mutter oft getan hatte. Dass er überhaupt hier in ihrem Wohnzimmer saß, war ein kleines Wunder. Seit Jahren hatte kein Mann mehr ihre Wohnung betreten, wenn sie von ihrem Bruder und dem Fensterputzer einmal absah. Warum tat er das?

„Du solltest Deine Zeit nicht in mich investieren, Peter. Es lohnt nicht. Ich bin sehr krank, weißt Du. Deine langfristigen Renditeaussichten sind miserabel.“

Er sah sie wütend an. „Du bist das, was die Engländer ein ‚Nasty Girl’ nennen. Zwei Tage hast Du mir versprochen oder etwa nicht?“

Sie leerte ihre Kaffeetasse. „Im Alter wird man ängstlicher und mutloser.“

„Über Dein Alter und Deine Krankheit reden wir auch noch, aber nicht jetzt. Pass auf! Was hält die Flasche auf dem Tisch? Die Schwerkraft und der von allen Seiten gleichstarke Druck der Atmosphäre. Öffnest Du bei Sturm das Fenster, fegt jede Bö ab Stärke acht die Flasche vom Tisch. Das gleiche Resultat schafft auch ein Blasebalg. Erzeugst Du über der Flasche einen ausreichenden Unterdruck steigt sie gegen die Schwerkraft senkrecht nach oben. Du pustest und saugst jedoch nicht, sondern denkst Dir den Luftdruck auf der Seite zu der Du die Flasche bewegen willst, einfach weg. Bitte nicht ganz, sonst gibt’s Scherben. Reduziere ihn zuerst nur etwas.“

„Aber Peter …“

„Beginne nie wieder einen Satz mit ‚aber Peter’. Versuch es jetzt.“ Er kam zu ihr und setzte sich auf die Sessellehne.

„Wohin soll sie?“

„Nach links.“

„Verlier Dich in dich selbst.“ Er griff nach ihrer Hand. „Du bist krank, leer und ausgebrannt. Nichts gelingt Dir. Keiner mag Dich. Keiner sieht Dich. Du bist einsam. Dir fehlt die Luft zum Atmen. Sieh hin!!“ Er brüllte sie an. „Hol sie Dir!“

Die Flasche bewegte sich drei Zentimeter nach links.

„Wahnsinn!“ kreischte Julia, der Schweiß stand ihr auf der Stirn.

„Du bist eine Meisterschülerin, jetzt musst Du nur noch einige Jahre üben.“

Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Wieso kann ich das?“

„Weil Du den Bruchteil einer Sekunde daran geglaubt hast. Ich meine richtig geglaubt, so wie der sprichwörtliche Glaube, der Berge versetzt.“

„Ich muss mich unbedingt frisch machen. Hol bitte mal den Weißwein aus dem Kühlschrank, ich brauch jetzt `n Schluck.“

Im Bad wurde ihr die absurde Situation bewusst in der sie sich befand. Hätte ein Dritter die Möglichkeit gehabt sie zu beobachten, wären ihm zwei Menschen aufgefallen, die über Stunden nebeneinander saßen, gestikulierten, tranken und aßen, jedoch kein einziges Wort miteinander wechselten. Dazu schwirrten noch, ohne erkennbaren Grund, die verschiedensten Gegenstände durch die Luft. Makaber.

Sie hatte sich das Gesicht gewaschen und kein neues Make-up aufgelegt. Das machte sie zwar blasser und noch zerbrechlicher, aber auf irgendeine Weise, die Peter nicht näher definieren konnte, gefiel sie ihm viel besser. Das Erfolgserlebnis hatte ihr sicher auch gut getan. Beinah hätte sie es selbst geschafft. Trotzdem war er froh ihr geholfen zu haben, obgleich er es ihr nie würde sagen können.

„Gibt es Gewichtsgrenzen für die Dinge, die Du bewegen kannst?“ Sie hatte einen Riesenschluck genommen, so dass er sich schon Sorgen machte, weil sie wie immer nicht ans Essen dachte.

„Du solltest mal wieder feste Nahrung zu Dir nehmen, Julia.“

„Du willst mich nur abfüttern, damit Du lange Pausen machen kannst.“ Sie ließ sich dann aber doch überzeugen von den Resten des Frühstücks zu essen, wozu sie aber nur bereit war weil er sich selbst einige Lachsschnitten in den Mund schob.

„Ich habe Dich für zwei Tage angeheuert“, sagte sie dann ungeduldig, „jetzt mach auch Deinen Job.“

Er beschloss das Thema nicht auszudiskutieren und beantwortete ihre Frage. „Das Gewicht ist irrelevant.“

„Quatsch! Du willst mir doch nicht sagen, dass Du einen Sack Zement schweben lassen kannst?“

„Ach Mädchen was …“

„Nenn mich nicht Mädchen, Nasty Girl oder so was, Du blöder Kerl. Meine Name ist Julia Reuter, und ich habe bisher achtundsiebzig Jahre auf dieser frauenfeindlichen Welt überlebt, weil ich mich immer wieder rechtzeitig daran erinnert habe.“ Sie blickte ihn gereizt an.

„Tschuldigung gnä Frau, wer außer seinem Alter nichts hat auf das er sich berufen kann, klammert sich gern an protokollarische Feinheiten.“ Er sah sie aus den Augenwinkeln an und fragte sich ob er nicht zu weit gegangen war. Sie reagierte jedoch nicht und er empfing auch keine Protestsignale aus ihrem Unterbewusstsein. Entweder hatte sie gelernt sich perfekt abzuschotten oder sein Schuss hatte das Ziel verfehlt.

„Rück mal `n Stück“, kommandierte er daher, „in Deinem Fauteuil können auch zwei sitzen.“ Er quetschte sich neben sie in den Sessel.

„Was soll das?“ Sie rückte ungehalten von ihm ab.

„Ruhe! Ich muss mich konzentrieren.“

Plötzlich befiel Julia ein Schwindelgefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Dann sah sie unvermittelt die Zimmerdecke direkt über sich. Sie hätte sie mit den Händen berühren können. In die Deckenlampe blickte sie von oben hinein, betrachtete verblüfft den Staub der auf ihr lag und bemerkte die geschwärzte, durchgebrannte Glühlampe, die sie bereits vor einem halben Jahr hatte auswechseln wollen. Ihr war bisher überhaupt noch nicht bewusst, was eigentlich geschehen war. Sie sah ihr Wohnzimmer aus einer unbekannten Perspektive. Der Raum erschien ihr unwirklich und fremd.

„Sind die Gewichtsfragen jetzt abschließend geklärt“, hörte sie Peters vertraute Stimme. Sie sah auf den Boden und fürchtete abzustürzen. Unwillkürlich klammerte sie sich an ihn.

„Ich wusste, dass Du mir nicht ewig widerstehen kannst.“ Er grinste gönnerhaft.

„Irgendwann erwürge ich Dich. Was ist passiert?“

„Du schwebst unter der Decke.“

„Ich glaube es nicht.“

„Nur Psychopathen leugnen Realitäten.“

„Lass mich runter.“

„Wenn das Dein Wunsch ist.“ Der Sessel senkte sich auf seinen bisherigen Platz.

„Ich wollte Dich wirklich nicht so überstürzt an diese Dinge heranführen, aber die Zeit läuft mir davon.“

„Vergiss die zwei Tage. Du hast alle Zeit der Welt.“

„Leider nicht“, widersprach er rätselhaft. „Komm bitte mal mit ans Fenster.“

Man sah von ihrem Wohnzimmer im zweiten Stock eine eingezäunte, gepflegte Gartenanlage mit Bäumen, Büschen, Sträuchern und einem kleinen Teich. Auf einer Seite begrenzt wurde dies alles durch eine verkehrsberuhigte Nebenstraße, auf der mehrere Wagen parkten.

„Kennst Du einen der Besitzer dieser Autos?“ fragte Peter nachdem sie neben ihn getreten war.

„Nein. Doch ja. Der Dunkelblaue da.“

„Der Mercedes?“

„Ja.“

„Und wem gehört der?“

„Einem Typen, der angeblich eine Bar auf dem Kiez besitzt. Er scheint tagsüber zu schlafen, denn nur dann parkt der Wagen hier.“

„Mir scheint, das gute Stück hat dringend eine Wäsche nötig.“

„Oh Peter, nein!“ rief Julia, die ahnte was er vorhatte.

Die Limousine hob sich senkrecht aus der Parklücke, drehte sich um ihre Achse und schwebte über einen Jägerzaun in die Gartenanlage. Hier kam sie genau über dem Zierteich zum Still-stand und senkte sich langsam in das nur einen halben Meter tiefe Wasser. Eine wohlbeleibte Dame, die von einem Balkon des gegenüberliegenden Blocks diesen Vorgang beobachtet hatte, stieß einen spitzen Schrei aus und stürzte zurück in ihre Wohnung.

„Warum hast Du das getan?“ stammelte Julia fassungslos.

„Hast Du Angst beschuldigt zu werden? Nein, ich wollte Dir nur klar machen, dass es so gut wie keine Grenzen gibt und das für diese Missetat niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann, da sie überhaupt nicht hat stattfinden können. Für das

Unmögliche gibt es keine Paragraphen im Strafgesetzbuch.“

„Aber es gibt eine Zeugin.“

„Wenn sie erst einmal zur Besinnung gekommen ist, wird sie sich noch sehr überlegen ob sie aussagt was sie gesehen hat. Wer derartige Erscheinungen hat ist reif für den Psychiater.“ Er machte es sich wieder auf dem Sofa bequem.

„Aber das Auto liegt im Teich, das stützt doch ihre Aussage.“

„Es steht längst wieder an seinem Platz, Julia.“

Sie stürzte zurück zum Fenster. Der Wagen stand genauso da wie vorher, allerdings in einer großen Wasserlache in die es immer noch hineintropfte.

„Außerdem möchte ich Dich hiermit auf Ereignisse einstimmen, die weit über das hinausgehen was ich Dir bisher gezeigt habe.“

Sie schauderte. „Was in Gottes Namen kann es denn noch geben?“

„Kannst Du Dir vorstellen, dass man mit Psychokinese über weite Entfernungen reisen kann?“

„Wahrscheinlich würde das sehr lange dauern.“

„Eigentlich nicht, aber man kann keine festen Hindernisse überwinde, wie Du inzwischen weißt. Bei geschlossenen Türen könnte ich hier vom Sofa nicht die Küche erreichen.“ Er sah sie prüfend an. Wohl aber mit einem anderen gedanklichen Ansatz.“

„Beamen?“

„Ich weiß nicht, ob es beamen ist, kann auch nicht sagen, was es überhaupt ist. Aber mir gelingt es. Weißt Du, nach theosophischer Auffassung ist unsere gesamte Umwelt, ob irdisch oder transzendent, aus Materie aufgebaut. Diese Materie ist ein Produkt göttlicher Gedankenkraft, daher reagiert sie auch auf Gedanken. Auf meine scheint sie auch zu reagieren, Manchmal habe ich das Gefühl als würde ich durch ein irdisches Wurmloch fliegen. Kennst Du die TV-Serie Stargate, in der sich Menschen durch Sternentore zu anderen Planeten bewegen?“

„Ich besitze keinen Fernseher und Wurmlöcher kenne ich nur in Äpfeln.“

„Durch Wurmlöcher werden weit entfernt liegende Regionen des Alls, man kann auch sagen, verschiedene Bereiche der Raumzeit miteinander verbunden.“

„Das erinnert mich an Einstein.“

„Ja. In der Relativitätstheorie ist es die Vereinigung von Raum und Zeit in einer vierdimensionalen Struktur.“

„Willst Du mir mit all diesen Erläuterungen andeuten, dass Du bereits auf diese Weise gereist bist?“

Pete sah sie lange an bevor er nickte. „Ja, schon oft.“

„Ich fasse es nicht. Wieso verfügst Du über diese außersinnlichen Fähigkeiten?“

„Aber sie sind doch überhaupt nicht paranormal. Sie liegen nur außerhalb der von den meisten Menschen benutzten Sinne. Du hörst doch jetzt auch meine Gedanken und beginnst Dich in die Telekinese einzufühlen. Es ist als würdest Du eine neue Sprache lernen. Die Mehrzahl der Menschen beherrscht nur ihre Muttersprache und vielleicht noch eine oder zwei dazu. Es gibt aber auch Einige, die zehn oder mehr Sprachen sprechen. Vielleicht gibt es auch welche, die über zehn Sinne verfügen.“

„Wo bist Du den schon überall gewesen?“

„Genau wie Du es sagst, fast überall.“

„Auch schon in China oder Neuseeland?“

„Ja, auch da.“

„Aber wenn Du Dich da hin bewegst, oder, wie soll ich es nennen, woher weißt Du dann, dass an deinem Landeplatz sich nicht schon jemand aufhält? Du könntest auch in einem See landen oder hundert Meter über der Erdoberfläche.“

„Nein, kann ich nicht. Bevor ich mich zu einem bestimmten Ziel denke, sehe ich genau, wie vor einem inneren Auge, wo ich ankommen werde. Ich überblicke auch die nähere Umgebung, erkenne was sich dort tut und ob sich dort Menschen aufhalten oder nicht.“

„Auch wenn Du vorher noch nie dort gewesen bist?“

„Wenn ich mir das Ziel konkret beschreibe, auch dann.“ Als sie ihn nur fragend ansah, fügte er noch hinzu. „Na ja, es genügt natürlich nicht, zu sagen, ich will nach Indien oder Rajasthan, sondern man muss schon genau definieren – wie bei normalen Reisen auch – ich will nach Agra, direkt vor die große Eingangshalle des Taj Mahal.“

„Aber wie kannst Du Dir das Umfeld so genau vorstellen?“

„Bei neuen Reisezielen, mit einer Postkarte, zum Beispiel. So, das reicht jetzt aber wirklich. Steh doch bitte mal auf.“ Er zog sie zu sich heran und umarmte sie.

„Was soll der Unsinn?“ protestierte Julia. Bevor ihr jedoch richtig klar wurde was eigentlich geschehen war, standen sie umschlungen vor dem Eingang des Nobelhotels Jacobs an der Elbchaussee.

Julia erstarrte in seinen Armen. „Wenn sich hier nun Menschen aufgehalten hätten?“

„Dann wären wir irgendwo in der Nähe gelandet.“ Er führte sie über den blauen Teppich ins Restaurant.

„Es ist Zeit zum Essen“, sagte er.

Sie wählten einen Tisch auf der Lindenterrasse und genossen den traumhaften Blick auf die Elbe. Julia befand sich noch in einem Schockzustand und konnte sich nicht aufs Essen konzentrieren. Peter versuchte sie zu beruhigen und gleichzeitig zwei klare Hühnerboullions und Charolais Rinderschultern beim Ober zu bestellen. Auf Empfehlung des herbeigeeilten Sommeliers orderte er dann noch eine Flasche Chateau Pichon Baron, 1993.

„Ich habe ganz weiche Knie“, klagte sie, als der Ober noch neben ihnen stand. „Aufstehen könnte ich jetzt nicht. Sag mal, ist es hier nicht viel zu teuer? Wir teilen uns die Rechnung. Wozu brauchst Du eigentlich noch Dein Auto?“

Ihre Gedanken fluteten völlig unkontrolliert auf ihn ein. Es war für ihn äußerst schwierig, sich mit dem Ober verbal zu unterhalten und sich gleichzeitig mit Julia auf gedanklicher Ebene auseinanderzusetzen.

„Es tut mir Leid“, sagte er schließlich, „ich habe Dir zu viel zugemutet. Für heute ist Schluss. Geld ist nie wieder ein Problem. Wenn Du Dir erst über die Konsequenzen unseres kleinen Ausflugs im Klaren bist, wirst Du mir zustimmen.“ Peter behandelte Ihre Fragen und Bedenken in chronologischer Reihenfolge. „Mein Wagen macht mich zum unverdächtigen Mitglied der großen Mehrheit und verhindert meine Entlarvung als Teil einer suspekten Minorität. Ist Dir eigentlich bewusst, was passiert wenn Du über unsere Fähigkeiten plauderst und zum Beispiel einen leitenden Beamten vom BND von ihnen überzeugen könntest?“

„Was soll passieren? Wir leben in einem freien Land.“

Peter musste so laut lachen, dass man sich an den anderen Tischen ärgerlich nach ihm umsah.

„Sie würden uns verfolgen, greifen, ausquetschen und für ihre Zwecke einsetzen.“

„Dich könnte man doch niemals einsperren.“

„Wenn sie Dich aber als Geisel benutzen, würde ich alles tun was sie von mir verlangen.“ Peter sah sich um. „Rede mal mit den Lippen, sonst fragt man sich noch, warum lacht der Kerl, wo sie doch gar nichts gesagt hat.

„Siehst Du das Pärchen rechts neben uns?“ Julia nickte mit dem Kopf in die Richtung. “Der Typ ist ein ganz dummer Schnösel. Er hat mich angesehen und dabei gedacht, diese alte Schabracke verdirbt mir die Sicht auf die Elbe.“

„Beruhige Dich Julia“, reagierte Peter sofort, da er keinen Eklat wollte, „ich werde ihm Manieren beibringen.“

Das Pärchen hatte sich offensichtlich das empfohlene Viergängemenü bestellt, von dem der Ober soeben die Suppen brachte. Nachdem er sich wieder entfernt hatte, und die beiden ihre Bisque de Homard löffelten, hob sich der Teller des Mannes an der vom ihm abgewandten Seite unbemerkt um einige Zentimeter, so dass ihm dessen gesamter Inhalt, eine sämige, mit Hummerstückchen versetzte, rötliche Flüssigkeit, in den Schoß lief. Der Mann schrie vor Schreck, wohl auch weil die Suppe sehr heiß war, und sprang auf. Der herbeieilende Ober sah das Malheur, griff nach einer Handvoll Servietten und kam dem Gast zur Hilfe. Gemeinsam bearbeiteten sie die ruinierte Hose, jedoch ohne Erfolg, denn die klebrige Brühe war bereits bis auf die Schuhe herabgelaufen. Der Mann betonte gegenüber seiner Begleiterin immer wieder, er trüge an dem Schaden keine Schuld, der Teller hätte sich von selbst bewegt. Offensichtlich war er auch Hotelgast, denn schließlich eilte er davon, wohl um sich umzukleiden, wobei er seiner Tischdame versicherte, gleich wieder zurück zu sein. Dieser war die Situation sichtbar peinlich, denn sie erhob sich schließlich und verließ die Terrasse. Peter fing noch einen Gedankenfetzen von ihr auf, der sich mit der Frage beschäftigte, wie sie diesen läppischen Bauerntölpel am besten loswerden könnte.

„Das Verhältnis zu seiner Tussi scheint ebenfalls gestört“, ergänzte Peter abschließend.

„Du bist wirklich ein echter Freund“ strahlte ihn Julia an.

3. Kapitel

Als sie später bei Espresso und Armagnac angekommen waren, wirkte Julia wieder einigermaßen gefasst. Sie hatte sich dazu entschlossen, die unendlich vielen Fragen nach dem Warum, Weshalb, Wieso, vorerst zurückzustellen und die Ereignisse einfach so zu akzeptieren wie sie eintrafen.

„Kannst Du auch in der Zeit reisen?“ wollte sie wissen und nippte an ihrem starken Kaffee.

„Wir wollten doch für heute Schluss machen, oder?“ Peter sah sie fragend an.

„Nichts da. In meinem Alter darf man keine Zeit mehr verschwenden.“

Peter unterdrückte das Verlangen ihr zuzustimmen. „Womit wir beim Thema wären, der Zeit. Nein, Zeitreisen beherrsche ich nicht“, log er, „obgleich es sie geben muss. Ich weiß einfach zu wenig über die Zeit, vielleicht kannst Du mir …“, er unterbrach sich, „lass uns hier verschwinden, bevor wir als ungewöhnlich empfunden werden, denn für die anderen schweigen wir uns immer nur an. Gehen wir ein Stückchen. Was hältst Du davon? Die Jacobstreppe runter und dann den Elbuferweg Richtung Teufelsbrück.“

Er zahlte mit seiner Mastercard. Als Julia den Betrag sah, stöhnte sie nur: „Das ist ja mehr als ich sonst im ganzen Monat für Essen und Trinken ausgebe.“

Unten am Wasser setzten sie sich auf eine freie Bank und diskutierten weiter.

„Was ist für Dich Zeit, Julia?“

„Zeit hat man nie, sie heilt aber alle Wunden und wenn sie kommt, kommt sie mit Rat, so dass man sie totschlagen muss.“

„Nicht schlecht“, lachte er, „sehr viel mehr werden wir wohl auch nicht herausfinden.“

„Für mich ist die Zeit die Summe aus den drei Teilen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

„Sehr gut. Wir sollten jetzt vorerst zu klären versuchen, was jeder dieser Teile bedeutet, damit wir eine Definition des Ganzen, also der Zeit, formulieren können.“

„Die Vergangenheit existiert nicht mehr.“ Julia hatte Feuer gefangen.

„Richtig. Höchstens noch in unserem Gedächtnis, und wenn sich unsere Erinnerungen ändern, ändert sich auch die Vergangenheit. Wahrscheinlich hat jeder Mensch seine eigene Vergangenheit, auch in Bezug auf öffentliche Ereignisse.“

„Die Vergangenheit ist kein homogenes Ganzes, sondern besteht aus vielen kleinen Abschnitten. Unser fürstliches Essen eben gehört auch schon dazu.“

„Genau wie das, was wir vor fünf Minuten gesagt haben. Nichts von dem ist mehr existent.“ Peter sah man ebenfalls an, dass ihn die Sache zu interessieren begann.

„Das Gleiche gilt für die Zukunft. Sie kommt erst, existiert also heute noch nicht“, Julia rieb sich die Hände. „Das heißt, alles was existiert befindet sich in der Gegenwart.“

„Das kann nicht sein. Denn jedes Wort, das wir aussprechen, gehört spätestens dann zur Vergangenheit, wenn es vom nächsten verdrängt wird, und das was dann folgen wird, liegt für Sekundenbruchteile noch in der Zukunft.“

„Stimmt. Wenn wir uns also vorstellen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lägen auf einer Geraden, dann wäre die existierende Gegenwart darauf nur ein sehr kleiner, unbedeuten

der Punkt.“

„Praktisch existiert sie überhaupt nicht.“

Peter schüttelte den Kopf. „Wie sollte es unter diesen Umständen möglich sein, langfristig in die Zukunft zu planen, aus der Vergangenheit zu lernen oder die Zeit überhaupt nur zu messen?“

„Vielleicht messen wir sie ja gar nicht. Ich habe mal gelesen mit unseren Uhren messen wir lediglich getaktete Bewegungen wie die von einem Uhrenpendel, aber bestimmt keine Zeit.“

„Eben haben wir festgestellt, dass die Zukunft noch nicht existent ist, sie kommt also erst. Die Gegenwart ist praktisch zu vernachlässigen und die Vergangenheit ist per Definition nicht mehr real vorhanden. Wo befinden wir uns dann?“

„Wir müssen die Zeit als Ganzes sehen Es gibt keine separaten drei Teile. Alles ist untrennbar miteinander verbunden.“

„Dann ist auch die Vorstellung einer Zeitgeraden nicht richtig. Es ist ein Kreis.“

Julia nickte erregt. „Das bedeutet doch, alles hat bereits stattgefunden. Auch die Zukunft. Im engeren Sinne gibt es sie gar nicht. Sie ist nur eine auf Eis gelegte, schon oft durchlebte Gegenwart.“ Sie schauderte. „Damit wäre auch alles Zukünftige vorbestimmt.“

„Und deswegen muss man sich auch dahin bewegen können. Was es irgendwo gibt, kann man auch besuchen. Langsam beginne ich zu begreifen.“

„Na klar, vielleicht triffst Du Dich da ja irgendwo. Dann sagst Du `Hallo Peter` und Dein Doppelgänger ärgert sich, weil Du jünger bist als er.“

„Solche Überlegungen sollten wir lassen. Für die Lösung von Paradoxa bin ich nicht geeignet. Sonst erzählst Du mir noch die Geschichte von dem Mann, der in die Vergangenheit reist und seinen Großvater tötet und damit sich selbst. In der SF-Literatur gibt es dafür Parallelwelten und damit unendliche viele Zukünfte.“ Peter wollte sich erheben und reichte ihr die Hand. „Wollen wir jetzt zu Dir? Auf die gleiche Weise?“

„Halt warte. Was sind Zeitströme?“

„Vielleicht ist diese virtuelle Zeitkreislinie ja ein Strom, der alles miteinander verbindet, so wie Flüsse und Ströme, Länder miteinander vernetzen. Wenn man diesen Strom verlassen könnte, müsste man eigentlich in der Vergangenheit landen.“ Peter stand jetzt auf.

Wollen wir nicht doch lieber ein Taxi nehmen?“ fragte sie ängstlich.

„Es ist einfach bequemer“, widersprach er, als sie wieder in ihrem Wohnzimmer standen. „Überlege nur mal wie viel Zeit Du in Deinem Leben in überfüllten Verkehrsmitteln verbracht hast. Allein die Fahrten ins Geschäft. Wie lange warst Du berufstätig? Dreißig Jahre? Rechnen wir mal nur zweihundert Tage pro Jahr. Das sind sechstausend Tage, mal zwei Stunden für hin und zurück, macht zwölftausend Stunden oder fünfhundert Tage. Das heißt, Du hast knapp eineinhalb Jahre Deines Lebens nur dafür verwendet zur Arbeit zu kommen. Was für eine maßlose Verschwendung.“

„Einiges davon sollten wir sofort wieder hereinholen. Wie geht’s jetzt weiter, in Deinem Seminar?“

„Ich plädiere für eine kurze Pause, da ich unbedingt meine Klamotten wechseln muss. Danach steht Außendienst auf dem Programm. Zieh Dir bitte auch was Flottes an, wir dinieren im Jimmy’z in Monte Carlo.“

Julia sah ihn verständnislos an. „Das meinst Du nicht wirklich?“ Er nickte nur. „Aber warum gerade ich? Die Welt ist doch voller attraktiver Frauen, warum die alte und kranke Julia?“ Peter zuckte mit den Achseln. „Ich weiß, fuhr sie fort, es klingt undankbar, aber warum bist Du dann so spät gekommen. Zehn Jahre früher wären mir noch lieber gewesen.“

„Der Zeitpunkt ist schon okay. Lass uns bitte über Deine Fragen jetzt nicht mehr reden. Für heute ist nur noch unser kleiner Ausflug und Small Talk angesagt.“

Am anderen Morgen – Peter hatte den Rest der Nacht in seiner Wohnung verbracht – bedankte sich Julia überschwänglich für den phantastischsten Abend ihres Lebens. Das Diner hatte bei ihr innerliche Jubelstürme ausgelöst. Dieser unglaubliche Luxus, dieses nie erlebte Ambiente, die allgegenwärtige Prominenz. Sie hatte es irgendwann aufgegeben die Namen der Promis zu nennen die sie erkannt hatte. Dazu diese traumhaften, auf der Zunge zergehenden Speisen.

Für Peter war es ein eher anstrengendes und nur wenig belustigendes Event gewesen. Die Atmosphäre war geschwängert mit einer sich überschlagenden Gedankenflut, so dass sie sich nicht auf die vertraute Weise miteinander unterhalten konnten, sondern auf die Mund zu Mund Methode zurückgreifen mussten. Julia zuliebe hatte er jedoch Begeisterung vorgetäuscht, aber beschlossen, für heute Abend ein ruhiges Lokal in ländlicher Umgebung auszuwählen. Falls es denn überhaupt noch dazu kam.

Als sie am späten Vormittag endlich wieder im Wohnzimmer saßen, schlug Peter das Herz bis zum Hals als er ihr mitteilte: „Jetzt naht die Stunde der Wahrheit. Fühlst Du Dich imstande noch einige Schocks zu verkraften, die zum Teil heftiger sind, als die in den letzten beiden Tagen?“

Julia sah ihn fragend an. „War das gestern meine Henkersmahlzeit?“

„In gewissem Sinne schon“, bejahte er ihre Frage. „Denk mal an gestern, als ich Dich mit der Telepathie konfrontiert habe. Da warst Du entsetzt und wurdest fast hysterisch. Heute kann Dich das nicht mehr aufregen, es ist bereits Bestandteil Deines Alltags. Nun kommt wieder einiges auf Dich zu, das Du nicht für möglich halten wirst. Versuch es zu akzeptieren, ohne es verstehen zu wollen. Das ist der beste Weg innerlich damit fertig zu werden.“ Er sah mit Besorgnis Julias Müdigkeit, ihre kraftlosen Bewegungen, nur ihr Wille schien sie noch aufrecht zu halten. Der gestrige Abend war vielleicht doch zu viel für sie gewesen.

„Komm Julia, wir gehen ins Schlafzimmer und Du legst Dich hin, dann geht es Dir gleich besser.“

„Mir geht es gut“, protestierte sie schwach, ließ sich dann aber widerstandslos von ihm ins Bett bringen. Leider war es kein Doppelbett sondern nur ein etwas breiterer Futon, aber es musste auch so gehen.

„Mach Dich nicht so dick.“ Er legte sich neben sie auf die Decke und nahm ihre Hand. „Entspanne Dich und höre mir einfach zu.“

„Eine Frage habe ich noch, die mich schon seit Tagen umtreibt. Ist es wirklich so, dass Du Deine erstaunlichen Fähigkeiten nur durch das Studium der SF-Literatur erworben hast?“

Das war der perfekte Einstieg. „Nein“, seufzte er. „Ich habe Dich angeschwindelt um Dich zu schützen. Es gibt da Jemanden, der mich unterrichtet und in diese Welt eingeführt hat.“

„Mann oder Frau?“ Julia kuschelte sich in die Federn. Es schien ihr etwas besser zu gehen.

„Die Frage kann ich nicht beantworten.“

„Peter, Du wirst doch noch…“

„Es handelt sich nicht um ein menschliches Wesen.“

Sie antwortete nicht gleich, stammelte aber schließlich: „Ist das der Schock, den Du angekündigt hast?“

„Der erste von mehreren.“

„Wie sieht er denn aus Dein Alien? Ist er ein grässliches Ungeheuer oder ein Ganesh mit vier Händen und einem Rüssel?“ Sie kicherte nervös und umklammerte seine Hand.

„Er besitzt kein Aussehen, so wie wir es verstehen.“

„Wieso ‚ER’, Du sagtest, das Geschlecht wäre nicht eindeutig.“

„Na ja, ich nenne ihn Godot, weil er mich jedes Mal warten lässt, wenn ich ihn brauche.“

„Du meinst den aus dem Theaterstück von Samuel Beckett?“

„Genau. Ich finde, der Name passt zu ihm.“

„Aber Godot muss doch irgendwie aussehen.“

„Er ist ein reines Geistwesen und besitzt keine Körperlichkeit.“

„Und wie nimmst Du ihn wahr?“

„Er besucht mich in meinem Kopf.“

Julia stöhnte leise. „Es ist so, so, … wie soll ich es sagen?“

„Denk an den ersten Tag, da hattest Du die gleichen Probleme.“

„Also gut. Ich werde mich bemühen erst einmal alles so hinzunehmen, wie Du es präsentierst. Alles andere kommt später. Was ist in Deinem Kopf, wenn er da ist?“

„Es sind Godots Gedanken, oder er ist es selbst. Es funktioniert ähnlich wie bei unserer Unterhaltung. Seine Präsenz ist nur viel stärker. Irgendwann war er plötzlich da. Völlig übergangslos, wie aus dem Nichts. Es schien ihn zu amüsieren, denn ich hatte den Eindruck als würde er immer Du, Du, Du zu mir sagen, so wie wir es mit einem Baby machen, und es dabei am Bauch kitzeln.“