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Rasselschlamassel: zwei Rentner und ein Baby
Hendrik Groen und Evert sind beste Freunde – in guten wie in schlechten Zeiten. Für gewöhnlich spielen die beiden Siebzigjährigen freitagabends zusammen Schach, trinken ein Gläschen Eierlikör und genießen ihr ruhiges Rentnerdasein. Doch eines Abends bringt Evert unerwarteten Damenbesuch mit: ein Baby. Von den Eltern keine Spur. Die betagten Babysitter wider Willen leisten fortan überraschend gute Arbeit, während sie versuchen, die Kleine möglichst schnell wieder nach Hause zu bringen – was sich als schwieriger erweist als gedacht.
Der neue Roman von SPIEGEL-Bestseller-Autor Hendrik Groen spielt zehn Jahre vor den berühmten Tagebüchern. Wie immer wunderbar schwarzhumorig, vergnügt und tiefsinnig erzählt.
Für Fans von Jonas Jonasson, Fredrik Backman und natürlich Hendrik Groen, dem beliebtesten Rentner der Welt.
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((bei fremdsprachigem Autor:))
Übersetzung aus dem Niederländischen von Wibke Kuhn
Ggf.
© Peter de Smet und Meulenhoff Boekerij bv, Amsterdam, 2019
Herausgegeben nach besonderer Vereinbarung mit Meulenhoff Boekerij bv in Verbindung mit deren bevollmächtigter Agentur 2 Seas Literary Agency Inc.
Titel der niederländischen Originalausgabe: »Een kleine verrassing: Of hoe Hendrik en Evert zich in de nesten werken«, Meulenhoff, Amsterdam 2019
((immer))
© Piper Verlag GmbH, München 2022
Covergestaltung: Cornelia Niere
CoverIllustration: Cornelia Niere unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Cover & Impressum
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Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
16:30 Uhr — Prinses Margrietschool
»Verdammt, wo bleiben die Engel …«
Ganz kurz verkrampfte sich ihr Gesicht. Dann war das stählerne Lächeln aber gleich wieder da. Zwei Kinder starrten sie an. Nur an den roten Flecken auf ihrem Hals konnte man erkennen, dass Hetty Schutter, die Direktorin der Schule und in Teilzeit auch Klassenlehrerin der 8. Klasse, sich gerade aufregte.
Auf der Bühne standen sieben kleine Hirten, die offenkundig die Übersicht verloren hatten. An der Stelle, wo eben noch ein Schwarm von Engeln die Bühne hatte hinaufflattern müssen, stand jetzt eine Mutter und machte unverständliche Gebärden. Die Hirten starrten sie verständnislos an. Die Mutter verschwand wieder zwischen den Vorhängen. Eine Weile geschah gar nichts.
Einen Hirten begann es zu jucken, und er fing an, sich unter seiner staubigen alten Hirtentischdecke gründlichst zu kratzen. Ein zweiter Hirte winkte seiner Oma. Der dritte wackelte mit seinen mageren Beinen, weil er vor lauter Nervosität pinkeln musste. Hinter dem Vorhang fiel irgendetwas um. Danach war es wieder still.
Das Publikum wurde unruhig. Die Väter und Mütter im Saal gaben sich Mühe, die Ruhe zu bewahren, aber hie und da brachen doch kleinere Handgreiflichkeiten aus zwischen Brüdern und Schwestern. Es wurde mit elterlicher Gewalt gedroht. Zwei Klappstühle krachten zusammen.
An der Seite der Bühne bewegte sich der Vorhang. Jemand war auf der Suche nach dem Durchgang. Der befand sich drei Meter weiter, dort, wo die Engel vor ein paar Minuten ihren fliegenden Auftritt gehabt hatten. Wer auch immer hinter dem Vorhang stand, wurde eher von Nervosität als von Verstand geleitet, denn auch der größte Simpel hätte nicht länger dafür brauchen können, schließlich auf der anderen Seite der Bühne, neben dem Vorhang, zu erscheinen.
Es war die Direktorin.
»Ähm … sehr geehrte Damen und Herren, durch gewisse Umstände ist etwas schiefgelaufen bei unserer Weihnachtsaufführung, und wir wissen noch nicht, wie wir das Problem lösen können, deswegen machen wir jetzt …«
Gleich hinter ihr begann ein kleiner Hirte zu heulen.
»… erst mal weiter mit dem Losverkauf für unsere Weihnachtslotterie, deren …«
Der heulende Hirte hatte in sein Mäntelchen gepinkelt. Langsam breitete sich ein großer, dunkler Fleck auf seiner Decke aus.
»… Erlös für einen neuen Beamer für unsere Schule verwendet werden soll.«
Die Sprecherin drehte sich halb um, zischte einer Mutter zu, dass sie sich um den nassen Hirten kümmern sollte, und fuhr dann fort: »Die Lose kosten einen Euro, und Sie können tolle Preise gewinnen, die uns zur Verfügung gestellt wurden von …«
Von der Seite kam eine hektische Mutter auf die Bühne, die erst das verkehrte Kind mitnahm und dann mit dem richtigen Kind in die verkehrte Richtung ging, zu einer Tür, die keine Tür war, sondern nur Deko des Operettenvereins.
»… von Eltern und Freunden unserer Schule und den Ladeninhabern, die uns Preise zur Verfügung gestellt haben, wofür wir uns herzlich bedanken. Die Losverkäufer kommen in der Pause bei Ihnen vorbei. Und … äh …« Sie warf noch einen schnellen Blick über die Schulter nach hinten. »Jetzt ist Pause.«
Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Sie drehte sich um und trieb die übrigen Hirten an den Dekorationsstücken vorbei, die das offene Feld darstellen sollten, durch die Öffnung im Vorhang. Dahinter befanden sich der Stufenbarren, der Kasten mit Sprungbrett und eine kleine Truppe von verkleideten Kindern, ein paar freiwillige Helfer aus den Reihen der Väter und Mütter, ein Ochse und ein Esel aus Holz und Maria und Josef. Es roch nach Pipi.
Zur gleichen Zeit — Hendriks Wohnung
»Evert kann jetzt jeden Moment kommen, Basje«, sagte ich zu Bas, der auf der Ecke der Fensterbank lag und schlief. Er ist ein dicker alter Kater, der sein eines Ohr immer bewegt, wenn ich mit ihm spreche, zum Zeichen, dass er noch am Leben ist. Viel mehr Bewegung ist nicht mehr drin. Nur beim Wort »Kuchen« rappelt er sich mühsam auf und wartet mit schräg gelegtem Kopf vor mir, bis er einen Keks kriegt. Bas ist wahrscheinlich die einzige Katze der Niederlande, die jede Woche ein Pfund Buttermischung von HEMA verputzt. Eine normale Katze frisst keine Kekse.
Bas bewegt sich wenig, stinkt aber umso mehr. Das hat vermutlich mit seiner Ernährung zu tun. Ich bin der Einzige, den es nicht stört.
»Genieß mal noch ein bisschen die Wärme, Dickerchen, denn wenn Evert kommt, musst du auf den Balkon.«
Ich freute mich auf die Ankunft meines guten Freundes Evert. Große Klappe, Herz aus Gold. Es gibt immer was zu meckern, und es gibt immer was zu lachen. Außerdem ein übersichtliches Programm, wie jede Woche: ein Schnäpschen, Nüsse, ein bisschen Käse, ein, zwei Scheiben Wurst, ein Häppchen zu essen, eine Partie Schach, eine Tasse Kaffee, noch ein letztes Schnäpschen und am Ende wieder zufrieden Abschied nehmen.
Eine halbe Stunde vorher im Supermarkt
Schon zum dritten Mal fuhr ein alter Mann Evert mit seinem Einkaufswagen von hinten gegen die Beine. Die türkische Dame, die gerade an der Reihe war, hatte ihre Gartenbohnen nicht gewogen.
»Ich nicht verstehn.«
»Gemüseabteilung, Kasse 4 bitte.«
Ein quengelndes Kind hängte sich an den Arm seiner Mutter, die daraufhin ein Glas Apfelmus fallen ließ, das prompt auf dem Boden zerbrach.
»Darf ich mir mal kurz Ihre Bonuskarte leihen, meine steckt in der Jacke von meinem anderen Ta … äh … in der Tasche von meiner anderen Jacke«, fragte die Frau vor ihm. Evert reichte ihr lächelnd seine Bonuskarte.
»Steck sie dir doch einfach in den … Ach, vergiss es, behalt sie gleich ganz«, sagte er verärgert.
Evert hatte einfach kein Glück. Hendrik hatte vergessen, Erdnüsse zu kaufen, und hatte ihn angerufen und gefragt, ob er kurz beim Supermarkt vorbeigehen könnte, denn ein Schachabend ohne Erdnüsse war doch ein bisschen öde. Aus eigener Initiative hatte Evert auch noch zwei Dosen Bier in seinen Einkaufskorb gelegt, weil er einen Korb, in dem nur eine Tüte Erdnüsse lag, für einen traurigen Anblick hielt.
Und jetzt stand er schon fast eine Viertelstunde in der Kassenschlange wegen dieser blöden Nüsse. Wenn im Leben etwas nicht ganz glatt lief, bekam Evert immer Durst. Sofort nach dem Kassieren öffnete er eine Dose, prostete der erstaunten Kassiererin zu, nahm einen Schluck und ging hinaus. Dort schloss er sein Fahrrad auf, nahm noch einen Schluck und stieg auf. Das Bier war lauwarm.
Man sah nicht oft Menschen auf dem Fahrrad Bier trinken. Wahrscheinlich war es verboten. Vielleicht, weil man dann kein Handzeichen geben kann, dachte sich Evert. Er überlegte, ob in den Niederlanden wohl jemals jemand einen Strafzettel bekommen hatte, weil er vergessen hat, beim Abbiegen ein Handzeichen zu geben. Er hatte es vor über sechzig Jahren auf der Grundschule gelernt: Den rechten Arm seitlich ausstrecken und dann wie ein lahmer Vogel auf und ab bewegen.
»Und wenn man jetzt Handbremsen hat?«, moserte er vor sich hin. »Dann kann man ja nicht mal gut anhalten wegen diesem blöden Handzeichen.«
Er rülpste dezent.
Hendrik konnte zufrieden sein, er hatte die Erdnüsse.
Sein Fahrrad krachte und quietschte.
Es nieselte anhaltend, und langsam wurde er nass.
16:35 Uhr — Prinses Margrietschool
Es herrschte Verwirrung. Eltern wollten sich einen Weg bahnen zum einzigen Zugang zu den Kulissen, während die Schulleiterin die Losverkäufer von der anderen Seite her in den Saal schob. Opas, Omas und Kleinkinder drängten in die Richtung der extra für diese Gelegenheit zusammengezimmerten Bar. Die Mütter, die Limonade, Kakao, Kaffee und Tee verkauften, hatten nicht mit dieser verfrühten Pause gerechnet und versuchten, die Plastikbecher möglichst schnell einzuschenken, sodass ziemlich viel danebenging. Kaffee und Limonade liefen in kleinen Rinnsalen über den Tisch auf den Boden.
Die Lehrerinnen und die Direktorin unternahmen zweifelhafte Versuche, etwas Ordnung im Chaos zu schaffen, aber alles, was sie damit bewirkten, war eine Vergrößerung des allgemeinen Durcheinanders. Der Hausmeister passte auch unter diesen erschwerten Umständen auf, dass die Kinder in der Schule kein Kaugummi kauten.
Die Turnhalle war nicht der geeignetste Saal für eine Theateraufführung. Zwei Väter hatten die hohen Fenster mit rotem Krepppapier abgedunkelt, was nicht so sehr Weihnachtsstimmung hervorrief als vielmehr die Turnhalle aussehen ließ wie ein großes Bordell. Obwohl man in einem Bordell meistens keine Sprossenwände, Ringe und hundertfünfzig Klappstühle findet. Ausklappbare Weihnachtsglocken aus rotem und weißem Papier sollten, zusammen mit einem viel zu kleinen Weihnachtsbaum, für »die einmalige Atmosphäre sorgen, die zu einem Fest des Lichts gehört«. Einen größeren Baum lehnte der Hausmeister entschieden ab, denn, wie er sagte: »Wer muss dann hinterher die ganzen Nadeln wegmachen? Außerdem hab ich sowieso nicht genug Lichter.« Und so hatte er der Schule schon wieder ein hübsches Sümmchen Geld gespart.
Hausmeister Harry van Staveren war ein sparsamer Mann. Er hatte eine spezielle Adresse, wo er sich immer Makronen kaufte, die das Haltbarkeitsdatum schon knapp überschritten hatten. Dass man für jede Tasse Tee einen eigenen Teebeutel brauchte, kümmerte ihn nicht weiter. Die Kantine führte er in Eigenregie, wobei er jeden Cent zweimal umdrehte. Und als Hüter des Erste-Hilfe-Kastens schnitt er die Pflaster so knapp zurecht, dass die Ränder der Schürfwunden darunter hervorschauten. »Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert«, heuchelte er, wenn jemand ihn vorsichtig kritisierte. Dabei war er so faul wie ein Löwe im Amsterdamer Zoo. Vor dreiundzwanzig Jahren hatte irgendjemand den Fehler gemacht, ihm eine feste Anstellung zu geben. »Da«, sagte Harry, »bräuchte es schon einen besonders gescheiten Kerl, um mich hier vor meinem Fünfundsechzigsten rauszukriegen.«
Der Hausmeister stand unten an der Treppe zur Bühne, die Direktorin oben.
»Es ist was Schreckliches passiert. Es ist … äh … es ist … schrecklich, ganz furchtbar, alles geht den Bach runter«, stotterte sie. »Alles geht den Bach runter« würde sie normalerweise niemals sagen. Eher so was wie: »Es läuft ein wenig anders, als wir uns das vorgestellt hatten.«
Jetzt sag doch endlich, was los ist, dachte er bei sich. »Ganz ruhig, Hetty, erzähl erst mal, was los ist, und dann finde ich vielleicht sogar jemanden, der das Problem lösen kann.«
Sie holte tief Luft. »Harry, das Jesuskind ist verschwunden.«
16:50 Uhr — Hendriks Wohnung
An: Die Leitung des AFC Ajax
Sehr geehrte Herren,
durch einen Artikel in der letzten Samstagsausgabe von Het Parool habe ich Kenntnis bekommen von dem Vorschlag der Leitung von Ajax, im gesamten Stadion ein Alkoholverbot zu erlassen aufgrund von Unregelmäßigkeiten vonseiten betrunkener Fans nach dem Spiel Ajax – FC Utrecht vom 17. November dieses Jahres.
Ihre Leitung will fünfzigtausend Menschen trockenlegen, weil Ihre Security, zusammen mit der Polizei, schon seit Jahren nicht in der Lage ist, ungefähr hundert überdrehte Randalierer im Zaum zu halten, von denen die meisten mit Vor- und Nachnamen bekannt und ausführlich zu besichtigen sind auf zahllosen Videoaufnahmen.
Ein paar Fragen:
Gilt das Alkoholverbot dann auch für das Vorstandszimmer und die vollverglasten Skyboxen?Meinen Sie nicht, so wie ich, dass die Herrschaften, die Stadien demolieren, mit Eisenstäben um sich werfen und Menschen zusammenschlagen, sich vielleicht nicht besonders um Ihr Alkoholverbot scheren?Wie fänden Sie es, wenn Ihre Gemeindeverwaltung aufgrund der Feststellung, dass bei Ihnen in der Straße unlängst ein Wagen falsch geparkt hat, ein allgemeines Parkverbot für Ihr gesamtes Viertel beschließen würde?Noch zwei Vorschläge für unsere leitenden Tiefflieger:
Sprechen Sie alten Damen, kleinen Kindern und jungen Frauen ein allgemeines Verbot aus, sich auf der Straße aufzuhalten, um damit ein für alle Mal Taschendiebe, Pädophile und Serienvergewaltiger loszuwerden.Da direkt vor meiner Wohnungstür ein riesiger Hundehaufen liegt, kommt mir ein landesweites Gassigehverbot gar nicht so dumm vor. Ab jetzt dürfen Hunde nur noch in Innenräumen Gassi gehen.Weisheit, liebe Herren von Ajax, wünsche ich Ihnen, viel Weisheit, denn daran mangelt es Ihnen.
Übrigens teile ich Ihnen mit, dass ich diesen Brief als Leserbrief an Het Parool geschickt habe.
Hochachtungsvoll
H. G. Groen
So, der kann jetzt auch raus. Hab ich mal wieder meine gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen. Das reicht für heute
»Wo Evert bloß bleibt?«, fragte ich mich laut. »Und hab ich eigentlich den Genever kalt gestellt?«
16:55 Uhr — Prinses Margrietschool
»Das Jesuskind ist verschwunden. Wir haben es überall gesucht. Weg. Ich kann doch ein Krippenspiel nicht ohne Jesuskind aufführen. Ausgerechnet jetzt, wo wir endlich mal ein echtes Baby haben.«
»Können wir in der Zwischenzeit nicht eine Puppe nehmen?«, schlug Harry vor.
»Die Eltern sitzen im Saal, das geht nicht, die sehen das doch sofort. Du musst es den Eltern erzählen. Gott, die starren uns alle an. Nicht gleich hinschauen, du Idiot!«
Harry erschrak so, dass ihn fast der Schlag traf. »Warum ich? Ich kenn die Leute doch gar nicht. Die Eltern sind Freunde von Ester. Kann die es ihnen nicht viel besser beibringen? Ich geh sie mal schnell suchen.«
»Da kannst du lange suchen, denn Ester ist schon im Naturpark Veluwe.«
Harry wurde immer beklommener zumute. »Ja, aber du kannst solche Sachen viel besser, und ich muss hier die Dinge ein bisschen im Auge behalten.«
»Harry, ich hab hier hinten auch alle Hände voll zu tun.«
»Womit denn?«
»Mit allem Möglichen natürlich.«
»Wie, mit allem Möglichen?«
»Hör mal, Harry, entweder gehst du jetzt zu den Eltern und erzählst es ihnen, oder ich werde hier und da mal ein paar Dinge über dich erzählen.«
Harry brach der Schweiß aus. »Ich ruf sie kurz nach hinten.«
»Ja, genau, ruf sie nach hinten, und dann erzählst du ihnen, dass wir ihr Baby schon überall gesucht haben, aber dass wir keine Ahnung haben, wo der kleine Junge geblieben ist. Oder war es ein Mädchen, das Jesuskind? Na ja, ist ja sowieso egal.«
»Vor all den anderen hier?«
»Nein, natürlich nicht, nimm sie mit in mein Büro.«
»Und wo wurde das Kind zum letzten Mal gesehen?«
»In dem kleinen Flur vor den WCs. Dort war es ruhig, und dort stand der Kinderwagen am wenigsten im Weg. Du hast doch selbst zu Geert gesagt, dass der Wagen dort so lange stehen soll. Ich rufe inzwischen die Polizei.« Sie verschwand wieder zwischen den Vorhängen.
Harry schob sich durch die Menschenmenge zu einem unauffälligen Paar, das die ganze Zeit von der Saalmitte zu ihnen herübergestarrt hatte. Die Frau hatte einen vergeblichen Versuch unternommen, ein bisschen festlich auszusehen: braunes Kleid mit einer Brosche, darunter ebensolche Schuhe und darüber ein bleiches Gesicht mit schlichter Frisur. Der Mann sah so aus, als wäre er direkt von der Arbeit gekommen, vermutlich ein Verwaltungsbüro oder etwas in der Art.
Die bange Erwartung stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
»Meine Herrschaften, äh … könnten Sie, äh … kurz mit nach hinten kommen?« Harry bemühte sich, so ruhig und gefasst wie möglich zu wirken, aber vor lauter Nervosität überschlug sich seine Stimme.
»Was ist los? Es ist doch nichts mit Sabine? Ist was mit dem Baby?« Panik in den Augen der Mutter.
Der Vater räusperte sich. »Es ist doch wohl alles in Ordnung da hinten, oder?«
»Ja, ja, natürlich, wir müssen nur kurz ein kleines Problemchen lösen.« Dem Hausmeister fiel nichts Besseres ein. Er suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, wie er mit heiler Haut davonkommen konnte, aber er sah keinen Ausweg. Er ging vor dem Paar her, wieder durch die schiebende und drängelnde Menschenmenge, zur Treppe an der Seite der Bühne, erklomm mühsam die fünf Stufen und führte die kreidebleichen Eltern an den Müttern vorbei, die bei den Vorbereitungen geholfen hatten und nun hinter dem Vorhang standen und sich unterhielten. Als der Vater und die Mutter an ihnen vorbeigingen, verstummte das Gespräch.
Zwanzig Minuten vorher — Prinses Margrietschool
Evert radelte mit viel Geknarze durch die nasse Stadt. Es fing schon an zu dämmern, und die Straße war belebt. Er bog nach links ab, wollte wieder ein bisschen Geschwindigkeit zulegen, da hörte er ein dumpfes Krachen auf der Höhe seines Kettenschutzes und trat unerwartet ins Leere. Er verriss den Lenker nach rechts, fuhr gegen den Bordstein, sein Bier flog auf die Straße, und er konnte gerade noch verhindern, dass er längelang auf den Bürgersteig stürzte. »Verdammt, das hat mir gerade noch gefehlt: Jetzt ist diese Scheißkette rausgesprungen.«
»Passen Sie mal ein bisschen auf, Alterchen«, sagte eine dicke blonde Dame in einer zu engen Leggins.
»Entschuldigen Sie vielmals, Sie Dickwanst«, sagte Evert freundlich. Das brachte sie aus dem Tritt. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, zögerte, zeigte ihm sicherheitshalber den Mittelfinger und lief weiter.
Er schaute nach seinem Fahrrad. Ein altmodischer Kettenschutz, festgerostet und schmierig. Irgendwo dort drinnen hing eine zu schlaffe Kette neben dem Zahnrad. Er konnte wider besseres Wissen versuchen, den Kettenschutz abzubekommen, die Kette wieder aufs Ritzel zu legen und danach das Plastikstück wieder mehr oder weniger an seinen Platz zu kriegen. Die Erfolgschancen waren gering. Und wenn es ihm gelingen würde, war es ja nicht ausgeschlossen, dass es ihm zwei Straßen weiter aufs Neue passierte. Verschmierte Hände, verschmierte Klamotten, Fluchen, Toben, und am Ende musste er dann doch zu Fuß gehen. Es war besser, sich für heute geschlagen zu geben und die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen. Er lehnte sein Fahrrad gegen den Zaun eines Schulgebäudes und schloss es ab.
Um die Katastrophe komplett zu machen, musste er auch noch furchtbar dringend aufs Klo. Evert schaute sich panisch um. Der Schulhof stand voller Fahrräder, war aber wie ausgestorben. Drinnen fand sicher gerade irgendeine Veranstaltung statt. Die Eingangstür stand einladend offen, und Schulen haben WCs. Er betrat den leeren Flur. In der Ferne hörte man Stimmengewirr. Auf gut Glück machte er eine Tür auf. Er sah einen kleineren Flur mit vier Türen, von denen drei ein WC-Schild hatten. Erleichtert atmete er auf und stürzte in die erste Toilettenkabine, wand sich aus der Jacke und ließ sie vor sich auf den Boden fallen. Seine kalten Finger kämpften mit dem Reißverschluss der Hose. Die Zeit wurde langsam knapp. »Gleich mach ich mir in die Hose«, murmelte er.
Im Reißverschluss hatte sich ein Stück Stoff verfangen, sodass er jetzt nur noch zur Hälfte aufging. Evert zerrte sich panisch und mit viel Mühe die Hose vom Hintern und konnte sich gerade noch rechtzeitig mit einem Seufzer der Erleichterung auf das kleine Kinder-WC plumpsen lassen. »Junge, Junge, was sich ein Mensch erleichtert fühlen kann, wenn er was loswird«, murmelte er ein paar Sekunden später. Aber die Freude war von kurzer Dauer. »Jessesmariaundjosef, meine Jacke!« Die Toilettenschüssel war so klein, dass er eigentlich gar nicht richtig draufgepasst hatte. Und vor lauter Nervosität hatte er unbemerkt seine Jacke, die vor ihm auf dem Boden lag, pitschnass gepinkelt. »Herrgott noch mal, auch das noch … hört das denn heute gar nicht mehr auf?« Leise fluchend schaute er sich nach einem Handtuch um, oder irgendwas, womit er seine Jacke ein bisschen trocken tupfen konnte.
Er erschrak, als er auf dem Flur vor den WCs eine Tür aufgehen hörte.
Evert fiel jäh ein, dass man ja unter die Toilettentüren schauen konnte. Panisch packte er seine nasse Jacke und zog die Beine vom Boden hoch, so gut er konnte. Nach zehn Sekunden waren sie schon bleischwer, nach zwanzig Sekunden wurde ihm klar, dass er jetzt keine drei Sekunden mehr aushalten würde, und nach zweiundzwanzig Sekunden hörte er die Tür wieder zugehen. Erleichtert ließ er die dünnen, weißen Beine sinken.
Aber was sollte er jetzt mit dieser Jacke anfangen? Vorsichtig steckte er den Kopf vor die Tür seiner Kabine. Da fiel ihm vor Staunen die Kinnlade herunter: Im Vorraum stand ein Kinderwagen, und in diesem Kinderwagen lag ein schlafendes Baby, und über dem Griff des Wagens hing eine lange cremefarbene Regenjacke.
16:40 Uhr — Prinses Margrietschool
Hausmeister Harry van Staveren ging vor dem Vater und der Mutter her, die beide aschgrau im Gesicht waren, und führte sie ins Büro der Schuldirektorin. Sorgfältig machte er die Tür zu.
»Setzen Sie sich doch bitte. Wollen Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?«
»Zuerst würde ich gern wissen, was hier los ist«, sagte der Vater.
Harry zögerte, schluckte, schaute an ihm vorbei und murmelte: »Ihr … äh, Ihr Baby ist verschwunden.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte der Vater einfältig.
Die Mutter wurde noch kleiner und blasser, als sie sowieso schon war, und brach in Tränen aus. »Wie ist das möglich – verschwunden?«
»Wie kann denn unsere Tochter einfach so verschwinden? Hat etwa niemand auf sie aufgepasst?«
»Natürlich, natürlich, es war immer jemand bei ihr, nur … äh … nicht so ganz … äh … vielleicht.« Harry fiel nichts anderes mehr ein. »Und wir finden Ihr Kleines bestimmt ganz schnell wieder. Weit kann sie ja nicht sein, würd ich mal sagen. Möchten Sie inzwischen eine Tasse Kaffee?«
Die Mutter wurde von Schluchzern geschüttelt. In den Augen des Vaters war schiere Panik zu lesen. »Wo hat man sie zuletzt gesehen?«, rief er. »Wer hat sie zuletzt gesehen?«
»Das müssen wir noch herausfinden.« Harry schwitzte wie ein Schwein. »Ich geh mich jetzt mal erkundigen, ob inzwischen schon mehr bekannt ist. Warten Sie kurz hier.«
Und ohne sich umzuschauen, huschte er aus dem Büro auf der Suche nach etwas oder jemand, hinter dem er sich so effizient wie möglich verstecken konnte.
Einen Moment waren die Eltern vor Verblüffung sprachlos. Dann eilte der Vater hinter dem Hausmeister her, auf dem Fuße gefolgt von der heulenden Mutter, die durch ihre Tränen so wenig sah, dass sie die zurückschwingende Tür nicht bemerkte und sie frontal ins Gesicht kriegte. Sie schwankte. Ihr Mann hörte das Geräusch, drehte sich um, zögerte, wollte erst weitergehen, aber drehte sich dann doch wieder um, packte seine Frau bei der Hand und hatte, als er seinen Weg fortsetzen wollte, den Hausmeister aus den Augen verloren.
»Wo ist er nur hin?« Menschen in Panik klammern sich an alles, was ihnen zufällig vor die Nase kommt, und das war in diesem Fall eben der Hausmeister. Dass der ihnen jetzt entkommen war, machte ihre Verzweiflung noch größer.
»Aus dem Weg … pardon … aus dem Weg, bitte … pardon … aus dem Weg.« Auf ihre eigene wackere Weise kämpften sie sich an Menschen und Turngeräten vorbei. Eine Frau bekam heißen Kaffee über ihr Weihnachtskleid. »Aua, verdammt! Passt doch auf!« Oft ist der Lack der Zivilisation sehr dünn. Zu dünn für kochend heißen Kaffee auf dem Kleid. Die Mutter des Babys hatte nichts gemerkt und folgte strauchelnd ihrem Mann. Der war in einem Flur angekommen und sah nicht weit entfernt einen neuen Strohhalm, an dem er sich festklammern konnte. Hinter dem Fenster eines kleinen Zimmers voller Ordner, Kartons und Papierstapel machte die Schulleiterin gerade jemanden zur Schnecke. Ein Baum von einem Kerl mit der Unterwürfigkeit eines geprügelten Hundes. Durch die geschlossene Tür konnte man sie schimpfen hören: »Du elender Schwachkopf, man stellt so einen Wagen doch nicht unbeaufsichtigt in eine Toilette, das kann man doch nicht machen! Wann war das, wann hast du zum letzten Mal reingeschaut, das Kind gesehen? Jetzt red schon, Mann!«
Der betreffende elende Schwachkopf stotterte: »Vor … äh … einer Viertelstunde … vor einem Viertelstünd … chen oder so … vielleicht zwanzig Minuten.« Weiße Spucke zog Fäden in seinen Mundwinkeln. Schweiß lief ihm über die runden Wangen, und seine Augen traten hervor. Er strahlte mit jeder Faser aus, dass er mit seinen hundertsiebzehn Kilo am liebsten durch den Abfluss des Spülbeckens entkommen wollte. »Ich wurde weggerufen von Harry, damit ich inzwischen Limonade einschenke.«