Herrenabend - Hendrik Groen - E-Book
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Herrenabend E-Book

Hendrik Groen

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Beschreibung

Groen ist zurück! Im dritten und letzten Tagebuch des beliebtesten Rentners der Welt verliert der SPIEGEL-Bestseller-Autor zwar langsam sein Gedächtnis, aber nicht seinen Sinn für Humor! Hendrik Groen genießt sein Leben: schlafen, essen, Schach spielen und mit Fräulein Jansen spazieren gehen. Besonders freut sich der inzwischen Neunzigjährige aber auf die Treffen seines Alanito-Clubs, denn dort wird getrunken, gelacht und auf den Tischen getanzt, fast wie in den guten alten Zeiten. Doch dann muss Hendrik sich der Tatsache stellen, dass er immer vergesslicher wird. Um diesem ärgerlichen Verfall entgegenzuwirken, beschließt er, ein neues Tagebuch zu führen. Dann kann er wenigstens nachlesen, was er vergessen hat – und wenn ihm etwas nicht gefällt, schreibt er es einfach nicht mehr auf! Band 1: Eierlikörtage. Das geheime Tagebuch des Hendrik Groen, 83 1/4 Jahre Band 2: Tanztee. Das neue geheime Tagebuch des Hendrik Groen, 85 Jahre Band 3: Herrenabend. Das letzte geheime Tagebuch des Hendrik Groen, 90 Jahre

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© Hendrik Groen und Meulenhoff Boekerij bv, Amsterdam, 2020

Herausgegeben nach besonderer Vereinbarung mit Meulenhoff Boekerij bv in Verbindung mit deren bevollmächtigter Agentur 2 Seas Literary Agency Inc.

Titel der niederländischen Originalausgabe: »Opgewekt naar de eindstreep: Het laatste geheime dagboek van Hendrik Groen, 90 jaar«, Meulenhoff, Amsterdam 2020

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Kerstin Kubitz

Covergestaltung: Cornelia Niere, München

Covermotiv: Illustration: Cornelia Niere unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

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Inhalt

Cover & Impressum

Dienstag, 19. November 2019

Mittwoch, 20. November

Sonntag, 24. November

Montag, 25. November

Dienstag, 26. November

Mittwoch, 27. November

Donnerstag, 28. November

Freitag, 29. November

Samstag, 30. November

Sonntag, 1. Dezember

Dienstag, 3. Dezember

Mittwoch, 4. Dezember

Donnerstag, 5. Dezember

Freitag, 6. Dezember

Samstag, 7. Dezember

Montag, 9. Dezember

Dienstag, 10. Dezember

Mittwoch, 11. Dezember

Freitag, 13. Dezember

Sonntag, 15. Dezember

Mittwoch, 18. Dezember

Donnerstag, 19. Dezember

Sonntag, 22. Dezember

Freitag, 27. Dezember

Mittwoch, 1. Januar

Freitag, 3. Januar

Samstag, 4. Januar

Montag, 6. Januar

Donnerstag, 9. Januar

Freitag, 10. Januar

Samstag, 11. Januar

Dienstag, 14. Januar

Donnerstag, 16. Januar

Freitag, 17. Januar

Samstag, 18. Januar

Dienstag, 21. Januar

Mittwoch, 22. Januar

Donnerstag, 23. Januar

Freitag, 24. Januar

Samstag, 25. Januar

Sonntag, 26. Januar

Dienstag, 28. Januar

Anfang Februar

Mittwoch, 5. Februar

Freitag, 7. Februar

Samstag, 8. Februar

Montag, 10. Februar

Mittwoch, 12. Februar

Donnerstag, 13. Februar

Samstag, 15. Februar

Montag, 17. Februar

Mittwoch, 19. Februar

Donnerstag, 20. Februar

Ende Februar

Samstag, 7. März

Montag, 9. März

Mittwoch, 11. März

Freitag, 13. März

Samstag, 14. März

Montag, 16. März

Mittwoch, 18. März

Freitag, 20. März

Samstag, 21. März

Sonntag, 22. März

Montag, 23. März

Mittwoch, 25. März

Donnerstag, 26. März

Freitag, 27. März

Samstag, 28. März

Montag, 30. März

Mittwoch, 1. April

Donnerstag, 2. April

Freitag, 3. April

Samstag, 4. April

Sonntag, 5. April

Dienstag, 7. April

Mittwoch, 8. April

Donnerstag, 9. April

Freitag, 10. April

Samstag, 11. April

Dienstag, 14. April

Mittwoch, 15. April

Freitag, 17. April

Sonntag, 19. April

Montag, 20. April

Mittwoch, 22. April

Donnerstag, 23. April

Freitag, 24. April

Samstag, 25. April

Sonntag, 26. April

Montag, 27. April

Dienstag, 28. April

Mittwoch, 29. April

Donnerstag, 30. April

Freitag, 1. Mai

Samstag, 2. Mai

Sonntag, 3. Mai

Montag, 4. Mai

Dienstag, 5. Mai

Mittwoch, 6. Mai

Donnerstag, 7. Mai

Samstag, 9. Mai

Sonntag, 10. Mai

Montag, 11. Mai

Mittwoch, 13. Mai

Donnerstag, 14. Mai

Freitag, 15. Mai

Montag, 18. Mai

Mittwoch, 20. Mai

Donnerstag, 21. Mai

Freitag, 22. Mai

Samstag, 23. Mai

Montag, 25. Mai

Dienstag, 26. Mai

Samstag, 30. Mai

Sonntag, 31. Mai

Montag, 1. Juni

Dienstag, 2. Juni

Mittwoch, 3. Juni

Donnerstag, 4. Juni

Freitag, 5. Juni

Samstag, 6. Juni

Sonntag, 7. Juni

Montag, 8. Juni

Dienstag, 9. Juni

Mittwoch, 10. Juni

Donnerstag, 11. Juni

Samstag, 13. Juni

Sonntag, 14. Juni

Montag, 15. Juni

Dienstag, 16. Juni

Mittwoch, 17. Juni

Donnerstag, 18. Juni

Freitag, 19. Juni

Sonntag, 21. Juni

Montag, 22. Juni

Dienstag, 23. Juni

Mittwoch, 24. Juni

Donnerstag, 25. Juni

Samstag, 27. Juni

Sonntag, 28. Juni

Montag, 29. Juni

Dienstag, 30. Juni

Mittwoch, 1. Juli

Donnerstag, 2. Juli

Freitag, 3. Juli

Samstag, 4. Juli

Sonntag, 5. Juli

Montag, 6. Juli

Donnerstag, 9. Juli

Freitag, 10. Juli

Samstag, 11. Juli

Donnerstag, 16. Juli

Samstag, 18. Juli

Montag, 20. Juli

Dienstag, 21. Juli

Mittwoch, 22. Juli

Samstag, 25. Juli

Dienstag, 28. Juli

Mittwoch, 29. Juli

Donnerstag, 30. Juli

Freitag, 31. Juli

Samstag, 1. August

Sonntag, 2. August

Montag, 3. August

Dienstag, 4. August

Donnerstag, 6. August

Samstag, 8. August

Donnerstag, 11. August

Mittwoch, 12. August (von Leonie)

Donnerstag, 13. August

Freitag, 14. August

Samstag, 15. August

Samstag, 22. August

Dienstag, 25. August

Mittwoch, 2. September

Donnerstag, 3. September

Freitag, 4. September

Samstag, 5. September

Dienstag, 19. November 2019

Ich weiß nicht so richtig, wie ich wieder anfangen soll. Mit dem Schreiben. Also habe ich einfach das als Erstes aufgeschrieben.

Es wird zu einem ständigen Problem: Dass ich mich nicht mehr erinnere, was ich gerade gemacht habe oder machen wollte oder wie irgendwas gleich wieder funktioniert. So stand ich letzte Woche im Supermarkt vor dem Regal mit der Babynahrung und hatte keine Ahnung, welche Sorte ich nehmen sollte. Ich las die Etiketten auf den Gläschen: Gartenbohnen, Buntes Gemüse, Obstbrei mit roten Beeren …

Eine junge Verkäuferin kam auf mich zu und fragte, ob sie mir vielleicht helfen könne. »Sie stehen ja hier schon eine Weile.«

Ich wusste nicht mehr genau, warum ich hier stand. Ich musste einkaufen, das war klar, denn ich befand mich in einem Supermarkt. Aber was war das noch mal, was ich kaufen wollte?

»Haben Sie keinen Einkaufszettel?«, erkundigte sich die Verkäuferin.

»Ach ja, richtig, meine Frau hat mir ja eine Liste geschrieben.«

»Sollen wir sie uns mal gemeinsam anschauen?«

»Nein, nein, war nur ein Witz. Meine Frau ist schon seit über einem Jahr tot, die gibt mir keine Einkaufszettel mehr mit.«

Die junge Frau lachte nicht. Es war aber auch ein merkwürdiger Witz, muss ich selbst zugeben.

Ich suchte einen Moment, dann fand ich die Einkaufsliste in meiner Jackentasche, unverkennbar in meiner Sauklaue geschrieben. Ich erklärte der Verkäuferin noch, dass sie sie höchstwahrscheinlich nicht würde entziffern können, trotzdem wollte sie einen Blick darauf werfen.

»Babynahrung steht nicht drauf«, stellte sie fest, nachdem sie die Liste studiert hatte.

»Nein, es ist ewig her, dass ich Babynahrung kaufen musste«, erwiderte ich. »Damals gab es diese Gläschen noch nicht. Meine Frau hat das alles selbst gekocht.«

»Auf der Liste stehen Kekse.«

Die junge Frau lief voraus zu den Keksen.

Ach ja, ich wollte Kekse haben, zum Glück erinnerte ich mich wieder. Und Joghurt. Und Zahnpasta.

Jetzt war mir alles wieder klar.

Vergesslichkeit ist kein Vergnügen, das kann ich jedem versichern. Und man gewöhnt sich auch nicht daran. Ja, bei anderen ist es manchmal ganz witzig, und man kann darüber lachen. So hatte Grietje mal vergessen, dass sie eine Banane in die Weihnachtskrippe gelegt hatte. Das Jesuskindlein war über und über mit Fruchtfliegen bedeckt. Was haben wir gelacht! Allerdings war es eine Heidenarbeit, die Krippe wieder sauber zu kriegen, obendrein war der Staubsaugerbeutel komplett verstopft von all dem Stroh. Andererseits haben wir in dem Beutel den Kopf eines Hirten wiedergefunden. Dieser Kopf war wohl irgendwann abgebrochen und wieder angeleimt worden, offenbar jedoch nicht sehr stabil.

Ich frage mich schon, warum Grietje die Banane ausgerechnet dort abgelegt hatte, bevor sie sie vergaß. Vielleicht glaubte sie, dass Jesus besonders gern Bananen mochte. Oder Maria.

Doch nun noch mal zurück zum Anfang, denn mir ist es wieder eingefallen.

Ich habe beschlossen, wieder zu schreiben, gerade weil ich so viel vergesse. Dann kann ich mein Tagebuch als Gedächtnisstütze benutzen und etwas Struktur in den Alltag bringen.

Genauer betrachtet ist Letzteres ziemlicher Unsinn. Wie viel Struktur brauche ich momentan noch? Ich wache täglich auf, gehe frühstücken, Kaffee trinken, Mittag essen, Tee trinken, Abend essen, Kaffee trinken, um abends schließlich vor dem Fernseher einzuschlafen.

Das klingt doch nicht allzu kompliziert?

Und dennoch kommt meinem Kopf selbst bei diesem übersichtlichen Ablauf das Programmheft manchmal abhanden. Dann weiß ich nicht mehr, ob ich gerade gefrühstückt oder zu Mittag gegessen habe. Ob ich ins Bett gehen muss oder gerade wach geworden bin. Okay, das Letzte war ein Witz.

Das wäre alles nicht weiter tragisch, wenn ich Fräulein Jansen nicht hätte.

Zur Erklärung: Fräulein Jansen ist der Hund, den ich von Evert bekommen habe. Der Name war Teil des Geschenks. Und um die Verwirrung komplett zu machen: Fräulein Jansen ist ein Rüde. Ich muss dreimal am Tag mit ihm Gassi gehen. Zweimal drehen wir eine Runde ums Haus, und einmal spazieren wir am Strand. Da kann er hinter dem Ball herrennen, den ich für ihn werfe. Dafür habe ich mir so einen speziellen Wurfapparat gekauft. Damit schaffe ich mit dem Wind manchmal bis zu zwanzig Meter.

Letzte Woche, oder … zumindest vor einiger Zeit, fragte mich Leonie: »Gehst du jetzt schon wieder spazieren, Hendrik?«

»Was meinst du mit ›schon wieder‹?«, erkundigte ich mich noch, doch mir schwante nichts Gutes.

»Nun ja«, erwiderte meine Freundin, »vor einer halben Stunde hast du Fräulein Jansen auch schon rausgelassen.«

»Ja, aber da hat er nichts gemacht, und ich musste schnell zurück, weil … äh … ich selbst so dringend auf die Toilette musste. Und mir schien es keine gute Idee, mich neben ihn auf den Grünstreifen zu hocken.«

»Das wäre bestimmt ein witziger Anblick gewesen«, meinte Leonie, »du und der Hund nebeneinander beim großen Geschäft.«

»Ich bezweifle allerdings, dass Hunde wirklich Geschäfte machen«, versuchte ich, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

Sie bezweifelte das ebenfalls. Mit Geschäften ist das so eine Sache, wann fangen sie an, wo hören sie auf …

Doch ich muss gestehen, dass das nicht stimmte. Dass ich selbst auf die Toilette musste. Ich habe mir einfach etwas ausgedacht, weil ich nicht mehr im Kopf hatte, dass ich so kurz davor auch schon mit dem Hund spazieren war. Ich glaubte, es wäre inzwischen Nachmittag, aber als ich auf die Armbanduhr sah, war es erst halb elf.

»Jetzt trinken wir erst mal eine Tasse Kaffee«, schlug ich vor, »ich bringe nur kurz Fräulein Jansen weg.«

Der Hund darf nämlich nicht nach unten in den Gemeinschaftsraum. Er hat sich wiederholt danebenbenommen. Einmal, noch als Welpe, hatte er Frau Sliedrecht ans Bein gepinkelt.

»Ja wie, was läuft mir denn da Warmes in den Schuh?«, hatte Frau Sliedrecht sich gewundert.

Ein andermal hatte er eine halbe Packung Kekse von Herrn Sluiter weggefressen. Dieser forderte hohen Schadensersatz: zwei neue Packungen Kekse. Eine für den erlittenen materiellen Schaden und eine für den immateriellen. Auf meine Frage, worin letzterer Schaden denn bestünde, erklärte Sluiter, er habe eine PSTB.

»Sie meinen PTBS?«

»Genau, das habe ich ja gesagt, darunter leide ich sehr stark, vor allem bei Keksen.«

Herr Sluiter ist ein wenig verrückt, das stimmt, aber das kommt nicht von posttraumatischem Stress, sondern von lebenslangem, übermäßigem Trinken.

Fräulein Jansens dritter Fehltritt besiegelte sein Schicksal. Einer Dame, die vom Medizinischen Dienst oder so zu uns gekommen war, berammelte Fräulein Jansen hemmungslos das Bein. Der Heimleiter, Herr Blekemolen, stand fassungslos daneben. Ich konnte Fräulein Jansen schnell wegziehen, aber die Frau blickte auf ihr Bein, als wollte sie es sich am liebsten abhacken.

Am nächsten Tag hing ein großes Schild am Gemeinschaftsraum: HUNDE VERBOTEN. Das Schöne an diesem Heim ist ja gerade, dass man hier kleine Haustiere halten darf, doch das hat sich nun, dank Fräulein Jansen, etwas relativiert.

Aber warum noch gleich schreibe ich an dieser Stelle von meinem Hund?

Und schon zeigt sich der Nutzen meines neuen Tagebuchs: Ich kann darin nachblättern, warum ich über etwas Bestimmtes spreche. Das Einzige, was ich mir merken muss, ist, regelmäßig alles aufzuschreiben, was ich nicht vergessen darf.

Ich kann nicht versprechen, jeden Tag zu schreiben, aber ich werde mein Bestes geben.

Mittwoch, 20. November

Nächste Woche Samstag haben wir hier in unserem Seniorenheim die halbjährliche Versammlung von Alanito. Wir sind nur noch zu sechst: Edward, Graeme, Antoine, Ria, Leonie und ich.

Evert und Eefje sind natürlich nicht mehr dabei, und Grietje ist zu verwirrt. Als sie das letzte Mal vor etwa eineinhalb Jahren bei unserem Treffen war, erkannte sie niemanden mehr. Obendrein machte sie beim festlichen Diner eine ziemliche Sauerei. Als es bei den Spaghetti bolognese mit der Gabel nicht mehr so recht klappen wollte, versuchte sie es mit den Händen, aber auch dabei landete das meiste auf ihrem Schoß, den faltigen Bäckchen und an ihrem Kinn, also bestenfalls in der Nähe ihres Mundes. Sie war über und über mit Nudeln und roter Hackfleischsoße besudelt und strahlte, als käme sie geradewegs aus dem Schönheitssalon. Das machte das Ganze wiederum ziemlich rührend. Wir hatten nicht bedacht, dass die Schwestern sie in der geschlossenen Station immer fütterten. Auch beim Wein, in ihrem Fall Limonade in einem Plastikweinglas, lief es nicht ganz nach Etikette: Das meiste schüttete sie sich neben den Mund.

»Das war lecker, Mama«, sagte sie zu Leonie.

Fünf Minuten später wies Edward mit dem Finger an den Lippen auf Grietje: Sie war auf dem Stuhl eingeschlafen, den Mund ein klein wenig geöffnet. Sie wirkte zufrieden. Der Anblick machte uns ganz ruhig.

Ich besuche sie einmal im Monat in ihrem Heim. Wie ein Baby hat sie inzwischen wieder ein Kuscheltier: einen Plüschseehund, den sie stets umklammert hält und mit dem sie im Bett, aus dem sie kaum mehr aufsteht, kuschelt.

»Ich bin müde«, das sind die einzig verständlichen Worte, die sie noch hervorbringt. Die Schwester erklärte mir, dass Grietje es schön findet, wenn man ihr die Wange streichelt. Das tue ich dann für einige Minuten, wenn ich zu Besuch bin. Danach gehe ich wieder nach Hause; mit meinem Besuch hat es nicht viel auf sich. Die Schwester hat schon ein paarmal gemeint, dass es wohl nicht mehr lange dauern würde, also nehme ich immer von ihr Abschied, als würde ich sie zum letzten Mal sehen.

»Du bist ein zähes Mäuschen, Grietje«, sagte ich ihr beim letzten Mal zum Abschied.

»Ich bin ein Mädchen, kein Mäuschen.«

Ich glaube wirklich, dass ich sie das habe murmeln hören.

Ach ja, das Treffen.

Leonie und ich haben den Saal unten dafür reserviert, der immer für Versammlungen genutzt wird. Wir dürfen Luftschlangen vom Seniorenheim aufhängen, um ihn ein wenig fröhlicher zu gestalten, denn es ist an sich kein Festsaal. Lidy, die Schwester, die im Heim die Freizeitaktivitäten plant, kommt und hilft uns beim Dekorieren. Was heißt »hilft« … wir sagen, was gemacht werden muss, und sie macht die Arbeit. Ein echter Schatz, diese Lidy. Leonie hat beim Asiaten eine Reistafel für sechs Personen bestellt. Für ein paar schöne Flaschen Wein habe ich gesorgt. Zwar tanzen wir von Alanito nicht mehr auf den Tischen, aber leckeres Essen und guten Wein wissen wir immer noch zu schätzen. So wie unser Beisammensein.

Ich freue mich schon darauf.

Plötzlich frage ich mich, ob ich den Wein wirklich bestellt habe. Ich weiß es nicht mehr. Manchmal blicke ich zurück in die Vergangenheit und sehe nur noch Nebel. Ich muss gleich nachher in meinen Schränken nachsehen. Wenn dort kein Wein steht, muss ich zum Weinhändler. Sechs Flaschen kaufen, zweimal rot, viermal weiß.

Ob es wohl sehr merkwürdig wirkt, wenn ich den Händler frage: »War ich vor Kurzem hier, um sechs Flaschen Wein zu kaufen?«

Nein, das werde ich nicht tun.

Vielleicht sagt der freundliche Herr auch: »Ah, da sind Sie ja wieder, er hat Ihnen wohl recht gut geschmeckt, Herr Groen.« In diesem Fall wären sechs Flaschen Wein zu suchen. Was soll ich dann machen? Wo soll ich denn suchen?

Sonntag, 24. November

Es gibt jetzt das soundsovielte Jahr in Folge einen Riesenwirbel um die Farbe des Schwarzen Piet, wie Knecht Ruprecht hier bei uns in Holland heißt. In unserem Heim ist die Mehrheit für die Beibehaltung von »schwarz«, mit dem unsterblichen Argument, das hier, ob passend oder nicht, fast immer angeführt wird: »So gehört es sich, denn so ist es immer schon gewesen.«

Dem widerspreche ich zuweilen mit: »Nichts ist für die Ewigkeit.«

Dann schauen sie mich an, als ob ich Chinesisch spreche.

Ist es nicht traurig, dass sich »die Menschen« nicht einmal mehr über die Farbe eines Nikolaus-Begleiters einig werden können? Blockaden, Gerichtsverhandlungen, Beleidigungen, Gewalt. Unglaublich viel Hass und Neid, weil sich alle gegenseitig die richtige Farbe aufzwingen wollen. Gleich neben dem x-ten langen Artikel in der Zeitung über den Schwarzen Piet war ein ganz kleiner Bericht: 39 773 Tote durch Schusswaffengebrauch in den USA innerhalb eines Jahres. Auch die kurze Aufregung wegen der 400 000 Menschen, die seit dem Jahr 2000 in den USA infolge schwerer Schmerzmittelabhängigkeit gestorben sind, hat sich wieder gelegt. In der Pharmaindustrie arbeiten sowieso die allerbesten Massenmörder. Im Vergleich dazu sind islamistische Terroristen nur kleine, unbedeutende Pfuscher.

In einer Bar in Amerika vollführte ein tanzender FBI-Agent einen Rückwärtssalto, verlor dabei seine Pistole, die daraufhin losging und einen Besucher niederschoss. Dieser war nicht tot und gehört daher nicht zu den 39 773 Schusswaffentoten. Das Unglück lauert gleich um die Ecke. Es scheint ein Video davon zu geben, doch das will ich mir nicht ansehen.

Jetzt aber wieder zurück zum Knecht des heiligen Nikolaus, sorry, seinem logistischen Mitarbeiter. Oder darf Piet, wenn er denn weiß ist oder nur ein paar Rußflecken hat, wieder Knecht sein?

Evert war vor Jahren einer der ersten »Rußflecken-Pieten«. Nicht aus Überzeugung, sondern aus reiner Nachlässigkeit. Mein Freund und ich sollten als Überraschung zum Tee als Nikolaus und Piet in den Gemeinschaftsraum schreiten. Um sich besser vorbereiten zu können, hatte sich Evert bereits um zwei Uhr nachmittags ein Fläschchen aufgemacht. Aus Solidarität trank ich ein Gläschen mit. Als wir uns eine Stunde später umzogen, wollten Arme und Beine nicht mehr so recht, und wir waren ziemlich wackelig beieinander. Am Ende saß mein Bart schief, und bei Evert war mehr Schminke auf dem Kragen als auf den Wangen.

»Es ist noch überall Weiß zu sehen«, warnte ich ihn.

»Ich bin der erste schwarz-weiße Piet«, erklärte mein Freund.

Als dieses wüste Duo kurze Zeit später den Essenssaal betrat, wurden wir mit Jubel empfangen. Spontan wurde ein Nikolauslied angestimmt. Nur Herr Bakker lief polternd und schimpfend aus dem Saal. »Bei dem Blödsinn mach ich nicht mit.«

Es dauerte nicht lange, und Frau Stelwagen kam vorbei, um die Lage zu erkunden. Sie zögerte: Sollte sie eingreifen oder uns einfach gewähren lassen? Sie beschloss, vorläufig ihr künstliches Lächeln aufzusetzen.

Evert setzte diesem ziemlich grob ein Ende, indem er ihr erst einen Schmatzer auf die Backe verpasste und sie dann auf den Schoß des Nikolaus drückte. Da saß sie nun: schachmatt.

Es wurde gelacht und gejohlt.

»Sie werden ja rot, Frau Stelwagen, Sie sind doch nicht unartig gewesen?«, fragte ich.

»Nein, nein. Ich äh, ich gehe kurz das äh … Ihr großes Buch holen.«

Sie kämpfte sich von meinem Schoß hoch und eilte davon. Wir haben sie den ganzen Nachmittag nicht mehr gesehen.

Nicht vergessen: zum Weinhändler. Vier Flaschen weiß, zwei rot.

Montag, 25. November

Ich habe Angst. Ich habe mich bisher nicht getraut, es aufzuschreiben, aber ich habe Angst. Es kann kaum anders sein: Ich werde dement.

Dienstag, 26. November

Ich bin extra für die Versammlung zum Friseur gegangen.

»Wie wollen Sie es haben?«, fragte der Friseur.

Lieber wäre mir gewesen, er hätte gefragt: »Wen wollen Sie haben?«

Dann hätte ich eher die fröhliche junge Praktikantin an meinem Kopf herummodeln lassen als den schwitzenden und ächzenden Mann mittleren Alters, der hier im Friseursalon von Bergen aan Zee die Schere schwingt.

Ich antwortete, dass ich gern Extensions haben wolle. Er sah mich verständnislos an.

»Das war wohl ein Witz, oder?«

»Ja, das war ein Witz.«

»Wie wollen Sie es haben, mein Herr?«, fragte er, etwas ungeduldig, erneut.

»Ein wenig kürzer. Bitte gern auch die Augenbrauen mitmachen.«

Ich blickte in den Spiegel. Dort sah ich einen Mann, der die Hosen voll hatte. Neunzig Jahre alt, nichts mehr zu verlieren, und trotzdem traute ich mich nicht, den Friseur zu bitten, auch die langen Haare, die mir aus der Nase wuchsen, wegzuschneiden. Steh ich heute Nachmittag wieder selbst da und stümpere mit der Schere herum, die sich vor dem Spiegel immer in die verkehrte Richtung bewegt, ging es mir durch den Kopf.

Ich holte tief Luft.

»Würden Sie sich auch um die hässlichen Nasenhaare kümmern?«

Es war kurz still.

»Kümmern?«

»Schneiden.«

»Nun ja … wenn es sein muss …«

»Ja, bitte, vielen Dank.«

Kurz darauf kürzte mir der Friseur mit angewidertem Gesicht die Nasenhaare. Es war nicht einmal zehn Sekunden Arbeit.

Ich habe einen kleinen, aber schönen Sieg über mich selbst errungen. Das hätte ich mich früher nie getraut.

Nicht vergessen: Hundefutter kaufen. Ich hatte heute Morgen nichts mehr für Fräulein Jansen da. Habe ihm einfach zwei Scheiben Brot mit Salami gegeben. Er mag keinen Käse. Davor hatte er aus eigenem Antrieb allerdings schon ein halbes Marzipanhörnchen vertilgt. Ich wusste gar nicht, dass Hunde so auf Mandelfüllung stehen.

Mittwoch, 27. November

Ich habe mir zwei neue Zettel aufgehängt. Einen in Rosa an die Pinnwand mit: Hundefutter, einen gelben an den Badezimmerspiegel: Zähne putzen.

Rosa Zettel sind für Dinge, die ich einkaufen muss.

Gelbe Zettel sind für alles, was ich tun muss.

Blaue Zettel sind Gebrauchsanweisungen. Zum Beispiel, wie die Mikrowelle funktioniert. Ich konnte mich doch neulich nicht mehr erinnern, welchen Knopf ich drücken muss, um etwas aufzuwärmen. Und ich wusste auch nicht mehr, wo ich die Gebrauchsanweisung hingeräumt hatte. Zum Glück habe ich kein riesiges Haus, sondern nur ein kleines Zimmer mit einer kleinen Küche. Nicht mal ein separates Schlafzimmer. Es ist ein eher altmodisches Seniorenheim, in dem ich jetzt wohne, das zweifelsohne bereits dazu ausersehen ist, in ein paar Jahren abgerissen zu werden. Es dient vor allem als Auffangbecken für jene alte Menschen, die der Presslufthammer aus anderen Pflegeheimen verjagt hat. Ich wohne hier prima. Direkt am Strand. Durchwegs sehr nettes Personal. Meine Mitbewohner sind ganz in Ordnung, sie sind allerdings zu klapperig und zu träge, um einen neuen Alanito-Club zu gründen. Vielleicht habe ich aber auch selbst zu wenig Puste dafür. Das könnte durchaus sein, wenn ich ehrlich bin. Mit Leonie bilde ich nun einen Zweierclub. Oder eigentlich, wenn man meinen Hund Fräulein Jansen dazuzählt, einen Dreierclub.

Sieh an, jetzt ist es praktisch, dass ich kurz nachlesen kann, worüber ich vorhin geschrieben hatte: farbige Zettel.

Die Gebrauchsanleitung der Mikrowelle hatte ich schnell gefunden, weil es in meinem Apartment nur fünf Schubladen gibt. Und Gebrauchsanleitungen gehören in eine Schublade, das weiß jeder. Dann konnte ich herausfinden, was ich vergessen hatte, und so hängt nun ein blauer Zettel mit einer Schritt-für-Schritt-Anleitung neben der Mikrowelle.

Hellgrüne Zettel sind für Codes und dergleichen: PINs, Kontonummer, Passwörter und so weiter. Diese Zettel habe ich in einem Buch versteckt und den Namen des betreffenden Buchs auf einem grünen Zettel an die Wand geheftet.

»Sieht schön aus, all die bunten Farben«, merkte Leonie neulich an, als sie mich zum Gassigehen abholte. Als ich ein wenig traurig den Kopf schüttelte, fügte sie hinzu: »Positiv denken, Hendrik, immer auch auf die guten Seiten schauen.«

Sie hat recht. Es kostete mich einiges an Überredungskunst, mir das selbst weiszumachen, doch inzwischen finde ich auch, dass es sehr fröhlich wirkt mit all den bunten Zetteln. Ich klebe oder pinne jetzt mit viel mehr Freude neue Zettel an.

Donnerstag, 28. November

Dank Leonie habe ich endlich einen Termin beim Geriater vereinbart.

Ich hatte zum x-ten Mal die Leine von Fräulein Jansen verlegt und war gerade dabei, auf Knien unter dem Bett danach zu suchen, als Leonie mein Zimmer betrat.

»Machst du gerade Morgengymnastik, Hendrik?«, erkundigte sie sich.

Ich erschrak – ich hatte sie nicht reinkommen hören – und stieß mir den Kopf an der Unterkante des Betts.

»Oh, sorry, Schatz. Ich hätte klopfen sollen.«

Ich erinnerte sie daran, dass ich ihr vor einer Weile die Erlaubnis erteilt hatte, ohne Klopfen hereinzukommen. Das war, nachdem sie einmal minutenlang klopfend an der Tür gestanden hatte, bis sie irgendwann, ernsthaft beunruhigt, die Tür einen Spaltbreit geöffnet und um die Ecke gespäht hatte. Da saß ich, seelenruhig, vor dem Fenster. Ich schaute raus und hörte mit Kopfhörern Beethoven. Ich erschrak dann übrigens auch furchtbar, als sie mir vorsichtig auf die Schulter tippte.

»Entschuldige, Hendrik, aber ich habe sehr lange geklopft, weil ich wusste, dass du zu Hause bist. Und dann dachte ich mir, dass du vielleicht tot am Boden liegst, und bin hereingekommen.«

»In Zukunft bitte ohne Klopfen eintreten«, habe ich damals angeordnet.

Witzig, dass sie sich nicht mehr daran erinnerte, ich mich aber schon.

Aber ich hatte also die Hundeleine verlegt und erklärte Leonie, dass ich diese unter dem Bett gerade suchen würde.

»Ich würde die Leine näher beim Hund suchen, Hendrik«, sagte meine Freundin lachend.

Ich blickte zu Fräulein Jansen. Der saß in seinem Körbchen mit der Leine an seinem Halsband.

»Habe ich wohl vergessen«, nuschelte ich.

Leonie sah mich durchdringend an. »Ich werde jetzt kurz streng sein, Hendrik Groen, denn du steckst schon viel zu lange den Kopf in den Sand: Du musst zum Arzt. Vergesslichkeit ist eine Sache, Alzheimer oder Korsakow eine andere.«

Ich glotzte sie wohl etwas dümmlich an. »Meinst du?«

»Die klassische Gegenfrage, Hendrik: Wie denkst du selbst darüber?«

Mir blieb nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass ich mich bereits länger mit dem beängstigenden Gedanken trug, dass ich Demenz habe.

»Und also …«, meinte sie.

»Was also?«, versuchte ich es noch.

Nächste Woche habe ich einen Termin beim Geriater. Leonie bestand darauf, dazubleiben, während ich ihn telefonisch vereinbarte.

Freitag, 29. November

Es gibt eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen den Betagten in Amsterdam-Nord und denen in Bergen aan Zee: Es wird genauso viel genörgelt und gejammert. In Amsterdam hatten wir das Geschimpfe und Gefluche der Herren Bakker und Pot, das Gemeckere von Frau Van Gelder und das tiefe Seufzen der uns verbliebenen Frau Slothouwer. Hier haben wir dieselben Typen, nur tragen sie andere Namen. Wir werden noch von ihnen hören.

Nun ja, alles zumindest besser als nichts, könnte man sagen. Denn der weitaus größte Anteil der Bewohner verfügt über kein Fünkchen Leben mehr. Die sitzen hier nicht nur hinter den Geranien, sie verhalten sich auch wie welche. Ihre Hauptbeschäftigung: das Wetter beobachten.

Wenn sie zum Kaffee oder Tee nach unten kommen, sind sie bereits todmüde vom Nichtstun. Quälend langsam rühren sie in ihren Tassen. In Slow Motion zermahlen ihre Kiefer die Kekse. Die Resignation dieser Bewohner ist ansteckend. Wer sich nicht mit Zähnen und Klauen dagegen wehrt, ist verloren. Wie vermisse ich in diesem Kampf meinen Freund Evert. Zusammen würden wir nie in diesem Morast der Lustlosigkeit versinken. Wir zögen einander gegenseitig an den Haaren heraus.

Jetzt muss ich mich vor allem an Leonie halten und sie sich an mich. Ich preise mich natürlich glücklich, dass sie hier ist, aber sie macht eben nicht Everts unanständige Witze und sorgt nicht im selben Maße für Aufregung und Unterhaltung.

Sie ist mehr der Typus »frische Luft«.

»Sollen wir kurz frische Luft schnappen gehen, Hendrik?«, fragt sie mich zwei- bis dreimal am Tag. Wenn Leonie in mein Zimmer kommt, steht Fräulein Jansen zwei Sekunden später winselnd mit der Leine im Maul vor mir. Sofern ich diese nicht verlegt habe. Aber davon habe ich, glaube ich, bereits berichtet.

Hätte ich beinahe meinen Sonnenschein vergessen, bei dem ich immer wieder Lebenslust tanke: Frida.

Sie kommt drei- oder viermal pro Woche vorbei. Meist, um mich zum Gassigehen abzuholen. Aber auch mindestens einmal in der Woche zum Schachspielen.

»Heute habe ich nicht so viel Zeit, ich komme nur kurz zum Plaudern vorbei«, erklärt sie manchmal.

»Komm rein, mein Plaudertäschchen«, antworte ich dann.

Dann schenkt sie sich etwas Apfelsaft ein, nimmt sich zwei Kekse aus der Dose und erzählt ausführlich, was sie alles in der Schule und zu Hause erlebt hat.

Danach fragt sie, was ich so erlebt habe.

Weil sich das häufig mit einem Wort zusammenfassen lässt, nämlich »nichts«, muss ich natürlich auf Geschichten von früher zurückgreifen. Zum Glück habe ich die noch nicht vergessen.

Frida findet es prima, wenn ich von Kindern erzähle, die in der Ecke stehen oder Strafarbeiten machen mussten.

Nach einer halben Stunde springt sie dann stets unvermittelt auf.

»Shit, Opa, ich muss längst nach Hause.«

Dann bekomme ich eine Umarmung und drei Küsschen, »tschühüss«, und weg ist sie.

Davon kann ich mindestens zwei Tage lang zehren.

Und dann ist da noch eine sehr liebe marokkanische Schwester. Eigentlich darf man im Klassenzimmer kein Kopftuch und keine Mütze tragen, aber bei ihr drücke ich ein Auge zu.

Wenn sie Dienst hat, setzt sie sich immer einen Moment zu mir.

Dann erzählt sie mir von ihrer Kindheit in einem kleinen Dorf im Rifgebirge, und ich schildere meine Knabenzeit in Schoonhoven. Die Übereinstimmungen sind überraschend groß, wahrscheinlich aufgrund der unterschiedlichen Entwicklung der beiden Länder. Sie berichtet von den Achtzigern im ländlichen Marokko, ich aus der niederländischen Provinz von vor dem Zweiten Weltkrieg.

Herrlich.

Auch Fatima springt meist recht plötzlich auf: »Oje, so spät schon, ich muss wieder an die Arbeit, Herr Groen. Nett, dass wir geplaudert haben. Tschüss.«

Von ihr werde ich nicht umarmt und dreimal geküsst. Schade. (Kleiner Scherz.)

Das würde mich wahrscheinlich in tagelange Verwirrung stürzen.

Samstag, 30. November

Zum Glück hatte mich Leonie gestern gewarnt: »Denkst du an die Versammlung morgen, Hendrik?«

»Ja, natürlich«, gab ich zurück. »Ich bin schon dabei, meine Rede zu schreiben.«

»Wie schön, du hältst eine Rede!«

Das hatte ich mir nur so ausgedacht, jetzt konnte ich nicht mehr zurück.

Ich habe später noch mal auf meine Zettel geschaut, und da stand es: 30. November Versammlung. Ich hatte es glatt vergessen. Die Zettel helfen nicht, wenn man nicht regelmäßig draufschaut.

Ich musste dann auch noch blitzschnell in den Laden, um sechs Flaschen Wein zu besorgen. Er sagte nicht: »Da sind Sie ja wieder«, ich bin wohl nicht schon mal da gewesen. Ich habe auch nirgendwo in meinem Zimmer sechs Flaschen Wein verloren herumstehen sehen.

Jetzt bastele ich an einer kleinen Ansprache für später beim Essen. Es will nicht so recht klappen.

Sonntag, 1. Dezember

Es war herrlich, die Alanito-Mitglieder wiederzusehen, aber auch ein wenig schmerzlich.

Zunächst das gewohnte Klagelied, wie bei jedem Wiedersehen: Alle vermissen einander.

»So schön wie in Amsterdam-Nord kriegen wir es nie mehr«, seufzte Ria, und wir nickten, bis uns beinahe die Köpfe abfielen.

»Nua, amid as kla is, as lag ni an Amstam Ord, ondan an eu«, sagte Edward, »ia vastehdmi zumins, tross meina Brachdörun.«

»Was hast du gesagt?«, fragte ich.

»Ass ihr mi zumins … ah, hol di da Eufl, Endik …«

Alle mussten lachen.

»Entschuldige, Edward, ab und zu versuche ich, einen Scherz à la Evert zu machen«, erklärte ich.

Graeme schlug vor, dass jetzt alle eine Viertelstunde über die neue Situation jammern dürften, danach aber wieder wie früher unbekümmert das Beisammensein genießen sollten. So geschah es.

Die Reistafel war vortrefflich, die Getränke flossen reichlich, und es wurde viel gelacht. Ich weiß nicht mehr, wie ich in mein Zimmer gekommen bin, und das lag diesmal nicht an meiner Demenz, sondern am Chardonnay.

Die nette Schwester setzte sich heute Morgen neben mich an den Kaffeetisch und raunte mir zu, dass sie in aller Frühe schnell noch die ein oder andere leere Flasche zum Glascontainer gebracht hätte, um etwaigen Kommentaren vorzubeugen.

»Sag bloß, was könnt ihr alle raufen«, sagte sie lachend.

»Saufen, Fatima, raufen tun sich die Fans im Stadion.«

Sie zwinkerte mir zu. Das sah ganz reizend bei ihr aus.