Das Konzept - Uwe Schwartzer - E-Book

Das Konzept E-Book

Uwe Schwartzer

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Beschreibung

Statt sich um Sortimente alkoholischer Getränke zu kümmern, entwickeln Jonas Becker und Karin Reimers, zwei perspektivlose Marketingmitarbeiter konkurrierender Spirituosefirmen, ein einzigartiges Produktkonzept, das sie ihren Vorstandsvorsitzenden zeitgleich anonym anbieten. Sie wollen dafür Millionen kassieren.Bei der Vorbereitung und Durchführung dieses genialen Coups geraten sie jedoch in Lebensgefahr. Ein skrupelloser Sicherheitschef, der seine eigenen Interessen gefährdet sieht, lässt sie jagen.

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Uwe Schwartzer

DAS KONZEPT

Bereits in dieser Reihe erschienen:

7001 Stefan Melneczuk, Marterpfahl

7002 Frank W. Haubold, Die Kinder der Schattenstadt

7003 Jens Lossau, Dunkle Nordsee

7004 Alfred Wallon, Endstation

7005 Angelika Schröder, Böses Karma

7006 Guido Billig, Der Plan Gottes

7007 Olaf Kemmler, Die Stimme einer Toten

7008 Martin Barkawitz, Kehrwieder

7009 Stefan Melneczuk, Rabenstadt

7010 Wayne Allen Sallee, Der Erlöser von Chicago

7011 Uwe Schwartzer,

Uwe Schwartzer

DAS KONZEPT

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-313-1

Eins

Er war wunschlos glücklich und sah seiner Zukunft mit zufriedener Gelassenheit entgegen. Die gepolsterte Liege, auf der er sich wohlig rekelte, stand auf dem gepflegten Rasen der Blackbeard Yacht Charters Ltd., einer Firma, die sich in einer der vielen Marinas von Freeport auf Grand Bahama befand – und die ihm gehörte. Zudem schwelgte er in nie erlebten Höhen der Selbstbewunderung, nachdem es ihm entgegen aller Vorhersagen neidischer Kollegen gelungen war, die klimatischen und beruflichen Niederungen Norddeutschlands hinter sich zu lassen und hier, am Nordrand der Karibik, dem touristischen Traumziel, das bei den meisten Menschen spontane Glücksgefühle und Urlaubssehnsüchte auslöste, einer einträglichen Beschäftigung nachzugehen.

In Scharen strömten sie herbei, in erster Linie gut betuchte Amerikaner, um die unzähligen einsamen Strände und verträumten Badebuchten mit pulverfeinem Sand und kristallklarem Wasser auf unbesiedelten Inseln zu entdecken. Korallenriffe, Fischschwärme, Muscheln, Schnecken und Seeigel bevölkerten die Unterwasserwelt und zogen die Touristen magisch an. Und alle drängten ihm ihr Geld auf. Soeben hatte er die letzte seiner sechs Jachten, eine Ventura 30 Race mit fünf Schlafplätzen, für zwei Wochen an einen New Yorker Börsenmakler mit seiner Familie verchartert. Wenn es so weiterging, würde er seine Flotte bald vergrößern oder wenigstens die Preise erhöhen müssen. Er genoss diese Art von Sorgen und träumte, wie schon so oft, von dem berüchtigten Piraten Blackbeard, der hier zu Beginn des 18. Jahrhunderts gelebt hatte.

Plötzlich klingelte das Telefon. Er seufzte, die Realität hatte ihn wieder. Missgestimmt nahm er den Hörer ab, die Beine vom Tisch und grunzte ungehalten: „Becker.“

„Mensch, was ist los bei Ihnen?“, wetterte Ohlers Stimme aus dem Apparat. „Warum melden Sie sich denn nicht? Ich hab es mindestens zehn Mal klingeln lassen.“

„Ich bin eben erst aus einer Besprechung zurück ins Büro gekommen“, erwiderte Becker lahm.

„Dann lassen Sie sich mal bei mir sehen, aber ein bisschen rapido, wenn ich bitten darf.“ Ohler liebte es, spanische Wörter in seine Reden einzuflechten, seit er vor Jahren einige Zeit in einer Madrider Branntweinbrennerei hospitieren durfte. „Ich muss gleich noch zu einer Verbandssitzung.“

Ronald Ohler hatte sich hinter Stapeln von Akten verschanzt und sah ihn missmutig an. Er war der Marketing-Direktor in der Spirits & Wine Import AG und damit der direkte Vorgesetzte von Becker, der es selbst bisher nur zum Senior-Produktmanager für Innovationskoordination gebracht hatte. Ohler deutete auf einen Stuhl, seufzte, als würde das gesammelte Leid dieser schnöden Welt auf seinen krummen Schultern lasten, und begann wie einer dieser Gratulanten in den Erbschleichersendungen im Radio zu reden, die in der stillen Hoffnung auf eine großzügige Erwähnung im sehnlichst erwarteten Testament unbeholfen musikalische Glückwünsche für gut betuchte Verwandte vom Blatt ablasen.

„Herr Becker, Sie sind nach mir der Ranghöchste in unserer Abteilungshierarchie. Deswegen möchte ich auch Sie zuerst über einige schon längst fällige organisatorische Anpassungsmaßnahmen informieren.“

Becker ahnte bereits, was jetzt gleich kommen würde. Vor zwei Jahren hatte sich der frühere Eigentümer gezwungen gesehen, sein Familienunternehmen zu verkaufen, da die Banken nicht mehr bereit gewesen waren, die nötigen Kredite zur Verfügung zu stellen. Ein kapitalkräftiger englischer Finanzinvestor, eine sogenannte Heuschrecke, hatte das Traditionsunternehmen übernommen, und seitdem wurden sie konsequent auf cash gemanagt. Auf gut Deutsch bedeutete das Stellenabbau und Streichung von Mitteln für Forschung und Entwicklung, denn nach spätestens fünf Jahren würden diese Leute Kasse machen und die Firma weiterverkaufen wollen.

„… können wir uns somit keinen unnötigen Luxus mehr … Sagen Sie mal, Becker, hören Sie mir überhaupt zu?“

„Aber natürlich, Herr Ohler. Sie sprachen gerade von Kostenreduzierungen.“

„Davon habe ich kein Wort gesagt. Mein Thema waren Anpassungsmaßnahmen.“

„Ist das denn nicht das Gleiche?“

Ohler sah ihn scharf an. „Hüten Sie sich vor Ihrem Sarkasmus, Becker. Nicht jeder Vorgesetzte ist so nachsichtig wie ich.“ Ohler ordnete einige Papiere, die vor ihm lagen. „Wie gesagt, die Globalisierung. Wir mussten etwas tun, und zwar sofort. Vale? Ich habe daher die drei Mitarbeiter der Marktforschungsabteilung in unsere Werbeagentur ausgegliedert. Das heißt, im Grunde genommen nur zwei. Einen musste ich freisetzen, denn mehr wollten die dort nicht übernehmen. Eigentlich eine Unverschämtheit, wenn ich mir das recht überlege.“

Und die anderen beiden wird man auch bald rausschmeißen, dachte Becker. Die benötigen kein zusätzliches Personal, selbst wenn sie von uns weitere Aufträge erhalten.

„Wir müssen den Mut haben, alte Zöpfe abzuschneiden. Aus diesem Grund werden uns der Werbeleiter und sein Assistent ebenfalls verlassen.“

Der Werbeleiter war Mitte fünfzig und bereits dreißig Jahre im Unternehmen tätig. Er würde mit Sicherheit keine neue Anstellung mehr bekommen.

„Starren Sie mich nicht so an, Becker! Nicht nur wir im Marketing müssen sparen, Gleiches gilt auch für alle anderen Abteilungen. Was meinen Sie, was in der Administration, der Technik und im Verkauf los ist? Sie trifft es leider auch, mein lieber Becker. Keine Angst, ist keine Kündigung. Aber die Innovationskoordination kostet uns einfach zu viel und bringt kurzfristig überhaupt nichts. Ihre Stelle wird ersatzlos gestrichen. Sie übernehmen den gesamten Bereich der hochprozentigen Spirits.“

„Aber das macht doch Rottmann.“

„Von ihm werden wir uns bedauerlicherweise ebenfalls trennen müssen. Haben Sie noch Fragen?“

Becker fühlte sich wie betäubt. Er stand mühsam auf. „Nein, vielen Dank, Herr Ohler. Es war alles sehr klar und deutlich.“

„Hasta la vista, Becker! Kopf hoch, es kommen auch wieder bessere Zeiten.“

Aber nicht in dieser Firma, dachte Becker und verließ den Raum.

Als er nach dieser wenig erbaulichen Unterredung bei seinem Chef wieder zurück in seinem eigenen Büro war, hatte er mit seinen achtundzwanzig Jahren die Schnauze vom Geschäftsleben gestrichen voll. Man hatte ihn ungefragt als SPM in eine andere Produktgruppe querversetzt. Ihm war klar, dass er im Ablehnungsfall mit seiner Entlassung hätte rechnen müssen, da seine jetzige Position bereits wegrationalisiert worden war. Die Entscheidung selbst war in gewisser Weise berechtigt, da seit Jahren keine neuen Produkte mehr entwickelt worden waren und man sich mangels besserer Einfälle auf neue Geschmacksrichtungen und Verpackungsgrößen spezialisiert hatte.

Becker hatte akzeptiert, um Zeit zu gewinnen. Sein Berufsziel, mittelfristig in die Marketingleitung aufzurücken, hatte sich in unerreichbare Ferne verzogen. Er wusste, dass er den Job eines Marketing-Direktors, vor dem noch weitere Karrierestufen lagen, bei diesem Tempo mit ungefähr hundertzwanzig Jahren erreichen würde. Allerdings wurde in dieser Firma auf seinem Level ab vierzig niemand mehr befördert. War jemand in diesem Alter angekommen, hatte er seine Endposition erreicht und konnte das akzeptieren oder musste gehen. In jedem Fall war man Bestandteil der potenziellen Personalkosteneinsparungsreserve.

Dabei strebte Becker weder nach Macht noch nach Anerkennung, er wollte einfach nur ein höheres Einkommen. Mehr Geld, das er in seiner jetzigen Position nicht verdienen konnte. Sein erklärtes Lebensziel war es, noch vor seinem fünfzigsten Geburtstag diese Tretmühle zu verlassen, um auf den Bahamas einen Bootsverleih zu eröffnen. Dieses Vorhaben war nun hochgradig gefährdet. In der jetzigen Situation Lorbeeren zu ernten oder aus der Anonymität des Mittelmanagements aufzutauchen, war praktisch unmöglich. Darüber hinaus waren die tradierten Trinkgewohnheiten nicht nur festgefahren, sondern auch noch auf dem Abwärtstrend. Beckers Tätigkeiten würden sich künftig nur noch darauf konzentrieren, die ihm anvertrauten Marken durch Extras aufzupeppen, um höhere Preise beim Handel durchzusetzen.

Er wusste, dies bedeutete das Aus für ihn. Er befand sich bereits auf dem Karrierefriedhof und schaufelte an seinem eigenen Grab. Letzten Endes lief alles auf eine Kündigung hinaus. Doch so leicht würde er nicht aufgeben. Er beschloss, in seine Stammkneipe zu fahren und dort über Alternativen nachzudenken.

Als er im Auto saß und Richtung Hafen fuhr, beglückwünschte er sich zum x-ten Mal, dass er Junggeselle geblieben war und keine frustrierte Ehefrau mit diesen Neuigkeiten beglücken musste.

*

Karin Reimers hatte schon oft bereut, dass sie sich mit diesem gottverdammten Spanier aus Fuerteventura eingelassen hatte. Es war nur eine kurze Affäre gewesen, und wenn sie es nachträglich beurteilte, hatte sie sich damals eigentlich nur Hals über Kopf in sein freundliches Wesen, sein fast akzentloses Deutsch und seine blonden Haare verliebt. Für weitere Betrachtungen war auch kaum Zeit geblieben, denn als ihr Geliebter von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte und sie sich strikt gegen eine Abtreibung aussprach, hatte er sich sang- und klanglos auf seine Insel abgesetzt und zahlte auch keinen Unterhalt für den mittlerweile vierjährigen Jungen, der an Morbus Crohn, einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung, litt.

So lebte sie als alleinerziehende Mutter ziemlich mittellos. Morgens brachte sie Mark zu ihrer Mutter und nach der Arbeit holte sie ihn wieder ab und ging mit ihm nach Hause; danach verließ sie ihre Wohnung normalerweise nicht mehr. An weiteren Männerbekanntschaften war sie seit damals weder interessiert noch hatte sie die Zeit dazu. Ihr geringes Gehalt, das sie als Assistentin im Marketing der Firma International Distillers GmbH in Hamburg verdiente, reichte kaum für die kleine Mietswohnung in Eimsbüttel und zum Leben. Gerne hätte sie ihrem Sohn besondere Behandlungen zukommen lassen, da sie fürchtete, die Krankheit könnte zu Wachstumsstörungen oder zu verminderter schulischer Leistungsfähigkeit führen, aber Naturheilverfahren waren insgesamt sehr teuer und wurden nicht von der Krankenkasse bezahlt.

Als an diesem Abend gegen zwanzig Uhr das Telefon klingelte, dachte sie im ersten Moment, ihre Mutter wolle ihr wieder erzählen, was Mark tagsüber alles angestellt hatte, und hob daher nur widerwillig ab.

„Hallo, Karin!“, meldete sich zu ihrer Überraschung eine männliche Stimme. „Jonas Becker … du erinnerst dich doch bestimmt noch an mich, oder?“

„Nur ungern …“, entgegnete sie zögernd und dachte zurück an die Tagung des Marketing Clubs vor einem knappen Jahr, als sie sich zum ersten Mal über den Weg gelaufen waren. Danach hatten sie sich gelegentlich in der Kneipe getroffen, die sich im Erdgeschoss des Altbaus befand, in dem sie wohnte, bis der Kontakt plötzlich abgebrochen war.

„Warum so abweisend? Was hab ich verbrochen?“

„Ach nichts … war nicht so gemeint. Ich häng einfach nur durch.“

„Ich würde dich gern mal wieder sehen, wenn möglich jetzt gleich.“

„Das geht nicht, Jonas. Mark hat gerade wieder einen Schub. Er ist voll mit Kortison und sehr unruhig. Ich könnte nicht mal runter in die Kneipe gehen.“

„Dann komm ich zu dir. Ich meine in deine Wohnung.“

„Hier empfange ich keine Herrenbesuche.“

„Wie das klingt … außerdem bin ich kein Herr, sondern Jonas Becker.“

„Und ich war wahrscheinlich die Letzte auf deiner Liste. Was ist mit den anderen vor mir? Alle besetzt?“

„Ich habe nicht vor, dich anzubaggern, Karin. Es ist rein geschäftlich. Wirklich.“

„Dann ruf mich tagsüber in der Firma an.“

„Geht nicht.“

„Warum nicht? Und warum ausgerechnet ich?“

Jonas zögerte einen Augenblick. „Du bist die Einzige auf meiner Liste, die bei den Distillers arbeitet. Außerdem ist es wichtig.“

„Für wen?“

„Wenn ich dich überzeugen kann, für uns beide.“

Karin Reimers atmete einmal tief durch. „Okay“, stimmte sie schließlich zu. „Komm um halb zehn, dann ist Mark bestimmt schon eingeschlafen.“

*

Nachdem Jonas den Hörer aufgelegt hatte, fragte Petra spontan: „Wer war das denn?“

„Nur eine alleinerziehende Mutter, die …“

„Lass bloß die Finger von diesen Schicksen!“, unterbrach sie ihn. „Bei so einer stehst du immer ganz hinten in der Reihe. Bis ans Lebensende träumen sie von ihrem Beschäler, der sie erst geschwängert und dann sitzen gelassen hat. An vorderster Stelle kommt immer der Balg und dann vielleicht du, aber nur, wenn du Glück hast.“

„Ich hab nichts mir der. Es geht rein ums Geschäft.“

„Und warum hast du sie dann so angebalzt? Halt dich an die Damen, die du hier bei mir siehst. Mit denen hast du nie Ärger.“

„Das kann ich nicht. Da rührt sich nichts bei mir.“

„Quatsch! Ich werd’ Lina mal sagen, dass sie sich um dich kümmern soll. Die bringt dich ganz schnell in Stimmung, vertrau mir.“

„Mit Nutten kann ich nicht“, widersprach Jonas bockig.

„Ach, sieh mal einer an, der feine Herr will eine ganz für sich allein haben. Eine, die treu und brav Haus und Kinder hütet, wenn er in Geschäften unterwegs ist. Was meinst du denn, wie viele ehrbare Ehefrauen hier jeden Nachmittag fleißig anschaffen gehen, während der ahnungslose Göttergatte keinen blassen Schimmer davon hat?“

„Wenn man mit einer Frau zusammen ist, will man ja nicht immer nur bumsen, sondern sucht Liebe und Zärtlichkeit.“

Petra sah ihn fassungslos an. „Ich glaub, ich werd nicht mehr. Mensch, Jonas, wach auf! Jede dritte Ehe wird inzwischen geschieden. Nenn mir nur einen einzigen deiner Bekannten, dessen Frau nach Zärtlichkeit sucht. Die ist höchstens an dem Kleingeld in seinen Taschen interessiert. Und was ist mit dir? Wo ist denn deine Herzallerliebste, die dich anhimmelt und dir den Alltag verschönert?“

„Ich hab eben noch nicht die Richtige gefunden.“

„Erzähl mir bitte nicht so was. Nicht mir. Ich hatte vier Ehemänner und auch sonst noch jede Menge Kerle. Du weißt genau, warum du Junggeselle geblieben bist. Deswegen mach ich mir ja auch Sorgen wegen dieser ledigen Mutter. Die sucht doch bloß einen, der ihre Rechnungen bezahlt.“ Petra schüttelte sich und griff fast empört zum Bierhahn, um wieder ihren Pflichten nachzukommen.

So wütend hatte Jonas die Wirtin vom Colombo, einer von Touristen gern besuchten Bierkneipe am St. Pauli Fischmarkt, nur selten erlebt. Dabei verbrachte er mehr Zeit bei ihr als in seiner eigenen Wohnung. Hierfür gab es zwei Gründe. Einmal lag die Kneipe, in die auch häufig Mädchen vom nahe gelegenen Autostrich kamen, um sich wieder frisch zu machen, direkt auf seinem Heimweg, und zum anderen kannte Petra mehr als hundert Würfelspiele. Zurzeit spielten sie bevorzugt Dreiundzwanzig. Es hatte mehr als eine Woche gedauert, bis Jonas sie das erste Mal schlagen konnte.

Petra kannte aber auch noch andere Sachen. Ihr Alter hatte sie Jonas nie verraten. Er schätzte sie auf Ende fünfzig, sie konnte aber auch schon Anfang oder Mitte sechzig sein. Sie war mehrmals verheiratet gewesen, obgleich sie nur ein einziges Mal vor einem Scheidungsrichter gestanden hatte, und einmal hatte sie ihm lachend erklärt, dass sie jedes Mal einen anderen Namen benutzt hatte, nachdem sie in eine neue Stadt gezogen war. Im Leben sei eben alles nur eine Frage des Geldes, hatte sie hinzugefügt, und neue Papiere seien schließlich billiger als ein gieriger Anwalt mit einem noch gierigeren Ex. Jonas vermutete, dass Petra mindestens zwei Mädchen laufen hatte und damit wahrscheinlich der einzige weibliche Zuhälter auf dem Kiez war. Aber darüber war sie nicht bereit zu sprechen.

Als Jonas nach einem letzten Glas im Auto saß und zu Karin fuhr, gingen ihm Petras Worte nicht aus dem Kopf. Überrascht musste er sich eingestehen, dass er überhaupt keinen Bekannten hatte, der ihm jemals über Zärtlichkeit in seiner Ehe erzählt hätte.

*

Die Klingel war noch nicht verstummt, da wurde die Tür bereits aufgerissen.

„Hi!“, begrüßte ihn Karin. „Ich habe nicht gedacht, dass du tatsächlich noch auftauchst. Komm rein. Er schläft jetzt.“

Jonas betrat die weiblichste und chaotischste Wohnung, die ihm jemals untergekommen war. Schnickschnack und Pipifax auf allen waagerechten Flächen. Lächelnde, fette Buddhas aus China, dünne aus Thailand, grazile Tänzerinnen, Puppen mit Porzellanköpfen, Strohblumen, verendende Blumen, die dringend Wasser brauchten, herumliegendes Spielzeug, Bälle, Dinos, Malbücher, Buntstifte … und das alles in einer Umgebung, die augenscheinlich seit Beginn der christlichen Zeitrechnung keinen Putzlappen oder Staubsauger mehr gesehen hatte. Er hatte Petras Kneipe nie für einen Luftkurort gehalten, aber was er jetzt einatmete, erinnerte ihn irgendwie an die Herrentoilette am Gerhart-Hauptmann-Platz.

Karin hatte offensichtlich anhand seiner Blicke seine Gedanken gelesen und sah sich im Zimmer um. „Tut mir leid, Mark hatte wieder einen Schub. Ich schaff das irgendwie nicht mehr.“

Jonas stand hilflos im Raum, wusste aber nicht, wohin mit seinen Händen, und hielt sich daher an der mitgebrachten Weinflasche fest. Fast wünschte er sich zu Petra zurück. „Was hat er eigentlich genau?“

„Das hab ich dir doch schon einmal erzählt. Mark bekommt immer wieder Durchfälle, Fieber und krampfartige Bauchschmerzen. Und er hat Angst vor dem Essen, weil es ihm dann wieder wehtut.“

Jonas zog ein betretenes Gesicht und suchte vergebens nach passenden Worten.

„Ich bin so unaufmerksam“, sagte sie. „Nimm doch Platz. Willst du was trinken?“

Glücklich hielt er ihr die Flasche hin und erwiderte unbeholfen: „Mach dir keine Umstände, ich habe bereits …“

„Du riechst nach Kneipe“, unterbrach sie ihn.

Jonas hob überrascht die Augenbrauen. „Sind wir etwa verheiratet?“

Sie zog ein weinerliches Gesicht. „Entschuldige bitte! Ich sage immer das Falsche.“

„Warum hast du damals eigentlich nicht abgetrieben? Das ist doch heutzutage kein Problem mehr.“ Als er sah, wie sich ihr Gesicht von einem Moment auf den anderen verdunkelte, ergänzte er schnell: „Ich meine, waren es religiöse Gründe oder … Du liebst seinen Vater immer noch, stimmt’s?“

„Ich hasse dieses Schwein!“

„Und warum hast du dann dazu beigetragen, dass sich seine Gene in der Welt verbreiten?“

„Mark ist mein Sohn!“

„Schon gut, schon gut. Ich habe nur das Warum nie verstanden.“

„Vergiss es einfach.“ Sie stellte zwei Wassergläser auf den Tisch.

„Das Zeug hat zwar nicht die vorgeschriebene Temperatur“, meinte Jonas, während er sich damit abmühte, die Flasche zu öffnen, „aber einen Roten kann man auch etwas wärmer trinken.“

„Sieh dich nur um“, sagte sie und nickte ihm zu, nachdem sie angestoßen hatten. „So wohnt eine unterbezahlte, überforderte, traurige und schlampige ledige Mutter, mit der du über Geschäfte sprechen willst.“

Jonas betrachtete einige Eimsbütteler Fruchtfliegen, die sich eifrig bemühten, kollektiven Selbstmord in seinem Glas zu begehen.

„Der Schein trügt, sagt der Volksmund.“ Er empfand seine Umgebung inzwischen schon nicht mehr ganz so chaotisch, nachdem ihm eingefallen war, dass er jetzt über ein Jahr in seiner Eigentumswohnung lebte und etliche Umzugskartons noch immer ungeöffnet im Flur standen.

„Nun sag schon, worum geht es?“

„Um Träume.“

„Tut mir leid, Jonas, da bist du bei mir an der falschen Adresse. Ich bin notgedrungen eine knallharte Realistin.“

„Schon möglich, aber ich weiß, auch du hast Träume. Ich meine, hast du dir nie ein alternatives Leben vorgestellt, mit völlig anderen Bedingungen und Perspektiven, in dem …“

„… ich mich den ganzen Tag um Mark kümmern könnte? Ein Leben mit größerer wirtschaftlicher Unabhängigkeit, ausreichend Geld für teure Medikamente und Behandlungsmethoden?“ Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.

„Siehst du? Ich wusste, du bist die richtige Geschäftspartnerin für mich.“

Karin bewegte ihren Kopf ganz leicht zur Seite und sah ihn skeptisch an. „Was hast du vor?“

„Mein Lebenstraum, auf den Bahamas ein Chartergeschäft für Segel- und Motorboote aufzuziehen, ist heute Mittag geplatzt. Du weißt ja, dass uns einer dieser sogenannten Finanzinvestoren aufgekauft hat. Seitdem besteht unser täglich Brot aus Stellenabbau, Gehalts- und Urlaubskürzungen.“

„Was sind denn das bloß für Leute?“

„Menschen wie du und ich. Es sind sogenannte Private-Equity-Gesellschaften, das heißt, wenn du viel Geld hast, gibst du es ihnen, und sie erwirtschaften für dich eine hohe Rendite. Du bist beglückt und empfiehlst sie weiter.“

„Und die Rendite?“

„Kommt von uns. Sie polieren uns, bis wir glänzen wie Lackschuhe, und dann verscherbeln sie uns weiter. Das Problem ist, sie denken nur kurzfristig. Was später mit den Unternehmen geschieht, ist ihnen scheißegal. Sie fühlen sich ausschließlich für deine Rendite verantwortlich. Der eigentlich Böse bist also du, weil du ihnen das Geld gegeben hast, das jetzt als vagabundierendes Kapital nach Anlagemöglichkeiten sucht.“

„Wieso verstehen diese Gesellschaften so viel von unterschiedlichen Branchen?“

„Tun sie gar nicht. Sie geben nur vor, wie viel monatlich in der Kasse klingeln muss. Wer das nicht schafft, wird ausgewechselt.“

„Die Stimmung bei euch muss ja fürchterlich sein.“

„Das kannst du laut sagen. Die Gefühle schwanken zwischen kalter Wut und purer Existenzangst, besonders bei den Älteren. Jeder macht nur das Nötigste, sichert sich ab, um nicht bei Fehlern ertappt zu werden, und bewirbt sich, wo er kann, wenn er noch Chancen für sich sieht. Die anderen haben resigniert und leben von der vagen Hoffnung, dass es schon irgendwie weitergehen wird.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Mich hat man querversetzt, was nichts weiter heißt, als dass ich nie wieder befördert werde. Mit meinem jetzigen Gehalt würde ich es in diesem Leben nicht mal mehr schaffen, auch nur ein einziges Segelboot zu kaufen.“

„Und warum bist du jetzt hier?“

„Du hast mir doch einmal erzählt, wie unglücklich du dich in deiner Firma fühlst, weil du unterbezahlt bist und gemobbt wirst. Regelrecht ausgebeutet kommst du dir vor, hast du gesagt.“

Karin nickte stumm.

„Ihr seid eine Konzerntochter, nicht wahr?“

„Ja. Der Hauptsitz ist in London.“

„Das vereinfacht die Sache.“

„Planst du etwa einen Rachefeldzug?“

„Ich würde gern einigen Heuschrecken die Rendite versauen.“

„Wenn du mich dabeihaben willst, solltest du nicht in Rätseln sprechen.“

Jonas zögerte kurz. „In Phase eins möchte ich mit dir in kreativer Zusammenarbeit sämtliche Möglichkeiten auflisten, um an möglichst viel Geld unserer Firmen zu kommen, und zwar sowohl legale als auch illegale Aktivitäten, dazu Risikohöhe und Schwierigkeitsgrad ihrer Realisierung, objektiv und subjektiv.“

„Wie meinst du das?“

„Nun, den Kassierer zu überfallen oder ihn zu meucheln, mag objektiv ganz einfach sein, aber ich glaube nicht, dass wir dazu die nötigen Qualifikationen mitbringen.“

„Und was geschieht in Phase zwei?“

„Das sag ich dir, wenn wir mit der ersten durch sind.“

„Hast du kein Vertrauen?“

„Ich kenne dich kaum, Karin. Ich weiß nichts von dir, nicht einmal, wie alt du bist. Deswegen habe ich eben auch diese dämliche Abtreibungsfrage gestellt. Sorry, aber ich wollte genau wissen, wie du zu deinem Sohn stehst.“

Karin sah ihn erstaunt an. „Und ich dachte …“ Sie brach ab. „Das heißt, du tust selten etwas grundlos.“

„Könnte man so sagen.“

„Dann hast du mich nach ganz bestimmten Kriterien ausgesucht?“

„Natürlich. Warum bin ich wohl Junggeselle? Ich könnte zu einer flatterhaften Büromaus, die sich alles, was sie besitzt, über den Arsch hängt und täglich mit einem neuen Zwirn in die Firma kommt, keine vertrauensvolle Beziehung entwickeln.“

„So bist du also auf mich gekommen“, sagte sie und nickte langsam. „Die arme, verhärmte, graue Maus, die an keiner Abteilungsfeier teilnimmt, weil sie abends immer schnell nach Hause muss. Jetzt begreife ich auch, warum du damals nicht versucht hast, mit mir … Ich bin für dich nur so ein geschlechtsloses Antiweibchen, das …“

„Unsinn!“, widersprach Jonas. „Steigere dich nicht in irgendetwas in hinein. Es geht nicht um die äußere Form. Ich habe eher Angst vor diesen Frauen. Sie sind unberechenbar und neigen zur Hysterie, wenn es nicht nach ihrem Willen geht. Weißt du, Karin, wenn wir wirklich etwas gemeinsam in der besprochenen Richtung tun sollten, dann wird uns das viel mehr zusammenschweißen, als es jeder Ehevertrag könnte. Wir sind danach völlig aufeinander angewiesen und müssen uns daher blind vertrauen können.“

Sie kaute an ihrer Unterlippe und sah ihn zweifelnd an.

„Stell dir nur einmal vor, es klappt tatsächlich und du besitzt plötzlich Geld … sehr viel Geld. Dann kommt die Zeit, um die ich mich sorge. Wer sagt mir denn, dass du nicht sofort losrennst und für deinen Sohn Extrabehandlungen und Medikamente für Tausende von Euros orderst? Dann könntest du eigentlich gleich auf das nächste Polizeirevier marschieren und Selbstanzeige erstatten.“

„Ich bin fünfundzwanzig“, sagte sie nach einer kurzen Pause.

Er lächelte. „Und ich schon achtundzwanzig, somit viel zu alt für dich.“

„Du denkst also vorwiegend an ungesetzliche Möglichkeiten?“, fragte Karin, ohne auf Jonas’ letzte Bemerkung einzugehen.

„Nicht nur, aber in erster Linie. Alles andere wäre wohl unrealistisch. Die erste Phase ist rein akademisch. Wir beschäftigen uns lediglich mit der Theorie und bauen eine Sammlung unterschiedlichster Ideen auf. Keiner von uns macht sich strafbar. Gleichzeitig lernen wir uns besser kennen, und das Vertrauen wächst.“

„Oder alles bricht auseinander.“

„Genau. Diese Möglichkeit besteht natürlich immer.“

„Wie viele Phasen gibt es denn?“

„Keine Ahnung, drei, vier … das wird bei uns liegen. Ich finde nur, dadurch bekommt das Projekt einen gewissen professionellen Anstrich.“

Sie lächelte. „Und wie lange wird es insgesamt dauern?“

„Sechs bis zwölf Monate.“

Karin zog hörbar die Luft ein. „So lange?“

Jonas nippte an seinem Rotwein. „Weißt du, es ist leicht, in die Kasse zu greifen und wegzulaufen, genauso leicht wird man aber auch erwischt. Die meisten Gesetzesbrecher bereichern sich unter ihrer eigenen Identität und setzen sich dann mit neuen Pässen ab. Das würde ich gern umkehren. Der Witz ist doch, hinterher nicht verdächtigt zu werden. Man benötigt eine perfekte Planung und muss genau wissen, was man eigentlich will und was zu einem passt. Man darf auch danach kein schlechtes Gewissen oder permanente Angst vor Entdeckung haben. Und es muss eine einmalige Sache sein, die für das ganze Leben reicht und jeden von uns immer wieder tief befriedigt, wenn er daran denkt.“

„Hast du keine Angst, ich könnte quatschen oder dich bei der Polizei anschwärzen?“

„Nur zu. Was willst du denen denn verraten? Dass ich plane, einen Kassierer zu ermorden? Wir haben gar keinen.“

Karin sah ihm fest in die Augen, dann sagte sie: „Also gut, lass uns anfangen.“

„Langsam, nur nicht so schnell!“ Jonas schüttelte den Kopf. „Wir werden es überschlafen. Vielleicht denkst du morgen ganz anders darüber, es ist schließlich nicht ohne Risiko. Hast du moralische Bedenken? Was geschieht mit Mark, wenn du im Gefängnis sitzt? Wobei du, sollten dir später Skrupel kommen, natürlich immer noch aussteigen kannst. Wir hätten dann lediglich unsere Zeit fehlinvestiert. Wenn der Point of no Return erreicht ist, werde ich es dir rechtzeitig sagen. Lass uns morgen noch einmal darüber reden. Ich würde euch gern zum Essen einladen. Im Alten Land ist jetzt Kirschblüte. Wir könnten mit der Elbfähre nach Cranz fahren.“

„Ach, das wäre allerdings herrlich. Aber ich weiß nicht, wie Mark morgen drauf ist. Ich könnte natürlich Windeln einpacken …“

„Sag es mir morgen. Ich ruf dich so gegen zehn an. Ist das okay?“

„Ist es, Jonas.“

„Eines noch: die Kommandostruktur. Ich bin gerne bereit, alles mit dir zu diskutieren und mir deine Meinung und sämtliche Vorbehalte oder Einwände anzuhören, aber sollte keine Einigung zustande kommen, habe ich das letzte Wort. Das ist wie bei einem Segeltörn, einer muss der Kapitän sein.“

Sie sah ihn an. „Macho.“

„Wenn du damit nicht leben kannst, sag es gleich. Dann blasen wir die Sache ab, bevor sie begonnen hat. Im Übrigen bin ich weder ein Macho noch ein Mistkerl, du störrische Emanze.“

Als Jonas gegen Mitternacht heimwärts fuhr, vermied er es, in die Nähe des Colombo zu kommen, und nahm sich fest vor, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit die letzten Umzugskartons auszupacken.

Zwei

Wer von Rainer Härtel sagte, es ginge ihm sehr gut, der untertrieb maßlos. Härtel war geschäftsführender Gesellschafter einer florierenden Maschinenbaufabrik in Frankfurt mit mehr als hundertfünfzig Mitarbeitern und einem Auftragsbestand von über zehn Monaten. Er besaß ein großes Haus im Taunus, diverse Aktienpakete, Lebensversicherungen sowie ein Luxemburger Nummernkonto und hatte in seinem Leben eigentlich fast immer alles richtig gemacht – bis zu dem Tag, an dem er Klaus Sielaff traf.

Härtel hielt sich gerade im Zuge eines notwendigen Kundenbesuchs bei einem Schiffsausrüster, mit dem er bestimmte sicherheitstechnische Probleme erörterte, in Hamburg auf, als er Sielaff, der nach eigenen Angaben Inhaber eines auf den Bereich Objektschutz spezialisierten Unternehmens war, über den Weg lief. Nachdem die geschäftlichen Angelegenheiten abgehandelt waren, genoss man zu dritt noch einige Drinks, und als Härtel danach zurück ins Marriott wollte, machte der Schiffsausrüster den Vorschlag, ein gepflegtes Dinner einzunehmen und auf St. Pauli noch einige Shows zu besuchen.

Da Härtel in dem Glauben aufgewachsen war‚ der Kunde habe immer recht, und auch weil er schon lange den nie offen ausgesprochenen Wunsch mit sich herumschleppte, einmal im Leben die Große Freiheit, den Hans-Albers-Platz oder die berüchtigte Herbertstraße kennenzulernen, erklärte er sich einverstanden. Er hatte nicht das geringste Interesse daran, sich von käuflichen Damen beglücken zu lassen, schließlich liebte er seine Frau und seine beiden bereits erwachsenen Kinder, und seine Ehe funktionierte auch auf diesem Gebiet; aber er wollte nur einmal mitreden können, wenn seine Kollegen nach den Arbeitgeberverbandssitzungen mit detaillierten Kenntnissen aus den Rotlichtvierteln Frankfurts, Kölns, Wiens oder Basels brillierten. Und so sagte er Ja, wo er eigentlich Nein hätte sagen müssen, und das Verhängnis nahm seinen Lauf.

Man speiste sehr ordentlich im Fischereihafenrestaurant, genoss den Elbblick, die Seezunge und den Chablis. Härtel war bester Laune und erzählte voller Stolz von seiner gut gehenden Firma, seinem Haus und seiner glücklichen Ehe. Um den überhöhten Getränkepreisen auf dem Kiez so weit wie möglich aus dem Wege zu gehen, trank man noch eine weitere Flasche Wein.

„Ein Fisch muss ja schließlich auch schwimmen“, bemerkte Sielaff kichernd und wiederholte, als niemand darauf reagierte, diesen etwas peinlichen Spruch. Überhaupt schien er schon nach kürzester Zeit reichlich angeheitert zu sein. Härtel und sein Geschäftspartner grinsten sich vielsagend an. Abschließend bestand Sielaff noch auf drei doppelten Linie Aquavit, wozu er die sattsam bekannte Geschichte zum Besten gab, dass dieser Schnaps, den man jetzt zu sich nähme, über vier Monate in alten Sherry-Fässern auf einem Schiff rund um den Erdball gereist war und dabei zweimal den Äquator – die Linie, wie die Norweger sagen – überquert hatte.

Ein Taxi brachte die drei schließlich zur Reeperbahn, wo sie sich vor dem Café Keese absetzen ließen und weiter in Richtung Große Freiheit schlenderten.

„Hier sollten wir unsere Zeit nicht vertrödeln“, meinte Sielaff. „In diesen Schuppen ist überhaupt nichts los, da bekommt man im Fernsehen schärfere Sachen zu sehen. Das ist einer der Nachteile dieser neuen Entwicklung. Früher gab’s hier einen Bumsschuppen neben dem anderen, doch heute sieht man nur noch Operettenhäuser, Theater, jugendfreien Striptease und Fresslokale. Aber ich kann Ihnen versprechen“, fuhr er mit dem Ansatz eines leichten Lallens fort, „in der Freiheit und Umgebung, da brennt noch der Baum!“

Der Schiffsausrüster, der laut eigener Aussage den Kiez auch nur vom Hörensagen kannte, sah offensichtlich keine Veranlassung, anders lautende Beurteilungen von sich zu geben. Er schien den kommenden Ereignissen mit Gelassenheit entgegenzublicken, zumal Härtel und Sielaff ja bezahlen würden. Somit machte Sielaff ohne Gegenstimme den Fremdenführer und war damit für die Auswahl der zu besuchenden Etablissements verantwortlich. Härtel war froh, einen offensichtlichen Intimkenner dieser Hamburger Szene dabeizuhaben, der ihn an die Brennpunkte des Geschehens führen würde. Er nahm sich vor, nur mäßig zu trinken, um jedes Detail bewusst zu erleben und später darüber berichten zu können.

Bevor es jedoch richtig losgehen sollte, steuerte Sielaff noch einen Imbiss an. „Hier in der Nähe stand mal Hamburgs bekannteste Würstchenbude, die Heiße Ecke“, verkündete er und biss genüsslich in seine Currywurst. „Man hat sogar ein Musical nach ihr benannt. Ölsardinen wären eigentlich noch besser, um den Alkohol zu neutralisieren, allerdings gibt’s die hier leider nicht. Aber …“ Er unterbrach sich und rülpste anerkennend. „… auch dieses Zeug bildet eine solide Unterlage.“

Auch später, als Härtel immer wieder verzweifelt versuchte, sich an den genauen Ablauf der Nacht zu erinnern, fielen ihm diese Passagen mühelos wieder ein. Selbst die Besuche in Susis Show Bar, im Doll House und in der Monica Bar, wo er mit ungläubigem Erstaunen Geschehnisse erlebt hatte, die er tags zuvor einfach noch nicht für möglich gehalten hätte, waren ihm in allen Einzelheiten im Gedächtnis haften geblieben. Auch die völlig nackten Damen, die eben noch ihren Life-Sex-Auftritt mit muskulösen, dunkelhäutigen Männern professionell zelebriert hatten und sich direkt danach im Eva-Kostüm an ihren Tisch setzten (eine davon auf seinen Schoß), woraufhin er Champagner servieren ließ, dessen Preis auf der Getränkekarte nicht zu erkennen war, da die Taschenlampe des Obers immer nur flüchtig darüber hinweghuschte, waren ihm unvergesslich geblieben.

Härtels Probleme begannen eigentlich erst, als sowohl sein Kunde als auch er selbst den Abend beenden wollten und Sielaff sie noch zu einem allerletzten Besuch überredete. „Eine wahre Spezialität“, versprach er ihnen. „Da kommt so schnell kein Tourist hin. Wenn ihr das erlebt habt, kann euch keiner mehr etwas erzählen.“

Sie waren inzwischen zum vertraulichen Du übergegangen. Soweit Härtel sich erinnern konnte, hatten sie in Susis Show Bar Brüderschaft getrunken, mit Champagner (wahrscheinlich vom Discounter) zu hundertfünfzig Euro die Flasche, und eigentlich hatten beide keine rechte Lust mehr auf eine Fortsetzung des Abends, aber die Aussicht darauf, anschließend endlich nach Hause oder ins Hotel zurückkehren zu können, ließ sie zustimmen.

Sie bogen von der Großen Freiheit rechts in die Schmuckstraße ein, und danach hatte Rainer Härtel keinerlei Erinnerung mehr an irgendwelche Straßennamen, da sie immer nur hinter Sielaff herliefen, der ihnen zielgerichtet vorauseilte. Einmal meinte er, ein Schild mit der Aufschrift Hamburger Berg gesehen zu haben, aber das hielt er dann doch für eine Sinnestäuschung, denn wo sollte es hier wohl einen Berg geben? Als sie endlich das besagte Lokal erreichten, wusste er weder, in welcher Straße es lag, noch wie es hieß. Sielaff wurde mit lautem Hallo begrüßt, und man machte für sie eine Ecke frei, wo sie zwischen einigen spärlich bekleideten Damen platziert wurden. Härtel blickte nach oben. An der Decke waren Fernseher angebracht, die unterschiedliche Pornofilme zeigten. Ächzen und Stöhnen drang aus den verschiedensten Richtungen an seine Ohren. Für jeden Geschmack etwas, dachte er, obgleich er Ähnliches noch nie im Leben gesehen hatte.

Erst als er seinen Blick wieder senkte, wurde ihm bewusst, wie nahe er an einer gut proportionierten Dame saß, die so unfassbar große Brüste hatte, dass er ungewollt an das verlängerte Wochenende erinnert wurde, das er im Sommer zuvor gemeinsam mit seiner Frau im Allgäu verbracht und wo er über die prallen Euter glücklicher Kühe gestaunt hatte.

„Das gefällt dir wohl“, unterbrach eine rauchige Stimme seine Gedanken. „Wenn du schön nett zu Lina bist, darfst du sie auch mal anfassen.“ Sie zwinkerte mit einem Auge; das andere war leicht geschwollen und blaugrün verfärbt.

Wahrscheinlich hat ihr Zuhälter ihr wegen schlechter Umsätze eine gescheuert, dachte Härtel, während Lina sich inzwischen bemühte, noch näher an ihn heranzurücken, obgleich das technisch kaum möglich schien.

„Nun sei doch nich’ so schüchtern“, kicherte sie und begann, ungeniert an seiner Hose zu nesteln.

Während Härtel noch verzweifelt überlegte, wie er sich der Zudringlichkeit dieses fürchterlichen Weibsbildes erwehren sollte, durchdrang Sielaffs Stimme den chaotischen Lärm. „Hey, Rainer! Vom Wirt, geht aufs Haus. Reich ihm das mal rüber, Lina!“

Die Angesprochene tat, wie ihr befohlen, und beugte sich mit ausgestrecktem Arm so weit über ihn, dass sich eine ihrer Brüste aus der viel zu kleinen Verankerung löste und ihm buchstäblich in den Schoß fiel. Zu seinem Leidwesen befand sich auch noch ihre schweißnasse Achselhöhle unmittelbar vor seiner Nase, sodass er fürchtete, ohnmächtig zu werden. Lina setzte sich zurück auf ihren Platz und reichte ihm ein gefülltes Cocktailglas. „From the House, Süßer.“

Härtel beobachtete noch, wie sie ihre Brust wieder geschickt einpferchte, hörte, wie Sielaff Prost, Rainer! brüllte, nahm nur einen mäßigen Schluck, weil er der Meinung war, an diesem Abend bereits genug getrunken zu haben, und erinnerte sich ab diesem Zeitpunkt an absolut nichts mehr …

*

Als er aufwachte, blickte er direkt in Sielaffs Gesicht, der sich mit sorgenvoller Miene über ihn beugte, den Kopf schüttelte und ständig die gleichen Worte wiederholte: „Rainer, Rainer, wie konntest du nur …“

„Wo bin ich?“, krächzte Härtel und griff sich augenblicklich mit beiden Händen an den Kopf, der sich in konzentrischen Kreisen von seinem Körper entfernte, frei im Raum schwebte und zu platzen drohte.

„In deinem Hotelbett“, erwiderte Sielaff mürrisch und machte sich an der Minibar zu schaffen.

„Okay … aber wieso sind Sie hier?“

„Weil ich dich hierhergeschafft habe. Kein Taxifahrer wollte dich mitnehmen, besoffen und verschmiert, wie du warst. Die dachten alle, du kotzt ihnen das Auto voll. Und dann noch das Blut an deinem Hemd …“

„Blut?“, wiederholte Härtel ungläubig. „Was denn für Blut?“

„Sei bloß ruhig, sonst flippe ich aus. An das Hotelpersonal musste ich auch noch einige Scheine verteilen, damit sie ihren Mund halten. Die ganze Aktion hat mich über dreihundert Euro gekostet.“

„Wieso duzen Sie mich eigentlich?“

„Herrgott, auch das hat er vergessen! Weil wir in Susis Show Bar Brüderschaft getrunken haben, auf meine Kosten übrigens. Ich bin der Klaus. Mensch, was hat mich der Abend Geld gekostet.“

„Was ist denn nun mit dem Blut? Bin ich etwa verletzt?“

Sielaff sah ihn mitleidig an. „Entweder willst du mich verarschen oder du hattest wirklich den größten Blackout deines Lebens. Dass du so weit gehen würdest, konnte doch niemand ahnen. Oder hätte ich es wissen müssen? Lebt das ganze Jahr zwischen seinen Gämsen im Gebirge und will dann bei uns mal richtig die Sau rauslassen.“

Im Taunus gibt es keine Gämsen, wollte Härtel widersprechen, fand aber nicht die Kraft dazu. „Würdest du mich jetzt bitte schön endlich darüber aufklären, was gestern Abend eigentlich geschehen ist“, sagte er nach einer kurzen Pause und wunderte sich gleichzeitig darüber, den Satz fehlerfrei ausgesprochen zu haben. Sein Kopf war inzwischen unversehrt zu ihm zurückgekehrt und nahm wieder die von ihm erwarteten Aufgaben wahr.

„Also gut. Kannst du dich wenigstens noch an Lina erinnern?“

„Jeder Mann, der Lina einmal gesehen hat, kann sich an sie erinnern.“

„Na, wenigstens etwas. Du bist mit ihr in den ersten Stock gegangen und hast uns beiden mitteilen lassen, du würdest die ganze Nacht mit ihr verbringen. Wir haben zunächst noch einige Zeit gewartet, sind dann aber gegangen. Auf der Reeperbahn hat sich jeder ein eigenes Taxi genommen. Ich war kaum zu Hause, da läutete das Telefon. Der Wirt war in der Leitung. Das ist übrigens ein ganz honoriger Mann, ich kenne ihn schon seit Jahren. Er fragte mich, ob ich etwas für dich tun wolle, sonst würde er jetzt die Polizei rufen. Mehr wollte er am Telefon nicht sagen. Ich konnte dich natürlich nicht hängen lassen, nachdem wir jetzt Duzfreunde sind, und bin sofort wieder hin. Mein erster Gedanke war, du könntest womöglich die Rechnung nicht bezahlen, also hab ich mir noch ein paar Extrascheine eingesteckt“, fügte Sielaff hinzu, bevor er verstummte.

„Nun erzähl schon weiter!“, drängte Härtel. „Was war dann?“

„Dann habe ich dich auf dem Bett liegen sehen, blutverschmiert und mit einem Messer in der Hand. Lina lag halb unter dir, brutal abgeschlachtet.“

„Das … das ist völlig unmöglich“, stotterte Härtel abwehrend. „Ich verabscheue jegliche Gewalt!“

„Du hast ihr mindestens zehn Mal in die Brüste gestochen“, fuhr Sielaff ungerührt fort. „Sie war tot.“

„Aber ich habe doch gar kein Messer bei mir gehabt“, verteidigte sich Härtel verzweifelt.

„Der Wirt war außer sich. Ich konnte ihn nur mühsam beruhigen. Immer wieder hat er betont, dass seine Existenz auf dem Spiel stehe. Er würde sich mitschuldig machen, wenn er die Polizei nicht verständige, und wolle nicht für dich in den Knast, was ich irgendwie auch verstehen kann“, sagte Sielaff mitfühlend und schwieg.

Härtel war inzwischen aufgestanden. Seine rasenden Kopfschmerzen waren nach diesen schrecklichen Neuigkeiten wie weggeblasen. Nur mit Strümpfen und Slip bekleidet, sah er sich im Zimmer um. „Wo sind meine Klamotten?“

„Hose, Jacke und Unterhemd habe ich ins Bad geschmissen, damit du hier nicht auch noch die Betten versaust. Dein Oberhemd hat der Wirt.“

„Was zum Teufel will er denn damit?“, fragte Härtel und ging ins Bad.

„Es steht dein Name im Kragen, und mit Linas Blut daran ist es ein erstklassiges Beweisstück. Deinen Ausweis hat er übrigens auch behalten, nur für den Fall, dass du dich dagegen entscheidest. Er will heute noch von dir hören.“

Härtel wurde immer unruhiger. Während er sich wusch, quälten ihn dunkle Vorahnungen auf eine sorgenvolle Zukunft. „Was will er hören? Und wofür soll ich mich entscheiden?“

„Mensch, verstehst du denn gar nichts? Der Wirt will das hohe Risiko, dich laufen zu lassen, nur eingehen, wenn du ihm sämtliche Kosten ersetzt. Lina war zwar nur eine Nutte, aber sein bestes Pferd im Stall. Mit ihren Mega-Titten hat sie locker tausend Euro täglich gemacht. So ein Verlust schmerzt natürlich.“

Härtel zog sich ein frisches Hemd an. „Wie viel will er denn haben?“, fragte er, wohl wissend, dass dies der entscheidende Punkt war.

„Sieh mal Rainer, Lina hätte es, schlapp gerechnet, noch gute fünf oder sechs Jahre gemacht, sagt der Wirt. Sie war noch fest im Fleisch und an der Nadel hing sie auch nicht. Er rechnet zu deinen Gunsten nur dreihundert Mille pro Jahr, mal fünf sind das anderthalb Millionen.“

Als Härtel ihm empört einen Vogel zeigte, fuhr Sielaff fort: „Warte doch erst einmal ab. Das will er ja gar nicht alles haben. Er hat mir aufgetragen, dir mitzuteilen, dass er bereit wäre, sich den Schaden mit dir zu teilen. Also siebenhundertfünfzigtausend.“

„Du kannst dem Kerl ausrichten, er kann mich mal am Arsch lecken. Von mir gibt es keinen Cent.“

„Das könnte ich ihm natürlich sagen …“, meinte Sielaff bedächtig, „aber ob das sehr klug von dir wäre?“

„Was hat er denn schon gegen mich in der Hand? Meinen Ausweis und ein Hemd von mir. Das wurde mir beides gestohlen, als ich die Dame beglückt habe. Wo ist sie überhaupt?“

„Sie liegt noch in ihrem Zimmer. Erst wenn du zusagst, wird der Wirt sie entsorgen, andernfalls werden die Bullen sie da finden. Und vergiss auch nicht das Messer“, fügte Sielaff hinzu. „Blutverschmiert und mit deinen Fingerabdrücken.“

„Das hat man mir in die Hand gedrückt, als ich irgendwie weggetreten war. Genau!“ Härtel schnippte mit den Fingern und zeigte auf Sielaff. Nach und nach erinnerte er sich an immer neue Details. „Nach dem Gesöff, das er ausgegeben hat, weiß ich von nichts mehr. Wahrscheinlich waren K.o.-Tropfen oder Ähnliches darin enthalten.“

„Rainer, nun wirst du aber unlogisch. Dann hätten wir doch auch etwas merken müssen.“

Härtel sah Sielaff scharf an. „Du redest immer gegen mich und für ihn. Bist du etwa am Inkasso beteiligt?“

Sielaff sprang abrupt auf. „Du bist ein beschissen undankbarer Zeitgenosse, Rainer. Ich setze mich für dich ein und riskiere meinen eigenen Hals, schließlich ist die Vertuschung eines Mordes kein Kavaliersdelikt. Außerdem trete ich für dich mit einer erheblichen Summe in Vorlage, und du verdächtigst mich!“

„Was hast du für mich ausgelegt?“

„Er wollte zehn Mille im Voraus haben für den ganzen Schweinekram im Haus, ganz gleich, wie du dich entscheidest. Sonst hätte ich dich nicht mitnehmen können. Er hatte da einige finstere Schlägertypen bei sich.“

„Das Geld bekommst du wieder. Tut mir leid, ich bin völlig durcheinander.“

„Kann ich verstehen.“

„Ich werde aber trotzdem nicht zahlen.“ Härtel hatte sich inzwischen angezogen und fühlte sich etwas besser. Außerdem war er sich völlig sicher, diese Lina nicht erstochen zu haben.

„So ein spektakulärer Mordprozess geht durch alle Medien. Denk mal an deine Firma und deine Frau, Rainer. Selbst wenn man dich freispricht, etwas bleibt immer hängen.“

Härtel fuhr der Schreck durch die Glieder. Seine Frau, seine Kinder! An sie hatte er noch gar nicht gedacht. Dass er bei diesem Mädchen gewesen war, ließ sich wohl kaum noch leugnen. Auch seine Kundschaft, durchwegs ehrbare, anständige, erzkonservative Geschäftsleute – zumindest vermittelten sie diesen Eindruck –, sie alle würden ihn fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. „Ich brauche Bedenkzeit“, stammelte er.

„Nur bis heute Abend, hat der Wirt gesagt.“

„Warum sagst du eigentlich immer nur der Wirt? Hat der Kerl keinen Namen?“

„Weißt du, Rainer, in diesem Milieu bedeutet der bürgerliche Name nichts. Er wird auch nie verwendet. Jeder hat einen … wie soll ich sagen … Künstler- oder Szenenamen.“

„Und wie heißt unser Künstler?“

Sielaff tat sich offensichtlich schwer und schien mit sich zu kämpfen. „Na gut, ich will’s dir sagen, obgleich er mich zur Sau macht, wenn er davon erfährt. Er wird Porno-Kalle genannt, wegen seiner kleinen Schwäche mit den Fernsehern. Du erinnerst dich?“

Nur zu gut, dachte Härtel. Was gäbe er dafür, diese Nacht ungeschehen machen zu können. „Wo hat dieser Porno-Kalle denn seinen Betrieb? Es gibt doch sicher eine Firmenadresse mit Straße, Hausnummer, Postleitzahl, Telefon und Bankkonto.“

„Weißt du, Rainer“, antwortete Sielaff mit offenkundiger Verlegenheit, „die Usancen auf dem Kiez unterscheiden sich gewaltig von denen im legalen Bereich des Wirtschaftslebens, in dem wir tätig sind. Bei Geschäften dieser Größenordnung wird ausschließlich Barzahlung akzeptiert, und zwar ohne jeden schriftlichen Nachweis, versteht sich. Das heißt: keine Rechnungsbelege, keine Übernahmequittungen. Du übergibst das Geld, er gibt dir die Hand, und ab dann gilt Vertrauen gegen Vertrauen und absolutes Stillschweigen über den abgeschlossenen Deal.“

Härtel wollte sich schon wieder an die Stirn fassen, als ihm einfiel, dass er zumindest ansatzweise mit seinen großen Lieferanten und Abnehmern schon seit vielen Jahren auf die gleiche Art Geschäfte machte. Sobald ein Kunde telefonisch bei ihm bestellte, ließ er die Produktion anlaufen; die offiziellen schriftlichen Unterlagen kamen oft erst Wochen später.

„Na gut“, lenkte er schließlich ein, „aber eine Adresse wird Porno-Kalle ja wohl haben. Vielleicht gibt er ja noch einen für mich aus, wenn ich ihn mal wieder besuche.“

„Ich stehe auf deiner Seite, Rainer, das weißt du“, wand sich Sielaff wie ein Aal, „aber eine der Bedingungen dieses Deals ist: keine Namen, keine Adresse. Ersteren habe ich dir, entgegen der Absprache, bereits preisgegeben. Zwing mich jetzt nicht auch noch dazu, weitere Details zu verraten. Das würde meine Gesundheit in hohem Maße gefährden.“

Wieso hast du eigentlich keinen dicken Kopf?, fragte sich Härtel misstrauisch. Schon beim Essen warst du doch viel abgefüllter als ich. Endlich erwachte der vertraute Kampfgeist in ihm zu neuem Leben. Er war Chef von über hundertfünfzig Mitarbeitern, die er, nachdem sein Vater das Unternehmen gegründet hatte, in zweiter Generation führte und bezahlte, und er würde sich ganz bestimmt nicht von einem verkommenen Kaschemmenwirt erpressen lassen. „Das heißt, ich kann jetzt tagelang über euren beschissenen Kiez laufen, um diesen Puff wiederzufinden“, knurrte er verärgert. „Wenn dieser Typ meint, er muss mich anzeigen, dann soll er es doch tun. Entweder ich erhalte seine Adresse, oder er bekommt keinen Cent … und du auch nicht, Klaus“, setzte er noch einen drauf.

„Wie gesagt, es ist deine Entscheidung“, bemerkte Sielaff gleichmütig. „Du solltest sie nur nicht treffen, ohne dir die Bilder angesehen zu haben.“

„Bilder? Was für Bilder?“

„Ich dachte, ich könnte sie dir ersparen, aber es muss wohl sein, damit du nicht in dein Unglück rennst.“ Er zog einen Umschlag aus seiner Sakkotasche, den er auf die Minibar legte. „Sieh dir das mal an. Ich habe auch nichts davon gewusst, sonst hätte ich euch nicht dort hingeführt. Was glaubst du, wie viele Vorwürfe ich mir deswegen in den letzten Stunden schon gemacht habe.“

Härtel öffnete den Umschlag. Die erste Farbaufnahme zeigte eindeutig ihn, halbnackt, mit geschlossenen Augen im Bett sitzend, den Rücken an die Wand gelehnt, die Dienste einer Dame genießend, die gerade damit beschäftigt war, ihm einen zu blasen. Man konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber die seitlich hervorquellenden Brüste ließen vermuten, dass es Lina war. Die folgenden Aufnahmen waren ähnlicher Natur. Er stets mit erkennbarem Gesicht, von ihr nur die Rückseite. Auf einem Foto sah er sich mit dem Kopf zwischen ihren gespreizten Beinen, wobei Lina lüstern zu ihm hinuntersah. Die letzten vier Aufnahmen brachen seinen Widerstand. Sie zeigten ihn und die blutüberströmte Lina mit zerstochenen Brüsten und heraushängender Zunge. Er lag ohne Hose, aber im Hemd halb über ihr, eine Hand um ihren Hals gekrallt, in der anderen ein blutiges Messer.

Rainer ließ die Bilder fallen. „Frag deinen Pornotypen, wann und wo er das Geld übergeben haben will. Ich verlange die Negative und sämtliche Exemplare dafür sowie die Zusage, dass ich im Leben nie wieder von ihm hören werde.“

„So ist es vereinbart.“

„Aus welchem Grund sind überhaupt Aufnahmen gemacht worden?“

„Kalle sagt, das wäre eine Neuerung, deswegen wusste ich auch nichts davon. Man macht einige Fotos und gibt sie dem Kunden mit, sozusagen als kleines Souvenir vom Kiez für die nächste Herrenrunde.“

In Rainer verstärkte sich das ungute Gefühl, hereingelegt worden zu sein. Er hätte Lina niemals umbringen können. Was waren das bloß für Menschen, die eine Frau töteten, um von ihm Geld zu kassieren?

Sielaff wurde von einem Moment auf den anderen sehr förmlich. „Ich soll als Mittelsmann fungieren. Sämtliche Informationen und Zahlungen werden ohne Ausnahme nur über mich abgewickelt. So bleibt die gewünschte Vertraulichkeit gewahrt, und du musst dich vor allem nicht mit diesen schwierigen Kieztypen auseinandersetzen. Ach ja, zum Abschluss noch etwas Positives.“ Er lächelte aufmunternd. „Es ist dir erlaubt, die siebenhundertfünfzig Mille in zwei Raten zu begleichen. Die Zahlungen sind Montag und Mittwoch nächster Woche fällig.“

„Montag? Heute ist schon Mittwoch … nein, warte mal … Donnerstag. Mittwoch war die Besprechung. Ich muss erst nach Hause und dort versuchen, Anlagen zu verflüssigen. Solche Summen habe ich nicht unter dem Kopfkissen liegen, da muss ich mir noch einiges einfallen lassen. Ich kann nicht einfach zu meiner Hausbank gehen und mir einen derartigen Betrag in bar auszahlen lassen, dann ruft der Filialleiter erst meine Frau und gleich danach die Klapsmühle an.“

„Red keinen Stuss! Bankangestellte sind an das Bankgeheimnis gebunden. Und was hat deine Göttergattin damit zu tun? Ich dachte, die Firma gehört dir?“

„Tut sie auch, aber meine Frau ist mit fünfundzwanzig Prozent am Unternehmen beteiligt und hat in finanziellen Angelegenheiten ein eingeschränktes Mitspracherecht.“

„So etwas hat Kalle anscheinend schon vorausgesehen. Falls du darauf drängen solltest, hat er gesagt, wäre er gerne bereit, von Montag auf Dienstag zu verlängern. Aber der Mittwoch bleibt fix. Länger geht es einfach nicht, Lina riecht jetzt schon.“

„Das hat mich schon die ganze Zeit beschäftigt …“ Härtel schüttelte den Kopf. „Wieso macht man seelenruhig Aufnahmen, statt Lina sofort zu Hilfe zu kommen?“

„Was meinst du wohl, wie es da zuging? Als der Fotograf merkte, was in eurem Separee abläuft, ist er sofort schreiend nach unten gestürzt, hat sich aber allein nicht in das Zimmer getraut, in dem du mit dem Messer im Blutrausch … na ja, du weißt schon. Als dann endlich zwei von Kalles Schlägertypen gekommen sind und dich von Lina weggerissen haben, war schon alles zu spät.“

„Dann gibt es noch mehr Tatzeugen?“

„Ja … aber die tun alle, was Kalle sagt.“

Drei

Wie abgesprochen rief Jonas am nächsten Morgen Karin an, die sich auf den bevorstehenden Ausflug freute. Sie gab allerdings zu bedenken, dass bei ihrem Sohn im Laufe des Tages sicherlich ein- bis zweimal die Windeln gewechselt werden müssten.

„Ich hoffe, es macht dir nichts aus …“, fügte sie unsicher hinzu.

„Solange ich nicht dazu abkommandiert werde, habe ich keinerlei Einwände.“ Plötzlich hörte er im Hintergrund eine fipsige Kinderstimme. „War das gerade Mark?“

„Oh!“, reagierte Karin hörbar erstaunt. „Du hast gerade zum ersten Mal seinen Namen genannt. Bisher hast du immer nur sehr distanziert von meinem Sohn gesprochen.“

„Tatsächlich? Ist mir gar nicht aufgefallen. Worauf du so achtest … Ich sollte wohl meine Wortwahl besser kontrollieren.“