Das, was am Ende des Tages von dem übrig blieb, was am Anfang noch nicht da war - Martin F. Kind - E-Book

Das, was am Ende des Tages von dem übrig blieb, was am Anfang noch nicht da war E-Book

Martin F. Kind

4,7

Beschreibung

Und alles ändert sich... Die Sonne geht auf. Die Sonne geht unter. Und dazwischen? Da passiert das, was man Leben nennt. Oder Sterben. Oder beides. Und auch all diese wundersamen, tollen Momente, die man genießt oder einfach ungesehen an sich vorbei ziehen lässt. Doch manchmal stellt man sich die Frage: Ist das, was am Morgen geboren wurde immer am Ende des Tages noch da? Können wir alles festhalten, was wir nicht verlieren wollen? Und können wir immer abhängen, was uns verfolgt? Die Sonne geht auf. Die Sonne geht unter. Doch was kommt danach?...

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Für all jene, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben…und für alle anderen

Inhalt

Geschichten

Der Anfang

Herbstbaum

Tick Tack

Freundlichkeit macht mir Angst

An der Klippe

Hilflos

Unterm Tannenbaum

Humpelpump am blauen See

Der Boxkampf

Spuren im Schnee

Thomas der Tomatentroll

Fensterlandschaft

Epilog

Geschichten

Es fing ganz klein an. Ein Gedanke. Ein Buchstabe. Ein Wort. Dann ein weiteres. Und noch eins. Ein Punkt. Schon hatte sich der erste Satz geformt, dem darauf hin unzählige folgten – eine Geschichte war geboren. Sie schmulte, noch etwas unsicher, über den Rand des schmalen Papiers, auf dem sie gedruckt war, blinzelte ein wenig und erkundete zaghaft ihre Umgebung. Es war dunkel in dem schmalen Raum, nur eine Kerze brannte und spendete ihr etwas Licht. Doch sie war nicht allein. Um sie herum befanden sich tausende anderer Erzählungen.

Die junge Kurzgeschichte schaute umher und war erstaunt. Zu allen Seiten erblickte sie andere Geschichten. Im Regal, an der Decke, auf dem Boden, an den Fenstern, überall waren sie verstreut. Manche kürzer als sie selbst, andere ein gutes Stück länger. Einige waren sogar richtig lange Erzählungen, zusammengeschrieben auf vielen, vielen Seiten. Andere waren jung und kurz, so wie sie selbst. Entzückt erspähte sie sogar eine, die aus nur einem einzigen Satz bestand.

›Sie sieht so niedlich und winzig aus‹, dachte fröhlich die kindliche Geschichte.

Und dann entdeckte sie die Bücher. Dicke, fette Bücher, die sagenumwobene Geschichten beinhalteten.

Die kleine Geschichte war tief beeindruckt, so viele Bücher befanden sich hier. Eines sah besonders imposant aus. Gewaltig und mächtig thronte es in einem Regal, ganz in ihrer Nähe. Es stand erhaben da und schien etwas Besonderes zu sein. Neugierig tippte sie ihm auf den Buchrücken.

»Du, sag mal. Bist du die größte Geschichte aller Zeiten?«, fragte sie voll Ehrfurcht.

Der in Leder gebundene Riese schaute auf die gespannte Geschichte herab. Er musterte sie sorgfältig und erkannte sogleich ihre Kindlichkeit. Plötzlich fing er an zu lachen. Laut, so dass alle seine Buchstaben klapperten.

»Die größte Geschichte aller Zeiten?«, prustete er in einem tiefen Bariton heraus, »Nein, das bin ich nun wirklich nicht, meine kleine Freundin.«

Die kindliche Geschichte sah ihn verblüfft und gleichzeitig erwartungsvoll an, so, als wollte sie gerne wissen, wer denn dann die größte Geschichte aller Zeiten sei.

»Ich bin ja nur ein einfaches Buch, wenn gleich auch ein recht dickes«, antwortete er auf die unausgesprochene Frage und klopfte sich selbst, mit unübersehbarem Stolz, auf den Einband. Der Riese lächelte sanft und deutete dem jungen Spross an, dass er nach oben sehen sollte.

»Aber schau doch einmal dort oben. Da stehen ganze Bände. Und dahinter findest du die Enzyklopädien. Das sind richtig dicke Dinger«, fuhr er fort.

Die kleine Geschichte richtete ihren Blick in die Höhe. Fast hätte sie sich vor Schreck auf ihre eigenen Buchstaben gesetzt. Über ihr schwebten riesige Buchbände, die das Buch, mit dem sie gerade sprach, wie einen Winzling erscheinen ließen.

»Na, beeindruckt?«, fragte der gutmütige Riese.

Die Geschichte nickte. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

»Aber wer sagt denn eigentlich, dass die größte Geschichte aller Zeiten lang sein muss?«, gab das Buch zu bedenken.

»Vielleicht bist du es ja selbst?«

»Nein, nein«, erwiderte die junge Geschichte schüchtern.

»Das bin ich ganz bestimmt nicht.«

Der Gedanke daran war ihr sehr unangenehm. Sie war ja noch so jung und bis jetzt kannte sie niemand. Aber irgendwie fühlte sie sich dadurch auch geschmeichelt – so ein klein wenig.

»Was bist du denn für eine Geschichte?«, erkundigte sich der Riese.

Sie sah auf sich herab und überlegte kurz.

»Ich glaube, ich bin ein Märchen«, antwortete sie.

Der Buchriese überflog ein paar ihrer Zeilen und nickte dann bestätigend.

»Da hast du wohl recht. Und sogar ein ziemlich gutes.«

Das junge Märchen errötete und schaute verlegen zur Seite. Das war ihr nun doch ein wenig peinlich. Das Buch erkannte, dass es sein Gegenüber verlegen gemacht hatte, und versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

»Ich selbst bin ein Roman. Facettenreich erdacht und mit blumiger Eleganz ausgeschmückt«, sprach das Buch. Es war sehr poetisch und romantisch geschrieben und konnte es ab und zu nicht vermeiden auch so zu sprechen.

»Du meinst, nicht alle Geschichten sind Märchen?«, wollte das Märchen wissen, obgleich es sich die Antwort fast denken konnte.

»Aber nein. Wir sind alle verschieden«, begann der alte Roman.

»Es gibt Märchen, so wie dich. Und dann gibt es Romane, so wie mich. Und dann noch Krimis und Dramen und Gruselgeschichten und viele andere Genres. Nicht zu vergessen die Dokumentationen. Die sind mir persönlich aber meist zu langweilig, weil sie oft so sachlich sind. Da mag ich doch lieber die fantasievollen Erzählungen. Am liebsten die von Gnomen und Trollen, oder von Elfen und Feen.«

Er holte kurz Luft und überlegte, was er noch hinzufügen könnte.

»Ach ja! Viele handeln von menschlichen Emotionen. Von Schmerz, Leid, Trauer, Tod, Verleumdung, Qual, Zerrissenheit oder Einsamkeit. Aber auch von Liebe, Freude, Hoffnung, Leidenschaft, Glück, Erfüllung oder Frieden. Und sie sind auch oft für unterschiedliche Zielgruppen geschrieben. Nicht jeder scheint alle Arten von Geschichten zu mögen. Man muss manchmal sehr vorsichtig sein, wem man sich zeigt. Ich habe beispielsweise schon von Komödien für Erwachsene gehört, die Kindern Angst einjagen, anstatt sie zu erheitern. Und auch von Erzählungen, die eigentlich nur für Kinder erdacht sind, die auch Erwachsene zum Lachen bringen. Ich kenne Geschichten, die einen nachdenklich stimmen oder ins Staunen versetzen können. Es gibt so vielfältige Genres: Grusel für die Gänsehaut, Spannung für die Nerven, Romantik für das Herz, Poesie für die Hingabe, Fantasie für die Träumer, Witze für die Lachmuskeln, Dramen für Seele…«

Völlig außer Atem schloss das große Buch seine Aufzählung ab.

»Du siehst, es gibt unzählige Varianten von Geschichten.«

Das kleine Märchen war begeistert. So etwas hatte es nicht erwartet.

»Und du kennst sie alle? Also jede einzelne Geschichte?«

Wieder konnte sich das Buch ein Lächeln nicht verkneifen.

»Nein, das ginge auch gar nicht. Es gibt unendlich viele Geschichten. Und selbst wenn das nicht so wäre, manchmal gehen auch welche verloren. Verschwinden einfach so. Sind plötzlich weg und keiner kann sich mehr an sie erinnern. Dann zum Beispiel, wenn der letzte Mensch, der sie gehört hat, stirbt, ohne sie weiter erzählt oder aufgeschrieben zu haben. In diesem Moment endet die Geschichte und niemand wird sie je wieder erzählen. Keiner wird sagen können, ob sie lustig oder traurig war, einem Angst machte oder zum Nachdenken anregte. Ob sie dafür geschaffen war einem betrübten Gemüt, ein Lächeln einzuhauchen oder das unangenehme Gefühl von aufsteigender Wut zu erzeugen. Vielleicht gehörte sie auch zu den Geschichten, die genutzt werden, um Menschen zu manipulieren, Panik zu verursachen oder anderweitig die Gedanken verzweifelter Wesen mit Lügen anzureichern, damit der Drang nach Macht und Reichtum ihrer verderbten Erfinder befriedigt wird. Solche Geschichten gibt es leider auch, und sie sind oft schwer von den wahren und aufrichtigen zu unterscheiden. Es mag aber auch sein, dass sie einzig und allein verfasst wurde, um dem Schmerz des Autors ein Ventil zu geben und es ihm zu ermöglichen sich selbst zu heilen. All das wird man nicht mehr erfahren, wenn die Geschichte für immer verschwunden ist. Deshalb ist es vollkommen unmöglich alle Geschichten zu kennen.«

Das Märchen schaute bedrückt.

»Und dann ist sie einfach so weg? Für immer und ewig?«

»Naja,«, erwiderte der Roman, »vermutlich. Das kann keiner so genau sagen, da sich ja niemand an sie erinnern kann.«

»Das ist traurig«, sagte die kleine Geschichte.

»Gibt es denn nichts, was man dagegen machen könnte?«

»Nun,«, sprach der dicke Wälzer, »es gibt schon Mittel, um zu verhindern, dass wir verloren gehen. Viele von uns sind auf Papier geschrieben, traditionell durch eine, mit ruhiger Hand geführte, Feder. Einige auf vergilbtem Papier, so wie ich. Andere werden Buchstabe für Buchstabe, mit der Wucht eines metallenen Stempels, durch ein farbiges Band auf den Untergrund geschlagen. Ich habe mir sagen lassen, dass das gar nicht so schlimm ist, wie es klingt. Aber es gibt noch viele andere Möglichkeiten. Zum Beispiel habe ich von welchen gehört, deren Worte in steinerne Platten gehämmert oder in die Rinde eines Baumes geschnitzt wurden. Manch alte Geschichte wird sogar einzig durch einfach gemalte Bilder an einer Wand erzählt und überlässt dem Betrachter mannigfaltigen Freiraum zur Interpretation. Und dann wiederum gibt es jene, die nur erzählt oder gesungen werden. Von Vater zu Sohn, Mutter zu Kind, Frau zu Mann, Freund zu Feind, Generation zu Generation. Bei jedem Erzählen Wort für Wort dieselbe Geschichte. Manchmal aber auch weiter ausgeschmückt und verändert, bahnen sie sich, ohne eine einzige Persistenz, ihren Lauf durch die Zeit, festgehalten nur in den Köpfen derer, die sie vernommen haben. Stück für Stück um ein Wort angereichert oder eine Passage verringert, werden sie geformt, allein durch die Fantasie derer, die sie erzählen und jenen, denen sie erzählt werden.«

»Und in einigen seltenen Fällen,«, fügte er nachdenklich hinzu, »mag es sogar vorkommen, dass eine Geschichte, über Jahrhunderte hinweg modelliert, verändert und geschliffen, plötzlich genauso wiedergegeben wird, wie an dem Tag, als sie das erste Mal von Mund zu Ohr transportiert wurde. Mit dem gleichen Wort beginnend und dem selben Inhalt endend.«

Die kleine Geschichte wirkte zufriedener als kurz zuvor.

»Dann muss ich ja keine Angst haben, dass wir alle eines Tages verschwinden und es keine Geschichten mehr gibt. Ich bin ja auch schon auf Papier geschrieben. Puh, du hattest mir einen gehörigen Schrecken eingejagt. «

Der Roman nickte fürsorglich.

»Geschichten werden nie vollkommen verschwunden sein, da brauchst du dir keine Sorgen machen. Selbst, wenn ab und zu eine verloren geht, es erscheinen ja ständig neue«, sprach das alte Buch.

»Echt?«, fragte die erstaunte Geschichte. »Wie denn?«

»Viele von uns – so wie du und ich – entstehen einfach durch das spontane Aneinanderreihen von Worten. Sie werden beim Erzählen erdacht und immer weiter gesponnen, einem unsichtbaren Faden folgend, der sich durch die Fantasie des Erzählers und der Zuhörenden windet, sich um Erinnerungen schlängelt oder gar neue erzeugt. Andere werden von langer Hand sorgfältig geplant, die Umgebung ihres Kontextes akribisch recherchiert und analysiert, ihr Aufbau und Wirklichkeit detailgenau konzipiert, bevor sie niedergeschrieben oder erzählt werden. Manche passieren einfach auch so. Spontan, im täglichen Leben. Und diese Ereignisse sind so dann erzählenswert, dass sie als Geschichte niedergeschrieben werden, ohne großartig erdacht werden zu müssen.«

»Ja, ja!«, rief das Märchen, »Das mit dem spontanen Ausdenken kenne ich. Das war bei mir genauso.«

»Und nicht nur bei dir.«

Der Roman deutete auf die anderen Geschichten, die auf dem nussbraunen Schreibtisch lagen.

»So wie dich, gibt es ganz offensichtlich noch weitere, die in diesem Zimmer, bei Kerzenlicht, auf diese Art entstanden sind. Wort für Wort einer großen Idee folgend, oder mit jedem Absatz eine neue Richtung einschlagend. So sind sie gewachsen, bis sie sich am Ende gesammelt haben, strukturiert auf gestapeltem Papier. Sorgfältig gebunden in einem gemeinsamen Einband, liegen sie jetzt übereinander in unterschiedlichsten Schreibstilen. Da, wo die eine das romantische Gefühl der Ewigkeit durch tiefgehende, adjektivierte Sätze zum Leser transportieren möchte, probiert eine andere den Weg in das Herz des Betrachters durch einfache, klare Worte zu finden, während die nächste in verspielter Leichtigkeit den Einklang zwischen Leben und Tod zu vermitteln versucht. Und so entfernt und getrennt sie auch wirken, schaut man ganz genau hin, dann seid ihr alle verbunden. Verwoben durch zarte Fäden – feine, winzige Dinge – die euch hauchdünn miteinander verketten und so einen lebendigen, gemeinsamen Rahmen schaffen, der ein größeres Bild erzeugt und die Einzigartigkeit ihrer Einsamkeit aufhebt, um sie in einen größeren Kontext zu heben«, sprach er, leicht geschwollen, wieder von seiner romantischen Natur beeinflusst.

Das kleine Märchen besah sich seine Brüder und Schwestern. Sie waren tatsächlich alle unterschiedlich, einige kurz, einige lang – sogar ein anderes Märchen war dabei. Eine ihrer Schwestern erzählte von hilflosem, tiefgehendem Herzschmerz. Eine andere von den traurigen Irrwegen, die das Leben einschlagen kann, bis es sich an einem Punkt befindet, an dem man nur noch die Wahl zwischen Leben und Tod hat. Sie hatte einen großen Bruder, der von einer winterlichen Reise erzählte und einen, der jemanden bei einer schrecklichen Erkrankung begleitete. Den winzigsten Spross in ihrer Familie fand sie besonders drollig. Er handelte von einem Wecker und war richtig niedlich anzusehen, so süß und putzig war er. Eine ihrer Schwestern war sogar sehr lustig geschrieben. Das kleine Märchen lachte kurz auf, als sie einen Satz über eine dicke Frau in einem Flugzeug las.

Ja, sie gehörten alle zusammen. Obwohl sie nicht genau erklären konnte, was sie verband, war sie froh nicht allein zu sein. Sie spürte, dass nicht nur sie und ihre Geschwister durch ein Band verflochten waren, sondern dass es etwas gab, das alle Geschichten gemeinsam hatten. Jede einzelne auf der großen, weiten Welt.

Der alte Roman sah die junge Geschichte an. Als könne er ihre Gedanken lesen oder wenigstens ihre Frage erahnen, sagte er weise: »Wie viele unterschiedliche Gründe es für die Entstehung von Geschichten gibt, wie viele verschieden Facetten ihrer Weitergabe existieren, wie viele Formen der Aufbewahrung für die Nachwelt erdacht wurden, alle haben wir eins gemeinsam. Ob man es will oder nicht. Ob beabsichtigt oder einfach nur aus Versehen. Ob nur als winziger Hauch, eine flüchtige Illusion oder in gefühlter Gänze und Klarheit. Bei jedem Buch, das man liest, jeder Geschichte, der man lauscht, jedem Satz, den man vernimmt, man schaut unweigerlich in die Seele dessen, der sie erdacht hat. Und manchmal…«, fügte er sanft hinzu, »ganz selten, in stillen Momenten, schaut dieser Mensch auch zurück.«

Das Märchen lächelte. Es war froh eine Geschichte zu sein und war gespannt, wer sie lesen würde. Dann blickte sie auf ihre Brüder und Schwestern, die ebenfalls noch so jung und ungelesen waren, und kam auf die wundervolle Idee, dass sie die Erste sein wollte, die über die Zeilen ihrer Geschwister flog. Sie setze sich in eine gemütliche Ecke, blätterte in ihrem Buch bis zum Anfang und begann zu lesen…

Der Anfang

Langsam drehte er sich im Bett hin und her, die Augen noch immer geschlossen. Es war warm und behaglich. Die Jalousien noch unten, sodass kein Lichtstrahl in das kleine Zimmer fiel. Die Wärme seiner Decke spürend, schlug er die Füße um das untere Ende, wie es so seine Art war, und zog sie mit einer sanftmütigen Bewegung enger um die Schultern. Er wusste nicht, wie spät es war, aber der Schleier der Müdigkeit lag noch geruhsam und gemütlich über ihm. Er atmete tief ein und überlegte, ob er tatsächlich riskieren sollte einen Blick auf den Wecker zu werfen, oder ob er das ungute Gefühl, dass es bereits Zeit zum Aufstehen war, ignorieren sollte, in der Hoffnung, das Schicksal würde sich gnädig erweisen und ihm, durch eine glückliche Fügung, noch einige weitere Stunden wertvollen Schlafes gönnen.

Eigentlich wäre es egal gewesen sich darüber Gedanken zu machen, denn der Wecker würde sein brutales Werk in jedem Fall vollziehen. Doch er hasste es, im Halbschlaf, in seinen Träumen liegend, von diesem Horrorinstrument der Zeitoptimierung fast zu Tode erschreckt zu werden. Also schickte er kurz ein sehr liebloses Stoßgebet an den Gott, der gerade zuhören möge, und öffnete die Augen. Ein Fehler. Die Zahlen 6, 5, 9 grinsten ihm in einem tückischem Rot entgegen und als sei das noch nicht genug, klappten in diesem Moment alle Zahlen um. Tröt. Obwohl er die Gefahr direkt auf sich hatte zukommen sehen, schreckte er zusammen und sein Herz raste, als hätte er gerade die Bestzeit beim Jogging unterboten. Den Gedanken nicht loswerdend, dass sein Stoßgebet erhört wurde, allerdings von einem Gott des boshaften Schabernacks, legte er langsam die Bettdecke beiseite und torkelte zur Quelle der morgendlichen Ruhestörung. Klack. Mit einer automatisierten Bewegung setze er dem Spuk ein Ende.

Noch war es dunkel im Raum, doch er kannte ihn seit Jahren in- und auswendig. Mit seinem linken Auge tastete er langsam die Gegend ab. Das andere hielt er fest verschlossen. Vor Jahren hatte er sich an diesem eine Verletzung zugezogen und der Riss drohte, obwohl schon lange vernarbt, wieder aufzureißen, wenn er das Auge nach dem Schlaf zu schnell öffnete. Er konnte sich noch gut an die Schmerzen erinnern, die er durchlitten hatte, als die Wunde noch frisch war. Drei volle Tage hatte er in nahezu gänzlicher Dunkelheit verbracht. Selbst der leichte Lichteinfall, der ab und zu vom Flur in das Wohnzimmer drang, hatte ihm Qualen bereitet. Er hatte schon zahlreiche Schmerzen und Operationen in seinem Leben über sich ergehen lassen müssen, aber die Erinnerung an diese Zeit verpasste ihm noch immer einen gehörigen Respekt.

Er tastete sich mit dem linken Auge langsam aus dem Zimmer, durch den Flur, in das Bad. Auch hier traute er sich noch nicht, das Licht einzuschalten, doch da das Badfenster nur leicht verhangen war, drang genug Helligkeit herein, um den Weg zur Dusche zu finden. Er mochte es ohnehin nicht am Morgen im Hellen zu stehen, sondern bevorzugte es ganz langsam aufzuwachen, während ihm das warme, fast schon heiße Wasser über den Körper prasselte.

Er drehte langsam an der kalten Armatur und stellte wie gewohnt die richtige Temperatur ein. Danach stieg er vorsichtig in die Kabine, warf ein großes Handtuch über das obere Ende und zog die Tür hinter sich zu. Er genoss dieses Gefühl von Ruhe und Wärme. Die Duschkabine füllte sich mit Wasserdampf. Behutsam ließ er etwas warmes Wasser in die Handflächen laufen und wusch sich das Gesicht. Dabei befeuchtete er das rechte Auge und öffnete es langsam. Alles gut. Kein Schmerz. Das war jeden Morgen der Moment, an dem er das erste Mal tief durchatmete. Nun schloss er die Augen wieder und genoss die angenehme und behütende Umgebung.

Er war so müde, dass er das Bedürfnis hatte wieder einzuschlafen und kurz fragte er sich, ob es ihm tatsächlich gelingen würde. Doch dann trat er langsam einen vorsichtigen Schritt nach vorne, drehte sich um und stellte sich gänzlich unter die Brause. Das Wasser prasselte rhythmisch auf die Kopfhaut und floss dann in langen Rinnsalen den Rücken herunter. Er stand einfach nur da und ließ die Gedanken kreisen. Und in ebendiesen Gedanken ließ er Teile seines vergangenen Lebens Revue passieren.

Er wanderte zurück zu den vielen Jahren des Studiums, in denen er gezwungen war zeitweise drei Jobs anzunehmen, um über die Runden zu kommen. Wenn er ausgelaugt nach Hause kam, hatte er sich meistens schnell etwas zu Essen gemacht, bevor er sich auf seine Bücher und Aufzeichnungen stürzte. Nicht selten war er Stunden später mit einem aufgeschlagenen Buch auf der Brust aufgewacht, der schmerzende Nacken steif von der sitzenden Schlafposition. Oft hatte er dann die verbleibenden Stunden genutzt, um noch das ein oder andere Kapitel zu lesen, bis er wieder zur Arbeit oder Universität fuhr, um sich am Abend erneut in seine Studien zu vertieften. Es war nicht immer leicht, doch die guten Ergebnisse gaben ihm jedes Mal wieder neue Energie. Und der unermüdliche Drang, der ihn vorwärtstrieb, ließ ihm auch keine andere Wahl. Eine Klausur nicht mit der Bestnote abzuschließen, war unvorstellbar. Die zweitbeste Note eine Niederlage, die er nicht selten mit einer Träne im Auge hinnehmen musste.

Er wusste nicht einmal mehr genau, wann er diesen Ehrgeiz entwickelt hatte. Noch zu Schulzeiten hatte er seine Musik und seine Freiheit geliebt, wusste für jeden Tag der Woche einen Club, in den man kostenlos reinkam. Er genoss es fast jede Nacht, berauscht vom Alkohol und vom Leben, durch die Straßen zu ziehen. Frei, einfach frei. Frei und unbeschwert, so als würde es nie ein anderes Leben geben. Lernen interessierte ihn nicht, außer es handelte sich um Riffe, die er mit Leidenschaft auf seiner Gitarre bearbeitete.

Doch dann kam das Studium und mit ihm die Arbeit. Anfangs tat er sich schwer und als die ersten Erfolge ausblieben, war er schon kurz davor alles abzubrechen. Aber der Stolz ließ das nicht zu und so fing er an, sich zusätzlich an den Wochenenden mit dem Stoff zu beschäftigen. Und langsam änderte sich sein Leben. Scheibchenweise erkaufte er sich den Fortschritt, indem er die Freiheit aufgab, bis er am Ende als Jahrgangsbester seinen Abschluss bekam. Ein seltsamer Augenblick, als ihm die Urkunde überreicht wurde. Fünf harte Jahre und er spürte keine Freude. Kein Glück. Nur Leere. Damals hatte er sich noch gewundert, dass dieses Ereignis, für das er so lange gekämpft hatte, ihn dermaßen kalt ließ. Doch dann hatte er sich mit der Promotion ein neues Ziel gesetzt. Der neue große Erfolg, für den er jetzt jeden Tag hart arbeitete. Noch einmal drei Jahre. Dann wollte er endlich wieder frei sein…

Er hatte das Gefühl für die Zeit verloren und konnte nicht genau sagen, wie lange er schon unter der Dusche stand. Am liebsten hätte er sie gar nicht mehr verlassen. Aber ein unerbitterlicher Drang zog an ihm und forderte ihn auf, die schützende, warme Umgebung zu verlassen. Kurz versuchte er noch dagegen anzukämpfen, dann gab er ihm nach und betätigte widerwillig die Drehknäufe an der Wand, bis das Wasser endgültig versiegte.

Stille. Dann Kälte. Es fröstelte ihm und schnell griff er nach dem großen Handtuch, um sich darin einzuwickeln. Doch so sehr er auch die Wassertropfen von der Haut rubbelte, die Kälte blieb. Es war ein Frösteln, das nicht von außen kam, eine Kälte, die sich aus dem Inneren an die Oberfläche kämpfte und ihn mit einem eigenartigen Zittern zurückließ. In das Handtuch gekuschelt, lehnte er sich an die große Heizung, die hinter ihm angebracht war. Doch keine behagliche Wärme breite sich über ihm aus und drängte den inneren Frost zurück.

Erst jetzt bemerkte er, dass er die Duschkabine mit geschlossenen Augen verlassen hatte. Monoton ließ er die Lider auseinander gleiten und blickte gerade aus. Die Lampe war noch immer nicht eingeschaltet aber der stetig älter werdende Tag schickte nun zaghafte Sonnenstrahlen herein, die den Raum leicht erhellten und den einzelnen Gegenständen greifbare Konturen verliehen. Ihm gegenüber, kurz über dem Waschbecken, blickte ihn eine traurige Gestalt an. Sie schien halb zu stehen, halb zu kauern und durchdrang ihn mit einem seltsam verzweifelten und fragenden Blick. Die eingefallenen Augen waren mehr als das Zeugnis früher Morgenstunden und die tiefen Sorgenfalten, die sich auf der Stirn abzeichneten, schienen sich einen permanenten Platz im Gesicht seines Gegenübers erarbeitet zu haben. Dieser Anblick beunruhigte ihn so sehr, dass er das Handtuch noch fester um die Schultern zog, in der Hoffnung es würde ihm mehr Schutz geben. Wovor, wusste er selbst nicht.