Halbwelten - Uwe Schwartzer - E-Book

Halbwelten E-Book

Uwe Schwartzer

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Wieder ein spannender und faszinierender Hamburg-Thriller von Schwartzer. Statt seinen Lebensabend beschaulich zu genießen, macht es sich Jakob Kilian zur Aufgabe, durch die Maschen einer laschen Justiz geschlüpfte Verbrecher ihrer verdienten Strafe zuzuführen. Als sich seine Frau von ihm abwendet, ihn sogar vergiften will, verbündet er sich mit der gealterten Hure Bianca. Schon bald müssen die beiden jedoch erkennen, dass sie von Jägern zu Gejagten werden. Nicht nur die Polizei, auch die Unterwelt ist ihnen auf der Spur ...

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Seitenzahl: 608

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Uwe Schwartzer

Halbwelten

Ein Bürger-Schocker aus dem St.Pauli Milieu

Imprint

Halbwelten Uwe Schwartzer published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de Copyright: © 2014 Uwe Schwartzer All rights reserved ISBN: 978-3-7375-0663-2

Kurden-Paul

„Das darf doch nun wirklich nicht wahr sein Louise.“ Jakob Kilian protestierte empört. „Hör dir das bloß mal an, was die Abendzeitung hier schreibt: Der Mordprozess gegen die bekannte Kiezgröße Kurden-Paul, mit bürgerlichem Namen Azad Sabri, ist geplatzt. Das Landgericht hat die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Die Anwälte des Beschuldigten haben Beweisanträge gestellt, aus denen eindeutig hervorgeht, dass sich Sabri zum Tatzeitpunkt nicht in der Wohnung des Opfers aufgehalten haben konnte. Er hat somit ein wasserdichtes Alibi, das nicht nur auf Zeugenaussagen von Angestellten seines Bordell-Clubs basiert, sondern auch von zwei anwesenden, glaubwürdigen Kunden bestätigt wird. Die Staatsanwaltschaft behält sich gegen diesen Beschluss sofortige Beschwerde vor.“

Kilian zerknüllte die Zeitung und warf sie verärgert zu Boden. „Sämtliche Zeugen sind gekauft oder eingeschüchtert. Jeder weiß das, selbst der Richter. Doch niemand tut etwas dagegen. So bleiben Kapitalverbrechen ungesühnt. Der Staat klärt lieber Bagatellvergehen seiner Bürger auf, an denen er gut verdienen kann. Wehe man parkt mal verkehrt oder vergisst Nebeneinkünfte bei der Steuer anzugeben. Sofort flattern einem die Strafbescheide nur so ins Haus. Dieser sogenannte Rechtsstaat ist das Paradies der Kriminellen.“

Kilian leerte den Rest aus seiner Kaffeetasse. „Sag du doch auch mal was dazu, Louise.“

Bewaffnet mit einem Handstaubsauger, führte die ihm seit dreißig Jahren Angetraute inzwischen einen erbitterten Vernichtungskrieg gegen die auf dem Frühstückstisch verstreuten Brotkrümel. „Warum regst du dich so darüber auf Jakob? Du kannst doch nichts dagegen tun. Sicher ist alles nach Recht und Gesetz gelaufen. Denk lieber daran, dass du in fünf Minuten los musst.“ Mit diesem abschließenden Statement, das keinen Widerspruch duldete, entfernte sie sich in andere säuberungsbedürftige Bereiche der gemeinsamen Dreizimmerwohnung um ihren immerwährenden Kampf gegen Staub, Schmutz und sonstige unerwünschte Ablagerungen fortzusetzen.

Kilian erhob sich nur widerwillig – heute wäre er lieber zuhause geblieben – um seiner Tätigkeit als Mitarbeiter des Sicherheitsbeauftragten in den Tanzenden Türmen, einem Bürokomplex am Eingang zur Reeperbahn in St. Pauli, nachzugehen. Zumindest hatte er Louise das erzählt, und sich dadurch eine Rückzugsmöglichkeit sowie täglich zehn Stunden persönlicher Freiheit erkauft. Er gab ihr monatlich fünfzehnhundert Euro seines angeblich im Drei-Schicht-Betrieb verdienten Gehalts. Dadurch blieb er nicht nur unbehelligt von argwöhnischen Fragen, sondern wurde auch noch daran erinnert ja nicht zu spät zu kommen.

Tatsächlich zahlte er diese Summe aus den Erträgen eines Deals, den er vor vielen Jahren gemacht hatte. Es war ihm seinerzeit gelungen durch ein nicht völlig legales Geschäft, eine erhebliche Summe Bargeld zu erwerben und erfolgreich an Steuer und Louise vorbei zu schleusen. Diese Vorgehensweise schien ihm die beste, weil sowohl seine Ehefrau als auch der regierende Bürgermeister dazu neigten sein Geld für unkontrolliertes Shoppen überflüssiger Gebrauchs- und Konsumgüter beziehungsweise für das scheinbare Wohl und Gerechtigkeits-empfinden eigener Wählergruppen auszugeben. Aus Sicher- heitsgründen verzichtete er auf mögliche Zinseinnahmen und hatte das Geld in einem Bankschließfach deponiert. Da es sich um eine wirklich erhebliche Summe handelte, überlegte er anfangs noch, für einen Teil des Betrages ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen. Er hatte diesen Gedanken jedoch schnell wieder verworfen, als er an die bohrenden Fragen Louises dachte: Woher hast du das viele Geld, Jakob? Ist es auch ehrlich erworben? Hast du im Lotto gewonnen? Warum erzählst du mir eigentlich nie etwas?

Wahrscheinlich würde der Staat auch noch wissen wollen, wieso er eine fünfhunderttausend Euro Immobilie cash bezahlen konnte, wo doch in seinen bisherigen Steuererklärungen derartige Summen nie aufgetaucht waren.

Den endgültigen Ausschlag ergab jedoch seine Überlegung, dass ein Tag lediglich vierundzwanzig Stunden hatte. Zehn Stunden davon war er ‚beruflich‘ abwesend. Sechs bis sieben Stunden schlief er, bevor ihn die senile Bettflucht ins Bad trieb. Durchschnittlich zwei Stunden täglich verbrachte er mit Skat-, Kegel-, und sonstigen Abenden. Die eventbedingten Abwesenheiten Louises und seine eigenen Arztbesuche hatte er bei dieser Rechnung noch völlig außer Acht gelassen. Für die verbleibenden vier bis fünf Stunden trauten, heimischen Beisammenseins, oft noch in Begleitung staubsaugender Elektrogeräte, kauft doch kein vernunftbegabter Mensch eine derartig teure Unterkunft, war denn auch seine unwiderrufliche Überlegung zu diesem Thema. Er hatte sich also gegen einen Kauf entschieden und beschlossen bis zu seinem, hoffentlich noch nicht so baldigen, Ende, in seiner Bramfelder Mietwohnung im Nordosten Hamburgs wohnhaft zu bleiben.

Darüber hinaus hatte er einen weiteren Entschluss gefasst. Er wollte noch einmal eine wirklich große Sache in Angriff nehmen, denn es gab einiges zu korrigieren in diesem Staat, in dem immer nur die Kleinen pünktlich ihre Steuern zahlten und mit Buß- und Strafgeldern gemaßregelt wurden. Mit seinen sechzig Jahren würde er nicht mehr sehr viele Gelegenheiten bekommen, etwas wirklich Nützliches für die Allgemeinheit zu tun. Daher wollte er einige krasse Fehlentwicklungen im menschlichen Zusammenleben, in der Strafverfolgung, Steuerbemessung und -durchsetzung berichtigen, wozu die Hüter von Recht und Gesetz, Polizei und Justiz, offensichtlich nicht in der Lage waren, obgleich sie doch dafür bezahlt wurden.

Er hatte nicht vor sich in deren Belange einzumischen, wollte aber für Gerechtigkeit sorgen, ein Begriff, den sozialistische Politiker regelmäßig, kurz vor den Wahlen aus der Kiste kramten, wenn es darum ging durch Neidkampagnen ihre unterprivilegierte Wählerschaft zu mobilisieren.

Nach seiner Frühpensionierung war er das erste halbe Jahr zuhause geblieben, was ihn jedoch fast in den Wahnsinn sowie in den Alkohol getrieben hatte. Auch zur Freude Louises war es ihm dann gelungen seine fiktive Tätigkeit in den Tanzenden Türmen aufzunehmen, die ihm so gut gefielen, da sie mit ihrer geknickten Fassadenkonstruktion ein tanzendes Paar darstellen sollten, das sich im Tangoschritt bewegte. –

Nachdem er sich von Louise verabschiedet hatte ging Jakob Kilian mit einer Aktentasche in seiner Linken zur Busstation, direkt vor ihrer Haustür. Die Tasche, in der sich auch sein Laptop befand, verlieh ihm eine gewisse, geschäftliche Seriosität, so wie der Schlips, den er sich immer wieder unwillig um den Hals schlang. Da er wusste, sie würde hinter der Gardine stehen um seine Abfahrt zu kontrollieren, stieg er, ohne noch einmal hochzublicken, in das vor ihm haltende Fahrzeug, obgleich er öffentliche Verkehrsmittel hasste. An der ersten Haltestelle verließ er dann auch den Bus und wechselte auf die andere Straßenseite zu einem Taxistand. Er wies den Fahrer an, ihn nach St.Pauli zu bringen. Danach lehnte er sich in die Polster zurück und fühlte sich erst wieder wohl, als er sich die Krawatte vom Hals gerissen und in der Tasche verstaut hatte.

An der S-Bahn Station Reeperbahn verließ er den Wagen und machte sich auf in die Große Freiheit, wo Kurden-Paul einen Club besaß, in dem er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Zumindest hatten das die Medien behauptet, die den Fall schon seit Wochen kommentierten.

Wie immer sahen Straßen und Etablissements des größten Hamburger Vergnügungsviertels zu dieser frühen Stunde erbärmlich aus. Der müllschluckende Wagen der Stadtreinigung vermittelte noch den vertrauenswürdigsten Eindruck. Kilian stoppte vor einem Hauseingang, der direkt gegenüber Kurden-Pauls Club lag. Er drückte einen Klingelknopf der obersten Etage, mit der Aufschrift Gerda + Laura Schmidt. Die Sprechanlage schien nicht zu funktionieren. So stieg er, nachdem der Summer ertönt war, auf der knarrenden Holztreppe bis in den dritten Stock. Eine aufgeweckte Brünette hielt bereits nach ihm Ausschau als er sich die letzten Stufen hochquälte. Er zauberte ein Sonntagslächeln in seine Gesichtszüge und wurde zu seinem Erstaunen sofort hereingebeten, als er von einem interessanten Angebot sprach, das er zu machen hatte. In der Wohnung tauchte plötzlich ein weiteres weibliches Wesen auf, ein eher sportlicher Typ, das ihn argwöhnisch betrachte, dessen Züge sich aber verklärten, nachdem er wohl als harmlos eingestuft worden war. Das wird Gerda sein, schoss es Jakob durch den Kopf, da er Laura bereits der Brünetten zugeordnet hatte.

Man bat ihn in einem Wohnzimmer Platz zu nehmen, dessen Einrichtung komplett aus einem Ikea-Katalog stammte. Insbesondere an die Billy-Regale konnte er sich noch gut erinnern, da er sie selbst einmal besessen hatte.

Nachdem er zehn Minuten auf die Wohnungsinhaberinnen eingeredet hatte, wobei er beiläufig einige 500 Euro Noten vor sich auf den Tisch legte, war es ihm ohne große Mühe gelungen, dieses Zimmer, mit Blick auf die Große Freiheit, für drei Wochen zu mieten. Immer nur für acht Stunden täglich im wöchentlich wechselnden 3-Schicht Zyklus. Das lesbische Pärchen war so schnell einverstanden, dass er sicher war zu viel bezahlt zu haben. Er bestand auf einem eigenen Wohnungsschlüssel, erklärte, der erste Tag würde jetzt sofort beginnen und bezahlte die Miete im Voraus. Nachdem man ihm noch die Toilette gezeigt hatte, setzte er sich ans Fenster und konzentrierte sich auf den Eingang zu Kurden-Pauls Nutten-Tempel. Er fotografierte jede Person die dort ein und aus ging, bei Ankunft und Verlassen des Lokals, und notierte akribisch die entsprechenden Uhrzeiten. Erstaunt war er über den regen Lieferverkehr mit der großen Anzahl von Fahrzeugen, die vor dem Club hielten. Produkte wie Getränke aller Art, Feinkostartikel sowie Kartons deren Inhalt er nicht identifizieren konnte wurden hereingetragen. Ein Wäscheservice lieferte saubere Handtücher und Bettwäsche. Als aus einem Ford-Kombi zwei arabisch anmutende Gestalten stiegen und mehrere aufgerollte Teppiche ins Haus trugen, empfand er das doch schon als sehr merkwürdig. Er notierte sich vorsorglich das Kennzeichen des Fahrzeugs. Danach erledigte ein Angestellter der Firma H.G.Müller, Klempnerei und Installation, in siebenundvierzig Minuten erforderliche Reparaturarbeiten. Dann erschien ein schwerbepackter Postbote und verschwand im Eingang.

Jakob, der eben noch darüber nachgedacht hatte ob der Klempnergeselle wohl einen verstopften Abfluss reinigen musste, weil die osteuropäischen Nutten alles was sie nicht mehr benötigten im Lokus entsorgten, war echt erstaunt, als der Briefträger nach knapp drei Minuten, praktisch ohne Gepäck, wieder auftauchte. Sicherheitshalber mache Jakob noch einige Aufnahmen zusätzlich. Gegen 14 Uhr erschienen die ersten Mädchen. Von Gästen und Kunden war bisher noch nichts zu sehen. Punkt 16 Uhr hielt ein schwarzer Rolls Royce Corniche vor dem Club. Der Fahrer stieg aus, öffnete mit einer Verbeugung die hintere Tür und Kurden-Paul erschien auf der Bildfläche. Jakob erkannte ihn sofort. Wochenlang hatte er die Titelseiten der Boulevardpresse verunziert. Die Presse liebte Mörder und gestrauchelte Politiker, weil sie die rückläufigen Auflagen zumindest kurzfristig stabilisierten. Kurden-Paul war das personifizierte Klischee eines Zuhälters. Weißer Maßanzug, schwarzes Hemd, weiße Krawatte. Zweifarbige italienische Schuhe, Sonnenbrille, protzige Ringe an den Fingern, sowie ein Goldkettchen am rechten Handgelenk. Am linken blitzte eine große Uhr, wahrscheinlich eine Rolex dachte Jakob, der eifrig seine Fotos machte. Inzwischen stolzierte Kurden-Paul, in Begleitung zweier bulliger Typen, in seinen Club, in dem ihm ein aufmerksamer Angestellter diensteifrig die Tür aufriss.

Wahrscheinlich seine Leibwächter, dachte Jakob. Da ihn der Hunger plagte, entnahm er seiner Aktentasche einige Pausenbrote, die ihm Louise in wiederverwertbares Pergamentpapier gewickelt hatte. Während er sämtliche Aufnahmen auf seinen PC kopierte, betrachtete er, wurstbrotkauend, zufrieden die fotografische Ausbeute des heutigen Tages. Um 17 Uhr verließ er die Wohnung, begab sich auf die andere Straßenseite und betrat das Etablissement Kurden-Pauls.

Azad Sabri erinnerte sich immer wieder gerne an seine beruflichen Anfänge in diesem Land. Angelockt durch die glitzernde Konsumwelt war sein Vater mit der Familie in den Westen gezogen. Für die erste Zeit wollte man Verwandte aufsuchen, die bereits länger in Deutschland lebten. Sie sprachen neben türkisch auch alle fließend arabisch, da sie aus der Gegend um Mardin stammten, im Südosten der Türkei, nahe der syrischen Grenze. Gemeinsam mit seinen Eltern und drei Schwestern war er 1992 im Hamburger Flughafen in die Bundesrepublik eingereist. Beim Grenzschutzamt hatten sie einen Asylerstantrag gestellt. Ihre türkischen Reisedokumente wurden einbehalten und man verwies sie zur Fortführung des Asylverfahrens an die Hamburger Ausländerbehörde. Sein Vater dachte jedoch nicht daran dieser Aufforderung nachzukommen und umging auch die erkennungsdienstliche Behandlung. Sie reisten vielmehr nach Berlin, wo ihre Verwandten wohnten, und begaben sich zu der dortigen Ausländerbehörde, wo sie unter anderem Namen einen zweiten Asylantrag als Staatenlose stellten. Durch diese Weitsicht seines Vaters verfügten sämtliche Mitglieder der Familie, jetzt über zwei unterschiedliche Identitäten und bezogen doppelte staatliche Sozialleistungen. Inzwischen hatte man sich mit zwei anderen Familien zusammen getan und lebte als Clan in Neukölln. Innerhalb dieser Gemeinschaft herrschte eine bedingungslose Solidarität, sowie eine extreme Abgrenzung gegenüber Fremden. Jeder, der nicht zum Clan gehörte war ein potentieller Feind. Das begann mit der deutschen Polizei. Die Gesetze die sie durchsetzen wollte, waren für die Clan-Mitglieder ohne jede Bedeutung. Selbst die Kinder hatten das bereits begriffen und fürchteten mehr den Zorn ihrer eigenen Leute als die Drohungen der uniformierten Bullen.

Azad Sabri war stolz auf seine Familie. Sämtliche Mitglieder trugen zum gemeinsamen Einkommen bei. Selbst die jüngsten, strafunmündigen, leisteten ihren Beitrag durch Diebstähle oder Einbrüche. Besonders bewunderte er die jungen Frauen. Sie machten sich die krankhafte politische Korrektheit in diesem Land zunutze und verdienten ihr Geld mit angeblichen rassistischen Äußerungen der Opfer, die sie sich ausgesucht hatten. „Er hat mich diskriminiert und Türkensau zu mir gesagt“, schrien sie immer wieder im vollen Supermarkt. Wenn der genervte Filialleiter dann die Polizei holte, musste der Beschuldigte seine Unschuld beweisen. Konnte er das nicht – und wie sollte er auch – musste er einen angemessenen finanziellen Ausgleich bezahlen. Dies schrieb das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vor. Die Frauen pflegten bereits langfristige Kooperationen mit Anwälten, welche die Entschädigungen und ihre Honorare eintrieben.

Was für wunderbare Gesetze, dachte Azad gerührt. Die Einnahmen aus diesem Geschäft stiegen jährlich mit zweistelligen Zuwachsraten. Er selbst handelte, wie die meisten männlichen Clan-Mitglieder auch, mit Rauschgift und mit Frauen. Daher war er auch nie eine feste Beziehung eingegangen. Er wollte sich genau so wenig von ihnen abhängig machen wie von seinen Amphetaminen die er mit großem Gewinn verkaufte. Im Übrigen hatte ihn sein Vater wissen lassen, dass, wenn die Zeit gekommen sei, er ihm eine standesgemäße Frau zuführen würde, mit der er eine Familie gründen könnte.

Zuerst hieß es jedoch, die Geschäfte des Clans auf eine breitere Basis zu stellen. In den neunziger Jahren hatte ein regelrechter Krieg zwischen den Albanern und seinen Landsleuten um die Vorherrschaft in der Hamburger Rotlichtszene, sowie auf dem Drogenmarkt getobt, aus dem leider die Albaner als Sieger hervorgegangen waren. Inzwischen war das ganze Quartier etwas zur Ruhe gekommen. Mit Unterstützung seines Clans hatte er es dann auch riskiert Berlin zu verlassen und eine Filiale in Hamburg zu eröffnen. Ihm war jedoch klar, dass er sich keinen Fehler leisten durfte. So hatte er sich von Beginn an mit zwei Leibwächtern umgeben, die sich vierundzwanzig Stunden täglich in seiner Nähe aufhielten.

Eigentlich hatte er also keinen Grund mit seinem Leben nicht zufrieden zu sein. Wäre sein Vater nicht migriert, würde er sich jetzt bei der Feldarbeit für einen Hungerlohn das Rückgrat ruinieren. Er war daher auch fest entschlossen seinen erkämpften Besitzstand mit Zehen und Klauen zu verteidigen, obgleich er große Teile seines Gewinns an den Clan nach Berlin abführen musste. Aus diesem Grunde hatte er auch diesen Kosovo-Wichser, der doch tatsächlich gemeint hatte ihn mit einer halben Million aus dem Geschäft drängen zu können, in dessen Badezimmer liquidiert. Er war in seine Wohnung eingedrungen und hatte ihm dreimal in den Kopf geschossen. Als er das Haus verließ musste ihn jemand gesehen haben. Glücklicherweise hatten gekaufte Zeugen die Wahrheitsfindung jedoch in seinem Sinne beeinflusst. Was für ein gesegnetes Land dies doch war. Man gab einigen Leuten ein wenig Geld und schon war man vor der Strafverfolgung sicher. Überhaupt, wer nicht mit blutigem Messer in der Hand neben der noch krampfhaft zuckenden Leiche erwischt wurde, für den galt die Unschuldsvermutung. Warum haben wir zuhause so etwas nicht, war sein letzter Gedanke zu dieser nostalgischen Rückschau, bevor er sich wieder dem Tagesgeschäft zuwandte.

Nachdem er kurz die Zimmer inspiziert hatte überflog er die Einnahmen des letzten Tages. Der Umsatz der Mädchen war weiterhin rückläufig. Was waren das bloß für Zeiten als es noch kein Aids gab, dachte er. Heute kamen die ausländischen Touristen nur noch zum Glotzen. Sie bestellten einen Drink, geilten sich auf und vögelten dann später im Hotel ihre Alte. Er hatte etwas gegengesteuert indem er die Getränkepreise kräftig erhöhte. Zurzeit arbeiteten zwölf Mädchen für ihn. Zehn im Club und zwei auf der Straße. Überwiegend waren es Bulgarinnen, es gab aber auch Tschechinnen und Polinnen, deren Pässe alle in seinem Safe lagen.

Um die Umsatzflauten etwas auszugleichen, hatte er für jedes Mädchen ein Drogenkonto eingerichtet. Er zwang sie, täglich eine bestimmte Menge abzunehmen, die sie sofort zu bezahlen hatten. Ob es ihnen dann später gelang diesen Stoff an ihre Freier zu verkaufen, ob sie ihn selbst konsumierten oder bei Polizeirazzien durch die Toilettenspülung entsorgten, war dann nicht mehr sein Problem.

Gestern hatten diese faulen Weiber gerade mal knapp achttausend Euro angeschafft. Vor einiger Zeit hatte er jeder noch Strafe angedroht die nicht mindestens einen Tausender ablieferte. Er überlegte kurz, ob er sie verprügeln lassen sollte, so wie die Rocker es machten, wenn der Umsatz nicht stimmte, verwarf diesen Gedanken dann aber wieder.

Am meisten brachten noch die drei Minderjährigen, die den Club nicht betreten durften und in ihren Zimmern einer speziellen Kundschaft zur Verfügung standen. Er beschloss sich von seinen beiden Straßenstrich-Mitarbeiterinnen zu trennen. Er kannte auch einen Rocker der Hells Angels, der nach dem Verbot dieser Organisation immer in Zivil und ohne seine Kutte unterwegs war. Der war bereit ihm zwanzigtausend Euro pro Stück zu bezahlen. Das Geld würde er in den Ausbau seines Drogenvertriebs investieren. Gegenwärtig beschäftigte er neun Dealer, die seine Ware an eine anonyme Kundschaft verteilten. Es gab aber auch Großkunden, welche die Ware direkt bei ihm bezogen. Darunter waren Leute die professionell Partys und andere Veranstaltungen organisierten, Diskothekenbetreiber, sowie ein völlig kaputter Typ, der sich als Event-Manager bezeichnete.

Azad achtete immer darauf bei diesen Geschäften persönlich nicht anwesend zu sein. Das überließ er seinen Leibwächtern. Im war auch klar, dass er nach seinem spektakulären Sieg über die Staatsmacht die Polizei sehr verärgert haben musste und mit vermehrten Razzien zu rechnen war. Er hatte daher ein absolutes Dope-Verbot angeordnet. Sein Klub war clean. Die Kundschaft wurde direkt von den Außenlagern beliefert.

Der Drogenhandel hatte sich insgesamt sehr positiv entwickelt. Das Sortiment vergrößerte sich ständig und war dazu Modetrends unterworfen. Auch verlangte jeder Vertriebskanal nach einer anderen Produktpalette. Während in Discos die billigen, aufputschenden Mittel wie Speed, Ecstasy, Crystal Meth oder Vanilla Sky bevorzugt wurden, waren im Straßengeschäft die Cannabisprodukte Haschisch und Marihuana unverzichtbar. Sorgen bereitete ihm lediglich der stetige Anstieg der Konsumenten, die Legal Highs in Onlineshops im Internet einkauften.

Azad erledigte die Buchhaltung immer noch selbst, obgleich sein Vater ihm geraten hatte einen professionellen Buchhalter einzustellen. Lediglich die jährliche Steuererklärung überließ er der Clan-Zentrale in Berlin. Im letzten Monat hatte er eine dreiviertel Million eingenommen, was nicht sehr viel war, wenn man an die Aufwendungen für Personal, Miete und sonstige Betriebsausgaben dachte. Hinzu kamen noch die Bestechungsgelder, die er privat, aus eigener Tasche bezahlen musste. So hatte das Berlin entschieden. Ihm blieb daher nach Abzug aller Kosten, gerade mal ein Nettogewinn von rund sechshunderttausend Euro, den er auch noch mit Berlin teilen musste. Auf diese Weise würde es ewig dauern bis er sich aus dem operativen Geschäft zurückziehen konnte. Im letzten Jahr hatte er dreieinhalb Millionen verdient. Wenn er das verglich mit den Einkünften gewisser Fußballer und Rennfahrer fühlte er sich als ausgesprochen armes Würstchen.

***

Da Jakob sich bereits im Internet einen Eindruck von Pauls Club verschafft hatte, wusste er in etwa was ihn erwartete. Eine einzigartige und aufregende Atmosphäre mit beeindruckender Einrichtung und entspannender Musik versprach die Website, sowie haufenweise hübscher Mädchen aus aller Herren Länder mit unglaublichen Rundungen, die wirklich jedem ausgefallenen Wunsch des Gastes nachkamen. Weiter gab es eine Lounge, in der man mit den Mädchen ins Gespräch kommen oder sich auch gleich mit einem oder mehreren von ihnen in eines der luxuriösen Zimmer zurückziehen konnte. Es existierten Duschen, Bäder und Whirlpools. Die Besucher konnten zwischen den privaten Räumen und dem Bar- und Dancebereich hin und her pendeln. Für die Sicherheit der Gäste und Mädchen sorgte ein zuverlässiges Security-Team, das tatsächlich ein Schlägertrupp war, der jeden zahlungsunfähigen Gast in seine Bestandteile zerlegte. In regelmäßigen Abständen fanden Attraktionen wie Karaoke- und Striptease-Shows sowie Pole-Dancing im Club statt. Die Website verschwieg, dass jedes der Zimmer videoüberwacht war, eine technische Einrichtung die Paul, besonders bei prominenten oder auch nur wohlhabenden Kunden, regelmäßig hübsche Nebeneinnahmen bescherte.

Trotz seiner Vorabinfos war Jakob überwältigt vom Schock der auf ihn einstürzenden, ungewohnten Sinneseindrücke. Insbesondere der abrupte Wechsel vom Übergang aus der tiefstehenden Nachmittagssonne in die abgedunkelte, purpurfarbene neue Umgebung, machten es ihm schwer überhaupt etwas wahrzunehmen. Er rieb sich die Augen und stammelte etwas, das sich, zumindest in seinen Ohren, wie `Getränk in der Lounge` anhörte. Unsichtbare andere schienen es jedoch ebenfalls vernommen zu haben, denn sichere Hände führten ihn durch dieses orgiastische Chaos, bis er sich plötzlich in einem bequemen Sessel wieder fand und seine Umwelt zu erkennen begann. Den unmittelbarsten Eindruck vermittelte ihm eine, wirklich nur sehr spärlich bekleidete, weibliche Schönheit, die sich freundlich nach seinem Getränkewunsch erkundigte. Sie schien ihren Job noch nicht sehr lange zu machen, denn sie beugte sich derart ungeschickt über ihn, dass eine ihrer beachtenswerten Brüste sein Gesicht streichelte, wodurch ihm die Konzentration schwer fiel. Eigentlich hatte er nur ein Bier bestellen wollen, aber so ließ er sich zu einem Planter‘s Punch, einer Spezialität des Hauses überreden.

Dieses diffuse Dämmerlicht hat für den Wirt eigentlich viele Vorteile, schoss es ihm durch den Kopf, während er auf sein Getränk wartete. Kein Gast war in der Lage die Preise auf der Getränkekarte zu lesen und selbst fünfzigjährige Nutten konnten hier noch als knackige Mitzwanzigerinnen für das Wohl des Hauses tätig sein. Er fragte sich eben wann man wohl Kontakt zu ihm aufnehmen würde und ob zuerst sein Getränk käme oder die erste Braut, die dann natürlich nur Schampus trinken würde. Ihm war klar, dass er inzwischen knallhart eingeschätzt wurde. Wahrscheinlich halten sie mich für einen alten Bauern, der extra ein Schwein verkauft hat um in der großen Stadt mal etwas zu erleben, und der schon früh kommt um den letzten Zug in sein ödes Kaff nicht zu versäumen.

„Hallo Süßer“, unterbrach eine rauchige Stimme seine Überlegungen, „ich bin die Bianca.“ Er sah auf. Selbst bei diesem Licht war keine Täuschung möglich. Ich bin der Bauer, dachte er und grinste freundlich in zwei glanzlose Augen, die ihn illusionslos aus einem verlebten Gesicht anstarrten. Ihm wurde fast übel bei dem Gedanken welche Unmengen aufgegeilter, alkoholisierter, durchschwitzter und stinkender Männer wohl schon in sie eingedrungen waren. Wahrscheinlich musste sie die Schrottkundschaft bedienen, für die sich die anderen zu schade waren.

„Willst du mich nicht?“ Ihr stark geschminktes Gesicht überzog sich mit dumpfer Hoffnungslosigkeit. „Ich schick dir dann die Claudia.“ Sie erhob sich zögernd.

„Nein, nein!“ Jakob erwachte aus seiner Starre. „Bleib sitzen. Was willst du trinken?“

„Darum geht es nicht. Ich darf nur Champagner ansagen.“

„Na klar, nur zu.“

Sie winkte müde mit einer Hand, und wie aus dem Nichts, standen die Getränke vor ihnen.

„Gehen wir später aufs Zimmer“? fragte sie hoffnungsvoll.

Er zuckte nur mit den Schultern. „Das hängt von dir ab.“

„Wenn du nicht willst muss ich austrinken und wieder verschwinden. Und dann kommen die anderen mit der Rechnung.“

„Wie viel musst du machen damit der Chef bei Laune bleibt?“

„Ich?“ Sie sah ihn verständnislos an. „Du bist heut mein erster Kunde. Diese Getränke“, sie blickte auf die noch unberührten Gläser, „kosten dich `n schlappen Hunderter. Maximal zwei Stunden in der Suite kosten Dich fünfhundert, plus einen Drink pro Stunde für jeden von uns. Wenn du noch mehr Mädchen willst, wird es entsprechend teurer. Nur für uns beiden Hübschen macht das für dich so roundabout, sagen wir mal, gute achthundert. Willst du so viel für mich löhnen?“

Jakob, der sich nicht als Gutmensch profilieren wollte, wich aus. „Ich bin kein Freier, weißt du. Ich schreibe an einem Roman über den Kiez. Hilfst du mir an einige Insider-Infos zu kommen?“

„Worüber?“ fragte sie misstrauisch. „Über Drogen weiß ich nichts.“

„Nein, nur über dich und dein Leben, sonst nichts.“

„Ehrlich?“ Bianca schien völlig überrascht. Noch nie hatte sich ein Mensch für sie und ihre Geschichte interessiert, sich mit ihr länger als nötig unterhalten oder ihre Meinung zu etwas hören wollen. „Gut“, entschied sie dann, „gehen wir nach oben. Sie hielt die Hand auf. „Du musst jetzt bezahlen.“

„Und was?“

„Die beiden Drinks hier und die Suite. Gib mir sechshundert.“

Jakob hatte sich bereits genügend Bargeld lose in die Jackentasche gesteckt, da er es nicht für opportun hielt mit einer gefüllten Brieftasche zu hantieren und dadurch im Dunkeln lauernde Begehrlichkeiten zu wecken.

„Ich bin gleich wieder da.“ Sie verschwand blitzschnell mit dem Geld in Richtung Tresen, ohne ihren Champagner auch nur angerührt zu haben. Also darf ich sie nicht nach Drogen und Kurden-Paul fragen, dachte er, zumindest nicht in der ersten Stunde. Während er noch überlegte womit er beginnen sollte, diese Schriftstellernummer war ihm eben erst spontan eingefallen, zog sie ihn auch schon aus seinem Sessel. „Komm mit.“

„Warte die Drinks.“

„Getränke dürfen von hier unten nicht mit auf die Zimmer genommen werden.“

„Was hast du denen erzählt?“

„Nichts über uns.“ Sie ging vor ihm her und stieg schließlich auf einer engen, knarrenden Holztreppe in den 1. Stock. So musste er zwangsläufig und ungewollt ihre immer noch sehr schönen Beine bewundern.

„Gefallen sie dir?“ fragte sie spöttisch und ohne sich umzudrehen.

„Sehr“, antwortete er wahrheitsgemäß und fand sie zum ersten Mal sympathisch. Dies ist nun also eine Sexarbeiterin, dachte er belustigt, wie die Nutten heute von den politisch korrekt formulierenden Schwachköpfen genannt wurden. Ich bin wirklich sehr gespannt, was sie mir zu erzählen hat. Soweit er sich erinnern konnte, war er früher eigentlich nie in einem Puff gewesen. Obgleich er da auch so seine Zweifel hatte, denn einige ‚Geschäftsessen‘ hatten doch in einem sehr lockeren Ambiente stattgefunden. Mehrere Teilnehmer hatten sich dabei auffällig lange aus dem gemeinsamen Kreis entfernt, bevor sie, leicht verlegen, zu den anderen zurückkehrten. Er war eigentlich immer mit der geringen erotischen Ausstrahlung Louises zufrieden gewesen, obgleich es ihn manchmal gestört hatte, dass sie nach dem beiderseitigen Höhepunkt darauf bestanden hatte das Bettlaken zu wechseln. Aus hygienischen Gründen, hatte sie ihm erklärt. Anschließend ging sie ins Bad um an sich eine intime Spülung vorzunehmen, wonach sie für weitere Zärtlichkeiten nicht mehr empfänglich war, da sie ihre ehelichen Pflichten bereits erfüllt hatte.

„Wir sind da.“ Biancas Stimme riss ihn aus seinen Träumereien. Sie blieb vor der Tür stehen. „Ich hab denen nicht gesagt, dass du kein Freier bist und nur mit mir reden willst. Das hätte mir sowieso keiner geglaubt. Nur Claudia weiß das. Sie war mir noch einen Gefallen schuldig und hat das Aufnahmegerät für unsere Suite abgestellt.“

„Welches…? Jakob sah sie fassungslos an. „Heißt das ihr macht Videos von den Gästen?“

„Das machen sie doch alle. Selbst im Supermarkt.“

„Werden wir auch abgehört?“

„Nein, wir ganz bestimmt nicht.“

„Wer ist Claudia? Kannst du ihr trauen?“

„Sie ist meine beste Freundin. Die wollte ich zu dir schicken, als ich dachte du willst mich nicht. Leider macht sie manchmal großen Scheiß, weil sie voll auf Droge ist.“

„Warum erzählst du mir das überhaupt?“

„Weil du sechs Scheine bezahlt hast, nur um mit mir reden zu können.“ Sie öffnete die Tür. „Komm rein, hier sind wir ungestört.“

Jakob stellte enttäuscht fest, dass diese sogenannte Suite, ziemlich einfallslos in das gleiche überquellende Rot getaucht war. Die Fenster waren verhangen; Tageslicht verpönt. Wahrscheinlich war dies einst das Wohnzimmer einer fleißigen Handwerkerfamilie. Auch eine Form der Gentrifizierung.

„Gefällt es dir nicht?“ Bianca schien mit dem Siebten Sinn ausgestattet. „Wir haben auch noch einen Blauen Salon.“

„Doch, doch. Ich hatte mir nur unter einer Suite etwas anderes vorgestellt.“

„Menschliche Vorstellungen sind häufig realitätsfern.“

Er sah sie verblüfft an, sagte aber nichts. Mit diesem aktiven Wortschatz konnte sie bei jedem bürgerlichen Weibertreff eine Führungsrolle übernehmen.

„Gib mal `n Hunni.“ Sie hielt ihm eine Hand hin. „Wir müssen was ordern.“

Als sie schließlich in den unbequemen Sesseln saßen, nur das King-Size-Bett sah einladend aus, und sich zuprosteten, sie mit ihrem Champagner, der real Aldi-Sekt war, und er mit seinem doppelten Gin Tonic, begann sie, ihm von sich zu erzählen. Er hatte eigentlich nur die übliche Geschichte einer zerrütteten Familie mit flüchtigem Vater und alkoholabhängiger Mutter erwartet, wodurch sie schon als Kind auf die Straße und in die Prostitution getrieben wurde. Doch nichts dergleichen geschah.

„Wir dürfen nicht vergessen, nachher noch das Bett zu zerwühlen“, begann sie, „glatte Kissen machen immer einen sehr verdächtigen Eindruck.“ Sie sah ihn achselzuckend an. „Willst du mir Fragen stellen oder soll ich einfach so losquatschen?“

„Fang mal an. Fragen stell ich dir später.“

„Na gut. Wie du willst.“ Bianca atmete tief ein und aus. „Ich bin in einer Jugendstilvilla in Paderborn aufgewachsen. Meine Eltern waren ultrakonservativ und betrachteten mich als Höhere Tochter, die…“ -sie unterbrach sich plötzlich- „sag mal, weißt du überhaupt was das ist? Und wie soll ich dich eigentlich nennen? Wir machen hier schließlich nicht nur eine schnelle Nummer.“

Jakob unterdrückte nur mühsam seinen Ärger darüber, dass eine, im Vergleich zu ihm, noch junge Frau ihn auf diese Weise ansprach. Nicht einmal Louise hätte sich das getraut. „Ich heiße Jakob“, antwortete er jedoch beherrscht, „und ich weiß was eine Jugendstilvilla ist, wo Paderborn liegt und mit einer Höheren Tochter bin ich seit über dreißig Jahren verheiratet.“

„Tschuldigung, Jakob. Aber ich habe noch nie darüber gesprochen. Es ist für mich wie eine Zeitreise zurück in meine Kindheit.“ Sie leerte ihr Glas in einem Zug.

„Bestell dir gern noch was“, ermunterte er sie.

„Vielleicht später. Ich wurde also von jeder Arbeit freigestellt, denn meine einzige Aufgabe bestand darin, einmal eine gute Hausfrau, Gattin und Mutter zu werden. Darauf war meine ganze Erziehung und Schulbildung ausgerichtet. Ich war sogar zwei Jahre in einem Mädchenpensionat in der Schweiz. Als ich zurück kam musste ich Bälle, Abendgesellschaften und Kränzchen besuchen. Anfangs wusste ich nicht, warum das alles, bis mir endlich ein Licht aufging. Man wollte mich unter die Haube bringen.“

„Und dann bist du irgendwann ausgebrochen“, fuhr ihr Jakob in die Parade, der Geschichten über Paderborn noch nie als sehr aufregend empfunden hatte.

„Ja. Plötzlich gab es da einen Typen aus verbürgerlichtem Adel, dem ich immer häufiger begegnete. Unsere Eltern hatten das arrangiert. Dabei konnte ich den Kerl nicht leiden. Die Vorstellung für diese Knalltüte im Ehebett die Beine breit machen zu müssen, damit er dann später im Golfklub mit seiner Männlichkeit prahlen konnte, hat mich wahnsinnig gemacht. Stell Dir vor Jakob, dieser Mann war fast doppelt so alt wie ich und hatte in seinem Leben nie etwas gearbeitet. Dass sich so jemand überhaupt reproduzieren darf. Ich wollte jedenfalls nicht die Brutmaschine sein. Also hab ich mich abgesetzt. Bei Nacht und Nebel, wie es so schön heißt. Sag mal, gibst du noch einen aus?“

„Hab ich doch schon gesagt.“

„Ich kann aber diese Prickeljauche nicht mehr vertragen.“

„Hier, nimm meinen Gin Tonic, der hat etwas mehr Body.“

Sie bediente sich augenblicklich. „Oh, das tut gut. Privat trinke ich meist Pernod.“

„Dann haben wir einen ähnlichen Geschmack. Ich bevorzuge Ouzo. Was hältst du davon, wenn wir uns nächstes Mal in einer Kneipe oder Cafe treffen. Ich zahle dir dann dreihundert und die Zeche. So haben wir beide etwas davon. Oder kannst du hier nicht raus?“

„Aber klar doch, das können wir alle, nur die Kleinen…“ Sie hielt sich den Mund zu und sah erschrocken auf die Kristalllampe über dem Bett.

„Haltet ihr Kinder vor, für die Pädophilen?“

Sie nickte verlegen. „Bitte, sag niemandem etwas, sonst bin ich tot.“

„Keine Sorge, das ist für mich auch nicht weiter interessant“, log er. „Alle anderen können aber raus?“

„Ja, selbst die aus Osteuropa, die sich praktisch nie waschen. Paul hat ihre Papiere kassiert. Sie kommen immer wieder.“

„Deine auch?“

„Was?“

„Papiere.“

„Nein, ich könnte mir ja problemlos neue besorgen.“

„Aber du bleibst trotzdem?“

„Ja. Hier geht es mir gut. Ich werde fast nie geschlagen und darf mich immer noch um die Kundschaft kümmern.“

Wie viele habt ihr von den Kleinen?“

„Ich denke, dass interessiert dich nicht?“

„Nur so am Rande.“

Sie hielt drei Finger hoch und sah ihn traurig an. „Zwei Jungs und ein Mädchen. Weißt du, ich habe heute keine Lust mehr. Lass uns aufhören. Wenn du willst, treffen wir uns Morgen, da ist mein freier Tag, im Captain`s Dinner. Wir sind da ungestört. Weißt du wo das ist?“

„Irgendwo an den Landungsbrücken.“

„Ja, Brücke drei.“

„Und wann?“

„Nicht so früh. Ich muss endlich mal wieder ausschlafen.“

„Neun Uhr abends?“

„Geht klar.“

Während sie bereits das Bett zerwühlte, sagte er noch: „Dreihundert für zwei Stunden plus Essen und Getränke satt.“

Sie nickte nur abwesend.

***

Louise war von ihren Eltern dazu erzogen worden, ihrem zukünftigen Mann eine gute Frau zu sein. Dieser Verpflichtung war sie auch ihr ganzes Eheleben nachgekommen. So hatte sie sich ihm nie verweigert wenn er Verlangen nach ihr verspürte, was glücklicherweise in der letzten Zeit immer seltener der Fall war. Sie bekochte ihn und hielt seine Kleidung sowie die Wohnung sauber. Was konnte ein Mann schließlich mehr verlangen? Sie hatte sogar zugestimmt als er mit ihr, aus Kostengründen, in dieses fürchterliche Quartier gezogen war. Ein Arbeiterviertel, das geprägt war durch eintönige Massenbauten sozialer Wohnungsbaugesellschaften.

Wenn es sich ergab, unterhielt sie sich auch mit ihm, doch fast immer nur über Tagesereignisse, die durch Zeitungen, Radio und Fernsehen auf sie einströmten. Jakob vertrat dabei regelmäßig eine konträre Meinung zu den Ansichten, welche die Schreiberlinge und Kommentatoren dieser Mainstream Medien verkündeten. Er beschimpfte diese häufig lauthals, was sie eigentlich nie so richtig verstanden hatte, da die Beleidigten doch nichts davon mitbekamen. Sie akzeptierte es schließlich als eine Marotte von ihm und war im Grunde froh, dass diese Aggressivität sich nicht gegen sie richtete, was in anderen Ehen durchaus nicht unüblich war, wie sie von einigen Freundinnen wusste.

Durch dieses pflichtbewusste Verhalten hatte sie sich eine sorgenfreie Existenz gesichert, in der nie von finanziellen Engpässen oder Trennungsabsichten die Rede war. Leider war sie nicht so schlicht gestrickt, als dass dieses, doch recht ereignislose Leben, sie hätte ausfüllen und glücklich machen können. Da sie auch keine Kinder hatten, um deren Zukunft sie sich sorgen konnte, hatte sie bereits vor längerer Zeit damit begonnen Träume zu realisieren, die ihren angetrauten Gatten Jakob nicht mit einschlossen.

Dieser zwängte sich indessen aus dem Bus, der mit weiteren erschöpften Werktätigen überfüllt war und eilte beglückt seinem trauten Heim entgegen. Wenn er in seine Wohnung zurückkehrte vermittelte er Louise immer den Eindruck, froh darüber zu sein sich endlich wieder in den eigenen vier Wänden aufhalten zu dürfen. Er wusste, diese Anerkennung bestätigte sie in ihrem Tun und gab ihr neue Kraft für die zukünftige Erfüllung ihrer Pflichten. Jakob umarmte sie kurz und ließ sich dann in einen Sessel fallen. „Zuhause ist es doch am Schönsten“, seufzte er zufrieden. „Ach ja, da fällt mir ein, morgen kann ich ausschlafen. Ich muss für einen erkrankten Kollegen einspringen und dessen Nachtschicht übernehmen.“

„Hattest du einen schweren Tag“? fragte sie scheinbar teilnahmsvoll, obgleich sich ihre Gedanken in weiter Ferne befanden.

„Ach Louise, ich bin schließlich nicht mehr dreißig“, antwortete er leicht genervt, womit er weder sich noch ihr neue Einsichten vermittelte. Als sie später ins Bett gingen, schlief er sofort ein, während sie noch lange ihren Träumen nachhing.

***

Kurden-Paul wusste nicht so recht ob er mit dem Tag zufrieden sein sollte oder nicht. Es war ihm zwar gelungen die beiden Bulgarinnen an die Hells Angels zu verkaufen, man hatte ihn jedoch gezwungen einen erheblichen Preisnachlass zu gewähren. Statt der verabredeten vierzig Mille hatte er nur dreißig kassiert. Die Rocker waren zu Dritt in seinem Büro erschienen und verlangten sofort die Ware zu sehen. Er hatte die Frauen kommen lassen, worauf ihr Anführer von ihnen forderte sich sofort auszuziehen. Er kaufe schließlich keine verpackten Ärsche und Titten, hatte er grinsend erklärt. Als die ältere der Beiden dagegen protestierte, hatte er ihr ansatzlos mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, so dass ihr Kopf mit großer Wucht gegen eine Schrankecke geschleudert wurde, und sie besinnungslos zu Boden sackte.

Die Spannung im Raum war augenblicklich spürbar. Seine Bodyguards hatten zu ihren Waffen gegriffen, sie jedoch noch nicht gezogen. Die Hände der Hells Angels verschwanden ebenfalls in ihren ausgebeulten Kuttentaschen.

„Noch gehör‘n sie nicht euch,“ hörte er sich sagen.

„Na und? Paar an die Backen hat noch Keiner geschadet“, hatte der andere geantwortet, worauf sich die Situation wieder entspannte. Nachdem sich die Geohrfeigte mit blutigem und geschwollenem Gesicht aufgerappelt hatte, zogen sich jetzt beide widerstandslos aus und ließen sich von den Rockern begutachten. Der Schläger griff in die vollen Brüste der Jüngeren, die ihn angstvoll anstarrte.

„Ich hab auch schon festere Titten in der Hand gehabt“, sagte er verächtlich und stieß sie in Richtung eines seiner Kumpane. „Popp sie mal.“

Er wendete sich an die anderen im Raum. „Man muss ja schließlich wissen ob sie schon gut zugeritten ist.“

Der so Angesprochene bekam leuchtende Augen. „Komm her du Fotze, mach mir mal den Reißverschluss auf.“

„Gerne, soll ich dir einen blasen? Ich kann das gut.“

„Nein. du sollst Dich auf den Tisch setzen und die Beine breit machen.“

Die gesamten Kaufverhandlungen hatten kaum eine halbe Stunde gedauert. Die Angels hatten moniert, dass die Ware doch schon einen reichlich abgegriffenen und verbeulten Eindruck machte. Eine sei sogar im Gesicht so stark beschädigt, dass an einen Einsatz in der nächsten Zeit nicht zu denken war. Sie hatten schließlich, anscheinend widerwillig, dreißig geboten. Paul hatte akzeptiert und sich gleichzeitig geschworen nie wieder Geschäfte mit den Hells Angels zu machen. Nach der gegenseitigen Geld- und Passübergabe hatte der Spuk ein Ende. Die Käufer zogen mit ihrer Beute ab, die einer ungewissen Zukunft entgegensah.

Abschließend hatte Paul dann noch angewidert einer Putze befohlen seinen Schreibtisch zu säubern.

***

Jakob war angenehm überrascht vom Ambiente im Captain’s Dinner. Klein, gemütlich, mit rosa Tischdecken und gepolsterten Stühlen in der gleichen Farbe. Sie saß weit vom Eingang entfernt, in einer hinteren Ecke des Lokals. Irgendwie musste sie es geschafft haben sich von der Kriegsbemalung zu befreien, mit der sie gestern im Club noch geschmückt war. Sie trug ein dezentes, dunkelblaues Kostüm und wirkte auf ihn wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau.

„Sie sehen phantastisch aus, Bianca“, begrüßte er sie galant, „oder darf ich sie privat nicht so nennen?“ Er sah auf die Uhr und setzte ihr gegenüber. „Bin ich zu spät?“

„Fragen über Fragen“, lachte sie, „aber deswegen sind wir ja auch hier.“

„Pardon“, er reichte ihr einen Umschlag, „Ihr Honorar. In Ihrer Branche wird ja wohl immer im Voraus bezahlt.“

Sie ließ das Kuvert blitzschnell in ihrer Handtasche verschwinden. „Vielen Dank für das Kompliment, Jakob. Mein erstes seit ungefähr zwanzig Jahren. Natürlich kannst du mich jederzeit Bianca nennen und zu spät bist du auch nicht. Ich bin zu früh, weil ich es nicht mehr erwarten konnte. Darüber zu reden hat mir gestern gut getan. Eigentlich müsste ich dich bezahlen. Sag mal warum siezt du mich eigentlich?“

Bevor Jakob antworten konnte erschien der Ober mit der Speisekarte. Er wollte die Essensorder sofort, da um dreiund- zwanzig Uhr Betriebsschluss sei. Bianca nahm die Tomatencremesuppe und eine Nordsee-Ewer-Scholle. Jakob begnügte sich mit dem Seniorenteller ‚Filet vom Seelachs‘. Da weder Pernod noch Ouzo angeboten wurde, entschieden sie sich in den nächsten zwei Stunden Wodka Moskovskaya und Mineralwasser zu trinken.

Als dann die Getränke auf dem Tisch standen, prostete er ihr zu: „Nastrovje! Auf gute Zusammenarbeit.“ Er leerte sein Glas in einem Zug.

„Was soll das? Willst du mich unter den Tisch trinken? Sei vorsichtig. Ich kann nach einer Flasche Hochprozentigem noch fehlerfrei ‚Fischers Fritze fischt frische Fische‘ aufsagen.“ Sie nippte an ihrem Glas. „Also gut“, fuhr sie fort, „nutzen wir die Zeit. Als ich damals völlig unvorbereitet und naiv wie ich war, aus Paderborn nach Hamburg flüchtete, traf ich, rein zufällig wie ich damals dachte, am Hauptbahnhof einen Studenten. Der war so nett, hilfsbereit und völlig anders als die Männer, die ich bisher kannte. Ich hatte sofort Vertrauen zu ihm. Seine Tante besaß am Hans-Albers-Platz eine Pension in der ich preiswert übernachten könnte. Er rief sie mit dem Handy an und teilte mir dann strahlend mit, dass noch ein Zimmer frei sei. Sogar das Taxi dorthin bezahlte er. Eine halbe Stunde später hatte er mich an einen albanischen Zuhälter verkauft. Es war der Schock meines Lebens. Über das was man dort mit mir anstellte, kann ich nicht reden. Ich habe in dieser Nacht noch unter mindestens fünf Männern gelegen. Alles stinkende Knoblauchfresser. Man hat mich wochenlang weggesperrt, bis man dachte meinen Willen gebrochen zu haben. Danach wurde ich zahlungsfähigen Kunden als Jungfrau angeboten, als frisch eingetroffener Import aus der Provinz. Nie durfte ich diesen Puff verlassen oder Kontakte nach draußen aufnehmen. Ich war in der Gewalt eines Albaner-Clans. Sie ließen ihren halbstarken Nachwuchs über mich drübersteigen und deren stolze Mütter dabei zusehen. Sie taten mir Dinge an, über die ich nie werde sprechen können.“ Bianca kippte den Schnaps in sich hinein.

Jakob, der dem Ober zu verstehen gegeben hatte, leere Wodkagläser unaufgefordert aufzufüllen, sah ihn bereits mit der Flasche herbeieilen.

„Wie bist du denn letztendlich zu Kurden-Paul gekommen?“, fragte er ungeduldig, da für ihn die Jugenderinnerungen einer Hure nur von bedingtem Interesse waren.

„Wie das so ist. Man wird immer weiter gereicht, bis kein Kaufinteresse mehr besteht. Man will dich nicht mehr, schmeißt dich weg; du flehst darum weiterbeschäftigt zu werden. Du kannst nichts anderes und willst auch nichts anderes mehr. So wirst du geprügelt, musst dich immer an die Besoffenen ranmachen, mit deren Scheckkarten zum Geldautomaten laufen und die maximalen Beträge abkassieren. Du darfst KO-Tropfen in Getränke schütten oder kurzfristig die Suite verlassen, wenn das Security-Team einen zahlungsunfähigen Kunden fertigmacht und später, weit außerhalb des Clubs, irgendwo ablegt.“ Bianca trank einen Schluck Wasser. „Wenn ich mir andererseits aber vorstelle, ich wäre die Frau von irgendeinem Typen, der morgens zur Arbeit geht und abends abgeschlafft wieder zurück kommt, und ich müsste in der Zwischenzeit die Bude putzen und sein Essen kochen…“ sie schüttelte sich. „Allein der Gedanke daran macht mich schon krank.“ Sie leerte ihr Glas erneut. „Warum gibt’s hier nichts zu schlucken?“

„Lass das Saufen, Bianca. Wir haben ein Abkommen.“

„Ja, du fragst und ich antworte. Dann frag doch endlich!“

„Weißt du wo Paul wohnt?“

Sie sah ihn misstrauisch an. „Wozu willst du das wissen?“

„Das brauch ich für mein Buch. Die Leser wollen wissen wo Kiezgrößen privat ihre Zeit verbringen. Hat er ein Haus in Blankenese mit Elbblick?“

„Nein das nicht, aber auf die Elbe gucken kann er auch.“ Sie zögerte kurz. „Er wohnt in der Palmaille, in einem dieser Hochhäuser.“

Jakob zuckte gelangweilt mit den Schultern, als wäre diese Nachricht von keinem großen Interesse für ihn. Danach stellte er ihr weitere Fragen, deren Antworten ihm eigentlich ziemlich gleichgültig waren. Er machte auch nicht den Fehler sich nach ihrer Adresse zu erkundigen.

„Wie schafft ihr es eigentlich, dass eure Drogenbestände bei Polizeirazzien nicht entdeckt werden?“ erkundigte er sich dann beiläufig, als wollte er wissen wie morgen das Wetter wird.

„Paul hat einen Raum auf dem Nachbargrundstück angemietet“, sagte sie spontan, “dort ist noch nie ein Bulle aufgetaucht.“

Bevor ihr klar wurde, was sie eben gesagt hatte, erschien der Ober und servierte das Essen. Jakob sah erstaunt, mit welchem Appetit sie sich darüber hermachte. Sie war bereits mit ihrer Suppe fertig, als er noch überlegte von welcher Seite er sein Fischfilet in Angriff nehmen sollte.

„Da ich nie koche“, sagte sie fast entschuldigend, ernähre ich mich sonst ausschließlich von Fast Food. Ich könnte auch Junkfood sagen. Auf jeden Fall klatschen die bei McDonald‘s immer in die Hände wenn ich komme.“

Nachdem das Geschirr wieder abgeräumt war seufzte sie zufrieden. „Da fällt mir ein“, sie lächelte ihn freundlich an, „wenn du mal mit mir bumsen willst, sag es ruhig. Ich würde dir auch nichts berechnen. Oder kannst du nicht mehr?“

„Danke für das Angebot“, lächelte er, „später vielleicht. Jetzt bin ich mehr an einer Schusswaffe interessiert. Weißt du wo ich mir so etwas besorgen kann?“

„Willst du deine Frau umbringen? Pass bloß auf, die Bullen verdächtigen immer zuerst den Ehemann.“

„Nein, nur zur Selbstverteidigung brauch ich das Ding“, stotterte er unbeholfen.

„Ich habe Zugriff auf einen 9mm Revolver von Smith & Wesson, und eine Makarow Pistole mit Schalldämpfer.“

Zum ersten Mal war Jakob wirklich überrascht. Hatte er sie bisher völlig falsch eingeschätzt? „Welche würdest du mir empfehlen?“ fragte er ausweichend.

„Um dich selbst zu schützen benötigst du ja keinen Schalldämpfer. Also nimm doch den Revolver. Ich muss dir allerdings dazu sagen, dass es sich bei beiden Waffen um gebrauchte handelt; wenn du verstehst was ich meine.“

„Heißt das, es sind mit ihnen schon Menschen erschossen worden?“

„Nicht direkt erschossen, aber doch…“

„Das ist mir egal. Besorg mir so ein Ding.“

„Zur Selbstverteidigung sind sie eigentlich weniger geeignet. Die Polizei kann nämlich feststellen, wo sie schon mal verwendet worden sind.“

„Willst du mir nun die Pistole besorgen oder nicht?“

„Also gut. Bring sechshundert Mäuse mit.“

„Treffen wir uns wieder hier?“

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn man mich immer mit dem gleichen Typen rumhängen sieht, schadet das meinem Ruf Jakob.“

Er sah sie verständnislos an.

„Man glaubt dann womöglich ich hätte einen festen Freund und wäre wieder bürgerlich geworden.“

„Das hatte ich nicht bedacht“, sagte er sarkastisch. „Also wohin?“

„Mach du einen Vorschlag.“

„Wir könnten im Atlantic Restaurant essen oder in der Jahreszeiten Bar Pernod trinken und uns dann im Grill bedienen lassen.“

„Danke, dass du mit mir dahin gehen würdest. Aber mir ist das alles zu hochgestochen. Ich kann mich da nicht wohlfühlen. Wärst du auch mit dem Ratskeller einverstanden?“

„Na klar. Parlament heißt der Laden.“

„Also heute in einer Woche. Aber bitte schon um neunzehn Uhr.“

***

Nachdem Bianca außer Sicht war, ließ er sich von einem Taxi zur Palmaille fahren. Dort konnte er mühelos feststellen in welchem der beiden Hochhäuser Kurden-Paul wohnte, da Azad Sabri, deutlich sichtbar, auf dem Klingelschild in der Eingangs- halle des Hauses Nummer sechzehn prangte. Danach hatte er sich auf den Weg in die Große Freiheit gemacht, um seinen Platz am Fenster seiner beiden lesbischen Vermieterinnen wieder einzunehmen. Er musste unbedingt in Erfahrung bringen um welche Zeit Paul seinen Club verließ.

Dann ging alles sehr schnell. Kurden-Paul war, was die Arbeitszeit betraf, korrekt wie ein deutscher Beamter. Er kam um vier und ging um vier, danach konnte man die Atomuhr in Paris stellen. Der Rolls Royce brachte ihn dann zurück in die Palmaille, wo der Fahrer immer an der gleichen Stelle im ersten Untergeschoss der hauseigenen Tiefgarage parkte. Am nächsten Tag genau um zwanzig vor vier öffnete der Fahrer die hintere linke Wagentür und ließ seinen Chef einsteigen. Die beiden Leibwächter setzten sich ebenfalls. Einer neben Kurden-Paul, der andere neben den Fahrer. In dieser Formation hatte Jakob sie, bei seinen Beobachtungen von der anderen Straßenseite, regelmäßig um 15 Uhr 42 aus der Tiefgarage kommen und in Richtung St. Pauli Fischmarkt verschwinden sehen.

Gleichermaßen problemlos war das Essen mit Bianca im Ratskeller verlaufen. Er durfte nicht nur wieder ihren erstaunlichen Appetit bewundern, sondern auch einen roten Stoffbeutel mit der Aufschrift ‚750 Jahre Duvenstedt‘, den sie ihm wortlos zuschob. Wahrscheinlich lebt sie in den Walddörfern, wo man sie als um die Welt reisende Modeeinkäuferin kennt, dachte er spontan. Da sie seinen Umschlag mit ihrem Honorar und dem Kaufpreis ungeprüft einsteckte, entschloss er sich ihr ebenfalls zu vertrauen und zwängte den Beutel in seine Aktentasche.

„Fünfzig Schuss gratis“, hatte sie lächelnd zu ihm gesagt, „damit kannst du die Hälfte aller Zuhälter auf dem Kiez um meucheln.“

„Wer sagt denn sowas?“ hatte er geantwortet und zwei weitere Pernod bestellt.

Am nächsten Tag war er nach Hanstedt in die Heide gefahren, wo er früher gelegentlich mit Louise Pilze gesammelt hatte, um seine Makarow zu testen. Er schoss zehnmal auf einen Baumstumpf und fand, dass er eine gute Wahl getroffen hatte.

Der Rest war reine Formsache. X-mal im Geist geübt und immer wieder auf Schwächen analysiert. Er fühlte sich gut vorbereitet und sicher. Jetzt trottete er, wie Rentner das so tun, scheinbar ziellos vom Bahnhof Altona zur Palmaille 16. Er betrat die Eingangshalle und öffnete die Tür zur Tiefgarage, hinter die er sich stellte. Punkt 15 Uhr 32 rief er mit einem prepaid Handy das Polizeirevier an, dem es bisher nicht gelungen war Kurden-Paul zu überführen. Er teilte mit, dass Azad Sabri gerade damit beschäftigt war, mit seinen Leibwächtern, Drogen in einen Rolls zu verstauen, der im ersten Untergeschoss der Tiefgarage des Hochhauses Palmaille 16 geparkt war. Dann unterbrach er die Verbindung.

Er schätzte sie würden sieben bis acht Minuten benötigen. Vielleicht auch etwas weniger. Er wartete geduldig. Um 15 Uhr 38 verschloss er die Tür hinter der er stand, mit einem Keil aus seiner Aktentasche und ging einen Stock tiefer zur Parkgarage. Genau um 15 Uhr 39 öffnete er die Eisentür und sah Kurden-Paul, der eben aus dem Fahrstuhl gestiegen war und mit seinen Guards im Gefolge zu seinem Wagen schritt. Der Mörder und Zuhälter war keine fünf Meter von ihm entfernt. Jakob jagte ihm drei Kugeln in den Kopf, die seine Schädeldecke zerfetzten, so dass ihm Teile seiner Gehirnmasse übers Gesicht liefen. Er warf die Pistole in Richtung des zusammenbrechenden Sabri, dessen Leibwächter sich schützend über ihn geworfen hatten, schloss die Tür und verkeilte sie. Dann lief zurück ins Parterre, entfernte den Türkeil, und hastete weiter in Richtung 1. Stock. Unter sich hörte er wie die beiden Leibwächter wütend gegen die Eisentür trommelten. Gleichzeitig konnte er sich nähernde Polizeisirenen wahrnehmen. Im 2. Stock ging Jakob die Puste aus. Er trat in den Flur und drückte den Fahrstuhlknopf Richtung Parterre. Nach einiger Zeit, die er auch dringend zum Verschnaufen und zum Ausziehen seiner Handschuhe benötigt hatte öffnete sich die Lifttür. Drei Insassen starrten ihn mit leeren Blicken an. Er grüßte freundlich, trat ein, wendete ihnen den Rücken und pries dankbar die Anonymität in den Hochhäusern dieser Welt.

Als sich im Parterre die Tür wieder öffnete, wurden sie bereits von einem Wachtmeister heraus gewunken, der sie aufforderte umgehend das Haus zu verlassen, da sie sich inmitten eines gefährlichen Polizeieinsatzes befänden. Jakob, der keinen Grund sah sich den Anweisungen der Polizei zu widersetzen, kam der Aufforderung zügig nach.

***

Nachdem die Leibwächter ihren Schock überwunden hatten und realisierten, was mit ihrem Chef geschehen war, stürmten sie gemeinsam zur Tür und versuchten vergeblich sie gewaltsam zu öffnen. Als dies nicht gelang, wollten sie einfach nur noch raus aus dieser Mausefalle. Sie schleppten die Leiche in den Kofferraum und herrschten den Fahrer an hier zu verschwinden. Dieser hatte inzwischen Jakobs Pistole aufgehoben und wollte wissen, was er damit machen sollte. Als kurz darauf ein Sondereinsatzkommando der Polizei über die Zufahrt in die Garage eindrang, verlor einer der Leibwächter die Nerven und begann zu schießen.

***

Aus der Einfahrt zur Tiefgarage drangen Geräusche eines heftigen Schusswechsels, sowie lautes Gebrüll auf die Straße, doch Jakob ging unbeirrt weiter zur nahegelegenen Bushaltestelle, denn er gehörte nicht zu denen, die durch Herumstehen und Glotzen die Arbeit der Polizei behinderten.

***

„Jakob, Jakob“, eine aufgeregte Louise stürzte mit der Zeitung auf ihn zu, als er aus dem Bad ins Zimmer trat. „Hier steht alles über den Mörder, der vom Gericht freigesprochen wurde. Du hattest dich noch so darüber aufgeregt.“

„Er wurde gar nicht erst angeklagt“, korrigierte Jakob milde.

„Ja, Ja, er ist von seinen eigenen Leibwächtern erschossen worden, und zwar mit einer Waffe, die auch schon bei anderen ungelösten Verbrechen benutzt worden ist.“ Sie reichte ihm die Abendzeitung. Blutbad in Tiefgarage titelte die Redaktion. Nach heftiger Gegenwehr gelang es einem Sondereinsatzkommando einige bewaffnete, polizeibekannte Kiezgrößen zu überwältigen, die, um ihrer Verhaftung zu entgehen, wild um sich schossen. Zwei Polizisten wurden verletzt, die drei Verbrecher getötet. Zuvor hatten diese noch ihren Boss, den in der Szene als Kurden-Paul bekannten Azad Sabri, einen Geschäftsmann mit türkischem Migrationshintergrund, ermordet und seine Leiche im Kofferraum eines Rolls Royce versteckt. Der ebenfalls um Leben gekommene, uniformierte Fahrer, hielt die Mordwaffe noch im Tod umklammert. Mit diesem Einsatz ist der Polizei wieder ein großer Erfolg im Kampf gegen die organisierte Kriminalität gelungen.

„Die Welt ist schlecht“, konstatierte Jakob und legte die Zeitung beiseite, „kann ich heute ein Ei haben, bitte?“

Drücker – Franz

Für ihn gab es keinen Grund mit seinem Leben unzufrieden zu sein. Mit noch nicht einmal fünfundvierzig war er, Franz Kleinmüller, bereits einige hundert Millionen schwer. Wie viele es genau waren vermochte er gar nicht zu sagen. Dabei hatte er ganz unten angefangen. Eine Tischlerlehre brach er sofort ab, als ihm klar wurde, dass der Verkauf von Versicherungspolicen, Fondsanteilen und allerlei anderen Finanzprodukten wesentlich höhere Erträge abwarf. Natürlich nur für den, der sie verkaufte. Mit seiner einnehmenden Art gelang es ihm immer wieder leicht die naiven Kleinanleger zu überzeugen. Diese Fähigkeit war die eigentlich Grundlage für seinen unternehmerischen Erfolg, erinnerte er sich stolz. Er war ein begnadeter Verkäufer und konnte Melkmaschinen an die Eskimos verkaufen. Schon nach kurzer Zeit gehörte ihm die Vertriebsgesellschaft in der er seine Karriere begonnen hatte, und jetzt zeigte er seinen Mitarbeitern was die Amerikaner hard selling nannten.

Es war ihm immer wieder vorgeworfen worden, nicht zimperlich vorgegangen zu sein, mit harten Bandagen gekämpft zu haben und seine Finanzprodukte den Leuten aufgedrückt zu haben. Doch das war alles dummes Zeug. Er hatte lediglich an die Gier der Menschen appelliert. Eine Gier, die heute gern Bankern zur Last gelegt wird, wenn sie allzu riskante Geschäfte tätigen. Dabei hatte er kleine Angestellte, Risiko scheuende Beamte und Rentner aus Verkaufsbesprechungen hetzen sehen, mit der festen Absicht ihre Kreditlinien zu überziehen, ihre Reihenhäuser zu belasten oder ihre Lebensversicherungen zu beleihen. Die mussten dazu nicht überredet werden. Sie drängten ihm ihr Geld geradezu auf, weil er ihnen eine Verzinsung versprach, die sonst nirgendwo zu erzielen war. Es war das alte Lied. Je saftiger der Köder, desto unersättlicher die Gier. Eigentlich tat er nur Gutes. Die Käufer erhielten was sie wollten, er stimulierte das Geschäft der Banken, da viele Käufe kreditfinanziert wurden, und für all seine Mühe kassierte er letztlich den ihm zustehenden Anteil.

Natürlich gab es immer wieder Leute, die ihm diesen Erfolg neideten. Sie behaupteten, er hätte seine Millionen auf Kosten unzähliger Kleinanleger gemacht. Sie warfen ihm vor diese Menschen durch betrügerische Falschberatung in geschlossene Immobilienfonds getrieben zu haben, wodurch sie zu haftenden Unternehmern wurden. Man verstieg sich zu der Aussage, er wäre vermutlich der größte Betrüger der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Er schüttelte diese unberechtigten Vorwürfe von sich ab oder brachte sie durch seine Anwälte zum Verstummen. Schließlich war es nicht seine Schuld wenn das Kleingedruckte nicht gelesen wurde. Man machte doch auch keinen Wetterdienst dafür haftbar, wenn die vorausgesagte Sonne nicht schien. Im Übrigen hatte er auch kein Geld verbrannt, wie man es heute nannte, sondern lediglich eine gewisse Umverteilung vorgenommen. Denn, war es nicht letztlich das Ziel allen wirtschaftlichen Handelns, mit dem Geld anderer Leute die eigenen Taschen zu füllen?

Sein Unternehmen hatte er inzwischen äußerst gewinnbringend verkauft und sich anderen Geschäftsmodellen zugewandt. Dazu widmete er sich vorwiegend der Aufgabe seinen ramponierten Ruf aufzubessern. Als sozialer Aufsteiger suchte er außerdem die Nähe zu Politikern, Schauspielern und Musikern, weil ihn die Sehnsucht nach Respekt und gesellschaftlicher Anerkennung plagte. Es war ihm inzwischen auch gelungen von einer deutschen Universität einen akademischen Grad zu kaufen. Als Dr. h.c. Kleinmüller hatte er sich sofort bedeutender gefühlt. Darüber hinaus hatte er einen seiner Anwälte damit beauftragt die finanziellen und rechtlichen Möglichkeiten zu prüfen, durch Adoption einen Adelstitel zu erwerben. So ein Titel wäre ein Garant für Erfolg und Anerkennung in höchsten Gesellschaftskreisen. Er würde ihm Würde, sozialen Status, sowie den nötigen Respekt verleihen. Er müsste dann auch nicht mehr Kleinmüller heißen, ein geradezu entsetzlicher Name. Irgendwie empfand er sich jetzt schon nicht mehr als bürgerlich. Er hatte sich erhoben aus dieser Masse anonymer Verbraucher, Wähler und Steuerzahler, die sich um ihre Existenz sorgten und deren Leben fast ausschließlich von Fremden bestimmt wurde.

Danach plante er sich standesgemäß zu verehelichen. Das würde ihm weitere Publizität bringen und zwar auch durch die Medien, die ihn heute noch mieden. Um jedoch eine passende Partie finden zu können, um die man ihn beneidete, musste er das bestehende Angebot noch besser überblicken können. Der Adel hatte schließlich nicht so unrecht, dass er seine Vormachtstellung und seine Besitztümer durch eine geschickte Heiratspolitik auszubauen gewusst hatte. Auf jeden Fall war diese Vorgehensweise zum Erhalt der gesellschaftlichen Position wesentlich effizienter als das bürgerliche Konstrukt einer Liebesheirat, das die sozialen Schichten ungewünscht miteinander vermischte.

***

„Leck mich am Arsch“, entfuhr es Jakob, nachdem er den Artikel in der Abendzeitung über Kleinmüller und die vergeblichen Bemühungen der Staatsanwaltschaft, diesem kriminelle Handlungen nachzuweisen, gelesen hatte. Er sah sich sofort schuldbewusst um, denn es gehörte eigentlich nicht zu seiner Gewohnheit, in Anwesenheit Louises obszöne Formulierungen zu verwenden, die sie als abstoßend empfand und niederen sozialen Schichten zuordnete. Durch diese, aus seiner Sicht engstirnige, Einstellung, reduzierte sie ihren aktiven Wortschatz nicht nur um schätzungsweise, weitere zwanzig Prozent, sie beraubte sich auch der Möglichkeit durch den Einsatz befreiender und wohltuender Kraftausdrücke, psychische Störungen zu vermeiden.

Sie lebt in einer kleinen Welt, dachte er, und trotzdem ist sie von diesem urbi et orbi völlig hingerissen. Sie glaubt wahrscheinlich auch, dass sie in einen Himmel kommt, der wohlformulierenden Gläubigen vorbehalten ist. Jakob, der als bekennender Atheist keinen Zugang zu Überlegungen dieser Art hatte, war sich darüber im Klaren, dass er sie im Jenseits, falls es denn so etwas gab, nicht wiedersehen würde. Er machte sich deswegen aber keinen Kopf, denn es war ihm allemal lieber mit fluchenden Nihilisten zu spielen und zu saufen, als mit bigotten Frömmlern die Schalmei zu blasen, die Harfe zu zupfen oder das Zymbal zu hämmern.

Er musste an Bianca denken. In welchen Himmel sollte sie denn kommen? Wahrscheinlich in keinen, bei ihrem schmutzigen Vokabular. Irgendwer musste schließlich auch in der Hölle schmoren. Vielleicht hatte er ja Glück, und sie lag direkt neben ihm.

„Wach endlich auf“, herrschte Louise ihn an, „in fünf Minuten kommt der Bus.“

Jakob gestand sich ein, dass ihr Verhältnis zur Realität stärker ausgeprägt war als seines.

„Allzeit bereit“. Er zuckte zusammen, trank den letzten Schluck Kaffee und erhob sich. „Bis zum Abendessen.“

„Es gibt Weißwürste“, sagte sie und schloss die Tür hinter ihm.

***

Bei ihrer Geburt hatten Louises Eltern ihr den Namen Lieselotte gegeben. Das änderte sich abrupt nachdem Jakob in ihr Leben trat, der von Beginn an seine Unzufriedenheit mit dieser Namensgebung zum Ausdruck brachte. Wenn ich dich Lilo nenne, hatte er ihr erklärt, erinnere ich mich an Folies Bergére und Cancan, einer Vorstellung der du in keiner Weise entsprichst. Sage ich aber Lieselotte, sehe ich zwei massige Kaltblüter mit den Namen Liese und Lotte auf einem Dithmarscher Bauernhof vor meinem geistigen Auge. Das wünschst du doch sicher auch nicht. Da ich außerdem nicht zu den Männern gehöre die ihre Frau Schatzi, Mausi oder Zuckerschnut nennen, würde ich dich gern als Louise in meine Arme schließen. Sie wollte dann noch wissen, wieso er auf Louise käme, worauf er ihr antwortete, dass dies ein Name von Königinnen sei. Tatsächlich jedoch erinnerte ihn Louise an ein Restaurant gleichen Namens in Winterhude, in dem er einmal sehr gut gegessen hatte. Was offensichtlich als Scherz begann hatte sich dann durchgesetzt. Sie dachte inzwischen auch von sich als Louise und stellte sich bei Fremden mit diesem Namen vor. Lieselotte stand nur noch in ihren Ausweispapieren.

Louise besaß zwei Beste Freundinnen. Die Drei trafen einmal wöchentlich, nachmittags zusammen; abwechselnd in ihren Wohnungen, die ihnen tagsüber zur freien Verfügung standen, da ihre Männer alle noch berufstätig waren. Häufiger sah man sich nicht. Aktuelle Ereignisse, die keinen Aufschub duldeten, wurden telefonisch erörtert. Es hatte auch noch nie ein gemeinsames Treffen der Ehepaare gegeben. Dies fand seinen Grund in der Tatsache, dass sowohl Ulrike als auch Elfriede große Schwierigkeiten mit ihren Ehemännern hatten. Ulrikes Mann stolperte von einer Affäre in die andere und machte sich kaum noch die Mühe diese zu verbergen. Elfriede wurde dagegen regelmäßig misshandelt und musste sich das Gesicht schminken und selbst an dunklen Tagen eine Sonnenbrille tragen, um ihre Hämatome wenigstens notdürftig zu verbergen. Hinzu kamen noch die Spuren der Schläge an Körperstellen, die nicht so ohne weiteres sichtbar waren, aber ebenfalls große Schmerzen bereiteten.

Beide hatten bereits ernsthaft überlegt eines der Hamburger Frauenhäuser aufzusuchen. Louise, deren innerer Einstellung es widersprach, kampflos die Flucht zu ergreifen, meldete sich darauf in der Volkshochschule Wellingsbüttel für einen Kurs über ‚Speisepilze und ihre giftigen Doppelgänger‘ an.

***