Da scheint kein Licht am Horizont - Martin F. Kind - E-Book

Da scheint kein Licht am Horizont E-Book

Martin F. Kind

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Beschreibung

Das Leben ist schön ... ... oder? Diese Frage ist wohl nicht so einfach zu beantworten. Doch eines ist sicher: Das Leben ist reich an Emotionen. Schuld, Glück, Trauer, Hoffnung, Liebe, Schmerz, Reue, Leidenschaft, Freude, Gier. Sie alle bilden einen der Grundpfeiler dessen, was unsere Existenz ausmacht. Und egal, ob es gerade bergauf geht oder bergab. Die Emotionen werden nie verschwinden. Und das ist doch das Schöne im Leben ... oder?

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Für alle, die wissen, dass man Tränen aus

unterschiedlichen Gründen vergießen kann.

Inhalt

Der letzte Tag

oder

Als die Erde still stand

Die Autofahrt

Der Froschprinz

Die Trennung

Totenackertanz

Das Leben ist schön

Am Grab

Die Frage nach dem Sinn

Der letzte Tag oder Als die Erde still stand

Das Unglück trat mit einer derartigen Kraft und Wucht ein, dass schon allein sein Auftreten verheerende Spuren hinterließ. Doch im Vergleich zu seinen Folgen, war es nur ein kurzer Auftakt in einem gewaltig orchestrierten Werk der Zerstörung.

Der kleine Planet, der nicht einmal in den unzähligen Enzyklopädien, Karten und Verzeichnissen der zahlreichen fortschrittlichen Kulturen verzeichnet war, die in der Galaxie entstanden und wieder vergingen, zitterte heftig und war völlig unvorbereitet auf das, was kommen sollte. Vollkommen unvorbereitet waren auch die kleinen Geschöpfe, die auf dem Planeten lebten. Die meisten Gruuhks, so nannten sie sich selbst – denn bei den unzähligen, fortschrittlichen Kulturen, die in der Galaxie entstanden und wieder vergingen, waren sie gänzlich unbekannt –, hatten dem großen Ereignis noch in freudiger Erwartung entgegengefiebert, nicht ahnend, dass es solch dramatische Folgen haben sollte. Das größte und letzte Unglück einer gutmütigen, friedlichen Zivilisation. Die ultimative Katastrophe.

Dabei fing die ganze Sache mit den Gruuhks ziemlich vielversprechend an. Irgendwann, vor einer beinahe unvorstellbaren Anzahl an Jahren, es mögen wohl einige Milliarden gewesen sein, entstand der kleine Planet, auf dem sich das entwickeln sollte, was sich eines Tages selbst als Gruuhk bezeichnen würde.

Damals war es ruhig, ganz still. Nur ein paar halbwüchsige Meteore zischten schnurstracks und beschwingt durch den leeren Raum zwischen einigen gelangweilt herumtreibenden Felsbrocken.

Dann geschah lange Zeit nichts. Es war so langweilig, dass einem schon von kurzem Zuschauen die Augen zufielen und man sich lieber das bunte Treiben in anderen Galaxien betrachtete, in denen Sterne zu Roten Riesen wurden, um sich daraufhin in Weiße Zwerge zu verwandeln, um dann irgendwann weiter zu einem Neutronenstern oder gar zu einem schwarzen Loch zu werden. Letztere waren in jenen Tagen besonders beliebt, weil man praktischerweise ganz viele Dinge in ihnen verschwinden lassen konnte.

Hach, das war eine tolle Zeit in der die Galaxien funkelten und blitzten vor lauter Protuberanzen, Supernoven, leuchtenden Photosphären und einer Unmenge Sternenstaubes …

Aber zurück zu dem kleinen Planeten, auf dem in einer fernen Zukunft die Gruuhks leben sollten. Plötzlich war er da, nicht größer als ein Staubkorn. Hüpfte auf und ab, schaute sich interessiert um und blieb nicht lange alleine. Er musste sich wohl einen schönen Platz in der jungen Galaxie gesucht haben, denn schon bald kamen andere Staubkörner daher und schlossen sich ihm an.

So wuchs und wuchs er, und je mehr Masse er aufbaute, desto mehr Staubkörner, Gesteinsbrocken und Geröll zog er an. Er versuchte, sich nichts darauf einzubilden, aber es war schon ziemlich offensichtlich, dass er eine außergewöhnliche Anziehungskraft hatte.

Er wuchs und wuchs und wuchs, bis er eine recht stattliche Größe erreicht hatte. Ungefähr zu dieser Zeit beruhigte sich das nicht mehr ganz so junge Sternensystem und es flogen weniger Meteoriten und Geröll durch die Gegend, und folglich wurde der kleine Planet auch von weniger Gesteinsmassen erschüttert und konnte den lieben langen Tag das tun, was kleine Planeten halt gerne so tun – er drehte sich um die große, helle Sonne, die in dem System entstanden war. Dabei passte er auf, dass er sich auch immer gleichmäßig um sich selbst drehte. Er wollte schließlich keinen einseitigen Sonnenbrand riskieren.

Und so rotierte und rotierte er, bis irgendwann ein riesiger Komet seinen Weg kreuzte. Dieser hatte sich aus einem benachbarten Sonnensystem auf den Weg gemacht, um mal zu schauen, was woanders so los war. Leider wurde sein Entdeckerdrang jäh gestoppt, als er auf der Oberfläche des kleinen Planeten einschlug. Es gab einen lauten Rums, der Komet zerbarst in tausende Teilchen und hinterließ eine ziemlich unschöne Delle in der Kruste des jungen Himmelskörpers.

Der kleine Planet war von diesem ungeplanten Zusammentreffen nicht wirklich begeistert. Der Schweif des Kometen war ja schon ganz nett anzusehen gewesen, als er an der Sonne vorbeizog, doch diesen Zusammenprallfand er jetzt nicht wirklich witzig. Der Komet bestand nämlich hauptsächlich aus Methan, Ammoniak und Eis. Und das Methan und das Ammoniak stanken so fürchterlich, dass die anderen Planeten im Sonnensystem sich nach ihm umdrehten und ihre Nasen rümpften – na ja, das hätten sie zumindest getan, wenn sie eine gehabt hätten. Einige seiner Mitplaneten waren sogar so angewidert von dem Geruch, den ihr junger Freund verströmte, dass sie einfach kurzer Hand die Umlaufbahn änderten, um auf größere Distanz zu dem kleinen Stinker zu gehen.

Trotzdem sollte sich dieser Einschlag im Nachhinein als gar nicht so unschön für den kleinen Planeten herausstellen, denn der Komet hatte noch weitere Elemente in sich getragen, die zusammen mit den anderen Stoffen eine schützende Gashülle um den Planeten legten und ihn so vor der Sonnenstrahlung schützten. Das war sehr angenehm für ihn, denn er war so nun besser vor der Hitze geschützt und konnte sich weitaus unbesorgter um die riesige Wärmequelle drehen. Auch begann das Eis zu schmelzen, welches der Komet hinterlassen hatte, und breitete sich in gewaltigen Meeren auf der Oberfläche aus. Dies senkte seine Temperatur zusätzlich und half ihm an besonders heißen Tagen kühl und entspannt seine Bahnen im System zu ziehen. Er war also alles in allem gar nicht mehr so unglücklich darüber, dass der Komet seinen Weg gekreuzt hatte.

Was er nicht wusste war, dass dem Kometen noch andere Dinge angehaftet hatten. Und diese winzigen, unscheinbaren Teilchen führten plötzlich dazu, dass etwas Seltsames auf der Oberfläche des kleinen Planeten passierte. Es bildete sich nämlich das, was die Gruuhks in Millionen von Jahren Leben nennen würden. Und dieses Leben fing schlagartig an, sich auf dem Planeten auszubreiten.

Am Anfang waren es nur Einzeller, die sich in den Ozeanen und an deren Stränden tummelten. Doch irgendwann wurde es ihnen zu langweilig immer nur als einzelne Zelle ihr Dasein zu fristen, und sie beschlossen sich zu Verbänden zusammenzutun. Das war gar keine schlechte Idee, denn es stellte sich heraus, dass die Zellen, die in der Mitte solcher Verbände lagen, viel besser vor den Umwelteinflüssen der kalten und rauen Meere geschützt waren. So fingen die Zellen an, sich zu teilen und immer stärker zu vermehren.

Um sich noch effektiver vor der Umwelt schützen zu können, begannen die Zellen in den Verbänden alsbald spezielle Aufgaben zu übernehmen. Die, die weiter außen lagen, spezialisierten sich darauf die Restlichen gegen die Außenwelt abzuschirmen und veränderten ihre Morphologie derart, dass sie härter und undurchlässiger für Strahlen und Partikel wurden. Andere, im Inneren liegende Zellen, konzentrierten sich hingegen auf die Produktion von Wärme, damit den äußeren Schutzzellen nicht zu kalt würde, denn das Wasser war schon sehr eisig zu jener Zeit.

Wieder andere überlegten sich, dass es doch sinnvoll wäre einen Mechanismus einzusetzen, mit dem man sich fortbewegen könne, denn immer nur an einer Stelle im Ozean abzuhängen erschien ihnen als zu langweilig. Sie wollten die Weiten der Meere entdecken und unbekannte Orte erkunden. Also streckten und reckten sie sich und bildeten längliche Fortsätze aus, mit denen sich der ganze Zellverband bewegen konnte.

Das funktionierte prinzipiell ganz gut, doch merkte man schnell, dass man ja gar nicht wusste, wo man denn war, und ob man dort schon gewesen sei, denn man konnte die Außenwelt ja gar nicht wirklich wahrnehmen. Außerdem beschwerten sich die äußeren Zellen, dass die Antriebszellen den Zellverband immer wieder gegen Hindernisse steuerten und die Außenzellen ständig mit Steinen, Wänden und anderen Dingen kollidierten.

Also beschloss die Zellen, dass sich eine Delegation des Gesamtverbandes um die Erkennung der Umwelt kümmern sollte, und sie mutierten zu Sinneszellen, deren Aufgabe darin bestand, den Fortbewegungszellen rechtzeitig Bescheid zu geben, wenn man auf ein Hindernis zusteuerte. Diese Veränderung war prinzipiell auch gar nicht schlecht. Doch immer wenn eine Sinneszelle ein Objekt erkannte, musste sie ihre Nachbarzelle informieren, die wiederum die Nachricht an ihren unmittelbaren Nachbarn weiter gab, die ihrerseits …

Da die Zellverbände mittlerweile auf mehrere Tausende angewachsen waren, dauerte der Vorgang natürlich jedes Mal eine Ewigkeit, bis die Bewegungszellen die Anweisung zur Kurskorrektur erhielten – wenn überhaupt die richtige Information ankam. Oft lief das Ganze nämlich ungefähr so ab:

Sinneszelle 1: »Achtung, Gesteinsbrocken voraus!«

Sinneszelle 2: »Achtung, Gestein und Brocken voraus!«

Sinneszelle 3: »Achtung, ein Stein und Flocken voraus!«

Sinneszelle 4: »Was?!«

Sinneszelle 3: »Achtung, ein Stein und Flocken voraus!«

Sinneszelle 4: »Achtung, Hein zieht die Socken aus!«

Rums!

Außenzelle: »Aua! Was macht ihr denn schon wieder für einen Quatsch?!«

Meist lief es so oder so ähnlich, bis die Außenzellen sich massiv beschwerten und drohten, sich nach innen zu verkrümeln, was natürlich die gesamte Schutzwirkung für den Zellverband zunichte gemacht hätte. Unter diesem Druck erklärten sich einige Zellen bereit sich auf die Übertragung von Informationen zu spezialisieren, damit die Nachrichten von den Sinneszellen so schnell wie möglich an die Bewegungszellen weitergeleitet werden konnten. Und da es den Außenzellen ganz schön auf die Nerven gegangen war, dass die Kommunikation im Zellverband derart langsam lief, nannten sie sich kurzerhand Nervenzellen.

Das ganze System lief super. Je mehr Zellen spezielle Aufgaben übernahmen, desto besser, sicherer und komfortabler konnte sich der Zellverband in der Umgebung bewegen. Aus den einfachen Zellverbänden wurden so immer komplexere Formen, die sich besser und besser an die Umgebung anpassen konnten. So entstanden die ersten mehrzelligen Organismen.

Das Meer fing an, vor Leben zu erblühen. Immer spezieller wurden die einzelnen Funktionen und blieben nicht nur im eigenen Mikrokosmos. Es bildeten sich Lebewesen, die Sauerstoff produzierten und Kohlendioxid ausschieden, und welche, die sich genau anders herum mit Energie versorgten. Große fraßen Kleine, bis diese darauf keine Lust mehr hatten und sich in Schwärmen zusammenschlossen, um die Großen zu jagen. Manche Geschöpfe glitten nur durch die Meere und sammelten mit weit aufgerissenem Rachen alles ein, was ihnen vor das Maul kam, andere erlernten ausgefeilte Jagdtechniken, um ihrer Beute nachzustellen. Es herrschte ein buntes Treiben unter der Wasseroberfläche, und der kleine Planet freute sich über das Gewusel und Gewirre auf seiner Oberfläche.

Irgendwann wurde es einigen Lebewesen zu langweilig, einfach immer nur im Meer herumzuschwimmen, und sie warfen einen Blick auf die Strände und alles, was außerhalb des Wassers lag. Anfangs noch sehr vorsichtig, ließen sie sich mit einer Welle an den Strand spülen, schnupperten ein wenig an der frischen Luft und rollten sich dann wieder zurück in das salzige Meer. Das wiederholten sie zwei, drei Mal, bis ihnen die neue Umgebung ungefährlich vorkam. Dann begannen sie Merkmale auszuprägen, die ihnen das Leben an Land erleichterten. Die Flossen wurden zu Armen und Beinen, Kiemen zu Lungen, Schuppen zu Haut und Fell, bis letztendlich das Leben auch die nicht vom Wasser umspülten Regionen des kleinen Planeten eroberte.

Die Zeit verging, und mit jeder Generation dieser schier unendlichen Anzahl von Arten passten sie sich mehr und mehr an die Umwelt und das Klima an. Bald lief, schwamm, flatterte, krabbelte, surrte oder brummte es in allen erdenklichen ökologischen Nischen.

Es vergingen Millionen – ach was sage ich – hunderte Millionen von Jahren, bis eines Tages aus all den Anpassungen, Veränderungen und Neukreationen ein Lebewesen hervorging, das besonders und einzigartig in der langen Geschichte des kleinen Planeten war. Diese Einzigartigkeit lag nicht in seinem Aussehen, welches wirklich nicht schön, wenngleich auch recht drollig anzusehen war. Es lag auch nicht in seiner Vollkommenheit, denn das war es ganz und gar nicht. Es war die Art, wie es plötzlich anfing seine Umgebung wahrzunehmen. Denn es sah nicht mehr nur den Ast, an dem es hängen konnte, oder den Stein, über den es stolperte. Nein, es sah in diesen Objekten Werkzeuge.

Der Stein erwies sich als nützlich, um damit beispielsweise Früchte zu öffnen. Auf den Ast konnte man sich wunderbar stützen, wenn man sich mal wieder den Fuß am Stein gestoßen hatte. Egal was es fand, immer versuchte es, Sachen zu kombinieren, um sie noch effektiver einsetzen zu können. Das war bisher einmalig auf dem kleinen Planeten und sollte für lange Zeit auch einmalig bleiben. Es war genau jenes Wesen, was die Gruuhks eines Tages als Ur-Gru bezeichnen würden, nachdem sie im Boden versteinerte Knochen ihrer entfernten und längst ausgestorbenen Vorfahren finden würden.

Die Ur-Gru – die natürlich nicht wussten, dass man ihnen eines Tages diesen Namen geben würde, und sich vielleicht auch gerne ein Mitspracherecht bei der Kreierung ihrer Bezeichnung gewünscht hätten – waren eine durchweg friedliche Rasse. Sie kannten weder Groll noch Wut. Hass war ihnen fremd. Ihre ganze Natur spiegelte sich in einem liebevollen und glückseligen Wesen wieder. Und doch erfüllte sie der Drang, sich ständig verbessern zu müssen, so als wenn ihr aktueller Zustand ihnen nicht genüge und etwas sie vorantriebe, unermüdlich nach ihrem Optimum zu streben. Sie wussten selbstverständlich nicht, dass ihnen dieser Drang seit den ersten Tagen des Lebens auf dem kleinen Planeten innewohnte, denn sie stammten in direkter Linie vom allerersten Zellverband ab, der vor Millionen von Jahren entschied, niemals aufzuhören, sich an seine Umwelt anzupassen. So probierten, experimentierten und optimierten sie den lieben langen Tag mit allem, was sie hier und da fanden. Dabei waren sie eigentlich gut, so wie sie waren.

Die größten Exemplare wuchsen kaum höher als einen Meter, eine Maßeinheit, die sie natürlich noch nicht kannten. Im Schnitt waren sie aber einen guten Ur-Gru-Kopf kleiner. Die Ur-Gru hatten dichtes Fell, welches häufig bräunlich glänzte. Ganz selten kam es vor, dass einige von ihnen noch helleres Haar bekamen und dann gelbliche oder rote Färbungen ausprägten. Im Alter änderte sich die Behaarung – wie bei den meisten Lebewesen – zu grau oder weiß. Die Ur-Gru besaßen zwei Arme und zwei Beine. Das hatte sich im Laufe der Evolution als recht praktisch herausgestellt, sodass sie dies einfach von ihren Vorfahren übernommen hatten. Und im Allgemeinen kamen sie damit ganz gut zurecht, obwohl sich einige unter ihnen zuweilen einen dritten Arm wünschten, damit sie, wenn sie mit dem ersten an einem Ast hingen, und den anderen dazu nutzten, genüsslich einen Apfel zu essen, sie sich gleichzeitig am Po kratzen konnten, wenn sie den Drang danach verspürten.

Aus ihrem dichten Fell guckte, außer den rundlichen Ohren, nur die kleine knollige Nase hervor, mit der die Ur-Gru vortrefflich riechen konnten. Sie besaßen große, braune Augen und in ihrem Blick lag oft eine freundlich verträumte Unschuld.

Weibchen und Männchen unterschieden sich nur in wenigen Merkmalen. Die Männchen hatten breitere Füße und einen robusteren Körperbau, was sich vermutlich evolutionär bedingt entwickelte, denn sie waren ein gutes Stück ungeschickter als die Weibchen, was ihnen oft Beulen, Dellen und blaue Flecke einbrachte. Das war auch der Grund, warum die Männchen sich lieber auf dem Boden aufhielten, anstatt wie die Weibchen hoch in die Wipfel der Bäume zu klettern. Nun konnte man allerdings nicht behaupten, dass die Männchen ganz und gar schlechte Kletterer waren. Doch ihre Instinkte verleiteten sie oft zu recht waghalsigem Imponiergehabe den Weibchen gegenüber, was nicht selten dazu führte, dass sie abenteuerliche Sprünge zwischen den gewaltigen Ästen der Ur-Wälder vollführten, die leider häufig – ihre Tollpatschigkeit wurde ja bereits erwähnt – darin endeten, dass sie, statt sich an den bewundernden Ausrufen der Weiberschaft erfreuen zu können, sich auf dem Boden, nach hartem Aufprall, unter dem dichten Blattwerk beschämt vor dem schallenden Gelächter ihrer Artgenossen verstecken mussten.

Oft konnte man auch beobachten, dass die Weibchen, wenn sie mit einem Arm an einem Ast hingen und gleichzeitig einen Apfel verspeisten, die Frucht lieber fallen ließen, um sich um einen aufkommenden Juckreiz zu kümmern. Von den Männchen hingegen vernahm man regelmäßig einen überraschten Aufschrei, während sie die Frucht in der einen Hand haltend, und mit der anderen das Hinterteil kratzend, in die Tiefe stürzten.

Deshalb vermieden die Männchen es, wenn möglich, auf die Bäume zu klettern und durchstreiften lieber das Dickicht auf der Suche nach neuen Dingen, die sie miteinander kombinieren konnten.

Interessanterweise führte dies dazu, dass die Ur-Gru irgendwann fast gänzlich am Boden lebten. Denn die Weibchen, auch wenn sie es niemals zugegeben hätten, hatten die Männchen nämlich schrecklich doll gerne. Und wenn sie von ihnen längere Zeit getrennt waren, ging es ihnen nicht wirklich gut. Also beschlossen auch die Weibchen, von den Bäumen herunterzusteigen und auf dem Boden zu leben, damit sie mehr Zeit mit den Männchen verbringen konnten.

Überhaupt war das ganze Ur-Gru-sche Zusammenleben sehr harmonisch. Konflikte gab es kaum. Die Ur-Gru gingen lieber zuvorkommend und freimütig mit den anderen um. Gab es doch einmal eine größere Rangelei, so wurde diese üblicherweise durch anschließende Kuscheleinheiten aus der Welt geschafft. Die Ur-Gru vertrugen sich unglaublich gerne, ja sie hatten sogar eine überschwängliche Freude daran, und Harmonie bildete einen der grundlegendsten Aspekte ihres sozialen Zusammenlebens. Es war ihnen wichtiger ein harmonisches Umfeld zu schaffen, als auf ihr eigenes Recht zu beharren.

Da sie von Natur aus wenig Drang verspürten, immer Recht haben zu wollen, sich hervorzutun oder auf andere Weise zu profilieren, gab es auch keine wirkliche Rangordnung zwischen den Mitgliedern einer Gruppe. Die Jüngeren schauten oft zu den Älteren auf, weil sie schon viel gesehen und probiert hatten und man viel von ihnen lernen konnte. Ansonsten waren sie alle gleich. Sie lebten quasi in einer Art riesigem Familienverband.

Die Kindererziehung teilten die Ur-Gru zu gleichen Teilen zwischen Männchen und Weibchen auf, wobei es üblich war, dass die Weibchen dem Nachwuchs das Klettern beibrachten, während sich die Männchen eher darauf konzentrierten ihr Wissen über »Alles was man mit drei Armen anstellen könnte, wenn man denn welche hätte« an die nächste Generation weiterzugeben. Abgesehen davon übernahmen sie alle anderen elterlichen Pflichten gemeinsam und bereiteten ihre Jungen zusammen auf das große Abenteuer des Lebens vor. Für einen Ur-Gru bestand dieses Abenteuer hauptsächlich darin, neue Entdeckungen zu machen.

So verbesserten sich die Ur-Gru von Generation zu Generation. Sie fanden heraus, dass ein geschwollener Fuß, der wieder einmal mit einem am Boden liegenden Stein kollidiert war, besser heilte, wenn man ihn in kaltes Flusswasser hielt. Aus Blättern konnte man Dächer bauen, die einem vor Regen schützten. Und die Äste ließen sich als vortreffliche Jagdinstrumente nutzen. Sie lernten sogar, um die Steine, an denen sie sich immer wieder die Füße stießen, einen großen Bogen zu machen.

Sie verwerteten und formten ihre Umgebung und verwendeten dafür alles, was ihnen sinnvoll erschien. Mit jeder Generation wuchsen Wissen und Erfahrung, und aus den Ur-Gru wurden die Ur-Gruh, die sich zu den Gruuh entwickelten, aus denen schlussendlich die Gruuhk hervorgingen.

Auf diesem langen Weg, der mehrere Millionen Jahre dauerte, wurde aus den einstigen Baumbewohnern ein Volk von Hüttenbauern, die sich in Hausbauer verwandelten, welche dann anfingen Dörfer zu bilden, die sie zu Städten ausbauten, bis sich ganze Zivilisationen von Gruuhks über den Planeten erstreckten.

Körperlich gab es im Laufe dieser Entwicklung kaum sichtbare Veränderungen. Nur an Körpergröße legten sie etwas zu. Sie überragten ihre Ur-Gru-Vorfahren jetzt um ungefähr eineinhalb Meter. Einige wenige, hauptsächlich männliche Vertreter der Gruukh-Spezies, hatten sich sogar einen dritten Arm wachsen lassen. Auch ihr Fell hatten sie nicht abgelegt, sie fanden es einfach viel zu kuschelig.

Ihr Intellekt war in gleichem Maße wie ihre Geschicklichkeit gewachsen, und sie hatten sich eine nahezu perfekte Umgebung geschaffen. Mit der Natur lebten sie im Einklang, denn sie schätzten das Leben jeglicher Kreatur sehr hoch ein. Wie vor Millionen von Jahren ernährten sie sich nur von dem, was sie benötigten. Völlerei, Raubbau, sinnlose Massenproduktion waren ihnen gänzlich fremd, und somit unterschieden sie sich erheblich von den meisten Kulturen, die auf anderen Planeten in dieser und entfernten Galaxien entstanden waren.

Nur eines trieb sie unermüdlich um, und das lag nicht nur an dem in ihren Genen beheimateten Drang sich immer verbessern zu wollen. Es war die Frage nach dem Sinn. Die Frage nach dem Grund für ihre Existenz. Die Frage nach dem großen Warum.

Einem jeden von ihnen, egal ob Mann oder Frau, Greis oder Kind, wohnte diese Frage inne. Es fühlte sich für sie an, als wenn sie irgendwann im Laufe ihrer Evolution bereits die Antwort auf diese Frage gekannt hatten. Und es nagte an ihnen, noch schlimmer als ihr Trieb immer neue Sachen erfinden zu müssen, dass sie nicht auf die Lösung kamen.

So verwunderte es auch nicht, dass die Gruuhks einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Philosophen, Dichtern und Denkern hervorbrachten. Neben den immerwährenden Fortschritten in den übrigen Wissenschaften, rätselten und knobelten ganze Forschungsinstitute an der Antwort auf die Große Frage.

Es geschah an jenem Tag, an dem unsere kleine Geschichte begann. Ein junger Gruuhk-Forscher namens Kaahl war zeitig in aller Frühe aufgestanden. Er hatte ein spartanisches Frühstück genossen und war dann aus der Wohnung gestürmt, um so schnell wie möglich in sein Forschungsinstitut zu gelangen. Heute war ein großer Tag für ihn. Nein, heute war der Tag.

In den letzten drei Wochen hatte er alles fieberhaft überprüft und kontrolliert. Jede einzelne Schraube nachgezogen, jede Steckverbindung begutachtet, jede Schweißnaht abgeklopft. Nichts wollte er dem Zufall überlassen.

Wie alle Gruuhks umtrieb ihn die Suche nach der Antwort – der Antwort auf die Frage nach dem Sinn. Fast sein gesamtes Leben hatte er danach geforscht. Schon als kleiner Junge lies es ihn nicht los. Oft hatte er des Nachts von seinem Bettchen aus in den Sternenhimmel geblickt, vollends überzeugt, die Antwort läge irgendwo da draußen.

In einer dieser Nächte beschloss er, dass er sein Leben der Erforschung dieser Frage widmen würde. Und das tat er auch.

Genau wie dieser kleine Junge hatte er eines Tages vom Dach seines Forschungsinstituts aus in den Nachthimmel geschaut, als ihm plötzlich eine erhellende Idee kam. Die Sterne funkelten und blitzten, und er zog gedanklich Linien zwischen den Gestirnen, um die verschiedenen Sternbilder zu sehen. Er sah den Großen Baum, das Aufgeklappte Buch, den Dreiarmigen Philosophen und viele andere, die er schon seit seiner Kindheit kannte, und die sich jede Nacht unverändert aufs Neue zeigten.

Während er unsichtbare Striche zwischen den funkelnden Punkten malte, kam ihm plötzlich ein Gedanke. Jeder Gruuhk hatte sich bis jetzt vergeblich bemüht das Rätsel zu knacken. Vielleicht, so dachte er sich, könne ein Individuum das Problem gar nicht alleine lösen. Vielleicht bräuchte man alle zusammen.

Damals, in jener Nacht, beschloss er, eine Maschine zu bauen, die alle Gruuhks miteinander verbinden könnte – ein kollektiver Geist, millionenfach intelligenter als jeder einzelne von ihnen.

Gleich am nächsten Tag begann er mit den Plänen. Da er nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügte, wandte er sich mit seinem Plan an alle, die er kannte. Er hielt damit nicht hinter dem Berg oder verheimlichte sein Tun, denn er war – wie alle anderen Gruuhks – nicht auf Lobhudeleien aus. Hier ging es schließlich darum ein für alle Mal die Große Frage zu beantworten.

Schnell verbreitete sich die Idee des jungen Forschers über den gesamten Planeten, so bahnbrechend, revolutionär, einfach gigantisch klang sie. Einen derart grandiosen Einfall hatte es auf dem kleinen Planeten nicht mehr gegeben, seit vor mehreren Milliarden Jahren einige Zellen beschlossen hatten, dass es viel zu langweilig sei, alleine durch den Ozean zu treiben.

Die Welt der Gruuhks war begeistert. Endlich schien man der Antwort zum Greifen nahe. Unzählige Unterstützer fanden sich, um das Projekt nach vorne zu treiben. Staatsoberhäupter verlegten Forschungsetats, private Investoren und Milliardäre spendeten große Teile ihrer Vermögen. Forscher, Techniker, Handwerker aus allen Regionen des kleinen Planeten halfen mit Erfahrung, Wissen und Fähigkeiten. Es war das größte Projekt, das die Gruuhks jemals in Angriff genommen hatten.

Zwei Jahre planten, tüftelten und bauten sie unermüdlich unter der Leitung des jungen Wissenschaftlers. Dann kam endlich der ersehnte Tag. Der Tag, an dem er nach einem spartanischen Frühstück in sein Labor geeilt war, um noch einmal jede Schraube der großen Maschine zu überprüfen.

Nun war es soweit. Er stand vor der riesigen Apparatur, die alles verändern sollte. Hunderte Gruuhks drängten sich in der gewaltigen Halle. Tausende standen davor und blickten auf große Leinwände. Millionen verfolgten das Spektakel an den heimischen Bildbetrachtern.