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Im Kriegssommer 1941 macht Elna aus Sandviken mit ihrer südschwedischen Brieffreundin eine Radtour zur norwegischen Grenze. Die Daisy Sisters, wie die Mädchen sich nach amerikanischem Vorbild nennen, lernen zwei schwedische Soldaten kennen, und die naive Elna, die keinen Alkohol verträgt, wird ungewollt schwanger. Den Vater des Kindes wird sie nie wiedersehen, ihre Tochter Eivor zieht sie nur widerwillig auf. Eivor ihrerseits versucht schon als Halbwüchsige mit einem jungen Kriminellen durchzubrennen, aber das Abenteuer geht auf tragische Weise schief. Fern von Mutter und Stiefvater will sie sich nun eine eigene Existenz als Schneiderin aufbauen. Doch es kommt anders als geplant ... Ein bewegender Generationenroman aus Schweden über drei Frauen, die aus ihrem engen sozialen Milieu und ihrer vorgezeichneten Rolle ausbrechen wollen.
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Seitenzahl: 753
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Henning Mankell
Daisy Sisters
Roman
Aus dem Schwedischen
von Heidrun Hoppe
Paul Zsolnay Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 1982 unter dem Titel Daisy Sisters bei Ordfronts Förlag in Stockholm und wurde für die deutsche Übersetzung vollständig durchgesehen.
ISBN 978-3-552-05485-1
© Henning Mankell 1982
Published by agreement with Ordfronts Förlag, Stockholm and Leonhardt & Høier Literary Agency aps, Copenhagen
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2009
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
www.zsolnay.at
www.henning-mankell.de
Datenkonvertierung eBook:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Hier ist sie: Eivor Maria Skoglund, 38 Jahre alt, Kranführerin seit drei Jahren, genauer gesagt seit Oktober 1977.
Sie hat gerade ihre Schicht beendet und steht vor dem Eingang von Domnarvets Västra in Borlänge, fröstelnd in der Novemberdämmerung. Beinahe widerwillig bückt sie sich und beginnt, die Kette vom Vorderrad ihres wackligen Fahrrads zu lösen. Es ist, als spiegelte der Herbsthimmel ihre stumme Verbitterung darüber, dass sie ihre verdammte Menstruation heute Nachmittag bekommen hat, dass sie wieder nicht schwanger ist. Trotz Temperaturmessens, um den Eisprung zu kontrollieren, trotz Kissen unterm Hintern und eines sturen, hartnäckigen Sexuallebens.
Hier ist sie, Eivor Maria Skoglund, in der Mitte des Lebens, das sie wie eine einzige Plage empfindet.
Natürlich gibt es auch einen Mann im Hintergrund, ihren dritten genau genommen, den Nachtwächter Peo, der in diesem Augenblick wie ein ausgezählter Boxer auf dem dunkelroten Kunstledersofa in der gemeinsamen Wohnung liegt und zu schlafen versucht. Er braucht seinen Schlaf und seine Träume, wenn er die endlosen Nächte in verlassenen Kaufhäusern und Gemeindebüros aushalten will.
Er liegt zusammengekauert, die verschwitzten Hände im Schritt, und versucht, an nichts zu denken. Aber er bleibt wach, Stunde um Stunde, bis Eivor nach Hause kommt.
Im Hintergrund gibt es auch noch das Resultat einer früheren Ehe. Eivors halbwüchsige Kinder, glücklich, betrogen, bitter, ziellos. Aber bis auf Weiteres kommen sie erst an zweiter Stelle, so muss es sein, wenn die Geschichte Fahrt aufnehmen soll.
Viele denkbare Ausgangspunkte also für diese Geschichte über Eivor.
Der wichtigste ist ihre Mutter Elna. Elna, die Dunkelhaarige. Ohne Vorwarnung konnte sie beim Abendessen in dem tristen, hellhörigen Mietshaus in Hallsberg ausrufen: »Wäre ich nicht so verdammt dumm gewesen und zur norwegischen Grenze in Dalarna geradelt, so wäre ich deinem Papa nicht in die Hände gefallen, und du wärst nicht entstanden, mein kleines Mädchen. Vergiss das nicht! Niemals!«
Das hatte sie 1952 oder 1953 gesagt, Eivor erinnert sich nicht genau. Aber ist Mutter ein schlechter Mensch? Gefühllos, gar einfältig? O nein, im Gegenteil! Eivors Mutter Elna hat einen klaren Verstand, ein offenes Herz, und sie hält es mit einer seltenen Religion: Ehrlichkeit! Die Tochter gleicht ihr, nicht nur im Aussehen, das sagen alle. Aber sie flucht nicht so viel und so grob wie ihre Mutter, auch wenn sie es manchmal gern täte.
Aber Hallsberg?
Ja, ich weiß, das ist zu früh. Ich muss meine Fantasie zügeln.
Gehen wir also durch die Flusstäler zum norwegischen Fjäll hinauf, zurück in die Vergangenheit.
Bis ins Jahr 1941.
Das dritte Kriegsjahr, dem Höllenwinter eifert im ganzen Land ein Sommer nach, endlos, trocken und heiß.
Und da kommen sie auf ihren Rädern: Vivi und Elna. Daisy Sisters nennen sie sich nach amerikanischem Vorbild. Zwei Mädchen, die gerne singen, müssen so einen Namen haben, auch wenn ihr Repertoire aus schwedischen Volksschulliedern oder albernen Schlagern besteht. Nach Lulu dachten sie zunächst daran, sich Ziegler Sisters zu nennen, und als Rosita ins Gespräch kam, überlegten sie, ob Serrano Sisters nicht besser klänge. Elna war dafür, aber sie waren kaum aus Älvdalen herausgeradelt, wo sie den Zug verlassen hatten, als sie schon klein beigab. Vivi war ein eigensinniger Mensch.
Es ist Sommer, das steht fest, und Elna wird vergewaltigt werden, oder so gut wie.
So gut wie, das sind ihre Worte. Denn selbst in ihrer tiefen Erniedrigung zwingt sie sich zur Ehrlichkeit, wie sehr es auch schmerzt. Hat sie um sich getreten, gebissen, gekratzt? Lag da wirklich keine Waffe, kein Stein, mit dem sie den Mann hätte schlagen können? Außerdem hat sie ja eigentlich zu keiner Zeit Angst, als sie unter ihm liegt. Wie sollte sie auch? Er ist ja nur ein blasser, pickliger Soldat, der selbst Angst hat!
Zwei graue Damenräder, Marke Monarch, und die Welt will erobert werden. Auf den Gepäckträgern haben sie ihr Gepäck: eine kleine Reisetasche, den Schlafsack und obendrauf den Regenmantel, alles säuberlich festgezurrt. An Vivis Gepäckträger baumelt noch zusätzlich eine graue Seitentasche.
Sie sind gleich alt, Wasserfrauen alle beide. 1924, am 22. Januar und am 2. Februar, sind sie geboren, jede an ihrem Ort. Denn Schwestern sind sie nur dem Namen Daisy Sisters nach. Vivi kommt aus Landskrona, Elna aus Sandviken. Elna ging in die letzte Volksschulklasse, als die Lehrerin eines Tages mit einem grauen Briefumschlag die Klasse betrat und fragte, ob jemand eine Brieffreundin haben wollte. Elna meldete sich, ohne zu wissen, warum. Sie hatte ja in ihrem Leben kaum je einen Brief geschrieben. Und beinahe wäre auch diesmal nichts daraus geworden, denn als sie zum Pult ging und knicksend den Brief entgegennahm, ergriff die Lehrerin gleich die Gelegenheit, Elnas Handschrift zu tadeln. Krähenfüße nannte sie ihre Buchstaben, und Elna konnte sich nur mühsam beherrschen.
Zu Hause in der Küche, wo die Fabrik vor dem Fenster aufragt, liest sie den Brief. Mutter Dagmar wirtschaftet mit dem Abendessen herum und will wissen, was sie da hat. Aber Elna kann jetzt nicht antworten, sie muss fertig sein, bevor der Vater und die beiden älteren Brüder aus dem Werk kommen. Denn wenn der Brief dann noch daläge, würde es ein unablässiges Fragen geben.
»Hast du etwa einen Brief bekommen?«, fragt die Mutter.
Elna antwortet nicht auf so eine törichte Frage. Sie liest. Wieder und wieder liest sie diesen verblüffenden Brief.
»Ich heiße Vivi Karlsson. Ich habe eine Nadel auf die Landkarte von Schweden fallen lassen, erst ist die Spitze draußen im Meer gelandet, irgendwo bei Kvarken, aber wer soll da schon wohnen. Beim nächsten Mal zeigte sie auf Skillingaryd, aber das klang so langweilig. Schließlich fiel sie auf Sandviken, und davon weiß ich jedenfalls, dass sie eine Fußballmannschaft haben. Die hat hier gegen BOIS gespielt, und das ging leider nicht so gut aus. Mein Papa arbeitet auf der Werft, er ist groß und war Ringer, bevor er Probleme mit dem Bauch bekam, Hämorrhoiden heißt das. Mutter ist zu Hause. Wir wohnen in einem Zimmer mit Küche, ich habe zwei Brüder, Per-Erik und Martin. Martin ist als Schiffsjunge zur See gegangen, und Per-Erik will Maurer werden. Wir sind Kommunisten, oder zumindest Papa. Falls du, die ich nicht kenne, Lust hast, mir zu schreiben, so ist meine Adresse …«
Wieder und wieder liest Elna den Brief, stellt sich Vivi Karlsson vor. Aber Mutter beginnt, mit Tellern und Schüsseln zu klappern. Man lässt sie nicht in Ruhe!
Die Kartoffeln sind erst zur Hälfte geschält, als Mutter bereits petzt. »Elna ist heute mit einem Brief von der Schule nach Hause gekommen.«
Vater Rune sticht mit der Gabel in die Luft. »Was zum Teufel hast du wieder angestellt?«, knurrt er.
Elna antwortet aber nicht.
Bruder Nils ist gerade sechzehn Jahre alt und picklig und fast immer gelb unter der Nase. Er streitet oft mit ihr, aber trotzdem mag sie ihn, vielleicht gerade weil er sich einmischt, sich kümmert, auch wenn es meist so ausgeht, dass er sie ärgert.
»Sie hat natürlich einen Schatz«, sagt er und schaufelt errötend das Essen in sich hinein.
Und so geht es weiter. Ein Brief, den keiner gesehen hat, wird zum einzigen Gesprächsthema, während Hering und Kartoffeln von den Tellern verschwinden.
Aber Elna bleibt stur, es ist ihr Brief. Sie sagt nichts.
Nach dem Essen verschwindet der ältere Bruder Arne im Keller, um sich zu waschen. Es ist Mittwoch, und er will mit dem Zug nach Gävle zum Tanz. Er ist zwanzig Jahre alt und hat nach der schweren Arbeit noch Kraft für zehn.
Nils rülpst, legt sich aufs Küchensofa und weigert sich, einen Finger krumm zu machen, Vater legt sich drinnen im Zimmer aufs Bett und schläft sofort ein. Elna und die Mutter waschen ab, dann gibt es Kaffee.
Da niemand den Brief erwähnt, als sie am Küchentisch beim Kaffee sitzen, ergreift Elna die Gelegenheit, noch etwas zu fragen, was sie nicht versteht. Sie lässt die Frage so einfließen, als hätte sie mit der Schule zu tun. »Vater«, sagt sie, »was sind eigentlich Hämorrhoiden?«
Er starrt sie entgeistert an. Aber im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen, die sie kennt, ist er ganz bei der Sache. »Die sitzen im Arsch«, erklärt er sachlich. »Scheißt man ein paar Jahre Steine, dann bekommt man sie.«
»Nicht, wenn wir Kaffee trinken«, sagt Mutter. Nisse grinst bloß, er ist wild auf alles, was mit den Geheimnissen des Körpers zu tun hat.
»Was heißt sitzen?«, fragt Elna.
Vater reibt sich die Nase. »Du weißt, wer Einar ist? Der, der über der Bäckerei wohnt, mit dem ich zusammen arbeite? Er hat welche. Er sagt, es sieht aus, als ob Weintrauben im Arsch wachsen, und er würde gerne aufhören zu essen, damit er aufhören könnte zu scheißen, weil es so weh tut.«
»Müsst ihr mit diesem Schweinkram weitermachen?«, fragt Mutter und steht vom Tisch auf.
»Wenn das Mädchen fragt, soll sie wohl eine Antwort bekommen«, sagt Vater bestimmt. »Frauenzimmer können übrigens auch so was kriegen, falls sie sich zu sehr verspannen, wenn die Babys rausgepresst werden.«
Da geht Mutter in die Kammer und schlägt die Tür hinter sich zu. Aber niemand kümmert sich darum.
»Eine Krankheit also«, sagt Elna.
Vater nickt und nimmt sich noch Kaffee.
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