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Ein Schicksalsroman. Ungekürzte Ausgabe. Löns erzählt vom Leben des Schriftstellers und Zoologen Lüder Volkmann, der als Student einen Meineid schwört, weil eine Eidesverweigerung eine geliebte Frau bloßgestellt hätte. Nachdem er seine Strafe im Zuchthaus abgesessen hat, wandert er nach Kanada aus und kehrt erst nach vielen Jahren in seine Heimat zurück, um ein Erbe anzutreten... "Da er nicht dem Ruhme nachlief und nicht hinter dem Gelde her war, mähte er seine Gedanken nicht, bevor ihr Jakobstag da war, trieb keinen Raubbau mit seiner Seele. So wurde jedes Buch, das er schrieb, reif und nahrhaft... Es sieht manches aus wie ein Unglück, und nachher wird es einem zum Segen. Die Füße fest in der Heimaterde und die Gedanken darüber, so soll es sein..." Hermann Löns (* 29. August 1866 in Culm bei Bromberg in Westpreußen; † 26. September 1914 bei Loivre in der Nähe von Reims, Frankreich) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Schon zu Lebzeiten ist Löns, dessen Landschaftsideal die Heide war, als Jäger, Natur- und Heimatdichter sowie als Naturforscher und -schützer zum Mythos geworden.
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Seitenzahl: 177
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Hermann Löns
Dahinten in der Heide
Der Südwind strich warm über den Kopf des hohen Heidbrinkes und bewegte die Zweige der Hängebirke, die voll von Blütenkätzchen und jungen Blättern waren, hin und her.
Lüder Volkmann lag längelang auf dem Rücken, lehnte sich gegen den großen Findelstein und hörte zu, wie der Ortolan in der Birke sang.
Er hielt seine Pfeife abseits und atmete den Geruch der blühenden Postbüsche, den der Wind aus dem Bruche mitbrachte, und den Juchtenduft, der aus dem Birkenlaube kam, tief ein, und ihm war, als sei er noch in den Wäldern von Kanada, wo es im April auch nach Post- und Birkenlaub roch; aber der Ortolan sang da nicht; dort, wo Volkmann getrappt und gefischt hatte, gab es keine Landstraßen.
Er stopfte sich eine Pfeife aus dem ledernen Tabaksbeutel, auf dem mit Glasperlen ein Kranz von braunen Bibern und schwarzen Raben gestickt war.
Eine rote Mordwespe, die über seine Hose kroch, zog seine Blicke auf seine Kleidung. »Noch vier Wochen Landstraße, und die Tippelkundenkluft ist fertig«, dachte er und lächelte, denn ihm fiel ein lustiger Abend in Berlin ein. Er hatte mit einer großen Gesellschaft in der vornehmen Weinwirtschaft zusammengesessen, die Männer im Frack, die Frauen und Mädchen in ausgeschnittenen Kleidern, und mitten zwischen ihnen war jener sonderbare Mann in dem alten Gehrock, Peter Hille, der Dichter, und der hatte, indem er seine Austern aß, im Gange der Unterhaltung zu seiner Nachbarin gesagt: »Ganz wohl fühlt man sich erst, Exzellenz, wenn man gesellschaftlich nichts mehr zu verlieren hat, sagt Böcklin.«
Lüder Volkmann sah sein Zeug an; er hatte es in Omaha gekauft und die Stiefel in Chikago, und zwar an dem Tage, als er in einer Singspielhalle einem Pferdehändler, der über Deutschland einen schlechten Witz machte, die Champagnerflasche in die Zähne warf, daß der Mann für tot fortgetragen wurde, und als drei andere Männer ihm an den Balg wollten, boxte er ihnen das Mittagessen aus dem Leibe. Dann hatte er der Musik zehn Dollar hingelegt, einen Freitrunk für jeden Mann, der eine Gurgel im Leibe hat, bestellt und Lieder aus seiner Heimat spielen lassen, und alle mußten mitsingen, ganz gleich, unter welcher Flagge sie geboren waren.
Er mußte hell auflachen, als er daran dachte, welche dummen Gesichter die beiden Seeleute gemacht hatten, als er mit ihnen anstieß und rief: »Trinkt, Jungs, auf die deutsche Flott’!« Dann hatte er fünf Dollar hingelegt und gerufen: »Das Flottenlied!« Aber in derselben Nacht hatte sich zuerst das Heimweh an seinen Arm gehängt und ihn nicht eher wieder losgelassen, als bis er an Bord der »Anna Rickmers« war. Als Kohlenzieher hatte er die Fahrt gemacht; seine tausend Dollar, die er sich in zwei Jahren zusammengetrappt und beieinandergefischt hatte, waren auf dem Asphalt der großen Stadt klebengeblieben.
Er sah auf seine große Hand. Arbeiten, ja, das konnte die, aber sparen, nein! »Herr Doktor, Sie haben eine Ritterhand«, hatte auf dem Hofballe die Herzoginmutter gesagt, »und ich verstehe nicht, daß Sie mit der Feder fechten statt mit dem Säbel.« Ihre guten alten Augen hatten ihn lange angesehen, und dann meinte sie: »Daß Sie nicht von Adel sind!« Er hatte gelächelt. »Bin ich, Euer Hoheit, tausche mit keinem von den Prominenzen hier in dieser Richtung, die fürstlichen Herrschaften ausgenommen; die Volkmanns saßen wohl schon auf ihrem Heidhofe, als Exzellenz Drusus über die mangelhaften Chausseen in Germanien bei Seiner Majestät Augustus submissest Klage führte.« Da hatte sie so herzlich aufgelacht, daß der Leibarzt dem Herzoge sagte: »Hoheit müßten veranlassen, daß der Doktor Volkmann öfter mit Ihrer Hoheit zusammen ist; sie liebt ihn, und lachen ist die beste Medizin für ein müdes Herz.«
Lüder Volkmann sah auf das silbergraue Rentiermoos. So hatte das Haar der alten Herzogin ausgesehen. Sie war aus jenen Kreisen der einzige Mensch gewesen, der ihm nach seinem Falle geschrieben hatte. Er wußte den Brief halb auswendig; die eine Stelle lautete: »Sie kennen mich, lieber Herr Doktor; wenn ich später noch lebe, vergessen Sie nicht, daß Sie an mir immer eine Freundin haben.«
Er drehte einen blanken Mistkäfer, der hilflos im Sande auf dem Rücken lag, um, sah, daß es die dreihörnige Art war, aber ein Weibchen, denn die Hörner fehlten ihm, und dann fiel ihm das Indianermädchen ein, das ein und ein halbes Jahr in seinem Blockhause gewohnt hatte und das jeden Schmetterling aus dem Spinnennetz nahm. Ihre Seele war klein, aber ihr Herz war groß; in ihrem letzten Hauche flüsterte sie: »Lhütär«, und dann nahm der Schneesturm ihre weiße Seele mit und wirbelte sie zum Großen Geiste hin.
Acht Wochen lang hatte ihr Leib, in glänzende Bärenfelle gehüllt, im Windfange gelegen; dann erweichte der Tauwind den Boden, Lüder begrub die Gefährtin seiner Einsamkeit, und die indianischen Holzarbeiter kamen alle, sangen gurgelnd ein verschollenes Lied und errichteten einen hohen Steinhaufen über dem Grabe, der Wölfe wegen und weil Margerit aus edlem Blute war.
»Adel bleibt Adel, wenn es wirklich welcher ist«, dachte Lüder Volkmann, der Landstreicher, und vor ihm stand die Frau, an der er gescheitert war. Warum hatte er geglaubt, daß er sie liebte. In den Brombeerbüschen am Fuße des Brinkes sang der Goldammer; es war fast dasselbe Lied, das der Ortolan sang, aber des Goldammers Lied war klarer Frieden, und in des Ortolans Sang war unstete Unklarheit.
Er schüttelte den Kopf über sich selber. Also darum, darum hatte er sein Leben auf die Landstraße geworfen, darum! Er hatte die Frau gar nicht geliebt. Als er noch die bunte Mütze trug und jede Woche frische Schmisse hatte, da hatte er die Frau seines liebsten Lehrers liebgewonnen und hatte sofort die Exmatrikel genommen. Ein Jahr später war die totgetretene Liebe aus ihrem Grabe auferstanden, hatte vor ihm gestanden und die Hände gerungen. Und jene andere Frau, an der sein Leben strandete, eine Volksausgabe der Frau des Professors, war es gewesen, die neben jener in seiner Erinnerung stand, wie der dunkle, krankhaft süße Gesang des Ortolans neben dem lieben, starken Liede des Goldammers.
Früher hatte er sich oft gefragt, warum gerade ihm das Schicksal die Schlinge über den Weg gelegt hatte. Er lachte nun darüber; warum lähmte die rote Wespe gerade diese lustige Spinne mit ihrem Giftstachel und schleppte sie in ihre Höhle, wo sie sich so lange hinquälen mußte, bis die Wespenbrut sie bei lebendigem Leibe auffraß? Und er war groß, stark und gesund; also konnte ihm das Schicksal etwas mehr zumuten als den Skrälingern mit dem dünnen Blute und dem weichen Fleische. Außerdem: Was war, und war es auch hart und bitter, es sah von weitem eigentlich nur noch interessant aus. Er hatte sich daran gewöhnt, sein Unglück mit dem umgedrehten Pürschglase zu betrachten, und klein und lustig sah dann aus, was anfangs riesig und schrecklich erschien. Und nun wollte er Post- und Maibaumduft riechen und sich satt sehen an der braunen Heide und den gelben Wegen und den weißen Wolken, die über den schwarzen Wäldern standen, und wo irgendwo der Bauernhof lag, der Hilgenhof, der heilige Hof, dem sein Geschlecht entstammte.
Wie schön es sich in dem Heidkraute lag! Er ließ den weißen Sand durch seine braunen Finger fließen und freute sich an den dichten Polstern der Krähenbeere, die den roten Stein umspannen. Vor ihm trippelte eine Heidlerche umher, ein grüner Sandkäfer blitzte auf, hoch oben kreiste der Bussard, bald wie Silber, bald wie Gold leuchtend, und nun rief sogar Wodes heiliger Vogel über ihm ein lautes Wort, das wie eine alte Rune war, und machte einen Bogen, als er den Mann äugte.
Und dann der rotlodernde Post in der Grund und die goldgrünen Machangeln auf dem Anberge und die weißen Birkenstämme in der braunen Heide und der silberne Bach und das goldene Risch, ein Tag war es, an dem die Gefühle des Menschen, der gut erhaltene Sinne hat, leicht und lustig tanzen müssen wie helle Schmetterlinge, auch wenn er zum heimlosen Straßenläufer ward.
»Aber nun wäre es Zeit«, dachte er, »daß Ruloff Ramaker käme; vom Sehen wird kein Mensch satt.« Volkmann legte sich auf die rechte Seite und deckte sein linkes Ohr mit dem Lodenhute zu, wie er es schon als ganz kleiner Junge mit der Bettdecke gemacht hatte, und wohlig schnurrte er, als die Besinnung ihn verließ, wie er es stets zu tun pflegte, wenn er sein Bewußtsein zu Bett brachte.
Schwer und tief war der Schlaf des Mannes, und doch sprang er klaräugig auf die Füße, als Tritte im Heidkraute knisterten. Der Gendarm stand vor ihm und musterte ihn vom Hute bis zu den Stiefeln.
Er sah gut aus, der Beamte; er war einen knappen Zoll kleiner als Volkmann: er hatte ein offenes Gesicht, einen prachtvollen blonden Bart und helle, blaue Augen. Und da er inwendig so war wie außen, so stellte er sich erst recht barsch an und sagte mit rauher Stimme: »Zeig mal deine Papiere!« Er zog die Augenbrauen hoch, als der Stromer antwortete: »Erstens habe ich keine, und zweitens möchte ich Sie höflichst ersuchen, mich nicht zu duzen. Sie sind wohl noch nicht lange von der Front fort?«
Der Gendarm bekam einen roten Kopf; er sah ein, daß er eine Dummheit gemacht hatte. Der Mann trug schäbige, aber gutsitzende Kleidung, und das Schuhzeug, das waren hochfeine Jagdschuhe von braunem genarbten Leder mit ausgenähtem Rand und Schnellschnürung, und, Donner ja, er hatte das ganze Gesicht voller Schmisse und ein Benehmen wie der Herr Amtsrichter. Köllner lenkte ein: »Entschuldigen Sie, es war nicht so schlimm gemeint. Und ich sehe, daß ich mich irrte; eine Steckbriefbeschreibung paßte ungefähr auf Sie, bis auf die Schmisse. Und einen krummen Zeigefinger haben Sie rechts auch nicht. Aber Sie werden doch Papiere haben?« Der andere schüttelte den Kopf. »Nein, sie sind mir vor vierzehn Tagen in Hamburg gestohlen.« Der Beamte wiegte den Kopf hin und her. »Ja, dann müssen Sie mich schon begleiten.«
Er brach seine Rede mitten im Worte ab und sah in die Heide hinunter. Auf dem weißen Pattwege kam ein barhäuptiger Mann angelaufen; er schrie und winkte zu dem Hügel hinauf und zeigte nach einem Wacholderbusche hinter sich, wo ein weißer Frauenhut leuchtete. Es war Ruloff Ramaker; er war in Schweiß gebadet und keuchte: »Komm schnell, schnell, das Fräulein ist von einer Adder gebissen.«
Mit großen Sätzen sprang Volkmann den Hügel hinab und war eher bei dem Machangel als Ramaker und Köllner, denn jener war außer Atem, und dieser mußte erst sein Pferd abbinden.
Einen Blick warf Volkmann auf das junge Mädchen, als er tief den Hut zog. Er sah Erstaunen in ihrem Gesicht, und das Blut schoß ihm in den Kopf; aber schon kniete er nieder, nahm den schmalen, kräftigen Fuß in die Hand und fragte: »Wo?« Eine Stimme, die ihm süßer klang als das Lied des Goldammers, trotz der Angst, die darin klirrte, oder vielleicht um so mehr noch, antwortete: »Hier!« Und die schmale, leicht gebräunte Hand zeigte nach der großen Zehe. »Das ist gut«, meinte der Mann. »Wie lange ist es her?« fragte er dann, indem er einen Bindfaden hervorholte. »Eben.« Er nickte. »Keine Angst; Sie sind gesund, und der Biß sitzt gut. Aber nun muß ich Ihnen weh tun.«
Er schlang den Bindfaden um die Zehe, schnürte ihn fest, steckte einen Heidstengel darunter, wirbelte ihn zweimal herum und tat einen schnellen Schnitt in die Zehe. »Hat es sehr weh getan?« fragte er dann. Das Mädchen schüttelte den Kopf und lächelte aus ihrer Blässe heraus.
»Soll ich etwas Alkohol besorgen?« fragte der Gendarm. »In zehn Minuten bin ich bei der Wirtschaft.« Volkmann nickte. »Besser ist besser. Reiten Sie los; ich und er, wir wollen das Fräulein Ihnen entgegentragen. Gehen ist nicht gut; die Hauptsache ist Ruhe und kaltes Blut. So, mein Fräulein, nun ziehen Sie bitte den Strumpf über, und legen Sie Ihre Hände auf unsere Schultern. Sie brauchen keine Angst zu haben; von hundert Otterbissen geht kaum einer schlimm aus und auch meistens nur bei Kindern.«
Mit schnellen Schritten gingen die beiden Männer die Landstraße entlang, auf ihren verschränkten Händen das Mädchen tragend, das ihre Arme um die Schultern der Männer gelegt hatte. Ruloff Ramakers Gesicht glühte vor Verlegenheit; Lüder Volkmann aber sah düster aus.
»Es ist doch nicht gleich«, dachte er, »ob man noch ein anständiger Kerl vor der Welt ist oder nicht.« Er wünschte, er wäre alt und häßlich gewesen, aber ohne den Sprung in seinem Rufe; dann hätte er mit dem Mädchen sprechen dürfen, mit ihr, die an Wuchs und Angesicht und Stimme ganz so war wie jene Frau in Göttingen, vor der er floh, weil er sie so liebgehabt hatte.
Viel schöner war diese hier noch, viel adliger von Gestalt, und noch süßer hatte ihre Stimme geklungen, viel, viel süßer. Und der Duft ihrer goldenen Flechten war köstlich. Wie gern hätte er zu ihr gesprochen; aber sollte er, der Strolch, den jeder Gendarm stellen durfte, dieses Weib hier anreden? Zu Fürstinnen spricht man nicht ungefragt. Rot schlug ihm die Scham in das Gesicht, und tief seufzte er auf.
»Ich bin Ihnen wohl sehr schwer?« fragte die klare Stimme an seiner Schulter. Er schüttelte den Kopf; er wollte weiter schweigen, aber die Stimme öffnete seine Lippen. »Wie ist das gekommen, mein Fräulein?« Sie lächelte. »Ich laufe so gern barfuß in dem reinen Sande und auf der trockenen Heide; an die Schlangen hatte ich nicht gedacht.« Sie schwieg und wartete auf eine Gegenrede.
Mit scheuen Blicken streifte sie sein Gesicht. Daß es noch solche Männer gab! Das war ja eine Gestalt aus dem Nibelungensang, trotz des schäbigen Rockes, trotz des Halbwochenbartes.
Was er wohl sein mochte? Wie er wohl auf die Landstraße gekommen war? Auf der linken Backe hatte er drei lange Schmisse und einen rechts unter der Lippe. Wie schön der Mund dieses Mannes war, ein stolzer Knabenmund. Mitleid stieg in ihr auf und feuchtete ihre blauen Augen.
»Da kommt der Gendarm«, sagte der Mann und sah sie an, und dann wurde er rot wie ein Weib, denn er sah in ihren Augen, daß sie Anteil an ihm nahm, und sie wandte den Kopf ab, denn auch ihr war das Blut in das Gesicht geschossen.
»Es ist guter Portwein«, sagte der Beamte, als er die Flasche hervorzog, »das gnädige Fräulein können ihn ruhig trinken. An den Doktor ist schon telefoniert; er ist unterwegs.« Er sah die Männer an. »Soll ich einen von Ihnen ablösen?« Volkmann und Ramaker schüttelten die Köpfe und setzten sich in Bewegung.
Als sie nach einer Weile bei der Wirtschaft waren, stand Doktor Hellweger schon da. Er sah Volkmann erstaunt an, untersuchte den Fuß, nickte mit dem Kopfe und sagte, als er die Wunde ausgewaschen und statt des Bindfadens einen Gummiring um die Zehe gelegt hatte:
»Wie lange nach dem Biß ist der Schnitt gemacht?« Und als das Mädchen sagte: »Nach höchstens fünf Minuten«, fuhr er fort: »Dann ist keine Gefahr da; es ist nur eine ganz kleine örtliche Schwellung vorhanden. Noch ein Gläschen Portwein, ehe der Wagen kommt! Das hält das Herz frisch.«
Volkmann sah den Arzt an. »Das ist eine veraltete Theorie, Herr Doktor; das Schlangengift geht durch die Blutbahn in den Verdauungstraktus. Alkohol ist gutes Gegengift, doch nur, weil er das Gift im Magen bindet. Versuche an Hunden, bei denen ich zugegen war, haben das ergeben.« Der Arzt machte runde Augen und fragte: »Sind Sie Mediziner?« Der Strolch schüttelte den Kopf und ging in das Haus; Ramaker folgte ihm.
»Da kommt mein Wagen, liebes Fräulein«, rief Hellweger. »Wo ist der Herr, der mir geholfen hat?« fragte das Mädchen. »Ich muß ihm danken.« Der Arzt trat auf die Deele und sah sich um. »Sie haben sich nur ein Glas Milch geben lassen und sind schon weiter«, antwortete die Frau. Der Doktor schüttelte den Kopf. »Merkwürdig!« Holde Rotermund wurde blaß, als er ihr sagte, daß die Fremden schon fort wären.
Als der Arzt sie nach dem Pfarrhause von Hülfingen fuhr, dachte er darüber nach, wo er den Mann schon gesehen hatte, denn daß er ihn kannte, das wußte er. Diesen Prachtkopf und den zackigen Schmiß auf der rechten Backe vergaß man nicht. Der Arzt blätterte in seiner Erinnerung hin und her, fand aber die richtige Stelle nicht.
Der Wagen hielt vor der Pfarre. Ein Jägeroffizier trat an den Schlag, küßte Holde beide Hände, grüßte den Arzt, machte sich bekannt und sagte: »Urlaub bekommen; der Alte brummte zwar, ging aber nicht anders. Zu große Sehnsucht!«
Er lachte, daß die weißen Zähne in seinem hübschen Gesicht blitzten; aber als seine Braut aus dem Wagen stieg, zog er die Stirne kraus, denn er sah, daß sie nur einen Schuh anhatte. »Ja«, erklärte sie lächelnd, »mich hat eine Schlange gebissen. Ich war ein bißchen barfuß im Sande herumgelaufen.«
Der Leutnant sagte nichts, aber seine Lippen schlossen sich fest zusammen, und seine Stimme klang kalt, als er der Magd zurief, sie solle Hausschuhe bringen.
Bevor er Holde in das Haus geleitete, dankte er in verbindlicher, gemessener Weise dem Arzte. Als dieser sagte, daß ein fremder Mann, allem Anscheine nach ein verbummeltes Genie, die Erste Hilfe geleistet und die Bißstelle ausgesaugt hatte, fuhr Leutnant von Zollin zurück und machte ein Gesicht, als hätte er ein Haar in der Zigarre gefunden. Er lud den Arzt ein, am Frühstück teilzunehmen, der aber dankte kühl und fuhr los.
Das Frühstück verlief laut, aber es war keine Laune dabei. Holde Rotermund lag auf dem Sofa, aß fast nichts und hatte ein nachdenkliches Gesicht, so daß ihre Vatersschwester so lange ihrer Angst Ausdruck gab, bis das Mädchen sagte: »Aber Tantchen, liebes, Gefahr ist gar nicht; mir ist der Portwein in die Glieder gefahren.«
Zerstreut hörte sie zu, wie ihr Verlobter vom Dienst, von der Jagd und von den Rennen sprach, und daß die Prinzessin Mathilde sich nach ihr erkundigt und gesagt hatte: »Frau Leutnant von Zollin schlägt uns noch einmal alle tot mit ihrem Gesicht«; er lachte seiner Braut zu und hob das Glas gegen sie.
Die aber sagte: »Ich glaube, ich muß erst ein bißchen schlafen« und hielt dem Bräutigam die Backe hin. »Nicht mehr?« fragte der und küßte sie fest auf den Mund, und mit purpurrotem Gesicht machte sie sich los.
In ihrem Schlafzimmer stand sie vor dem Waschtisch und sah in den Spiegel. Dann fuhr sie sich mit dem Schwamm über das heiße Gesicht und dreimal über ihre brennenden Lippen.
Sie lag auf dem Bette und sah gegen die weißen Deckenbalken; Dienst, Jagd, Rennen, der Hof, das war alles, wovon Wladislaw sprach, heute und morgen und übermorgen.
Wovon der fremde Mann wohl sprach? Wer mochte er sein, und wo mochte er jetzt sein? Ihr war es, als hörte sie seine Stimme immer noch, diese warme, gute, reine, volle Stimme. Draußen lachte ihr Bräutigam. Ach ja, er war ja ein netter Kerl, und hübsch war er und schnittig gewachsen und artig und aufmerksam; aber, aber, an dem, was sie rührte, ging er gleichgültig vorbei; wenn am Himmelsrande das rote Licht und das schwarze Gewölk Hochzeit machten, sah er nur die Rehe in den Wiesen, und in der Heide erblickte er nichts als Ödland. Was sie schon bald gedacht hatte, jetzt wurde es ihr klar: Sie paßten nicht zusammen.
Wenn Lüder Volkmann geahnt hätte, daß Holde Rotermunds geheimste Gedanken hinter ihm herflatterten, so hätte er sein Haupt wohl noch tiefer auf die Brust hängen lassen.
Ruloff Ramaker wußte nicht, was in den anderen gefahren war: Lüders Augen hafteten auf dem Boden, und seine Lippen waren nicht zu sehen. Ramaker war nur ein Bauernknecht, aber er liebte seinen Genossen, und es betrübte ihn, daß der im Schatten ging.
Es war so wundervoll da in der wilden Wohld; das Sonnenlicht fiel durch die Zweige der Fuhren, das Farrenkraut reckte sich aus dem Boden, die gelben Kohmolken blühten im Graben und unter dem Buschwerk die weißen Windröschen; viele Vögel sangen, und der Täuber rief.
In der Nacht hatten die beiden Männer in der Ochsenhütte vor dem Bruche geschlafen; Volkmann hatte bis Mitternacht vor der Türe gesessen und dem Brummen der Rohrdommel und dem Meckern der Himmelsziege zugehört. Er schlief noch, als der Vormorgen kam, und als Ramaker wach wurde, hörte er, wie der andere stöhnte und murmelte, und er sah, wie er sich hin und her warf.
Nun lag er mit dunklem Gesicht da und lächelte kein bißchen, als zwei verliebte Eichkatzen auf dem Knüppeldamm hin und her sprangen, fauchten und schnalzten und auf alberne Art mit den Schwänzen wippten.
Sein Blick bekam noch nicht einmal Leben, als aus dem Unterholze der Schwarzstorch heraustrat; wie Flammen leuchtete der Schnabel, und wie Edelerz funkelte das Gefieder, als er in die Sonne kam.