Da wir uns lieben - Marie Louise Fischer - E-Book

Da wir uns lieben E-Book

Marie Louise Fischer

0,0

Beschreibung

Arnold Miller lebt zusammen mit seiner Frau Sabine in einem gemütlichen Haus in einer bayerischen Kleinstadt. Drei der vier Kinder sind mittlerweile aus dem Gröbsten heraus, und langsam kann Sabine anfangen, wieder ihr eigenes Leben zu leben. Doch eines Tages gerät ihr Leben aus den Fugen. Arnold wird an der Grenze verhaftet. Was konnte den zuverlässigen Buchhalter und treuen Ehemann veranlassen, den Pfad der Tugend zu verlassen? Denn irgendeinen Grund muss es hierfür doch geben. Hat er eine Geliebte? Handelt es sich um Erpressung? Jetzt kommt die Stunde von Sabine und der ganzen Familie, die diese schwierige Situation meistern müssen.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 729

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marie Louise Fischer

Da wir uns lieben

Roman

SAGA Egmont

Da wir uns lieben

Da wir uns lieben

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1972 by Herrnberger Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718445

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der Schatten des Hauses wuchs in den Garten hinein, aber noch stand Sabine Miller im heißen Licht der gleißenden Augustsonne. Angetan mit weißen Jeans und einer langärmeligen blauen Leinenbluse, die sie vor den Dornen schützen sollte, war sie dabei, ihre Rosen zu pflegen. Über den Arm gehängt trug sie einen strohgeflochtenen Korb, in dem sich die weißen, roten und gelben Blüten häuften. Jetzt war sie bei ihren Lieblingen, den hochstämmigen Parkrosen, angelangt, die ein kleines Rondell am Ende des Rasens bildeten.

Mit Freude betrachtete sie die eben erst eröffnete Knospe einer Gloria Dei, den schmalen roten Rand um das sanfte Gelb des Innenblattes, kämpfte mit sich, ob sie eine andere, schon voll erblühte Rose abschneiden oder ihr noch einen Tag geben sollte, entschied sich dann aber doch für den Schnitt, der den jungen Blüten zugute kommen würde.

Sie ging weiter zu einem lachsroten Exemplar, zupfte behutsam zwei harte, verkrumpelte Außenblätter ab, runzelte die Stirn, als sie an einer noch winzigen Knospe Blattläuse entdeckte, und bestäubte das Ungeziefer. Sabine lächelte, als sie sich einen Kriegsrat der Blattläuse vorstellte, bei dem die Tierchen gegen die Menschen, insbesondere gegen Gärtner und gärtnernde Hausfrau, wetterten.

Sie wirkte sehr jung in diesem Augenblick, so jung, daß ihr niemand ihre vier Kinder und ihre neununddreißig Jahre angesehen hätte. Das glatte blonde Haar, dessen Tönung sie mit einem Aufheller nachzuhelfen pflegte, fiel ihr in die gebräunte Stirn, und ihre Lippen waren voll und rot. Ihre Figur war zwar nicht mehr mädchenhaft, aber immer noch schlank genug, um attraktiv zu sein. Ihre Bewegungen waren anmutig und sicher. Ohne sich dessen bewußt zu sein, summte sie vor sich hin. Sie genoß diese stillen Stunden im Garten, die für sie immer noch nicht alltäglich, sondern wie ein kleines Wunder waren. Erst vor knapp drei Jahren war sie mit ihrer Familie in das Eigenheim am Stadtrand übergesiedelt. Vorher hatten Millers im Zentrum der Kleinstadt gelebt; dort hatte Sabine sich nicht einmal einen Blumenkasten halten können. Aber wo hätte sie damals auch die Zeit hernehmen sollen, sich um einen Garten zu kümmern? Sie hatte schuften und scharren müssen, um ihren Mann und die Kinder anständig zu versorgen und zu kleiden. Erst jetzt, da die drei Großen sie kaum noch belasteten, durfte sie aufatmen. Das jedenfalls versuchte sie sich einzureden, um so den feinen, aber ständigen Schmerz, den ihr das Entwachsen der Kinder verursachte, zu überspielen.

Während Sabine einen Trieb am Stamm der Parkrose entfernte, dachte sie an Torsten, ihren Ältesten – es verging kein Tag, ja, keine Stunde, ohne daß sich ihre Gedanken mit ihm beschäftigten. Mit zwanzig Jahren hatte Torsten seine Familie und die Kleinstadt verlassen und war in jenen Stadtteil Münchens gezogen, der auf junge Leute seines Alters und seiner Art immer noch genug Faszination ausübte: Schwabing. Künstler nannte er sich. Sabine konnte sich nicht vorstellen, wovon er lebte; solange er in Riesberg war, hatte er nie eine von seinen verrückten Klecksereien verkaufen können. Sabine hatten sie zwar gefallen, aber sie wußte, daß ihr Urteil nicht objektiv war; sie schätzte alles, was ihre Kinder taten. Möglich, daß man in München Verständnis für Torstens Kunst hatte – aber gerade in dieser Stadt gab es bestimmt begabte junge Menschen wie Sand am Meer.

Gedankenverloren knipste Sabine einen abgeknickten Rosenzweig ab. Immer wieder versuchte sie, mit Vemunftgründen gegen ihre mütterliche Sehnsucht anzugehen. Es war friedlicher zu Hause geworden, seit Torsten fort war; der dauernde Streit zwischen Vater und Sohn hatte ein Ende genommen. Der Junge war alt genug, um sich allein durchs Leben zu schlagen, ja, vielleicht tat es ihm sogar ganz gut, nicht mehr behütet, beschützt und bevormundet zu werden. Aber das änderte nichts daran, daß er ihr fehlte. Liebend gern hätte sie in München einmal nach dem Rechten gesehen. Aber ihr Mann war dagegen, und hinter seinem Rücken mochte sie nichts unternehmen. Sie hatte ohnehin ein schlechtes Gewissen, weil sie Torsten finanziell unterstützte. Sie wußte, daß sie sich das eigentlich gar nicht leisten konnte; schließlich mußte die ganze Familie sparen, um die Hypothekenzinsen aufzubringen, am Haus waren immer wieder Reparaturen fällig, und ihr geliebter Garten verschlang ebenfalls genug Geld. Es war ungerecht, daß sie die anderen mit Suppen verköstigte, abgestoßene Hemdkragen wendete und Bettlaken flickte, nur um Geld für Torsten zu erübrigen. Aber konnte sie ihn denn einfach verhungern lassen?

Der Schatten hatte jetzt die Parkrosen erreicht. Sabine nahm die Sonnenbrille ab. Ihre Augen waren sehr blau, von einem Kranz winziger Fältchen umgeben. »Sven!« rief sie. »Sven!« Der magere Junge, der sich hinter den abgeernteten Johannisbeerbüschen zusammengerollt hatte, rührte sich nicht. Als die Mutter noch einmal rief, drückte er sich sogar mit den Zeigefingern die Ohren zu, um sich ungestört weiter in sein Schmökerheftchen vertiefen zu können.

Das Fenster unter dem spitzen Giebel des Hauses wurde geöffnet, und Knut steckte den Kopf heraus. »He, Bienchen, was ist?« rief er liebevoll-respektlos zu seiner Mutter hinunter. »Brauchst du Hilfe?«

»O ja, bitte!« Sabine wurde es bewußt, daß die Nachbarn bei dieser Lautstärke jedes Wort mithören konnten. Sie dämpfte ihre Stimme, weil sie sich daran erinnerte, wie sehr sie sich selbst über unnötigen Krach in dieser hellhörigen Wohngegend zu ärgern pflegte. »Würdest du, bitte, den Rasensprenger hierher …«

»Ich kann dich nicht verstehen«, schrie Knut unbekümmert zurück. »Aber ich komme runter!« Wenig später betrat er von der kleinen Loggia her den Garten, der Mutter sehr ähnlich, blauäugig und blond, kaum größer als sie und so muskulös, daß er untersetzt wirkte.

»Stellst du mir, bitte, den Rasensprenger auf?« bat Sabine.

»Na, dann wollen wir mal nicht so sein«, erklärte Knut gönnerhaft, »obwohl ich eigentlich nicht einsehe, wieso Sven sich vor jeder Arbeit drücken darf. Als ich in seinem Alter war …«

»… hatten wir noch kein Haus und keinen Garten«, fiel seine Mutter ihm ins Wort und lächelte ihm beschwichtigend zu. »Sei friedlich, Knut. Schließlich hat Sven Ferien!«

»Ich etwa nicht?«

»Doch. Aber du bist ein großer Junge, der schon begriffen hat, daß man nicht immer nur das tun kann, wozu man Lust hat.«

Knut grinste. »Das war anscheinend ein Fehler von mir.« Er begann den Schlauch aufzurollen.

Sabine klopfte sich mit dem Bügel ihrer Sonnenbrille gegen die Zähne. »Vielleicht hast du sogar recht. Je mehr man kann und je mehr man tut, desto mehr wird einem aufgebürdet.«

»Und so kommt es, daß ich in meinen Semesterferien nicht nur an der Klinik praktizieren, sondern auch Rasensprenger aufstellen muß«, ergänzte Knut mit Grabesstimme.

Sabine machte ihn nicht darauf aufmerksam, daß er sich selbst erboten hatte, ihr zu helfen. Sie kannte seine Art schon. Er genoß es ebenso, gebeten zu werden, wie sie zu beklagen. »Wenn ich wüßte, wo Sven steckt, hätte ich ihn schon rangekriegt«, sagte sie nur.

»Das weißt du also nicht?«

»Nein. Vorhin war er noch hier, und jetzt …«

Knut drehte den Wasserhahn auf, an den der Schlauch angeschlossen war.

Sabine unterbrach sich. »Aber, Knut … du mußt doch erst den Sprenger …«

Knut ließ den Strahl in die Höhe steigen, so daß er einen hohen Bogen beschrieb, um dann hinter den Johannisbeerbüschen niederzupladdem. Sven, den die kalte Dusche auf den Kopf und den nackten, braungebrannten Rücken getroffen hatte, sprang hoch. Knut verfolgte ihn mit dem Wasserstrahl. »Nanu, wen haben wir denn da?« spottete er.

»Das ist nicht fair!« Sven bemühte sich, sein Heftchen in Sicherheit zu bringen. »Mutti, sieh doch, was er tut! Sag ihm, er soll das lassen … Mutti, Mutti!«

»Knut, bitte, hör auf damit!«

Knut lachte. »Eine kalte Dusche ist genau das, was dem Kleinen gefehlt hat!«

Sven änderte seine Taktik. Er warf sein Heft in hohem Bogen in die Loggia und begann unter dem Strahl herumzutanzen. »Ja, prima, genau richtig!« rief er. »Mach mit, Bienchen, du ahnst nicht, wie gut das tut!«

»Ihr beiden Quatschköpfe!« sagte Sabine liebevoll. »Hört endlich auf mit dem Unsinn.« Sie stellte den Korb mit den Rosenblüten ab und drehte den Wasserhahn zu. »So, jetzt schließ den Sprenger an. Sven, hilf Knut!«

Die Brüder schraubten das kleine Gerät an das Ende des Schlauches, Sabine drehte den Hahn wieder auf, und der Sprenger begann sich rhythmisch zu drehen. Er breitete Kaskaden von Wassertropfen aus und zauberte gleichzeitig den trügerischen Anschein sorglosen Wohlstands. Sven sprang noch ein paarmal durch den künstlichen Sprühregen, ein magerer, dunkeläugiger, schwarzhaariger Junge, zu dem der nordische Name nicht recht passen wollte. Als Säugling war er blond gewesen wie seine Brüder, und als es sich später herausstellte, daß er sich zu einem Zigeunertyp entwickeln würde, hatte die Familie sich schon so an den Namen gewöhnt, daß niemand daran dachte, ihn mit seinem zweiten Vornamen, Wolfgang, zu rufen.

Sabine spürte selbst, daß ihr das Lächeln, mit dem sie ihm zusah, zu mutterstolz geriet; damit konnte sie ihrem Befehl gewiß nicht den nötigen Nachdruck verleihen.

Erst als Knut ihn beim Genick gepackt und durchgeschüttelt hatte, verzog der Junge sich ins Haus, um sich eine trockene Hose anzuziehen. »Du läßt dir von dem Kleinen auf der Nase herumtanzen«, konstatierte Knut.

»Ich weiß, daß ich euch gegenüber strenger war«, gab Sabine zu, »aber hat es etwas genutzt? Torsten gammelt … und Ilona treibt sich mit einem Playboy herum.«

Er legte ihr die Hand unter das Kinn. »Um mich brauchst du dir wenigstens keine Sorgen zu machen, Bienchen!«

»Nein. Aber ich halte es nicht meiner Erziehung zugute. Du bist nun mal ein … ein gesetzter Charakter.«

»Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll.«

»Ach so!« Jetzt lachte sie ihn aus. »Du angelst nach Komplimenten! Ja, hättest du mir das gleich gesagt!« Sie gab ihm einen raschen Kuß auf die Wange. »Aber halte mich jetzt, bitte, nicht länger auf, ich bin mit meinen Rosen noch nicht fertig. Wenn du dich mit mir unterhalten willst, kannst du mich ja begleiten.«

»Mußt du denn nicht in die Küche?«

Sabine schüttelte den Kopf. »Vati hat angerufen. Er kommt heute etwas später.«

»Verdammt. Und ich wollte schwimmen fahren.«

»Kannst du doch! Mach dir einfach ein Butterbrot.«

»Aber ich brauche den Wagen. Ich kann doch nicht bei der Affenhitze bis zum See radeln. Und außerdem, wie sieht das aus?«

Sabine hatte Knut die Sprühdose in die Hand gedrückt und sich wieder den Rosen zugewandt. »Ich verstehe«, sagte sie ohne Spott, »du mußt an dein Image denken.«

»Na eben.« Knut hatte eine Laus entdeckt und ließ eine Dosis des tödlichen Pulvers auf sie niederrieseln. »Wenn ich nun warte … meinst du, daß er ihn mir wenigstens leihen wird?«

»Du hast ihn das ganze Wochenende über gehabt.«

»Na und? Andere haben schon längst ein eigenes Vehikel.«

»Wenn es das ist, was du möchtest, hättest du eben nicht Medizin studieren dürfen … und dir andere Eltern aussuchen müssen!« Sabine ließ eine voll aufgeblühte Rose in ihren Korb fallen. »Das wär’s. Fertig. Dank dir für deine Hilfe, Knut.«

Sie hoben beide gleichzeitig den Kopf, als ein Auto vorfuhr. »Das ist Vater!« sagte Sabine.

Knut widersprach. »Schlechtes Gehör, Bienchen. Wenn du mich fragst … es ist ein Porsche!«

»Oswald Zinner!«

»Richtig. Falls sich Ilona nicht einen anderen Verehrer mit Porsche zugelegt hat!«

»So unternehmungslustig ist sie nun doch wieder nicht.«

»Sag lieber: soviel Porsches mit Besitzern, die für sie in Frage kämen, gibt es nicht in Riesberg und Umgebung.«

»Du bist zynisch, Knut!«

»Ja, so nennt man es gern, wenn jemand das beim Namen nennt, was andere tun! Mal sehen, ob er mich mitnehmen kann!« Knut ließ die Mutter stehen und lief um das Haus zum Vorgarten.

Sabine brachte die Giftdose auf dem obersten Brett des kleinen Geräteschuppens, der sich an die Seitenwand des Hauses lehnte, in Sicherheit und legte die Rosenschere dazu. Als sie wieder herauskam, stürmte Ilona in den Garten, ein langbeiniges, schlankes Mädchen. Vom Vater hatte sie das schwarze Haar geerbt, das ihr in einer langen Mähne bis auf den Rücken hinunter lief, von der Mutter die sehr blauen Augen: Attribute, die sie, noch betont von einem geschickten Make-up, zu einer auffallenden Erscheinung machten.

»Hallo, Bienchen!« rief sie. »Wieder mal bei deinen geliebten Läuschen?« Sie faßte die Mutter um die Taille und drückte ihr einen herzlichen Kuß auf die Wange. »Oswald hat mich nach Hause gebracht.«

»Ich hab’s gehört«, sagte Sabine mit einem bewußten Unterton von Mißbilligung.

Ilona ließ sich nicht die Laune verderben; sie lachte mit blitzenden Zähnen. »Ich will mich nur schnell frisch machen, dann bin ich schon auf und davon. Du brauchst zum Abendbrot nicht mit mir zu rechnen.«

Es kostete Sabine Anstrengung, eine Frage zu unterdrücken. »Schon gut«, sagte sie nur.

Ilona eilte dem Haus zu. »Ich muß mich beeilen, Oswald wartet nicht gern.« Vor der Loggia drehte sie sich noch einmal um. »Übrigens … daß ich es nicht vergesse … wir haben uns verlobt!«

Diese unerwartete Mitteilung gab Sabine einen Schlag aufs Herz; sie wußte selbst nicht, was sie in dieser Sekunde empfand: Erleichterung, Freude, Unglauben, Mißtrauen oder sogar eine Spur von Neid.

»Was sagst du da?« fragte sie und kam sich töricht vor.

Ilona lachte. »Daß Oswald und ich uns verlobt haben. Du hast schon ganz richtig gehört!«

»Also das ist ja …« Sabine suchte nach den passenden Worten »… ein … toller Gag! Und den verpaßt du mir so zwischen Tür und Angel?«

»Na, gerade deshalb. Damit ihr nicht so ein widerliches Trara darum macht.«

Sabine war ihrer Tochter nicht böse, nur ein bißchen befremdet. Trotzdem wurde sie durch die lieblose Ausdrucksweise verletzt. »Meinst du nicht, daß du es wenigstens auch Vater sagen müßtest?« fragte sie.

»Aber sicher. Ich bin ja schon auf dem Weg zu ihm.«

»Er kommt heute etwas später.«

»Pech für ihn.« Ilona wirbelte davon.

»Ilona!«

Das junge Mädchen blieb stehen und wendete sich mit theatralischer Gequältheit um. »Was denn noch?«

»Wenn ich dich nun bitte, zu warten, bis Vati nach Hause kommt? Es kann bestimmt nicht mehr sehr lange dauern.«

»Aber wir haben was vor«, maulte Ilona. Mit mürrisch vorgeschobener Unterlippe sah sie mindestens so anziehend aus, wie wenn sie lachte. Sabine beobachtete sie stolz, bewundernd und doch auch mit einem kleinen Stich Eifersucht. Schon als Ilona noch ein Kind gewesen war, hatte sie oft das Empfinden gehabt, daß die eigene blonde Hübschheit neben der rassigen Schönheit ihrer Tochter verblaßte, ein Eindruck, der sich, als Ilona zur Frau heranwuchs, noch verstärkt hatte.

»Das habt ihr immer!« sagte sie gezwungen. »Aber ich meine, deine Verlobung ist doch wichtig genug, eure Pläne einmal umzuwerfen. Du kennst Vati, du weißt, wie empfindlich er ist. Du solltest wenigstens so viel Rücksicht auf ihn nehmen, ihm persönlich Bescheid zu sagen.«

Ilona zuckte die Schultern. »Okay. Wenn du darauf bestehst.«

»Ja, das tue ich. Und hol deinen jungen Mann herein. Ich habe es nicht so gern, wenn er die ganze Nachbarschaft zusammenhupt.«

Ilona wollte ihren Freund verteidigen, aber in diesem Augenblick erklang wirklich Oswald Zinners verbotenes Dreiklangsignal. »Dieser Irre«, schimpfte sie vergnügt und rannte um das Haus herum, den gleichen Weg, den ihr Bruder vor wenigen Minuten genommen hatte.

Sabine benutzte die Gelegenheit, ihre Rosen auf den Komposthaufen zu werfen, der hinter den Beerensträuchern im äußersten Winkel des Gartens angelegt war. Gern hätte sie einen Blick in den Spiegel geworfen, aber es wäre ja albern gewesen; sich für Oswald Zinner schön machen zu wollen. Dem jungen Millionärssohn würde nichts gleichgültiger sein als das Aussehen seiner künftigen Schwiegermutter. Zweifellos hatte er sich nicht mit Ilona verlobt, weil sie aus einer anständigen Familie, sondern, obwohl sie aus kleinen Verhältnissen stammte, sehr attraktiv war. Sabine hätte gern gewußt, wie Ilona ihn dazu gebracht hatte. Aber sie sah ein, sie würde es nie erfahren. Es gab Dinge, über die sie mit ihrer Tochter nicht sprechen konnte.

Sabine hatte gerade ihren Korb ausgeschüttet und kam wieder hinter den Sträuchern hervor, als die jungen Leute lachend und schwatzend um die Hausecke trotteten, Wieder einmal stellte sie mit leiser Befriedigung fest, daß Oswald Zinner junior durchaus keine attraktive Erscheinung war – mit ihrem eigenen Mann, mit Arnold Miller, wie er in jungen Jahren gewesen war, konnte er sich jedenfalls nicht messen. Er hatte rotblondes Haar und ein Babygesicht, das selbst unter stärkster Sonneneinwirkung nie braun, sondern höchstens rot und sommersprossig wurde. Noch war seine Figur sportlich trainiert, aber schon wurde der Ansatz eines Bäuchleins sichtbar, das sich später, wenn er nicht mehr so viel für sich tun konnte, sondern ernsthaft würde arbeiten müssen, noch mehr ausprägen würde. Aber er war sympathisch und intelligent und, zusammen mit den Millionen seines Vaters, die begehrteste Partie von Riesberg und Umgebung, ja möglicherweise von ganz Oberbayern.

»Gnädige Frau …« Er beugte sich über Sabines Hand.

Sabine ärgerte sich, weil sie sich in Gegenwart des Goldjungen leicht befangen fühlte. »Ich freue mich, daß Sie beide ernst machen wollen.«

Er lächelte sie an. »Nun, was mich betrifft, so habe ich vor – trotz Verlobung und allem Drum und Dran –, den Ernst des Lebens nicht so bald an mich herantreten zu lassen.«

»Was dir mit Hilfe eines gewissen Banknotenpolsters«, bemerkte Knut mit spürbarem Neid, »wohl auch gelingen wird.«

»Um Gottes willen, macht bloß keine Staatsaktion draus!« rief Ilona. »Wenn wir nicht in so einem Käsekaff leben würden, hätte ich nicht im Traum daran gedacht, mich zu verloben.«

»Ich schon«, behauptete Oswald Zinner, und zauste zärtlich ihr Haar, »allein aus Angst, daß jemand dich mir vor der Nase wegschnappen könnte.«

»Sie werden doch bleiben, bis mein Mann nach Hause kommt?« fragte Sabine.

Oswald Zinner sah Ilona an. »Tja, ich weiß nicht, eigentlich wollten wir …«

»Wir geben Vati ’ne halbe Stunde«, sagte Ilona obenhin, »wenn er es bis dahin nicht schafft, hat er Pech gehabt.«

»Sehr richtig«, stimmte Knut zu, »ich habe auch keine Lust, den ganzen Abend hier zu vertrödeln.« Er legte die Hand auf die Schulter seines zukünftigen Schwagers. »Komm mit ins Haus, Oswald! Wollen sehn, ob wir was Trinkbares auftreiben können.« Sie schlenderten auf das Haus zu. Erst im letzten Moment fiel es Knut ein, sich zu Sabine umzudrehen und zu fragen: »Wir dürfen doch, Bienchen?« Sie nickte nur, weil sie einen Kloß im Hals spürte. »Soll ich dir auch was mixen?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf.

Sie verschwanden durch die Loggia ins Haus, und Sabine war es, als lösten sie sich aus ihrem Leben. Natürlich hatte sie gewußt, daß Ilona sich eines Tages an einen Mann binden würde, wenn sie auch nicht damit gerechnet hatte, daß es Oswald Zinner junior sein werde. War sie auf das Glück ihrer Tochter eifersüchtig? Nein, bestimmt nicht. Aber sie sah voraus, daß diese Ehe einen viel entscheidenderen Schritt bedeuten würde, als wenn Ilona sich in einen Mann aus ihren Kreisen verliebt hätte. Jetzt, mit dem Geld der Zinners, würde ihr die eigene Familie bald nichts mehr bedeuten. Gewiß, sie würde sich nicht ihrer Herkunft schämen, dazu war sie zu klug, aber es würde sie bald nichts mehr in die Schleiermacherstraße ziehen. Was konnten sie ihr noch geben, was sie nicht von ihren Schwiegereltern im Übermaß erhielt? Sabine machte sich nichts vor; bald würde Ilona nur noch ein seltener Gast sein.

Sie ließ sich auf die Bank am Gartenzaun sinken und legte die Hände in den Schoß. Sie hoffte nur, daß Arnold die Entwicklung der Dinge nicht so klar voraussehen würde wie sie selbst. Für ihn mußte der Abschied von Ilona einen noch viel stärkeren Schmerz bedeuten als für sie – höchstens vergleichbar mit dem Kummer, den sie um Torsten empfand. Wie selbstverständlich Knut sich den beiden angeschlossen hatte! Zweifellos war es nicht die Persönlichkeit des Schwagers, die ihn so anzog, sondern sein Geld und seine Beziehungen, von denen er selbst zu profitieren hoffte. Sabine mochte ihn deswegen nicht verurteilen; seine Reaktion war im Grunde ganz natürlich. Den Traum von Reichtum, von Glück und Sorglosigkeit, wer träumte den nicht? Und wer würde nicht versuchen, einen Zipfel davon zu schnappen und festzuhalten, wenn sich ihm die Chance bot?

Sabine sah sich in ihrem Garten um und entdeckte zum erstenmal, daß auch er ein Teil dieses Traumes war. Er war nicht groß, knappe eintausendfünfhundert Quadratmeter, und doch hatte sie ihn, zuwischen den Nutzgärten der Nachbarhäuser, angelegt wie einen Park. Träumte sie sich, wenn sie ihre Rosen pflegte, nicht in die Rolle einer Schloßherrin? Ach was! Sabine schüttelte energisch den Kopf. Das war doch Unsinn. Sie vergaß keinen Augenblick, wer und was sie war, die Frau des Prokuristen Arnold Miller, und wenn sie den Garten möglichst hübsch angelegt hatte, so sprach das doch keineswegs gegen ihren Sinn für Realität, sondern höchstens für ihr Bedürfnis nach Schönheit.

Sie wollte aufstehen, als Frau Zibalsky, ihre Nachbarin zur Linken, sie über den Zaun hinweg grüßte. Sabine grüßte freundlich zurück und verzichtete darauf, ins Haus zu eilen, weil sie aus Erfahrung wußte, daß es keine Möglichkeit gab, der nachbarlichen Neugier zu entfliehen. »Sie haben Besuch?« fragte die Zibalsky; ihr spitzes, zerknittertes Gesicht wirkte eulenhaft unter der riesigen dunklen Sonnenbrille.

»Ja«, sagte Sabine zurückhaltend.

»Der junge Zinner?« Sabine nickte. »Er ist in letzter Zeit ziemlich oft mit Ihrer Tochter zusammen, nicht wahr? Vielleicht merken Sie das gar nicht so! Er hält meistens an der Ecke und läßt sie dort schon aussteigen.«

»Das habe ich wirklich nicht gewußt«, gab Sabine zu.

»Deshalb sage ich es Ihnen ja. Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein. Die jungen Leute sind so … so leichtfertig geworden. Ganz anders als zu unserer Zeit. Ich bin direkt froh, daß wir keine Kinder haben. Das sage ich meinem Mann immer wieder. Ich hätte einfach nicht die Nerven. Was da alles passieren kann … Besonders bei einem Mädchen!«

Sabine wartete, bis der Redefluß der Nachbarin ins Stocken kam. Dann sagte sie, so beiläufig wie eben möglich: »Ilona und der junge Zinner haben sich verlobt.«

Frau Zibalskys schmaler Mund verzerrte sich. »Das ist das erste, was ich höre! In der Zeitung hat es jedenfalls noch nicht gestanden … oder doch?«

»Nein. Und ich bin auch nicht sicher, daß sie es veröffentlichen werden. Man denkt über so etwas ja heutzutage anders. Jedenfalls haben sie sich entschlossen, zu heiraten.« Sabine erhob sich jetzt doch.

»Wie reizend!« Die Stimme der Zibalsky überschlug sich. »Aber da kann man ja gratulieren!«

»Ja, das kann man.«

»Und wann soll die Hochzeit stattfinden?«

»Ich werde Sie’s bestimmt wissen lassen, sobald der Termin feststeht!« Sabine ging auf das Haus zu und dachte, daß Ilonas Verlobung wenigstens das Gute gehabt hatte, daß sie der Zibalsky eins hatte auswischen können. Sie lächelte in sich hinein wie nach einem gelungenen Streich. Und Arnold würde beruhigt sein. Sie wußte, wie sehr er unter der Angst gelitten hatte, seine Tochter könne durch ihre Beziehungen zu Oswald Zinner unter die Räder kommen. Nun, da sie verlobt waren, schien diese Gefahr ja gebannt. Wieso eigentlich? Machte eine Verlobung wirklich solchen Unterschied? Sabine schob diese Überlegung von sich. Es war nicht ihre Aufgabe, Fragen allgemeiner Moral zu lösen. Sie mußte zufrieden sein, wenn es ihr und den Ihren gelang, die Strudel und Klippen des Lebens erfolgreich zu umschiffen.

Arnold Miller brauste am Steuer seines Opel Kadett mit hundertvierzig Sachen den Irschenberg hinunter. Der Fahrtwind riß die Klänge der Unterhaltungsmusik von »Bayern 3« fort, noch ehe sie sein Ohr erreichten. Er hätte laut hinausschreien mögen vor Glück. Sein Herz war erfüllt von einem jugendlichen Überschwang, wie er ihn seit vielen Jahren nicht mehr gekannt hatte und der jetzt fast drohte, ihm die Brust zu sprengen.

»Ich hab’s, ich hab’s, ich hab’s«, sang es in ihm, »ich bin’s, ich bin’s, ich bin’s … ich bin der Sieger.«

Die ganze Strecke von München her war er auf der linken Seite gerast, hatte schwere und stärkere Wagen spielend überholt und sich mit Blinken und Hupen freie Bahn geschaffen. Jetzt, da die Autobahn sich in drei Fahrspuren geteilt hatte, steigerte sich seine Siegeslaune noch. Ein roter Mercedes wich vor ihm auf die mittlere Fahrbahn aus. Mit Schwung brauste Arnold Miller um die Kurve und – sah alle drei Fahrbahnen vor sich blockiert. Eine Limousine überholte langsam ein fast gleichstarkes Coupé, während die Bahn rechts außen von einem Möbelwagen benutzt wurde. In der Schrecksekunde nahm Arnold Miller das Bild in sich auf. Dann trat er auf die Bremse, so heftig, daß der Opel ins Schleudern geriet und sich um die eigene Achse drehte. Der Mercedes, jetzt hinter ihm, wich nach rechts aus und kam haarscharf an ihm vorbei.

Knapp vor dem Aufprall brachte Arnold Miller seinen Wagen wieder in die Gewalt. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Brillengläser hatten sich beschlagen. Die Arme zitterten. Er schlug das Steuer nach rechts ein, setzte sich hinter den Mercedes, verlangsamte das Tempo noch mehr und schlich auf der rechten Fahrspur hinter dem Möbelwagen her. Verdammt, das war gerade noch mal gutgegangen. Hundertmal war er diese Strecke schon gefahren, und gerade heute mußte ihm so etwas passieren.

Seine Siegesstimmung war wie weggeblasen und machte einer schmerzhaften Ernüchterung Platz. Was war schon passiert? Er hatte im Lotto gewonnen. Das würde auch nichts an seinem Leben ändern. Kein Grund, sich etwas darauf einzubilden. Seinem Chef konnte er damit bestimmt nicht imponieren. Für den waren fünfzigtausend ein Pappenstiel. Ganz davon abgesehen, daß ihm nur die Hälfte davon gehörte, die andere stand seinem alten Freund und Mitspieler Rudolf Kienzel zu. Er hatte das Geld natürlich nicht in der Brieftasche, sondern die gesamten fünfzigtausend Mark erst mal auf sein eigenes Gehaltskonto überweisen lassen, davon würde ihm die Hälfte bleiben – fünfundzwanzig Mille steuerfrei, das war immer noch ganz schön, aber doch kein Anlaß, verrückt zu spielen. Was war bloß in ihn gefahren? Der Schnaps, den er bei der Lottoannahmestelle spendiert hatte? Ausgeschlossen, er konnte doch Alkohol vertragen, und er hatte ja nur ein Glas getrunken. Es konnte nur der Erfolg gewesen sein, der ihn umgeworfen hatte. Aber war ein Lottogewinn überhaupt ein wirklicher Erfolg?

Arnold Millers Handflächen waren feucht. Er wischte sie, eine nach der anderen, an der Hose ab. Verdammte Hitze. Zu allem Überfluß war die mittlere Fahrbahn jetzt auch noch laufend besetzt, und er hing hoffnungslos hinter dem Riesenkübel von Möbelwagen. Na wenn schon, er hatte ja Zeit. Niemand erwartete ihn. Sabine wußte, daß er heute später kommen würde. Die würde Augen machen, wenn er ihr die fünfundzwanzig Mille auf den Tisch des Hauses blättern würde! Komisch eigentlich, daß er ihr noch nichts davon erzählt hatte. Früher, ja, da hatte es Zeiten gegeben, wo er nicht die geringste Kleinigkeit auch nur fünf Minuten vor ihr hätte zurückhalten können. Inzwischen war so etwas wie das große Schweigen zwischen ihnen ausgebrochen. Wieso eigentlich? Jedenfalls kein Grund zur Beunruhigung, wenn man mehr als. zwanzig Jahre miteinander verheiratet ist.

Außerdem hatte er es ihr ja gesagt. Als am Samstag abend die Zahlen gezogen wurden, hätte er es gar nicht für sich behalten können. Er war ins Schlafzimmer gestürzt und hatte gerufen: »Du, Biene, stell dir vor, wir haben gewonnen!« Sie hatte in ihrem hellblauen Nachthemd auf der Bettkante gesessen und sich die Füße massiert. »Na, wunderbar«, hatte sie gesagt, freundlich, aber ganz und gar nicht beeindruckt, einfach so obenhin, ohne jedes Interesse. Plötzlich hatte er keine Lust gehabt, ihr mehr zu erzählen. Sie schien gemerkt zu haben, daß sie ihn verletzt hatte. »Gratuliere«, hatte sie mit gewollter Heiterkeit hinzugefügt. Aber der große Moment war schon verpatzt. »Mal sehen, was dabei herausspringt«, hatte er gemurmelt und war ins Wohnzimmer zurückgekehrt, um sich den Samstagabendkrimi anzusehen.

Natürlich konnte man es Sabine nicht übelnehmen. In all den vergangenen Jahren hatten Rudolf und er immer nur Minimalgewinne erzielt; der höchste hatte hundertfünfundsiebzig Mark betragen. Also nahm sie an, daß diesmal auch nicht mehr dabei herauskommen würde. Als er ihre Skepsis spürte, waren ihm selbst Bedenken gekommen. Fünf von sechs richtig – was war das schon? Womöglich mußte er den zweiten Platz mit Tausenden teilen.

Am Montag hatte er dann in der Mittagspause von der Telefonzelle aus seine Lottoannahmestelle angerufen – Rudolf und er spielten prinzipiell nicht in Riesberg, denn wenn sie einen Gewinn machten, wollten sie sich darüber freuen, ohne von der halben Stadt angepumpt zu werden. Am Montag also hatte er es erfahren – wäre es nicht natürlich gewesen, es jetzt Sabine mitzuteilen? Warum hatte er es nicht getan? Er wußte es selbst nicht. Vielleicht hatte er immer noch gefürchtet, daß eine Verwechslung vorläge, hatte Angst gehabt, sich vor seiner Familie zu blamieren. Vielleicht hatte er auch geglaubt, mit den blauen Scheinchen einen größeren Eindruck machen zu können, als wenn er nur davon erzählte. Vielleicht auch war er sich selbst nicht ganz sicher gewesen, ob er es seiner Familie überhaupt mitteilen sollte. Diese Erkenntnis kam ihm erst jetzt und war für ihn eine echte Überraschung.

Wollte er den Gewinn etwa für sich behalten? Natürlich nicht. Was für eine Idee! Dennoch tat die Vorstellung weh, wie alle ihm das Geld aus den Händen reißen würden: Sabine für Torsten – sie ahnte wahrscheinlich nicht, daß er von ihren heimlichen Überweisungen wußte, Knut für ein eigenes Auto, Ilona, um ihrem Playboy imponieren zu können, und Sven – kein Zweifel, auch Sven würde schon eine Verwendungsmöglichkeit für ein paar Tausender einfallen.

Eines stand fest: wenn er das Geld hergab, würde es in kürzester Zeit verbraten sein. Keiner von ihnen konnte ja mit Geld umgehen, mit dieser Tatsache hatte er sich längst abfinden müssen. Kam es daher, daß die Kaspareks, die Familie seiner Frau, immer schon einen etwas leichtfertigen Zug gehabt hatten, den seine Kinder geerbt haben mochten? Oder lag es einfach an dieser Zeit, in der sich jeder einbildete, alles haben zu müssen, und keiner mehr bereit war, zu sparen und sich einzuschränken?

Egal, woher es kam, das Geld zerrann ihnen unter den Fingern. Schließlich verdiente er gut, mehr als zweitausend Mark im Monat und ein dreizehntes Gehalt – über doppelt so viel wie sein Vater in seinem Alter und trotzdem kam Sabine nie aus. Immer jammerte sie ihm etwas von steigenden Preisen vor. Das stimmte zwar in gewisser Weise, aber doch nicht in dem Maße, wie sie behauptete. Wenn die Dinge zu teuer wurden, mußte man eben auf billigere Angebote zurückgreifen. Aber das eben verstand Sabine nicht, und die anderen genausowenig.

Er hatte schon daran gedacht, seinen Anteil am Lottogewinn gerecht zu verteilen: sich fünftausend Mark zu nehmen, die übrigen zwanzigtausend unter fünf geteilt – das ergab auch noch viertausend für jeden. Sie würden jubeln, so viel war sicher. Aber letzten Endes würde es doch hinausgesehmissenes Geld sein, so schnell würden sie damit fertigwerden. Er täte ihnen nichts Gutes damit. Nein, auch wenn dieser Gewinn sozusagen ein Geschenk des Himmels war; er war dafür verantwortlich, daß er richtig und nutzbringend angewendet wurde. Zum Beispiel, um die Bankhypothek, die auf dem Haus lastete, abzutragen; die Bausparkassenhypothek mit dem niedrigen Zinssatz war nur halb so belastend.

Andererseits: das Geld verlor von Jahr zu Jahr an Wert. Für ihn bedeutete das, daß die Hypothek, die er hatte aufnehmen müssen, immer billiger werden würde. Also wäre es ein Unsinn, sie so rasch wie möglich abzutragen. Vielleicht würde es besser sein, die fünfundzwanzigtausend Mark als festes Darlehen zu verleihen, um so von den Zinsen, die er selbst einnahm, die Hypothekenzinsen zu tilgen und selbst noch ein paar Pfennige übrig behalten zu können. Dies alles mußte mit Ruhe überlegt und durchgerechnet werden – und woher Ruhe nehmen, wenn seine Familie eingeweiht war? Da er schon so lange geschwiegen hatte, war es das richtige, auch weiterhin den Mund zu halten.

Natürlich nicht Rudolf Kienzel gegenüber. Den mußte er sofort benachrichtigen. Noch heute. Damit war keine Zeit zu verlieren, denn inzwischen war es schon Dienstag geworden. Er mußte ihm sofort nach Teneriffa telegrafieren. Glücklicher Rudolf! Der brauchte sich keine Gedanken darüber zu machen, wie er sein Geld anlegen würde – der konnte es ungestraft ausgeben, wie es ihm zugeflogen war. Das war der Vorteil, wenn man keine Familie hatte, keinen Menschen, für den man verantwortlich war, außer sich selbst.

Nur jemand wie Rudolf Kienzel konnte sich erlauben, seinen Urlaub auf Teneriffa zu verbringen. Für ihn, Arnold Miller, wäre das nicht einmal dann in Frage gekommen, wenn er ganz allein hätte fliegen wollen, ganz davon abgesehen, daß er Sabine nicht einfach abhängen konnte. Rudolf war schon zu beneiden, auch deswegen, weil er sein eigener Herr war. Seine Schreibwarenhandlung war zwar nicht gerade eine Goldgrube, aber sie warf genug ab für ein sorgloses Junggesellenleben. Und er brauchte sich von niemendem hereinreden zu lassen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte man in Riesberg über Rudolf gewitzelt. Das war vor zehn Jahren gewesen, als ihm seine Frau, die lebenslustige hübsche Susanne, davongelaufen war. Schuldlos geschieden – das war nun einmal keine Empfehlung für männliche Qualitäten. Aber Rudolf hatte sich nichts aus dem Gespött gemacht, und allmählich war es verstummt. Im Grunde genommen konnte er nur froh sein, daß er Susanne los war, das war gar keine Frage. Sie war schon ein recht fleißiges Lieschen gewesen, immer noch Zielscheibe zahlreicher Stammtischwitze, natürlich nur in Abwesenheit des Exgatten, so taktvoll waren die Herren denn doch.

Arnold Miller hatte das Inntaldreieck schon passiert, als die Schlagermusik jäh verstummte und das musikalische Zitat von »Bayern 3« ertönte. »Wir unterbrechen für einen Reiseruf«, meldete sich eine sympathische weibliche Stimme. »Herr Egon Kasparek aus Riesberg, zur Zeit unterwegs in Oberbayem in einem hellblauen VW Variant, amtliches Kennzeichen unbekannt, wird gebeten, sofort nach Hause zu kommen …«

Miller war so in seine eigenen Gedanken versponnen, daß er erst bei der zweiten Durchsage aufmerksam wurde. Er erschrak, stellte das Autoradio lauter, aber inzwischen hatte sich schon wieder das »Spinnrad meiner Träume« zu drehen begonnen. Und doch, es bestand kein Zweifel, es war sein Schwager Egon Kasparek, der gesucht wurde. Wenn da nur nichts passiert war! Aber irgend etwas mußte los sein, denn ohne Grund wurde so ein Reiseruf doch nicht durchgegeben. Ob Rosy krank war? Oder die Zwillinge? Sabine hätte ihn auch aus solchem Anlaß bestimmt nicht suchen lassen, und schon gar nicht durch den Rundfunk. Aber bei Rosy war das etwas anderes, sie war so unselbständig, wirkte oft ganz einfach hilflos – oder hatte gar nicht sie selbst, hatten vielleicht Nachbarn den Reiseruf durchgeben lassen? Siedendheiße Angst überfiel Arnold Miller, die Ahnung einer Katastrophe. Er warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett, verglich sie mit dem Zifferblatt seiner Armbanduhr. Auf die Gefahr hin, daß Sabine das Abendessen verbrutzelte, er konnte jetzt nicht einfach nach Hause fahren; zuerst mußte er sich um die Kaspareks kümmern. Schließlich war Egon Sabines Bruder.

Er blickte in den Rückspiegel, blinkte, gab Gas, und jetzt endlich gelang es ihm, den Möbelwagen zu überholen. Aber seine Knie waren weich, und er atmete auf, als er wieder auf die rechte Fahrspur hinüberschwenken konnte. Der Schock saß ihm noch in den Knochen.

Die Kaspareks wohnten mitten in Riesberg, am Maximiliansplatz, der mit seinen Arkaden und den schmalen, eng aneinander gedrängten Häusern noch etwas von dem ursprünglichen Charakter der Stadt als mittelalterlichem Marktflecken bewahrt hatte, trotz Schaufenstern, Neonbeleuchtung, Bushaltestellen und Parkplatz.

Als Arnold Miller auf den Maximiliansplatz einbog, stellte er mit Erleichterung fest, daß das Leben dort seinen normalen spätnachmittäglichen Verlauf nahm. Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß er das Schlimmste erwartet hatte: ein Funkstreifenauto, einen Krankenwagen oder doch eine aufgeregte Menschenmenge. Was auch immer Rosy oder den Zwillingen zugestoßen war, es war jedenfalls nicht spektakulär genug, die Umwelt zu alarmieren. Der Berufsverkehr hatte sich schon aufgelöst; Miller konnte auf den Parkplatz einscheren, zahlte und lief mit großen Schritten auf das rosa und weiß gestrichene Haus zu, in dessen drittem Stock sein Schwager mit seiner Familie lebte.

Die schwere Haustür neben der Drogerie unter dem Bogengang war unverschlossen. Miller hastete die Treppen hinauf. Hier, hinter den dicken Mauern, war es angenehm kühl. Die flachen Steinstufen waren ausgetreten, es roch nach Generationen von Bewohnern, ein Gemisch, das sich weder durch Schmierseife noch durch Scheuerpulver oder den verhältnismäßig neuen Ölanstrich der Wände vertreiben ließ. Arnold Miller drückte auf die Klingel unter dem Namensschild Egon Kasparek. In der Wohnung rührte sich nichts. Seine kaum beherrschte Angst flackerte wieder auf. Er klingelte noch einmal, diesmal anhaltend. Er wurde sich darüber klar, daß bei Rosy nichts unmöglich war. Vielleicht war er ja von Sabine beeinflußt, die von Anfang an gegen die Schwägerin eingestellt gewesen war, einfach deshalb, wie er manchmal dachte, weil ihr keine Frau gut genug für den geliebten Zwillingsbruder sein konnte.

In Wirklichkeit war der begabte und charmante Egon keineswegs ein solches Prachtstück, wie sie gern wahrhaben wollte. Er hatte in seinem Leben vielerlei Berufe mit großem Elan angefangen und nach kurzer Zeit enttäuscht wieder aufgegeben, war Hundezüchter gewesen, hatte eine Nerzfarm betrieben, einen Eissalon, hatte versucht, in den Beamtenstand zu gelangen, war mit großen Hoffnungen nach Kanada ausgewandert und zwei Jahre später zurückgekehrt. Bisher hatte die kapriziöse Rosy tatsächlich einen guten Einfluß auf ihn gehabt. Seit die Zwillinge auf der Welt waren, also immerhin schon seit drei Jahren, arbeitete er als Manager des Supermarktes »Zentrum«, fünf Kilometer vor den Toren der Stadt, und bis jetzt wies nichts darauf hin, daß er vorhatte, sich nach etwas Neuem umzutun – wahrscheinlich wäre es ihm in seinem Alter auch nicht mehr ganz leicht gefallen, anderswo unterzukommen. Dennoch hatte die Familie den feinen, mißtrauischen Abstand Rosy gegenüber gewahrt.

Jetzt stand Arnold Miller vor der verschlossenen Wohnungstür und begriff gar nichts mehr. Egon war doch durch den Reiseruf aufgefordert worden, sofort nach Hause zu kommen – aber was sollte das für einen Sinn haben, wenn er gar nicht hineinkam? Aber natürlich, er hatte ja einen Schlüssel, und trotzdem – Rosy oder sonst jemand mußte ihn doch hier erwarten. Oder war er schon vor ihm gekommen? Arnold Miller überlegte, ob er eine Nachbarin fragen oder besser gleich die Tür aufbrechen lassen sollte. Er wollte sich gerade abwenden, als er die Kinderstimmen hörte. Er bückte sich und rief durch den Briefkastenschlitz: »Andy! Chris! Macht auf! Ich bin’s, Onkel Arnold!« – Stille.

»Himmel, laßt mich rein! Wo ist eure Mutter?« Er spürte mehr, als daß er es hörte, wie Rosy schwebenden Schrittes sich näherte, dann kam ihre Stimme von der anderen Seite der Tür: »Bist du es wirklich, Arnold?«

»Verdammt noch mal, wer soll’s denn sonst sein?!«

»Ich hatte dich nicht erwartet.«

»Ich habe den Reiseruf gehört.«

Rosy kicherte plötzlich – höchst unmotiviert, wie es Arnold schien. »Ach so!« Sie schloß die Tür auf, ließ aber die Kette vorgehängt, bis sie sich mit einem Blick überzeugt hatte, daß es wirklich ihr Schwager war, der draußen stand. Sie wirkte in ihrem superkurzen Minikleid, dem rotblonden zerzausten Haar, mit Spuren von Tränen auf den schmalen, fast hohlen Wangen, wie ein verängstigtes und zugleich doch mutwilliges Kind. Die Hand, die sie ihm reichte, war so dünn, daß man die Knöchlein und Sehnen hätte zählen können.

Die Zwillinge schossen aus dem Hintergrund des dunklen Ganges hervor und schrien zweistimmig: »Onkel Anno, Onkel Anno, hassu uns was mittebacht?«

»Nein, diesmal nicht!« Er hob sie einzeln hoch und ließ sich von jedem einen feuchten Schmatz verpassen. Danach verloren sie sofort das Interesse an ihm und schlitterten über die glatten Holzdielen davon.

Arnold sah in die grünen Augen seiner Schwägerin. »Rosy, was ist denn passiert?«

»Passiert?« Sie wiederholte das Wort, als habe sie keine Ahnung, was es bedeutete.

»Ich nehme doch an, daß du Egon hast suchen lassen.« Sie schwieg und zeichnete mit der Schuhspitze Kreise auf den Boden. »Das kannst du doch nicht ohne Grund getan haben«, drang er in sie.

»Ich hatte Angst.«

»Wovor denn?«

Sie zuckte die Achseln. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Aber Egon muß doch ohnehin jeden Augenblick nach Hause kommen.«

»So? Meinst du?« Sie warf den Kopf in den Nacken. »Aber das tut er nicht. Er läßt mich allein. Abend für Abend.«

»Mit was für einer Erklärung?«

»Lügen.«

Er legte ihr die Hand unter das Kinn. »Eifersüchtig? Aber, Rosy! Jeder weiß doch, daß Egon ganz vernarrt in dich ist.«

»Und warum läßt er mich dann dauernd allein?« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Ich werde ihn mir bei nächster Gelegenheit vorknöpfen«, versprach er, die Türklinke schon wieder in der Hand. »Jedenfalls bin ich froh. Ich habe mir schon schreckliche Sorgen gemacht.«

Sie packte ihn beim Arm. »Bitte … geh nicht!«

»Ich muß nach Hause. Sabine wartet.«

»Aber ich habe Angst!«

»Egon wird jeden Augenblick kommen.«

»Dann bleib wenigstens so lange.« Sie lehnte sich leicht an ihn. »Ich mache dir auch was Gutes zu essen …« Ihr Körper war hart und gespannt, wie verkrampft.

Er mußte sich beherrschen, nicht vor ihr zurückzuzucken wie vor etwas Krankem. Sie wirkte keineswegs verführerisch auf ihn, und noch weniger versprach er sich von ihren Kochkünsten. Aber er brachte es nicht über sich, sie allein zu lassen. Er spürte, daß ihre Angst – Angst wovor nur? – echt war. »Na schön«, sagte er, »ich kann meine Frau ja anrufen.«

Aber dann tat er es doch nicht, und Rosy erinnerte ihn auch nicht daran. Er hätte nicht gewußt, wie er Sabine erklären sollte – jedenfalls nicht am Telefon und nicht in Rosys Gegenwart –, was er in der Wohnung ihres Bruders zu suchen hatte und warum er dort blieb.

Rosy eilte ihm jetzt voraus in das Wohnzimmer, ganz Gastgeberin oder vielmehr ganz Kind, das die geübte Gastgeberin spielt. »Willst du dich nicht setzen?« plapperte sie. »Was darf ich dir anbieten? Mach’s dir bequem!«

Der Raum wirkte chaotisch, aber sie schien das nicht wahrzunehmen. Der Bücherschrank war halb ausgeräumt, ein Teppich zusammengerollt, Stühle auf den Tisch gestellt – alles sah so aus, als habe sie mitten im Großputz die Lust verloren und aufgehört. Sie machte jetzt auch keinerlei Anstalten, ihm etwas anzubieten, nahm einen Stapel Bücher auf, schien nicht mehr zu wissen, was sie mit ihm vorgehabt hatte und ließ ihn auf einen Sessel fallen – den letzten, der noch frei gewesen war.

»Kannst du mir verraten, wohin ich mich setzen soll?« fragte er.

»Wohin?« Sie lachte. »Das ist gut! Du bist immer so witzig, Arnold.«

»Es ist ja nirgends Platz.«

Rosy sah sich um. »Wirklich, du hast recht! Na so etwas! Ich werde dir einen Stuhl aus der Küche holen.«

»Das wäre auch eine Lösung«, gab er zu, »aber ich glaube, es ist besser, wir gehen beide in die Küche und kümmern uns um das Essen, ja? Was soll es denn geben?«

»Ach, irgend etwas«, sagte sie gleichgültig, »ich habe viele Büchsen da. Alles mögliche.«

»Na, dann laß uns mal sehen.« Beim Hinausgehen wäre er beinahe über einen vollen Putzeimer gestolpert. In der Küche sah es besser aus als im Wohnzimmer. Entweder hatte es Rosy fertiggebracht, sie aufzuräumen oder – und dieser Verdacht kam Arnold jetzt – sie hatte sie heute noch gar nicht benutzt. In der Speisekammer stapelten sich Büchsen mit Gemüse, Fleisch oder Eintopf, die aus dem Supermarkt stammten. Da Arnold keine Lust hatte, eine große Kocherei in Gang zu bringen, fragte er: »Wo ist das Brot?«

Rosy begann sofort eifrig in allen Schubladen nachzuschauen und sagte dann: »Nichts mehr da. Egon wird welches mitbringen.«

»Kartoffeln?« Sie schüttelte den Kopf. »Na schön, dann essen wir Würstchen mit Sauerkraut.« Er öffnete die Dosen und bat sie, den Küchentisch zu decken.

Sie tat es auf ihre seltsam unorganisierte Weise, stellte einen Teller hin, legte eine Serviette dazu, holte das Salzfaß, starrte auf das begonnene Werk und schien plötzlich nicht mehr weiter zu wissen. Er erbarmte sich ihrer und sagte: »Vier Teller, Rosy … einen für dich, einen für mich, einen für Christian und einen für Andreas … vier Gabeln … vier Servietten …« Plötzlich ging es, Rosy bewegte sich anstellig. »Und nun leg noch ein fünftes Gedeck auf«, ordnete Arnold an, »für den Fall, daß Egon noch rechtzeitig zum Essen kommt.«

Aus dem Wohnzimmer drang unterdrücktes Quietschen herüber, auf das sie erst achteten, als es in lautes Wut- und Wehgeschrei überging. Arnold Miller riß die Tür auf. »Was ist los?« Im gleichen Augenblick entdeckte er die Bescherung. Die Zwillinge hatten sich gegenseitig mit dem Schmutzwasser bespritzt und waren jetzt völlig durchgeweicht. Der Eimer war umgekippt, und der Boden schwamm.

Rosy, die ihrem Schwager gefolgt war, begann hilflos zu jammern: »Ihr schrecklichen Kinder! Nicht eine Minute kann man euch aus den Augen lassen! Was fange ich denn jetzt nur an? Und Vati muß auch gleich nach Hause kommen!«

»Wisch das Wasser auf!« befahl Arnold energisch. »Ich stecke die Jungen währenddessen in die Wanne!«

»Bloß nicht waschen!« schrie Andreas entsetzt – er war eine halbe Stunde vor seinem Zwilling zur Welt gekommen und etwas schmaler, ein kaum merklicher Unterschied, den nur Eingeweihte entdeckten.

»Nicht waschen«, echote jetzt auch der andere.

Arnold packte die beiden Jungen beim Kragen und zerrte sie in das Bad. Er riegelte die Tür zu, damit sie ihm nicht entwischen konnten. »Marsch, marsch, zieht euch das nasse Zeug aus!« befahl er. Die Badewanne war schmutzig, sie hatte einen breiten dunklen Rand, und an den Wänden klebten Haare. Arnold nahm es eher mit Verblüffung als mit Entsetzen wahr. Er erinnerte sich nicht mehr, wann er zuletzt so etwas gesehen hatte. Zu Hause war das Bad immer sauber, ob er es morgens oder abends betrat.

Hier gab es nur einen altmodischen Badeofen, der mit Holz und Kohle geheizt werden mußte. Also beschränkte er sich darauf, die Jungen kalt abzuduschen, was sie sich nur unter Protest und gellendem Geschrei gefallen ließen. Er hätte ihnen gern die verklebten Haare gewaschen, verzichtete aber darauf, weil er nicht riskieren wollte, daß sie sich erkälteten. Außerdem fiel ihm mitten in der ungewohnten Tätigkeit ein, daß den Zwillingen ein bißchen mehr oder weniger Schmutz bestimmt nicht schaden würde, während es ja eigentlich ihre Mutter war, um die er sich Sorgen machen mußte. So kürzte er die Prozedur ab, so gut es eben ging, und stürzte wieder aus dem Bad hinaus.

Rosy kniete, den Aufnehmer in der Hand, auf dem Fußboden und starrte versonnen auf die Pfütze, die schon langsam zwischen den Ritzen der Bretter versiegte. Arnold verschluckte eine heftige Bemerkung und sagte beherrscht: »Du wolltest aufwischen, Rosy!«

Sie lächelte zu ihm auf. »Ach ja.« Sie wrang den Aufnehmer aus und begann heftig zu reiben.

Die Zwillinge kamen, jeder in ein Frottiertuch gehüllte, aus dem Bad gehopst und schnupperten. »Hm, hiecht gut!« rief Christian, der, genau wie sein Bruder, noch kein R aussprechen konnte. Sie stürmten in die Küche. Arnold folgte ihnen rasch, damit sie kein Unheil anrichten konnten. Die Würstchen waren inzwischen aufgeplatzt, und das Sauerkraut war heiß. Er legte auf und rief Rosy herein. Die Jungen aßen mit gewaltigem Appetit – Arnolds Verdacht, daß sie mittags nichts Ordentliches zu essen bekommen hatten, verstärkte sich –, während Rosy mit weit aufgerissenen leeren Augen auf ihrem Teller herumstocherte.

»Komm, komm«, mahnte er, »nun iß, Rosy! Oder schmeckt dir nicht, was ich gekocht habe?«

Sie balancierte ein Stück Wurst auf der Gabelspitze, ohne es zum Mund zu führen. »Warum kommt er nicht?« fragte sie tonlos.

»Vielleicht hat er den Reiseruf gar nicht gehört. Hat er überhaupt ein Radio in seinem Auto?«

Rosy dachte angestrengt nach. »Ich weiß es nicht.«

Arnold unterdrückte sein Erstaunen darüber, daß sie eine so einfache Frage nicht beantworten konnte. »Wenn du nicht sicher bist, warum hast du ihn dann überhaupt über den Rundfunk suchen lassen?«

»Weil ich will, daß er nach Hause kommt«, entgegnete sie mit starrem Gesicht.

»Er kommt ja auch, Rosy!« Arnold tätschelte ihre Hand. »Er kommt bestimmt. Es kann vielleicht noch etwas dauern.« Er sah, wie Andreas seiner Mutter ein Würstchen vom Teller schnappen wollte, und gab ihm einen raschen Klaps auf die Hand. »Laß das!« Er bedauerte jetzt, den Jungen nichts übriggelassen zu haben, aber seit dem mittäglichen Kantinenessen hatte er nichts mehr gegessen und eben selbst Hunger gehabt.

»Soll ich eine Dose Obst aufmachen?«

»Au ja!« riefen Christian und Andreas: »Bitte, bitte!«

»Aber erst wird der Teller leer gegessen, Rosy!«

»Los, Mutti!« drängten die Jungen. »Nun mach schon!«

Sie gehorchte lustlos wie ein folgsames Kind. Arnold fand eine Dose mit Schattenmorellen und öffnete sie. Andreas und Christian räumten mit affenartiger Behendigkeit den Tisch ab, donnerten Kompottschalen hin und ließen Löffel über die Resopalplatte rutschen. Arnold verteilte die Kirschen. Sie aßen gerade wieder und begannen den Nachtisch zu essen, als sie den Schlüssel in der Wohnungstür hörten.

»Das ist er!« rief Rosy tonlos, und ihre Haut wurde durchsichtig vor Blässe. Die Zwillinge sprangen so heftig auf, daß ihre Stühle umpolterten. »Vati! Vati!« schrien sie und rannten los.

Gleich darauf stürmte Egon Kasparek in die Küche; als er seine Frau und seinen Schwager sah, schnappte er nach Luft. »Du bist …? Ihr seid …? Oh, mein Gott!«

Arnold kam sich, völlig unbegründeterweise, wie er selbst wußte, ertappt vor. »Ich habe den Reiseruf gehört«, sagte er, »und da bin ich gleich …«

»Das war hochanständig von dir!«

Rosy war wie eine Schlafwandlerin aufgestanden. Ihr Mann riß sie in die Arme. »Mein Liebling, mein armer Liebling … ich habe mir wahnsinnige Sorgen gemacht! Wie konntest du nur …! Es ist doch nichts passiert?«

»Ich war so allein!«

Egon Kasparek hielt Rosy an sich gepreßt und sah seinen Schwager über ihre Schulter an. »Ich habe es erst beim Tanken erfahren. Ich habe gar kein Radio im Kombi!«

»Das dachte ich mir schon.« Auch Arnold war aufgestanden.

»Du mußt doch nicht gehen … nur weil ich nach Hause gekommen bin!«

»Sabine wartet auf mich.«

»Ach ja. Natürlich. Grüß sie von mir!«

»Wird gemacht.« Arnold machte eine Bewegung in Richtung auf seine Neffen, die ihre Eltern splitternackt umtanzten. »Macht’s gut, ihr beiden!«

»Pfüat di, Onkel Anno!« riefen die Jungen.

Egon Kasparek reichte ihm, ohne seine Frau loszulassen, die Hand. »Ich danke dir. Ich werd’ dir das nie vergessen.«

»Ach was denn! Nicht der Rede wert. Vergiß nicht, den Rundfunk anzurufen … daß du gefunden bist.«

»Mach’ ich. Du findest doch allein raus?«

»Aber ja.« Arnold durchquerte mit raschen Schritten die Wohnung und betrat das Treppenhaus. Er kam sich mehr als überflüssig vor, fühlte sich wie ein Mensch, der widerrechtlich den Schleier eines Geheimnisses gelüftet hatte, ohne doch zu begreifen, was sich dahinter verbarg. Als er sein Auto aufschloß, fiel ihm ein, daß Rosy sich nicht bedankt, ja, ihm nicht einmal auf Wiedersehen gesagt hatte.

Als Arnold Miller seinen Wagen in die Garage fuhr, war es neun Uhr vorbei. Er legte sich die Worte zurecht, um Sabine sein langes Ausbleiben zu erklären, aber sie fragte gar nicht danach. »Na, endlich!« sagte sie nur und gab ihm einen raschen Kuß auf die Wange. »Hast du schon gegessen, oder soll ich dir einen Teller Suppe warm machen?«

»Ich könnte schon noch etwas vertragen!«

Sie war ihm vom Garten her entgegengekommen, jetzt hakte sie sich, während sie auf das Haus zugingen, bei ihm ein. »Große Dinge haben sich in deiner Abwesenheit getan.«

»Ja?« fragte er zerstreut, in Gedanken immer noch bei den Kaspareks.

»Du wirst staunen«, fuhr sie munter fort, »Ilona hat sich verlobt.«

Er verhielt den Schritt. »Du machst Witze!«

»Aber nein, es ist wirklich wahr! Sie wollten es dir doch selbst sagen, aber du weißt ja, wie sie sind … sie hatten noch was vor und konnten nicht so lange warten.«

»Wer?«

»Oswald Zinner und Ilona natürlich … Knut ist auch weg.«

»Na, dann muß ich ja wohl dankbar sein, daß ich wenigstens aus deinem Mund etwas über diese sogenannte Verlobung erfahre.«

Sie drückte seinen Arm. »Nun sei nicht gleich böse, Arnold!«

»Ich bin enttäuscht«, sagte er und ärgerte sich über seinen eigenen schulmeisterlichen Ton, an dem er jedoch nichts ändern konnte, »was man mir wohl nicht verübeln kann. Ich hatte mir die Verlobung meiner Tochter eben anders vorgestellt.«

»Aber du weißt doch, wie die jungen Leute heutzutage sind!«

»Leider, kann ich da nur sagen.« Er war ihr in die Küche gefolgt. Sabine stellte den Elektroherd an. »Wir werden die Welt nicht ändern«, sagte sie leichthin, »Hauptsache, daß wir uns darin zurechtfinden.«

Er war verärgert, mehr noch, er fühlte sich abgeschlagen; zuviel war in den letzten Stunden auf ihn eingestürmt. Es kränkte ihn, daß Sabine nicht aufnahmebereit für seine Erlebnisse, sondern ganz erfüllt von Ilonas Verlobung war, die doch ohne sein Zutun, ja, gegen seine Voraussage zustande gekommen war.

Sie deckte rasch für ihn den Tisch, stellte Brot und Butter, eine Flasche Bier und ein Glas vor ihn hin. »Mir ist, ehrlich gestanden, ein Stein vom Herzen gefallen, als sie es mir sagte. Ich hatte immer Angst, Ilona würde sich durch diese … na, Freundschaft, das Leben vermasseln.«

»Und diese Angst hast du jetzt nicht mehr?« fragte er nörglerisch.

»Na, ich bitte dich, wenn sie sich doch verloben!«

»Das ist leicht gesagt.«

Sabine hatte die Flasche geöffnet, das Glas in die Hand genommen und wollte ihm gerade Bier eingießen; jetzt hielt sie mitten in der Bewegung inne. »Wie meinst du das nun schon wieder?«

»Bisher hat noch niemand bei mir um ihre Hand angehalten.«

Sie lachte. »Das wird auch niemand, Arnold. Auf den Gedanken käme Oswald Zinner gar nicht.«

»Ja, weil wir kleine Leute in seinen Augen sind. Hätte er ein Mädchen aus seinen Kreisen gewählt, dann würde er sich schon so benehmen, wie es sich gehört. Aber auf uns braucht man ja keine Rücksicht zu nehmen.«

»Arnold!« mahnte sie schärfer als es nötig gewesen wäre, denn sie wollte sich nicht eingestehen, daß auch sie etwas ganz Ähnliches empfunden hatte. »Das ist aber nun doch wirklich kindisch!«

»Findest du? Ich nicht.« Er nahm ihr Flasche und Glas aus der Hand und schenkte sich selbst ein. »Ich hätte keineswewgs einen Heiratsantrag am Sonntag vormittag erwartet, im dunklen Anzug, mit Rosen und allem, was mal dazu gehörte … aber immerhin, ein vernünftiges Gespräch wäre schon angebracht gewesen … wann sie heiraten wollen und wie sie sich die Zukunft vorstellen und so weiter.« Er leerte durstig sein Glas. »Aber entweder ist ihnen schnurz, was wir von ihnen denken … oder aber diese ganze sogenannte Verlobung ist nichts als ein Trick, um uns Sand in die Augen zu streuen.«

»Arnold!«

Er setzte das Glas mit einem Knall auf den Tisch. »Du wiederholst dich.« Er verließ die Küche.

Sie biß sich auf die Lippen. Wozu bloß wieder dieser Zank? Sie konnte ja gut verstehen, was ihn an dieser Verlobung ärgerte: daß er nicht gefragt, sondern einfach vor eine vollendete Tatsache gestellt worden war. Warum konnte sie das nicht zugeben? Warum mußte sie die Partei der jungen Leute ergreifen? Sie verstand sich selbst nicht.

Miller war in das Schlafzimmer gegangen, einen für die schweren Möbel, die noch aus dem ersten Ehejahr stammten, zu kleinen Raum, in dem er sich seitwärts zwischen den Betten und dem Schrank zum Spiegel schieben mußte. Er zog die Jacke aus und nahm die Brieftasche heraus. Mit zusammengepreßten Lippen betrachtete er die Quittung der Lottoannahmestelle. Wie wäre es, wenn er sich und Sabine mit seinem Gewinn eine neue Schlafzimmereinrichtung spendieren würde? Ein Bruchteil des Geldes würde dafür genügen. Aber ob sich diese Anschaffung noch lohnte? Wenn Ilona aus dem Haus ging, würden sie sich endlich getrennte Zimmer leisten können, wie es schon lange sein heimlicher Wunsch war. Er mußte nur eine günstige Gelegenheit abwarten, es Sabine beizubringen.

Ilona. Oder ob er die fünfundzwanzig Mille als Mitgift für seine Tochter springen lassen sollte? Dann würden die Zinners vielleicht Augen machen. Nein, eben, das würden sie nicht. Für die wäre das nur ein ganz kleiner Happen. Für Sabine im Moment bestimmt auch. Die war ja ganz fasziniert von dem millionenschweren Schwiegersohn in spe, stellte wahrscheinlich Vergleiche an zwischen ihrem eigenen Leben und der glänzenden Zukunft der Tochter.

Arnold Miller legte die Brieftasche auf seinen Nachttisch, steckte die Quittung in die Hosentasche und schlenderte in das Wohnzimmer hinüber. Der Raum war so düster, daß er einige Sekunden brauchte, um sich zu orientieren. Sven kauerte im bequemsten Sessel, die Knie angezogen, und starrte auf die Mattscheibe, wo gerade der bärtige Peter Wyngard in Department S eines seiner unglaubhaften Abenteuer bestand.

Unter normalen Umständen hätte Arnold, trotz des Fernsehspiels, eine Begrüßung von seinem Jüngsten erwartet. Heute war es ihm nur recht, daß Sven keine Notiz von ihm nahm. Mit raschen Schritten war er beim Schreibtisch, öffnete das obere Schubfach, zog das Kistchen mit den Lottoscheinen heraus und steckte die Quittung über den Gewinn ganz nach unten. Im Hinausgehen strich er Sven über den Kopf.

»’n Abend, Vati«, murmelte der Junge gedankenverloren.

Als Arnold Miller wenige Minuten später in die Küche zurückkehrte, jetzt geduscht und umgezogen, ohne Krawatte, in Hemd, Leinenhosen und Sandalen, tat Sabine ihm die Suppe auf. »Es tut mir leid, daß wir uns wieder mal gestritten haben«, sagte er reuig, »ehrlich, ich wollte das nicht, ich verstehe nämlich durchaus, was dich an der Sache stört.« Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. »Aber es ist doch besser so, daß sie sich verloben, als daß sie nur so miteinander herumziehen, das mußt du doch zugeben!«

»Du nimmst mal wieder einen Wunschtraum für die Wirklichkeit«, behauptete er, »diese Verlobung ist doch ein bloßes Geschwätz.«

Sie fuhr hoch, allen guten Vorsätzen zum Trotz. »Wie kannst du sowas sagen!«

»Weil es wahr ist. Verloben kann sich jeder, das bedeutet rechtlich gar nichts und weniger als nichts, solange es nicht offiziell ist. Dieser Zinner hat sie ja noch nicht einmal seinen Eltern vorgestellt.«

»Ach, Arnold!« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Warum mußt du denn so mißtrauisch sein? Laß uns doch einfach das Beste hoffen … bitte? Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Oder weißt du ein Mittel, ein neunzehnjähriges Mädchen von dem Mann zu trennen, in den sie vernarrt ist?«

»Früher haben Kinder ihren Eltern gehorcht«, sagte er verbissen.

»Sei doch nicht so stur, Arnold? Erinnerst du dich denn nicht? Als ich so alt war wie Ilona, da hatte ich schon mein erstes Kind … und wir waren gerade dabei, uns mit deinen Eltern wieder zu versöhnen.«

»Sie waren gegen dich, das stimmt«, gab er zu, »aber ich, das weißt du ganz genau, hatte von Anfang an ernste Absichten.«

»Aber sicher.« Sie zauste leicht sein Haar. »Ich würde mir auch nie einfallen lassen, dich mit Oswald Zinner junior zu vergleichen. Vor allem hast du viel, viel besser ausgesehen … nein, ganz im Ernst, ich finde dich heute noch attraktiver!«

Ihrem Lächeln hielt seine schlechte Laune nicht stand. »Die Suppe schmeckt übrigens ausgezeichnet«, erklärte er statt eines Komplimentes.

»Zum Nachtisch gibt es rote Grütze … echte! Aus selbst eingemachtem Saft. Ich habe dir mit Mühe und Not eine Portion aufbewahren können.«

»Paßt nicht zum Bier.«

»Dann schütten wir den Rest eben weg und gönnen uns eine Flasche Wein, ausnahmsweise, Arnold … zur Feier des Tages, ja?«

»Wenn du so schön bittest.« Er fühlte sich plötzlich entspannt, nahm die Brille ab und strich sich mit der Hand über die Augen. Sie beobachtete ihn und hatte sekundenlang den Eindruck, daß er nicht erwachsen war, nicht erwachsener als ihre Söhne, ein groß gewordenes Kind, das man vor Gefahren schützen mußte. Aber diese Empfindung war so flüchtig, daß sie sie sofort wieder vergaß.

Ilona und Oswald Zinner lagen eng beieinander auf dem riesigen, quadratischen Bett im ersten Stock des ehemaligen Pförtnerhäuschens. Sie hatte den Kopf an seine Brust geschmiegt, und er streichelte ihren kleinen runden Busen mit der leidenschaftslosen Zärtlichkeit eines in diesem Augenblick völlig befriedigten Mannes. Alle Fenster standen offen, der Hauch eines Windes berührte die herabgelassenen Sonnenjalousien und ließ die Blätter der alten Ulmen aufrauschen. Aber noch brachte die Nachtluft kaum Kühlung.

Oswald Zinner hatte sich das romantische kleine Haus noch in seiner wilden Zeit als Junggesellendomizil ausbauen lassen. Er hatte die biedermeierliche Fassade erhalten, die Innenwände jedoch herausbrechen lassen, so daß es jetzt oben und unten nur je einen einzigen großen Raum gab, abgesehen von zwei Toiletten, zwei Bädern und einer Kochnische, in der er fast nur den Eisschrank benutzte. Seine Mahlzeiten nahm er regelmäßig im Gutshaus ein, das einen knappen Kilometer weit entfernt lag, am anderen Ende der Ulmenallee. Das Pförtnerhaus bot ihm den Vorteil, ungestört von elterlicher Neugier Besucherinnen empfangen und Partys feiern zu können, ohne ihn zu zwingen, auf den gewohnten Luxus zu verzichten.

Ilona war gern hier. Sie genoß das sanfte Licht, die zarte Bettwäsche, die dicken Teppiche, das moderne, behagliche Bad – und dennoch war für sie die Existenz dieses Schlupfwinkels ein Anlaß zu ständiger Beunruhigung. »Sag mal, fällt es dir eigentlich gar nicht schwer, so … so solide zu sein?« fragte sie jetzt und rieb mit geschlossenen Augen ihre Wange an seiner Brust. »Ich meine … hast du nicht manchmal ein bißchen Sehnsucht nach deinen früheren Abenteuern?«

»Aber wie sollte ich!« Er kniff sie leicht in die Brust. »Du ersetzt mir ja einen ganzen Harem.«