Dämmerung. Falsch. - Tiina Nevala - E-Book + Hörbuch

Dämmerung. Falsch. Hörbuch

Tiina Nevala

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Beschreibung

Bei einer Razzia in Stockholm wird zwischen Waffen und Drogen ein wertvolles Gemälde gefunden. Stammt es tatsächlich von dem russischen Künstler Ivan Botkin? Kunstdozentin Nea Hallgren wird von der Polizei gebeten, das Gemälde auf seine Echtheit zu überprüfen. Doch sie hat ganz andere Probleme: Ihr Mann Johan hat hohe Spielschulden, und seine Geldgeber schrecken nicht davor zurück, Gewalt anzuwenden, um einzutreiben, was ihnen zusteht. Nea will ihre Familie unter allen Umständen beschützen – und dafür braucht sie Geld. Ihre talentierteste Studentin Nadezhda, die wie Nea gut mit dem Werk Botkins vertraut ist, zeigt ihr einen Weg aus der scheinbar ausweglosen Lage. Doch dafür müsste sie so ziemlich alle moralischen Grundsätze über Bord werfen ... ›Dämmerung. Falsch.‹ ist ein rasanter Krimi aus der Stockholmer Kunstszene. Mitreißend und temporeich erzählen Nevala & Karlsson von Kunstfälschung, Erpressung und dunklen Geheimnissen. Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen, die gezwungen sind, sich auf Abwege zu begeben, um in einer Welt voller Abgründe zu bestehen. So spannend, dass man nicht mehr aufhören kann zu lesen! Die Kunstfälscherinnen-Reihe: Band 1: Dämmerung. Falsch. Band 2: Zwielicht. Verrat. Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Zeit:10 Std. 35 min

Sprecher:Cornelia Schönwald
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Bei einer Razzia in Stockholm wird zwischen Waffen und Drogen ein wertvolles Gemälde gefunden. Stammt es tatsächlich von dem russischen Künstler Ivan Botkin? Kunstdozentin Nea Hallgren wird von der Polizei gebeten, das Gemälde auf seine Echtheit zu überprüfen. Doch sie hat ganz andere Probleme: Ihr Mann Johan hat hohe Spielschulden, und seine Geldgeber schrecken nicht davor zurück, Gewalt anzuwenden, um einzutreiben, was ihnen zusteht. Nea will ihre Familie unter allen Umständen beschützen – und dafür braucht sie Geld. Ihre talentierteste Studentin Nadezhda, die wie Nea gut mit dem Werk Botkins vertraut ist, zeigt ihr einen Weg aus der scheinbar ausweglosen Lage. Doch dafür müsste sie so ziemlich alle moralischen Grundsätze über Bord werfen …

Autorenfoto: © Anna-Lena Ahlström

Tiina Nevala und Henrik Karlsson arbeiteten beide lange Zeit in der Verlagsbranche, 2018 erschien der Debütroman des Autorenduos. ›Dämmerung. Falsch.‹ ist der Auftakt einer neuen Reihe um die Kunstfälscherinnen Nea Hallgren und Nadezhda Volkova. Die beiden Autoren leben in Gustavsberg in der Nähe von Stockholm.

Karoline Hippe, aufgewachsen an der Ostseeküste, studierte u.a. Skandinavistik und Anglistik in Leipzig und Berlin. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen und Englischen, u.a. zuletzt Heidi Sævareid, Lotta Elstad und Anne Mette Hancock.

Nevala & Karlsson

DÄMMERUNG.FALSCH.

Ein Stockholm-Krimi

Aus dem Schwedischenvon Karoline Hippe

Deutsche Erstausgabe

eBook 2022

DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

© Lou Berg 2021

Published by agreement with Hedlund Agency.

Die schwedische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel

›Gryning. Falsk.‹ bei Piratförlaget, Stockholm.

© 2022 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Übersetzung: Karoline Hippe

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Utterström Photography/Alamy Stock Foto;

© Elen11/istock by Getty Images; © Frank Fell/Alamy Stock Foto

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8273-1

www.dumont-buchverlag.de

Die Welt will betrogen sein,

also betrügen wir sie.

Petronius

This is what you’ll get

When you mess with us.

Ein schwacher Geruch von kaltem Zigarettenrauch wabert Nadezhda entgegen, als sie die Tür ihrer Zweizimmerwohnung aufschließt. Nicht so stark, als hätte hier jemand geraucht, eher wie der muffige Gestank, der an den Klamotten eines Rauchers hängen bleibt.

Sie kommt nicht dazu, diesen Gedanken fertig zu denken.

Als sie nach dem Lichtschalter tastet, packt sie eine kalte Hand grob am Arm. Mit einer derartigen Wucht wird sie in den Wohnungsflur hineingezerrt, dass sie gegen die Badezimmertür knallt. Sie stürzt und bleibt auf der Schwelle zum Wohnzimmer liegen. Ihr blondes Haar fällt ihr wie eine Gardine vors Gesicht. Mit einem lauten Krachen fliegt die Haustür ins Schloss, und Nadezhda, in der Dunkelheit völlig desorientiert, spürt die fremde Hand, die sie vom Boden hochzieht, als wäre sie eine Jacke, die vom Kleiderhaken gefallen ist.

Der Griff um ihren Arm wird härter, bis die fremde Hand sie plötzlich loslässt. Sie ist überrascht, dass sie überhaupt Halt findet, dass ihre Beine sie tragen. An ihrem ganzen Körper ist der Schweiß ausgebrochen, ein metallischer Geschmack klebt auf ihrer Zunge. Adrenalin. Schwerer Atem.

Im Wohnzimmer wird eine Lampe eingeschaltet.

In ihrem Schein sitzt ein Mann, in einen grauen Anzug und ein weißes Hemd gekleidet. Keine Krawatte. Sein Mantel hängt ordentlich zusammengelegt über der Armlehne des Sofas, darüber ein grauer Schal. Seine Lippen umspielt ein heimtückisches Lächeln. Um die Augen zeichnen sich einige dünne Linien ab, sonst hat er kaum Falten, obwohl er auf die Sechzig zugeht. Nadezhda vermutet seit Langem, dass Olof Wallner sich Botox spritzen lässt.

»Du gehst nie ans Telefon, wenn ich dich anrufe«, sagt er und erhebt sich.

Nadezhda macht einen Schritt ins Wohnzimmer hinein, angewidert vom aufdringlichen Zigarettenatem ihres Angreifers.

»Mach dir keinen Kopf wegen Kenneth«, fährt Wallner fort. »Er ist netter, als er aussieht. Der beste Chauffeur, den ich je hatte.«

Er lacht. Nadezhda schaut zu dem Mann hinter sich. Ein Typ, der vor dreißig Jahren vielleicht mal ein mäßig erfolgreicher Boxer gewesen ist, starrt sie völlig ausdruckslos an. Seine Nase ist schief, die Haut gelblich, die Augen müde. Nadezhda dreht sich wieder zu Olof Wallner um.

»Du hast doch bekommen, was du wolltest«, sagt sie. »Ich habe meinen Teil des Auftrags erfüllt.«

Es stört sie, dass sie gezwungen ist, zu ihm aufzusehen. Dass er so über ihr thront, verschafft ihm mit Sicherheit ein noch größeres Gefühl von Macht.

»Ich bin mit deiner Arbeit sehr zufrieden«, sagt er. »Und ich habe mich ebenfalls an meinen Teil der Abmachung gehalten, oder etwa nicht?«

Nadezhda antwortet nicht.

»Das Geld hast du bekommen, wie vereinbart?«

Sie nickt.

»Na, dann sind doch alle glücklich.«

Wallner geht einen Schritt auf sie zu, legt eine Hand auf ihre Schulter. Sie presst die Kiefer aufeinander.

»Der Kunde schätzt deine Arbeit auch sehr. Er ist nicht der Typ, der mit Lob um sich wirft, aber anscheinend haben wir seine Erwartungen übertroffen. Er hat sogar einen Experten einbestellt, der das Gemälde untersucht hat. Keine Auffälligkeiten.«

Er lächelt, wartet ab, ob sie etwas erwidert. Doch den Gefallen tut sie ihm nicht.

»Aber wir haben ein Problem«, fährt er fort. »Bedauerlicherweise wurde die Lieferung einer Bande lokaler Kleinkrimineller anvertraut und … Lange Rede, kurzer Sinn: Das Gemälde ist vermutlich bei der Polizei gelandet.«

Er räuspert sich.

»Niemand wird die Spuren zu mir zurückverfolgen können«, fährt er fort. »Oder zu dir. Es gibt also keinen Grund, das Land zu verlassen.«

Wieder lächelt er, wieder wartet er auf eine Reaktion, die ausbleibt.

»Das eröffnet uns also eher neue Möglichkeiten. Der Kunde möchte ein Gemälde, das das verlorene ersetzt.«

»Kein Interesse.«

»Er zahlt das Doppelte, jetzt, wo er weiß, dass deine Arbeit etwas taugt. Das Doppelte.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Ich brauche kein Geld mehr.«

Wallner bricht in schallendes Lachen aus.

»Wirklich nicht? Vielleicht solltest du darüber noch einmal nachdenken. Wir reden hier über einen Haufen Kohle. Ich werde alles besorgen, was du benötigst, so wie beim letzten Mal. Ich habe sogar schon eine passende Leinwand aufgetrieben.«

»Ich werde es nicht tun. Ich bin raus.«

Wallner betrachtet sie stumm.

»Du bist zu mir gekommen, hast mich um Hilfe gebeten«, sagt er schließlich. »Und ich habe dir eine Chance gegeben, habe dir eine Tür geöffnet. Du könntest gut von dieser Arbeit leben. Wärst nicht mehr auf dein Stipendium angewiesen. Und was verdienst du überhaupt in diesem Scheißcafé? Tische abwischen und Kaffee servieren? Bei deinem Talent?«

»Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten«, erwidert Nadezhda.

»Ich war für dich da, als du Hilfe brauchtest, und jetzt bitte ich dich um eine Gegenleistung«, sagt Wallner. »Und es ist ja nicht so, als würdest du nicht davon profitieren. Erzähl mir nicht, dass sich Babuschka daheim in der Ukraine nicht über ein paar Scheine extra freuen würde.«

Nadezhda schüttelt den Kopf.

»Nein.«

Wallner seufzt, den Blick an die Decke gerichtet. Sie kann ihm ansehen, dass er sich Mühe gibt, nicht die Beherrschung zu verlieren.

»Okay. Dann will ich dir mal was zeigen«, sagt er schließlich und zieht sein Handy aus der Hosentasche.

Er tippt ein paarmal auf das Display, dann hält er es ihr hin.

Ein Haus, das sie seit zehn Jahren nicht gesehen hat. Der Pflaumenbaum, er steht immer noch im Garten und verdeckt das Küchenfenster. Sie ist so oft auf ihn geklettert, dass sie sich an jeden einzelnen Ast erinnern kann. Sowohl das Haus als auch der Baum sind kleiner als in ihrer Erinnerung. Die kahlen Äste strecken sich dem bewölkten Himmel entgegen. Die weiße Farbe blättert von der Fassade ab.

»Swipe ruhig weiter«, sagt er. »Es gibt noch mehr Fotos.«

Nadezhda macht keine Anstalten, auch nur einen Finger zu rühren.

»Swipe«, wiederholt Wallner.

Sie hebt die rechte Hand und wischt mit dem Finger über das Display.

Ein Bild von ihrer Großmutter, die gerade durch das rostige Gartentor tritt. Aufgenommen aus einiger Entfernung.

»Swipe.«

Ein Junge in einem Rollstuhl. Er sieht aus, als käme er aus einem anderen Jahrhundert. Die Frau, die ihn schiebt, kämpft sich über den unebenen Schotter.

Nadezhda spuckt ihm ins Gesicht.

Der Rotz landet an Olof Wallners rechter Wange, das Telefon fällt zu Boden, aber er bewahrt die Fassung. Er tritt einen Schritt zurück, zieht ein Stofftuch aus der Tasche seines Jacketts und wischt die Spucke weg. Sein Blick ist stechender als der Schmerz an ihrem Arm, dort, wo der angebliche Chauffeur eben noch zugepackt hat. Sie wagt es nicht, sich zu rühren. Hält den Atem an. Wallner knüllt das Taschentuch zusammen, steckt es zurück in sein Jackett.

»Du bist alt genug, um zu wissen, dass alles, was du tust, Konsequenzen nach sich zieht«, sagt er mit seelenruhiger Stimme. »Konsequenzen für dich. Für mich. Für die Menschen, die du liebst.«

Sie antwortet nicht.

»Diese Leute akzeptieren kein Nein.«

Sein Blick durchbohrt sie noch ein paar lange Sekunden, er hätte genauso gut eine Hand um ihren Hals legen können. Dann geht er lässig in die Hocke und hebt das Telefon auf. Betrachtet es. Steht langsam wieder auf.

»Ich glaube, du hast kapiert, was zu tun ist. Nicht wahr, Nadezhda?«

EINS

24.Februar

»Okay. Was stimmt hier nicht?«

Nea Hallgren deutet auf die Fotografie einer Skulptur, die neben ihr an die Wand projiziert ist. Stumm mustern die Studierenden das Bild der nackten marmorweißen Statue, mit gerunzelten Augenbrauen und ernsten Mienen, als würde die Antwort auf Neas Frage ihre gesamte Zukunft entscheiden.

»Na kommt schon, was seht ihr?«, fragt Nea. Die Gesichter im Hörsaal sind vom Licht des Projektors in schwaches bläuliches Licht getaucht. »Nur keine Scheu. Natürlich handelt es sich hierbei um ein Meisterwerk, aber seht ihr auch, dass hier irgendetwas nicht ganz stimmt?«

Ein leises Murmeln. Die Studierenden sehen zur Skulptur, sehen einander an, sehen zu Nea. Bei Erstsemestern ist das immer so. Die meisten von ihnen haben Angst, ins tiefe Wasser zu fallen, klammern sich am Beckenrand fest. Bloß den Mund halten, statt einen Kommentar abzugeben, den andere dämlich finden könnten. Bloß nichts Falsches sagen.

Nea lächelt ihnen zu.

»Okay«, sagt sie schließlich. »Ihr kommt nicht drauf. Ich gebe euch einen Tipp.« Sie beginnt, ihre Bluse aufzuknöpfen. Im Hörsaal wird es sofort totenstill. Die Studierenden sitzen wie versteinert da, scheinen sogar das Atmen vergessen zu haben. Einige starren auf ihre Notizbücher, andere wissen offensichtlich nicht, wohin mit sich, tun aber so, als würde ihnen die Situation nichts ausmachen. Vor allem die männlichen Studierenden, die in der Minderheit sind, rutschen nervös auf ihren Stühlen herum. Nea lächelt sie entwaffnend an.

»Was sollen das da zum Beispiel für Schneebälle sein?«, fragt sie mit halb offener Bluse und zeigt auf den Busen der Skulptur. Als Antwort schlägt ihr nervöses Kichern entgegen.

»Die müssen wohl aus Neuschnee sein, so prall, wie die sind«, sagt sie und öffnet auch die letzten Knöpfe. Die Studierenden lachen erneut, diesmal etwas weniger verhalten. Nea streift sich die Bluse ab, faltet sie ordentlich zusammen und legt sie neben sich auf einen Stuhl, dann öffnet sie den obersten Knopf ihrer Jeans.

»Wie viele von euch haben im wahren Leben schon einmal solche Brüste gesehen wie bei dieser Skulptur? Ich weiß, ich bin nicht repräsentativ, ich habe schon zwei Kinder auf die Welt gebracht, aber trotzdem.«

Leises Murmeln aus den hinteren Bankreihen. Vorsichtiges Lachen.

»Aber warum?«, fragt Nea und zieht sich die Jeans aus. »Warum sieht diese Skulptur so aus?« Sie legt die Jeans über die Rückenlehne ihres Stuhls und wendet sich ihren Studierenden zu.

Stuhlbeine scharren über den Boden, jemand räuspert sich.

»Sind das typisch weibliche Formen, die ihr hier seht?«, fragt Nea und zeigt auf das vergrößerte Foto.

Sie nimmt die Pose der Skulptur ein.

»Ihr könnt euch entspannen«, sagt sie. »Den Rest meiner Klamotten werde ich anbehalten. Wer mehr sehen will, kann ins Internet gehen. Oder besser noch: einen Kurs im Aktzeichnen besuchen.«

Erleichtertes Auflachen.

»Nun kommt schon, was stimmt mit dieser Frau nicht?«

»Die Skulptur wurde nach einem männlichen Modell geschaffen«, antwortet eine der Studentinnen aus der vordersten Reihe.

»Exakt! Sehr gut. Der Körper, abgesehen von diesen merkwürdigen Brüsten, hat eher männliche als weibliche Formen«, sagt Nea und nimmt wieder ihre normale Haltung ein. »Aber warum hat man sich nicht um ein weibliches Modell bemüht?«

»Vielleicht war es damals nicht okay, als Frau Modell zu stehen?«, schlägt ein Student vor.

»Du meinst also, der Bildhauer hat sich mit dem Nächstbesten zufriedengegeben?«, hakt Nea nach. »Möglicherweise.«

Sie macht eine kurze Pause, tut so, als würde sie nachdenken.

»Allerdings«, fährt sie schließlich fort, »war hier kein Stümper am Werk, diese Skulptur ist wirklich eine exzellente Arbeit. Unglaublich schön. Ich würde behaupten, der Künstler wusste genau, was er tat. Dass seine Arbeit so aussieht, kommt nicht von ungefähr: Jede einzelne Linie, jede Form ist äußerst bewusst gewählt. Sogar die Form der Schneebälle.«

Nea zupft ihren BH zurecht, lächelt den Studierenden zu.

»Schönheitsideale«, sagt sie. »Als diese Skulptur hier entstand, war ein sehr bestimmtes Schönheitsideal vorherrschend in der Gesellschaft.«

»Der männliche Körper?«, fragt die Studentin aus der ersten Reihe.

»Genau. Der männliche Körper wurde als Perfektion angesehen! Wenn also der weibliche Körper abgebildet werden sollte, ging man nicht von ihm aus, sondern vom Ideal. Und dann konnte man, nach Belieben, etwas hinzufügen beziehungsweise zurechtstutzen. Der Bildhauer dieser Skulptur war also keinesfalls ungelernt oder nicht dazu in der Lage, einen weiblichen Körper darzustellen. Er wollte etwas Schönes nach den gängigen Idealen erschaffen.«

»Eigentlich ganz ähnlich, wie wir heute über Körper denken, es geht um Ideale, nicht um die Realität.«

»Ganz genau!«, stimmt Nea zu. »Das Streben nach dem idealen Körperbild ist nicht neu, nicht spezifisch für unsere Zeit. Dieses Phänomen hat es schon immer gegeben, es hat sich jedoch mit den Epochen immer wieder verändert.«

Sie tritt einen Schritt näher an die Studierenden heran.

»Vergleicht diese Linien und den Hüftbereich hier mit den Formen der Skulptur, und ihr werdet sehen, wie abwegig diese Darstellung tatsächlich ist«, erklärt sie und zeigt auf ihren eigenen Körper, nimmt wieder die Pose der Statue ein. »Wir sind so an das Ideal gewöhnt, dass wir keinen Gedanken daran verschwenden, bis wir wirklich hinschauen, nicht wahr?«

Ein Tuscheln breitet sich unter den Studierenden aus, während sie den Körper auf der Leinwand mit Neas Körper vergleichen.

»Krass«, bemerkt eine Studentin in der letzten Reihe. »Als ich die Skulptur vor zwei Minuten zum ersten Mal gesehen habe, ist mir das nicht aufgefallen.«

»Und das ist gar nicht mal so verwunderlich«, sagt Nea. Sie bemüht sich, ganz still zu stehen und den Kopf nicht zu bewegen. »So funktioniert unser Gehirn. Es radiert Fehler aus, sozusagen. Füllt Lücken. Außerdem habt ihr gelernt, dass eine antike Skulptur genau so auszusehen hat.«

»Aber trotzdem.«

»Wir sind hier, weil wir das Sehen trainieren wollen. Damit wir nicht einfach irgendwas reproduzieren, ohne selbst nachzudenken. Das ist das Wichtigste, was ich euch beibringen kann. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht so recht, ob ich in den zweieinhalb Jahren, die ihr hier auf der Kunstakademie verbringen werdet, sonst noch etwas beizusteuern habe.«

»Diese Vorlesung hier werden wir auf jeden Fall nicht so schnell vergessen«, erklingt eine laute Stimme aus den letzten Reihen, gefolgt von Gelächter.

»Vielen Dank«, sagt Nea. »Mehr will ich gar nicht. Lasst uns also Schluss machen.«

Die Studierenden murmeln zustimmend.

Nea nimmt wieder ihre normale Haltung ein. »Findet ihr es nicht auch ein bisschen kühl hier?«

Sie streckt den Arm nach ihren Klamotten aus.

»Das wars für heute, ihr Lieben. Die Show ist vorbei. Kein Wort zur Direktorin.«

Sie lächelt und zwinkert den Studierenden zu, die nach und nach den Hörsaal verlassen. Sobald sie allein im Raum ist, schaltet sie den Projektor aus, fährt den Computer herunter und knöpft sich die Bluse zu. Sie schlüpft in ihre Schuhe und sammelt die Notizzettel ein, die sie auf dem Tisch ausgebreitet, aber während der Vorlesung nicht einmal angeschaut hat. Kurz schaut sie auf ihr Handy, sie ist ein bisschen spät dran, es ist ein langer Weg bis nach Kungsholmen.

Vor dem Hörsaal begegnet sie Teija, die seitwärts den Korridor entlangwackelt und die Beine dabei abwechselnd hinter- und voreinander überkreuzt. Den einen Arm hält sie von sich gestreckt, mit dem anderen Arm drückt sie sich einen Stapel Papier gegen die Brust. Sie sieht buchstäblich aus wie eine verrückte Professorin.

»Das ist eine Übung aus meiner Physio«, erklärt Teija auf Neas fragenden Blick hin.

»Geht es wieder besser mit der Hüfte?«

»Ein bisschen«, sagt Teija, doch ihre Miene lässt vermuten, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Sie macht eine Bewegung, dass ihre Hüfte nur so knirscht. »Ich hab gehört, dass du die Zusatzvorlesungen in Kunstgeschichte übernommen hast, vor denen sich alle drücken. Mal wieder.«

»Irgendwer muss den Job ja machen.«

»Dein Problem ist, dass du zu nett bist«, sagt Teija. »Ab und zu können die anderen sich auch mal zum Teufel scheren.«

»Mein Problem ist, dass ich dieses Gejammer um die Vorlesung nicht mehr hören kann, da übernehme ich lieber selbst.«

»Du meintest doch aber, dass du schon genug zu tun hast.«

Nea zuckt mit den Schultern.

»Alle haben genug zu tun«, erwidert sie und deutet mit einem Kopfnicken auf den Papierstapel in Teijas Arm. »Hausarbeiten?«, fragt sie, um das Thema zu wechseln.

Teija schielt auf den Blätterstapel hinab.

»Jaja. Vergänglichkeit steht auf dem Stundenplan. Alles verkommt und vergeht. Und doch ist das Leben wunderbar.«

Sie zieht eine Arbeit aus dem Stapel heraus und hält sie Nea hin.

»Hier hat ein Student die Vanitas-Stillleben der niederländischen Künstler des 17.Jahrhunderts mit Bildern aus dem Darknet verglichen. Ziemlich makaber, aber kreativ.«

Nea sieht sie fragend an.

»Darknet?«

»Ich kannte es auch nicht, bevor Miko mir davon erzählt hat. Es ist wie eine Art alternatives Internet, zu dem man nicht so einfach Zugang bekommt. Für Menschen mit zweifelhaften Absichten.«

»Ach so?«

»Waffen, Drogen, Sex – dort kann man alles bestellen. Sogar einen Auftragsmord. Und dort werden eben auch Fotos von ganz speziellen Stillleben gepostet. Stillleben von toten Menschen.«

Skeptisch beäugt Nea die Kollegin.

»Weiß die Polizei davon?«

Teija lacht.

»Natürlich tut sie das, aber die haben Schwierigkeiten, Zugriff zum Darknet zu bekommen. Das ist ja der Sinn der Sache. Lunch?«

»Heute nicht. Ich bin auf dem Weg zur Polizei.«

Teija reißt die Augen auf.

»Bist du schon wieder zu schnell gefahren?«

»Schon wieder? Ich bin ein Mal zu schnell gefahren, und das ist sieben Jahre her.«

»Worum gehts denn dann? Erregung öffentlichen Ärgernisses?«

Teija deutet mit einem Kopfnicken auf Neas Bluse. Sie schaut an sich hinab und stellt fest, dass sie sich komplett schief zugeknöpft hat.

»Sie wollen, dass ich mir ein Gemälde ansehe«, sagt Nea und stellt den Jutebeutel mit ihrem Laptop und den Aufzeichnungen ab. Sie knöpft sich die Bluse auf und knöpft sie wieder richtig zu. »Eine mögliche Fälschung. Also ziemlich wahrscheinlich eine Fälschung. So ähnlich haben sie es formuliert. Sie wollten am Telefon nicht so recht mit der Sprache rausrücken.«

»Oha«, sagt Teija. »Endlich passiert mal was. Du musst mir morgen beim Essen davon erzählen.«

»Versprochen.«

Mit seitlich überkreuzenden Schritten eiert Teija den Korridor hinab. Grinsend sieht Nea ihr nach.

Eine knappe Stunde später steigt Nea am Rathaus aus der U-Bahn und steuert zielgerichtet das Polizeipräsidium an. Mit der linken Hand hält sie sich den Mantel zu, mit der rechten streicht sie sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem unordentlich zusammengezwirbelten Dutt gelöst hat. Sie geht leicht vornübergebeugt, den Blick auf den Bürgersteig gerichtet, wie immer, wenn sie es eilig hat. Der dunkelblaue Mantel flattert im Wind, ihre dünne Bluse darunter kann der Februarkälte kaum standhalten.

Vor dem Eingang des Präsidiums stellt sie fest, dass sie vier Minuten zu spät ist. Keine Zeit, auf die Toilette zu gehen und in den Spiegel zu schauen. Sie holt tief Luft. Dann zieht sie die Tür auf und geht zum Empfang. Dort sitzt eine Frau in ihrem Alter, irgendwo zwischen vierzig und fünfzig, hinter einer großen Glasscheibe, wie eingesperrt. Bevor sie den Empfangsschalter erreicht hat, nähert sich ihr ein Mann mit entschlossenen Schritten.

»Andrea?«

Sie dreht sich zu ihm um und nickt.

»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Roger Forsén.«

»Nea. Alle nennen mich Nea, bis auf meine Kinder.«

Sie schüttelt seine ausgestreckte Hand.

»Und wie werden Sie von denen genannt?«

»Mama.«

Roger Forsén lacht. Er trägt ein weißes T-Shirt, eine enge schwarze Jeans und ein tailliertes schwarzes Jackett; er sieht eher aus wie ein Galerist als der leicht alkoholisierte, psychisch labile Bulle, den sie erwartet hatte. Gewiss – Neas Erfahrung, was die Kriminalpolizei betrifft, beschränkt sich lediglich auf einige Fernsehserien, die sie nicht einmal besonders mag. Johan besteht darauf, sie gemeinsam anzusehen. Roger Forsén richtet seine Brille mit dem schwarzen Plastikgestell. Hinter den Gläsern leuchten seine freundlichen hellblauen Augen.

»Ich bin natürlich gleich neugierig geworden«, sagt Nea. »Man wird ja nicht jeden Tag von der Polizei einbestellt. Hätte ich vielleicht einen Anwalt mitbringen sollen?«

Roger lächelt, diesen Witz hat er bestimmt schon hundertmal gehört. Nea schätzt ihn auf knapp sechzig, sein Haar ist grau, doch hier und dort sind noch einige dunkle Strähnen zu sehen.

»Tut mir leid, dass ich am Telefon nicht mehr sagen konnte, aber es ist eine heikle Angelegenheit.«

»Sie hatten ein Gemälde erwähnt.«

Er schlägt die Hände zusammen.

»Gehen wir doch in mein Büro, dann werde ich es Ihnen zeigen.«

Er führt sie durch die hellen klinisch-institutionellen Korridore des Polizeipräsidiums. An den Wänden hängen pastellfarbene Textildrucke, in einer Ecke steht ein Automat mit Erfrischungsgetränken und Süßigkeiten, daneben eine große Palme. Roger führt sie in die Tiefen des Präsidiums, durch unzählige Türen, die er mit seiner Zugangskarte öffnet. Nichts deutet darauf hin, dass hier täglich Raubmorde, Kokainhandel, organisierte Kriminalität und hartgesottene Ganoven im Fokus stehen. Irgendwann erreichen sie eine Treppe, gehen hinunter ins untere Stockwerk und landen in einem kurzen Flur mit schmutzig grauen Wänden und Leuchtstoffröhren an der Decke. Dieser Gang scheint bei der letzten Renovierung vergessen worden zu sein. Nea bleibt mitten auf der Stufe stehen, als sie die Bilder sieht.

»Wow«, entfährt es ihr.

Roger lacht.

An einer der Wände hängt Munchs Mädchen auf der Brücke, neben Werken von Picasso, Tàpies und Renoir. Weiter hinten im Korridor entdeckt sie ein großes Ölgemälde, ein Zorn.

»Beeindruckend, nicht wahr? Dieses hier zum Beispiel«, sagt Roger und zeigt auf den Picasso. »Ziemlich gute Arbeit, oder?«

Sie tritt näher an das Gemälde heran, beugt sich vor.

»Ist das eine Fälschung?«

In dem Moment, in dem die Worte aus ihrem Mund kommen, begreift sie, wie dumm diese Frage ist. Wenn es sich um einen echten Picasso handelte, würde er wohl kaum hier in diesem Flur hängen, im Keller des Polizeipräsidiums.

»Echt, wenn man den Experten des Museu Picasso in Barcelona Glauben schenkt«, sagt Roger. »Aber eine naturwissenschaftliche Analyse der Farben hat dann doch gezeigt, dass wir es hier mit einer Fälschung zu tun haben.«

»Wer hat sie angefertigt?«

Roger schüttelt den Kopf.

»Keine Ahnung, leider. Wer auch immer es ist, er ist unglaublich begabt.«

Nea nickt.

»Oder sie«, erwidert sie.

»Oder sie«, räumt Roger ein. »Aber Kunstfälscherinnen sind extrem selten. Mir ist noch nie eine begegnet, in den fünfzehn Jahren, die ich diesen Job hier schon mache.«

»Ihr habt sie vielleicht nur nicht bemerkt. Die gesamte Kunstgeschichte ist voll von unsichtbaren Frauen.«

»Möglich«, sagt er lächelnd. »Hier ist mein Büro.«

Nea betritt einen Raum, der wie ein Musterbüro aus den Neunzigern aussieht. Helle Holzmöbel, Sitze aus kornblumenblauem Stoff. Aber an der Wand hinter dem Schreibtisch hängt ein Lichtenstein und über dem abgenutzten Sofa, das gerade noch so ins Zimmer passt, ein Gauguin.

Nea muss lachen.

»Das ist ja großartig«, sagt sie. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass so ein Ort in den Katakomben von Kungsholmen existiert. Das ist ja schon beinahe surreal.«

»Irgendwann werde ich Ihnen unsere Asservatenkammer zeigen. Dort befindet sich eine der beeindruckendsten Kunstsammlungen Schwedens. Ungefähr hundert Meisterwerke.«

»Sie sollten eine Ausstellung machen«, sagt sie und wendet den Blick von Rogers Gauguin ab. »Mit wie vielen Kollegen arbeiten Sie zusammen?«

»Hier, in dieser Abteilung? Sie haben die gesamte Mannschaft vor sich stehen. Also theoretisch«, ergänzt Roger und richtet seine Brille, »gehören die Sachfahndung im nächsten Stock und ich zum selben Dezernat, aber ich bin der Einzige, der das Vergnügen hat, mit Kunstfälschungen zu arbeiten.«

Nea nickt.

»Manchmal frage ich mich, ob man mich hier unten im Keller vergessen hat. Ich stehe nicht gerade im Mittelpunkt des Geschehens, obwohl ich es mit millionenschweren Verbrechen zu tun habe«, sagt er mit einem schiefen Lächeln. »Aber ich möchte auch nicht zu viel Aufhebens machen. Sonst kommen die da oben noch auf die Idee, mich für die Aufklärung von Mopeddiebstählen oder die Fahndung nach herumstreunenden Demenzkranken anzufordern.«

Er hängt sein Jackett über die Lehne des Schreibtischstuhls.

»Setzen Sie sich doch«, sagt er. »Kaffee? Ich habe einen Moccamaster hier unten. Einen echten.«

Er muss wegen seines eigenen Witzes grinsen.

»Gern. Schwarz, danke.«

Als er zurück ins Büro kommt, stellt er eine Tasse von der Tate Modern vor Nea auf das Sofatischchen.

»Thomas André vom Stockholmer Auktionswerk hat Sie mir empfohlen«, erklärt er und lässt sich ihr gegenüber auf einem der Sessel nieder.

»Ach ja? Ich kenne ihn eigentlich nur vom Namen.«

»Er meinte, Sie seien Schwedens führende Expertin für Ivan Botkin.«

»Ich glaube, das sagt mehr über das Interesse an Botkin aus als über meine Kompetenz«, erwidert Nea. »Aber ja, ich habe mich mit seiner Malerei befasst. Einige Artikel über ihn veröffentlicht.«

Roger nickt.

»Ich muss gestehen, dass er mir völlig unbekannt war, bis ich diesen Fall auf den Schreibtisch bekommen habe«, sagt er. »Jemand hat ihn mir als den europäischen Edward Hopper beschrieben.«

»Dieser Vergleich wird öfter gemacht. Ich finde, das ist eine ziemlich oberflächliche Betrachtung von Botkins Werk. Aber wenn man sich die Gemälde aus der Nachkriegszeit anschaut, nachdem er aus seinem Exil in den USA nach Europa zurückgekehrt war, lassen sich natürlich einige Gemeinsamkeiten feststellen.«

»Und es sind wohl eben diese Gemälde, die das neue Interesse für den Künstler geweckt haben, nehme ich an?«

»Genau, es war seine intensivste Schaffensphase. Botkin ist der Allgemeinheit schon seit geraumer Zeit ein Begriff. Doch in den letzten Jahren ist das Interesse an seiner Arbeit gestiegen und damit auch sein Ansehen. Völlig verdient, wenn Sie mich fragen. In Europa und vor allem in Russland ist er auf dem besten Wege, einer der Großen zu werden, und das vierzig Jahre nach seinem Tod.«

Nea nippt an dem heißen Kaffee. Wie immer bewirkt Koffein bei ihr, dass sie sich besser konzentrieren kann. Sie fragt sich, wohin diese Unterhaltung führen wird.

»Und das spiegelt sich im Wert seiner Arbeiten wider, oder?«, fragt Roger.

Er hat einen Schreibblock hervorgeholt und sieht sie aufmerksam an.

»Einige seiner bedeutendsten Werke wurden für etwas über eine Million versteigert. Immer noch ziemlich bescheiden – verglichen mit Ihrem Munch da draußen.«

»Ja, in dem Falle reden wir von ungefähr dreißig Millionen. Dollar. Wenn er denn echt wäre. Ich will Ihnen etwas zeigen«, sagt er und erhebt sich aus dem Sessel.

Aus einem großen Eckschrank aus Birkenholz holt er ein in braunes Papier gewickeltes Gemälde, das er vorsichtig auspackt.

Abgebildet ist eine Stadtszenerie, darin ein einsamer Mann in einem Café. Der Mann hat sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, vor ihm steht eine Tasse Espresso. Er scheint zu beobachten, wie die Stadt um ihn herum erwacht. Gegenüber vom Café parkt ein Taxi an der Straße, und an der Kleidung des Mannes – schwarze Hose und weißes Hemd mit Emblem auf der Brusttasche – kann man erkennen, dass er der Fahrer dieses Wagens ist. Vielleicht hat er die ganze Nacht gearbeitet. Vielleicht hat seine Schicht vor Kurzem begonnen. Er ist in einer Art Zwischenraum verewigt worden, in einem Moment, in dem er vollkommen für sich ist, bei sich. Die Akzentuierung des Lichts ist charakteristisch für den Künstler. Die energischen Sonnenstrahlen des frühen Morgens brechen durch die Wolken und geben den Ton an. Den Rand des Gemäldes ziert die Signatur I Botkin.

Schweigend betrachtet Nea das Gemälde. Roger beobachtet sie gespannt.

»Ich nehme an, dass es nicht echt ist«, sagt sie schließlich.

»Ich weiß es nicht. Diejenigen, mit denen ich bisher gesprochen habe, wollten es nicht gänzlich ausschließen.«

Nea nickt und bittet ihn dann, das Gemälde umzudrehen, damit sie die Rückseite untersuchen kann. Sie ist auf der Suche nach Botkins Markenzeichen: Den Titel seiner Arbeit notierte er stets mit einem dünnen Bleistift auf der Rückseite der Leinwand. Und siehe da – in der oberen rechten Ecke steht etwas in leicht schräger Handschrift geschrieben.

»Aube. Faux«, liest Nea.

Grinsend erwidert Roger ihren verwunderten Blick.

»Dämmerung. Falsch.« Nea lacht. »Ein typischer Botkin-Titel, wenn Sie mich fragen.«

»Ja, das habe ich schon gehört.«

»Wenn das eine Fälschung ist, dann ist die Wahl des Titels … frech.«

»Ein Fälscher mit Humor«, sagt Roger.

Er dreht das Gemälde wieder um, Nea studiert den Taxifahrer.

»Sie scheinen davon auszugehen, dass es sich um eine Fälschung handelt«, sagt sie.

»Das ist ein reines Bauchgefühl. Die Umstände, unter denen das Gemälde gefunden wurde, lassen es vermuten«, erklärt er, »weshalb wir es uns überhaupt erst genauer angeschaut haben. Aber natürlich will ich hören, was Sie als Botkin-Expertin denken.«

Nea nimmt ihre Kaffeetasse vom Tisch. Sie beugt sich vor und betrachtet das Gemälde aus nächster Nähe.

»Es könnte genauso gut ein echter Botkin sein«, sagt sie nach einer Weile. »Die Technik stimmt, die Farben, das Motiv. Das Gefühl. Das ist ein wirklich tolles Bild. Aber ich müsste es genauer untersuchen, bevor ich eine verlässliche Aussage zu der Echtheit des Gemäldes machen kann.«

»Kennen Sie das Motiv?«

Nea schüttelt den Kopf.

»Nicht direkt, aber das Sujet und die Gesamtidee entsprechen seiner Malerei aus den frühen Fünfzigerjahren. Auch der Titel scheint mir authentisch. Zu dieser Zeit hatte Botkin ein System bei der Titelgebung seiner Werke: zwei Wörter, das erste davon eine Art Zeitangabe.«

»Fällt Ihnen auf die Schnelle noch etwas auf?«

»Nein … tut mir leid«, sagt Nea und schüttelt den Kopf. »Ich bin ehrlich gesagt etwas überrumpelt von diesem Gemälde. Es ist wirklich stark. Sie erwähnten die Umstände, unter denen das Bild gefunden wurde?«

»Ja, genau«, sagt Roger und legt das Gemälde auf den Schreibtisch. »Es wurde vor ein paar Wochen in einem Lager in der Kongens kurva gefunden, gut verpackt in Luftpolsterfolie. Im Lagerraum stießen die Kollegen außerdem auf ein kleines Waffenarsenal und diverse Hinweise, die auf Drogenhandel schließen lassen. Plus eine beträchtliche Menge an anabolen Steroiden.«

»Ui.«

Roger lächelt matt.

»Der Mieter des Lagers, ein Zweiundzwanzigjähriger, war kurz zuvor in Hagsätra tot in seinem Auto aufgefunden worden, zwei Kopfschüsse. Die Mordkommission hat den Fall übernommen, aber das Gemälde wurde zu mir gebracht.«

Nea nickt, unsicher, wie sie darauf reagieren soll.

»Es ist recht ungewöhnlich, dass die Kollegen in solchen Kontexten auf Kunst stoßen, daher sticht dieser Fall ein bisschen heraus«, fährt Roger fort und streicht mit der Hand über das Gemälde.

Nachdenklich betrachtet Nea die Straßenszenerie.

»Die Kollegen interessieren sich ehrlich gesagt vor allem für die Waffen und die Drogen«, sagt Roger. »Und natürlich dafür, den Mord aufzuklären. Das Gemälde schert sie herzlich wenig. Ich werde sehen, was ich alles ans Tageslicht befördern kann, aber ich bin für jede Hilfe dankbar. Melden Sie sich gern, falls Ihnen noch etwas einfällt.«

Nea holt ihr Handy hervor.

»Ist es okay, wenn ich ein Foto von dem Gemälde mache?«, fragt sie. »Dann kann ich es mir später noch mal genauer ansehen und mit den bekannten Werken von Botkin vergleichen.«

Roger kratzt sich am Kopf.

»Ja, das sollte schon klargehen. Posten Sie es nur bitte nicht bei Instagram. Das würde denen bei NOA sauer aufstoßen.«

Er grinst und nimmt einen Schluck von seinem Kaffee.

»Ich kann Ihnen übrigens auch ein Foto in hoher Auflösung schicken«, fügt er hinzu.

»Gern! Und auch von der Rückseite der Leinwand, wenn sich das machen lässt«, sagt Nea.

»Selbstverständlich. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie sich die Zeit nehmen.«

Auf dem Weg aus dem Büro bleibt sie vor der Munch-Fälschung im Flur stehen. Sie geht näher heran, beugt sich vor, studiert die Details, tritt dann einen halben Schritt zurück und lässt das Bild als Ganzes auf sich wirken. Roger beobachtet sie.

»Wow«, sagt sie erneut und lächelt.

»Johan?«

Keine Antwort. Die Wohnung ist dunkel, offenbar ist niemand zu Hause. Nea versteht selbst nicht recht, warum sie seinen Namen ruft. Sein Mantel hängt nicht an der Garderobe, die Doc Martens stehen nicht im Schuhregal.

»Ist Papa gar nicht da?«, fragt Nick, während er sich hinter ihr seine Stiefel auszieht, die gleichen wie Johans, nur vier Größen kleiner.

»Und ich hatte gehofft, wir könnten uns an den gedeckten Tisch setzen«, sagt Nea und hängt ihre und auch Nicks Jacke auf, die bereits auf dem Fußboden gelandet war.

»Was gibts zu essen?«

Auf dem Küchentisch stehen immer noch die Sachen vom Frühstück, auf der Anrichte ist alles voller Krümel.

»Tja, Nick, was willst du uns denn kochen?«

Nick streicht sich den Pony aus der Stirn und zieht eine Grimasse.

»Ich schau fern«, sagt er und verschwindet im Wohnzimmer.

Der Kühlschrank gibt nicht viel her, zumindest nichts, was zu einem Abendessen für zwei Erwachsene und zwei Teenager verarbeitet werden könnte. Falls Johan denn überhaupt vorhat, zum Essen nach Hause zu kommen.

Nea schließt den Kühlschrank, im selben Moment hört sie, wie die Wohnungstür aufgeht.

»Was guckst du denn so sauer?«, fragt Ella, als sie zur Küche hereinkommt.

»Entschuldige. Ich dachte, es wäre Papa.«

Ella runzelt die Stirn.

»Dann kann ich ja wieder gehen«, sagt sie.

»Ach, komm schon her, meine kleine Drama-Queen«, erwidert Nea und zieht Ella an sich.

Sie ist groß geworden, inzwischen fast genauso groß wie Nea.

»Wie wars?«, fragt Nea und saugt den Duft ihrer Tochter ein – Haarspray und das Parfüm von Victoria’s Secret, das sie zu besonderen Anlässen aufträgt. Der Duft passt gar nicht zu Ella. Findet zumindest Nea.

»Wie immer«, sagt Ella und löst sich aus der Umarmung. »Kann ich Freitag bei Kajsa übernachten?«

»Schmeißt ihr eine Party, oder was?«

Ella läuft rot an.

»Nein! Wir wollen nur chillen. Einen Film gucken oder so.«

»Darüber können wir später noch sprechen. Ich muss mich jetzt erst mal ums Abendbrot kümmern.«

Nea geht zurück in die Küche.

»Was hältst du von Instantnudeln?«

»Äh … nee danke. Wo ist Papa?«

»Sag du’s mir.«

»Was, habt ihr euch gezofft?«

Nea dreht sich um.

»Nein, warum sollten wir?«

Ella zuckt mit den Schultern, weicht Neas Blick aus.

»Ich bin in meinem Zimmer.«

Erneut öffnet Nea den Kühlschrank, als würde ihr eine zündende Idee kommen, wenn sie nur lange und intensiv genug auf den spärlichen Inhalt starrt. Sie hat absolut keine Lust, jetzt noch einkaufen zu gehen, und die Kinder braucht sie gar nicht erst zu fragen. Nick liegt mit Sicherheit vor dem Fernseher, alle viere von sich gestreckt, und starrt ausdruckslos auf den Bildschirm, und aus Ellas Zimmer ist ein sanftes Klavierklimpern zu hören. Johan hat sein musikalisches Talent an die Kinder vererbt, und er ist auch geduldig genug gewesen, sie mit Tonleitern und Akkorden, Fingersätzen und dem Prinzip von Rhythmus vertraut zu machen.

In einer der Schubladen findet sie eine Packung Spaghetti – versteckt hinter einer Ansammlung von Mehltüten, von denen sie nicht weiß, wie lange sie da schon stehen – und zwei Gläser passierte Tomaten, die mit ein paar Gewürzen vielleicht in eine passable Tomatensauce verwandelt werden könnten.

Johan taucht auf, als sie mit dem Essen fertig sind. Nea hat Teller, Besteck und Gläser demonstrativ an seinem Platz stehen lassen. Ein Rest Tomatensauce und ein paar kalte klebrige Nudeln sind noch übrig. Johan sieht ernst aus, als er mit dem Gitarrenkoffer in der Hand die Wohnung betritt. Er umarmt Nick und Ella, die sofort ihre Köpfe in den Flur stecken, als sie die Tür hören, und ringt sich zu einem Lächeln durch. Nea bekommt einen Kuss, dann zieht er sich den Wintermantel aus.

»Echt ekliges Wetter heute«, sagt er, als die Kinder sich in ihre Zimmer zurückgezogen haben und er mit Nea allein in der Küche sitzt. Seine Wangen und Ohren sind flammend rot.

»Du solltest dir mal eine Mütze aufsetzen«, sagt Nea und bereut es sofort. Sie kommt sich vor wie seine nörgelnde Mutter.

»Es gibt Essen«, fügt sie rasch hinzu. »Oder zumindest noch ein paar Nudeln. Ich dachte, du wolltest einkaufen gehen.«

»Hatten wir das besprochen?«

Johan sieht ernsthaft verblüfft aus. Nea nickt.

»Aber ich hatte doch heute ein Casting.«

»Was für ein Casting?«

»Für diese Fernsehshow. Sie sind auf der Suche nach einer Studioband. Darüber hatten wir doch gesprochen?«

Nea schüttelt den Kopf.

»Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass wir gestern Abend ausgemacht hatten, dass du einkaufen gehst und heute fürs Abendbrot zuständig bist.«

Johan fährt sich mit der Hand durch das zerzauste Haar und sieht sie mit diesem jungenhaften betretenden Blick an, sichtlich durcheinander.

»Shit, Nea, es tut mir leid. Ich war mir so sicher, dass ich dir davon erzählt hatte.«

»Ja, ja. Wie liefs denn?«

Er zuckt mit den Schultern.

»Du weißt ja, wie viele Leute sich um so eine Chance prügeln. Ich kann gleich noch mal einkaufen gehen.«

»Nee, schon gut. Ich gehe. Ich wollte eh noch ins Fitnessstudio, dann kann ich auf dem Nachhauseweg noch beim Supermarkt vorbei.«

»Okay.«

Sie sehen sich an.

»Was denn?«, fragt Nea.

»Nein, nichts.«

»Sag schon, was du denkst.«

Johan schüttelt den Kopf.

»Meine Güte, entspann dich. Es ist nichts.«

»Es ist also kein Problem, dass ich jetzt noch zum Sport gehe? Du bleibst mit den Kindern zu Hause? Du willst heute Abend nicht mehr raus?«

»Nea, ich …«

Er verstummt. Sie schüttelt resigniert den Kopf. Sie stehen sich eine Weile schweigend gegenüber, ohne sich wirklich anzusehen.

Eine Klaviermelodie findet ihren Weg aus Ellas Zimmer. Hinter Nicks Tür hört man ihn telefonieren. Johan starrt auf den Boden.

»Ich mach mich mal auf den Weg«, sagt Nea.

Fünf Minuten später tritt sie mit ihrer Sporttasche über der Schulter durch das Tor auf die Straße. Die Temperatur ist unter null gesunken. Der Asphalt glitzert im Licht der Straßenlaternen. Sie schiebt ihre Hände tief in die Jackentaschen. Die Handschuhe liegen zu Hause auf der Hutablage.

Das Schrillen der Türklingel lässt Nadezhda auf dem Sofa zusammenfahren. Sie steht auf und schaltet auf dem Weg zum Flur die Stehlampe in der Ecke an. Draußen ist es dunkel geworden.

»Ich habe eine Lieferung für Nadezhda Volkova«, sagt der junge Mann im Treppenhaus. Sie öffnet die Tür einen Spaltbreit, die Sicherheitskette noch immer vorgelegt. Er spricht ihren Namen unsicher aus, als wäre es eine Frage.

Nadezhda löst die Kette. Der Mann lächelt sie an.

»Wo soll ich es hinstellen?«, fragt er.

Sie tritt einen Schritt zur Seite, bittet ihn, die Sendung in den Flur zu stellen. Ein Duft von Sandelholz, Zitrusfrüchten und Schnupftabak strömt ihr entgegen, als er sich mit dem Umzugskarton an ihr vorbeischiebt, aus dem ein rahmenloses Gemälde hervorschaut. Sie fragt sich, was für ein Parfüm das ist. Er trägt die schwarz-rote Uniform des Kurierdienstes, eine Cap auf dem Kopf.

»Alles klar. Dann brauche ich nur noch eine Unterschrift.«

Rasch malt sie ihre Initialen mit einem Plastikstift auf das handyähnliche Gerät.

»Dann wünsche ich noch einen schönen Abend«, sagt der Bote.

»Ebenfalls«, sagt Nadezhda und schließt die Tür. Sie hängt die Sicherheitskette vor und schließt zweimal ab.

Der Karton ist überraschend leicht. Sie trägt ihn in die Wohnung und stellt ihn auf den Couchtisch. Der Inhalt klappert. Sie hebt das Gemälde hoch, eine Leinwand, etwa fünfzig mal siebzig Zentimeter. Das Motiv ist trist – eine unbeholfen gemalte Ackerlandschaft, im Hintergrund Berge, Wolken, denen es an Finesse mangelt. Die Signatur ist nicht zu entziffern. Es spielt keine Rolle, dieses Bild wird sich bald in nichts auflösen, sie wird die Farbe Schicht für Schicht abtragen und die Leinwand vorsichtig reinigen. Was zählt, ist die Qualität des Stoffes und wie er auf der Rückseite aussieht. Sie dreht das Bild um. In die Jahre gekommen, aber nicht abgenutzt. Keine Markierungen, Etiketten oder Stempel, nur eine dünne Bleistiftunterschrift.

Nadezhda legt das Bild zur Seite und inspiziert rasch den restlichen Inhalt des Kartons. Sie reiht die Sachen auf dem Couchtisch nebeneinander auf: Farbtuben, Pinsel, Lösungsmittel. Worum sie gebeten hatte – das Gleiche wie beim letzten Mal, mit ein paar Extras.

Auf dem Boden des Kartons liegt ein dünner weißer Umschlag. Sie öffnet ihn. Drei Fotos fallen heraus. Abzüge der Bilder von Olof Wallners Telefon. Eine kleine Erinnerung daran, was auf dem Spiel steht.

Nadezhda wirft die Fotos auf den Couchtisch. Sie sinkt ins Sofa, schließt die Augen und sitzt ein paar Minuten da, lauscht ihrem eigenen Puls, der in ihren Ohren pocht, und versucht, die Kontrolle über ihre Gedanken zurückzugewinnen. Die Gedanken sind ihre Feinde. Sie muss ruhig und konzentriert sein, um malen zu können, kann es sich nicht leisten, an etwas anderes zu denken als an die Farbe, den Pinsel, die Leinwand.

Sie schlägt die Augen auf und erhebt sich hastig vom Sofa. Auf der abgewetzten Kommode, die sie von der Stadtmission nach Hause geschleppt und stahlgrau gestrichen hat, steht ein weiteres Foto. Darauf ist ihre Mutter abgelichtet, eines der letzten Bilder, das Nadezhda von ihr gemacht hat. Das letzte, auf dem sie wie die starke Frau aussieht, an die Nadezhda sich erinnern möchte. Sie betrachtet das vertraute Gesicht, dann zieht sie ein Skizzenbuch und eine Monografie über Ivan Botkin und sein Werk, herausgegeben vom Museum of Modern Art, aus der obersten Schublade.

Nea geht auf den Sandsack los, als hätte er gerade eines ihrer Kinder bedroht. Drei Geraden mit der Rechten, eine schnelle Linke, dann greift sie den Sack mit beiden Händen und versenkt ihr Knie in ihm. Ein schneller Schritt zurück, zum Schluss ein harter Tritt mit dem rechten Bein. Sie hält inne, atmet aus. Zieht ihre Haare im Pferdeschwanz zurecht. Nimmt einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Der Sandsack schwingt sachte an seiner rasselnden Kette hin und her. Gleich wird sie sich wieder auf ihn stürzen.

Heute ist es voll im Studio, die Luft vibriert vor konzentrierter Aktivität. Ein Knallen in Sandsäcke und Pads, ein Stöhnen und Schnauben und Schwitzen und Plumpsen auf den Matten. Nur wenige Worte werden gewechselt, kommuniziert wird mit Grunzen, Kopfnicken und kleinen Gesten. Die meisten, die hier trainieren, sind jüngere Männer, aber Nea ist längst nicht die einzige Frau, und sie ist auch nicht die älteste.

Sie schließt die Augen und lauscht den Geräuschen. Hier in diesem abgenutzten Kellerraum fühlt sie sich seltsam sicher, im Schweißdunst unter den Leuchtstoffröhren. Inmitten der kontrollierten Gewalt. Dieser Ort ist das krasse Gegenteil zu den hellen Ateliers, in denen sie sonst so viel Zeit verbringt.

Sie beginnt mit einem neuen Set. Die ersten Schläge sind wie immer zaghaft und locker. Rasch findet sie ihren Rhythmus, das Gefühl und die Kraft. Und schließlich geht sie ganz darin auf. Ihr Körper bewegt sich wie von selbst, und die Gedanken lassen von ihr ab. Stress, Frustration und Wut rinnen aus ihr heraus. Das Gehirn macht einen Neustart.

Sie schlägt zu, bis ihre Kraft erschöpft ist, und weiter, bis sie kaum noch die Arme heben kann. Dann macht sie einen Schritt zurück und tritt in den Sack – einmal, zweimal, dreimal. Schweißüberströmt beobachtet sie die Pendelbewegungen des schweren Sandsacks, während sie langsam erst die Handschuhe, dann die Beinschützer abstreift. Ihr Körper zittert vor Erschöpfung, aber ihr Kopf ist klar.

Sie sieht Johan vor sich, als sie ihm verkündet hat, dass sie zum Sport gehen wird. Der rasch zur Seite huschende Blick, als hätte er plötzlich direkt neben ihr etwas gesehen. Er hatte geplant, noch mal wegzugehen, das war offensichtlich, auch wenn er nicht gegen ihr Vorhaben protestierte. Sie kennt ihn so gut, sieht ihm sofort an, wenn ihn etwas beschäftigt, wenn seine Gedanken ganz woanders sind und sie keinen Zugang zu ihnen hat.

Wahrscheinlich ist es die Zukunftsangst, die ihm zu schaffen macht. Das Leben als freiberuflicher Musiker ist eine ständige Achterbahnfahrt, und was Johan in seinen Dreißigern als Freiheit bezeichnete, ist für ihn als Fünfundvierzigjährigen eher ein endloser Kampf ohne größere Perspektive. Er würde es nie direkt sagen, aber sie weiß, wie sehr es ihn stört, dass er weniger verdient als sie und er auf ihr festes Einkommen angewiesen ist. Gleichzeitig zöge er eine Festanstellung, würde ihm eine angeboten, nicht einmal in Erwägung. Er hat in einer Band gespielt, als Nea ihn kennenlernte, sie standen kurz vor ihrem Durchbruch. Als die Band nach einigen krampfhaften Jahren, in denen ihr dieser Durchbruch dann doch nicht vergönnt war, schließlich implodierte, ließ Johan sich nicht davon abbringen, eine Zukunft als Berufsmusiker anzustreben, im Gegensatz zu seinen ehemaligen Bandkollegen, die heute alle regulären Jobs nachgehen.

Er wollte ein Leben zu seinen eigenen Bedingungen führen. Das war einer der Gründe, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Sein Unwille, sich den Gepflogenheiten zu fügen, sein Glaube daran, dass ein anderes Leben möglich war. Und irgendwie liebt sie ihn noch immer für diese Ideale und für seinen Wunsch, auch sie irgendwann davon zu überzeugen.

Nea lehnt sich mit dem Rücken an die Wand, lässt sich auf den Boden sinken und wartet auf das Nachschwitzen.

Mit einem dumpfen Aufprall lässt sie die Sporttasche und die Einkaufstüten im Flur auf den Fußboden plumpsen. Durch die Türen der Kinderzimmer dringt kein Licht, kein Ton ist zu hören.

Sie streift ihre Schuhe ab und bleibt auf dem Fußabtreter stehen, reibt sich die Hände und versucht, die Blutzirkulation anzuregen, wartet, dass Johan sich bemerkbar macht, dass er in den Flur kommt und sie zur Begrüßung umarmt. Sich vielleicht entschuldigt.

Schließlich streckt sie die Hand aus, tastet nach dem Schalter neben der Haustür und schaltet das Deckenlicht ein. Die Dielen knarren, als sie die wenigen Schritte zur Wohnzimmertür geht. Johan liegt ausgestreckt auf dem Sofa, mit Kopfhörern auf den Ohren, starrt an die Decke, versunken in seine eigene Welt. Sie beobachtet ihn von der Schwelle aus und wartet darauf, dass er sich ihrer Anwesenheit bewusst wird. Als er sie endlich bemerkt, steht er nicht auf, er hebt nur den Kopfhörer von einem Ohr, schenkt ihr ein vorsichtiges Lächeln. Das schwache Dudeln eines nicht identifizierbaren Liedes durchdringt die Stille.

»Warst du bis eben im Fitnessstudio?«

»Ich hab heute mal eine längere Session gemacht.«

»Okay«, sagt er und setzt die Kopfhörer wieder auf. Das Dudeln verstummt, und Johan richtet seinen Blick wieder an die Decke.

»Ich geh duschen«, sagt Nea.

Als sie aufgewärmt und mit roter Haut, eingehüllt in Johans Bademantel, ins Wohnzimmer zurückkommt, liegt er noch genauso da wie zuvor. Vielleicht hört er sogar das gleiche Lied. Normalerweise konzentriert er sich auf alle Instrumente einzeln, eines nach dem anderen, bis er versteht, wie der Song aufgebaut ist, wie die Instrumente miteinander harmonieren. Seine Begeisterung ist oft grenzenlos, wenn er etwas in den Songs entdeckt, und in den ersten Jahren ihrer Beziehung wollte er diese Freude immer mit Nea teilen. So oft hat er sie vom Kochen abgehalten, damit sie sich eine besonders intelligente Bassline oder einen ungewöhnlichen Beat anhörte. Und sie hat versucht, genau hinzuhören und sich mitreißen zu lassen, versucht, sich auf jede erdenkliche Weise, sich mit ihrem ganzen Wesen auf verschiedene Basslines einzulassen und zu verstehen, wie gut sie waren, aber sie konnte nicht empfinden, was Johan empfand. Es hat ihn jedes Mal enttäuscht, auch wenn er es sich nie anmerken ließ.

Sie weiß selbst, dass ihr etwas fehlt. Eine Musikalität, eine Art Intelligenz, wenn man so will. Sie spürt dieses Defizit täglich in ihrer Beziehung, und seit die Kinder da sind, ist es zu einer Trennlinie zwischen ihr und dem Rest der Familie geworden. Für Johan, Nick und Ella ist Musik ein Teil ihres Wesens. Sie wandeln auf dieser Erde mit der Musik unter den Füßen, in der Lunge, im Kopf. Johan hat ihre Begabung erkannt und sie auf einfache und natürliche Weise gefördert. »Zuhören« war sein pädagogisches Mantra. Und das Anhören von Teilen und Ganzem hat dazu geführt, dass die Kinder sich selbst an verschiedenen Instrumenten ausprobieren wollten. Und wenn ihnen etwas gelungen war, wollten sie mehr lernen. Und als sie genug gelernt hatten, wollten sie ihre eigenen Songs schreiben – wie es Ella jetzt mit ihrer Band tut.

Nea geht auf das Sofa zu, setzt sich neben Johan und streichelt ihm sanft über die Brust. Er lächelt und nimmt seine Kopfhörer ab.

»Du riechst gut«, sagt er.

»Was hörst du?«, fragt sie.

»Marvin Gaye. Wusstest du, dass sein Vater ihn erschossen hat, einen Tag vor seinem fünfundvierzigsten Geburtstag? Erschossen vom eigenen Vater.«

»Warum?«, fragt Nea, während sie Johan weiter über die Brust streichelt.

»Ich weiß nicht. Irgendein dummer Streit. Marvin ist bei einem Konflikt seiner Eltern dazwischengegangen, und dann hat sein Vater die Pistole geholt und ihn erschossen. Die Waffe hatte Marvin ihm zu Weihnachten geschenkt.«

»Tragische Ironie«, sagt Nea.

»Mm.«

Johan schüttelt den Kopf, als denke er an ein unangenehmes Ereignis zurück. Sie streichelt ihm über Nase und Wangen. Beugt sich nach vorne und küsst ihn auf den Mund.

Er ist immer noch in seiner Erinnerung versunken, kommt jedoch zu sich, als sie leise lacht.

»Was?«, fragt er und sieht sie verwirrt an.

»Nichts. Es war nur … Ach, vergiss es.«

»Was denn?«

Nea lächelt.

»Du sahst gerade so schön aus.«

»Ach ja?«

Johan schließt die Augen und lässt sich von Nea liebkosen. Als sie ihm über den Stoff der Boxershorts streicht und sich seinen Genitalien nähert, packt er sie am Handgelenk und führt ihre Hand weg, ohne die Augen zu öffnen.

»Was ist denn?«, fragt sie leise.

»Nichts. Ich hab nur keine Lust.«

»Du willst nicht?«

»Ich glaub, ich mach mir noch ein Brot, willst du auch eins?«, fragt Johan und setzt sich auf.

Nea schüttelt den Kopf, lächelt angestrengt und bleibt auf der Sofakante sitzen. Sie sieht ihm zu, wie er sich die Jeans hochzieht, sich durchs Haar fährt und in die Küche geht.

1.März

Nea justiert die Schreibtischlampe und beugt sich tiefer über das Buch, das aufgeschlagen vor ihr liegt. Es tut gut, sich nach einer weiteren Fakultätssitzung mit etwas Konkretem zu beschäftigen. Im Laufe der Jahre hat sie eine immer geringere Toleranz gegenüber den Abläufen dort entwickelt. Früher hat sie noch geglaubt, diese Wichtigtuerei sei ein Zeichen von Unsicherheit, diese Selbstbeweihräucherung und dieses Eigenlob würden mit der Zeit schon nachlassen. Doch mittlerweile sind sie zu einem festen, wenn auch nicht offiziell festgeschriebenen Tagesordnungspunkt geworden. Auch beim Umgang mit dem leidigen Thema der maroden finanziellen Situation der Akademie könnte sie kotzen. Bei den Besprechungen geht es nie um die wirklich wesentlichen Dinge: die Kunst und die Studierenden.

Sie vergleicht das im Buch abgebildete Gemälde mit dem Foto, das Roger Forsén ihr geschickt hat und das auf dem Bildschirm zu ihrer Linken aufleuchtet. Es zeigt ein ähnliches Motiv, ein einsamer Mann in einem Café. Er beobachtet eine Szene zwischen einer jungen Frau und einem Mann, die sich zu streiten scheinen. Beide Bilder prägt die gleiche Trostlosigkeit und Einsamkeit, der Cafébesucher erinnert an den Taxifahrer, der inmitten anderer Menschen sitzt und dennoch unbeteiligt wirkt. Anhand des ihr zur Verfügung stehenden Materials kann Nea keine zuverlässige Einschätzung bezüglich der Echtheit des Gemäldes treffen, aber motivisch liegt es auf der Linie dieser Schaffensphase. Sie beugt sich vor, betrachtet jeweils die Häuser im Hintergrund beider Bilder genauer und versucht zu erkennen, ob es in der Architektur irgendwelche Abweichungen voneinander gibt. Sobald sie in den letzten Tagen auch nur einen Moment Zeit fand, hat sie das Foto vom Gemälde aufgerufen, sich auf ein neues Detail konzentriert, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, das ihrem Blick bisher entgangen war, etwas, das ihr – und der Polizei – eine Antwort liefern könnte. Bisher hat sie noch nichts gefunden.

Das Telefon klingelt. Sie steht auf und holt es aus der Tasche ihres Mantels, der an der Tür hängt. Sie erwartet eine Nachricht von Roger Forsén, stattdessen leuchtet eine Nummer mit der Vorwahl von Kristianstad auf ihrem Display auf.

»Hej, Andrea. Mariett vom Demenzzentrum Charlottenborg hier. Störe ich gerade?«

Nea schließt die Augen. Sieht das gelbe Klinkergebäude aus den Siebzigern vor sich.

»Ist etwas passiert?«, fragt sie.

»Nur ein kleiner Vorfall mit Ingegerd. Nichts Ernstes, aber ich wollte Sie dennoch informieren.«

»Okay. Hatte sie wieder einen ihrer Ausfälle?«

»Ja, heute nach dem Frühstück, als eine unserer Pflegerinnen den Speisesaal geputzt hat. Ingegerd hat an einem der Tische gesessen und in einer Wochenzeitung geblättert. Als Anja, die Pflegerin, mit dem Wischmopp an ihr vorbeigekommen ist, hat sie sich plötzlich sehr aufgeregt. Hat ihr vorgeworfen, ihr den Job geklaut zu haben. Sie hat Anja angeschrien, es sei ihre Schuld, dass sie selbst jetzt arbeitslos sei.«

Nea seufzt.

»Verstehe.«

»Anja ist sehr professionell und hat versucht, zu deeskalieren, aber Ingegerd war so in Rage, dass sie irgendwann versucht hat, den Mopp mit Gewalt an sich zu reißen. Zwei andere Mitarbeiterinnen mussten eingreifen, um sie zu beruhigen.«

»Das tut mir wirklich sehr leid!«

»Nein, nein. Ihre Mutter ist dement, solche Situationen gehören leider zum Krankheitsbild. Ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen.«

»Wie geht es ihr jetzt? Und wie geht es Anja?«

»Ihre Mutter liegt in ihrem Zimmer und ruht sich aus, es geht ihr gut. Und auch die Pflegerin ist wohlauf.«

»Sie wissen, dass meine Mutter früher als Zimmermädchen gearbeitet hat?«

»Ja, das weiß ich.«

»Es kommt mir so vor, als würde es ihr mit jedem Tag schlechter gehen.«

»Sie hat gute und weniger gute Tage. Aber leider ist es bei Demenz nun mal so, dass sich der Zustand mit der Zeit nur verschlechtern kann.«

»Ja«, sagt Nea und fragt sich unwillkürlich, ob ein kurzer Prozess nicht besser wäre als ein derart langwieriger, wenn es sowieso auf dasselbe Ende hinausläuft. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mich anzurufen.«

Sie legt das Handy auf den Schreibtisch und starrt das Foto von Roger Forséns Botkin auf ihrem Computerbildschirm an. Dann kneift sie die Augen zusammen und massiert ihren Nasenrücken.

Das Handy auf dem Schreibtisch gibt ein leichtes Brummen von sich, und auf dem Display erscheint eine Nachricht. Sie ist von Roger Forsén. Bin jetzt da. Er hat auf einem Treffen bestanden, obwohl sie ihm noch nicht viel zu bieten hat. Aber er scheint sehr gespannt darauf zu sein, ihre Einschätzung zu hören, so unvollendet sie auch sein mag.

Sie nimmt ihr Handy und geht hinaus, um ihn in der Eingangshalle der Akademie zu empfangen. Als sie die Treppe hinunterkommt, steht er schon dort und knöpft sich seinen kamelfarbenen Mantel auf. Er lässt seinen Blick durch das Foyer schweifen. Es ist offensichtlich, dass er zum ersten Mal hier am Institut ist. Sie grüßt einige der Studierenden, die auf dem Weg zu den verschiedenen Werkstätten durch die Korridore strömen. Einige tragen blaue Arbeitsoveralls und Schnürstiefel und könnten auch als ein Haufen Bauarbeiter mit extravaganten Frisuren durchgehen.

»Darf ich Sie einmal durch das Haus führen, bevor wir in mein Büro gehen? Vielleicht wollen Sie mal einen Blick in die Ateliers werfen?«, fragt Nea und schüttelt seine ausgestreckte Hand. Sie ist kalt, aber der Händedruck ist genauso fest wie bei ihrer ersten Begegnung.

»Gern ein andermal«, erwidert er. »Ich habe leider direkt im Anschluss eine weitere Verabredung.«

Nea lächelt.

»Mein Büro ist dort oben«, sagt sie und deutet mit einem Kopfnicken die Treppen hinauf.

Während sie durch den Korridor zu ihrem Büro gehen, fällt Nea auf, wie Roger die Umgebung scannt. Vermutlich eine Art Berufskrankheit, wie auch der durchdringende Blick, mit dem er sie mustert, wenn sie sich unterhalten. Er scheint genauso an der Art und Weise, wie sie etwas erzählt, interessiert zu sein, wie an dem Inhalt dessen, was sie sagt. Es ist ungewöhnlich, aber überhaupt nicht unangenehm. Nea kann sich vorstellen, dass er einen ziemlich starken Eindruck auf Frauen macht. Er ist ein Zuhörer, eine ungewöhnliche Eigenschaft bei Männern seines Alters.

»Hereinspaziert, setzen Sie sich doch«, sagt sie und hält ihm die Tür zu ihrem Büro auf. Mit einer schwungvollen Geste zeigt sie auf den Sessel, auf dem normalerweise die Studierenden in Tränen ausbrechen, wenn sie ihre Prüfungen nicht bestanden haben. Roger sieht sich um und setzt sich dann.

»Tut mir leid, dass wir hier keinen echten Moccamaster haben, aber ich kann Ihnen einen normalen Filterkaffee anbieten, wenn Sie mögen?«

Er winkt ab.

»Passt schon, danke. Ich habe heute schon zu viel Kaffee getrunken.«

Nea setzt sich auf die andere Seite des Schreibtischs und lächelt.

»Ja, okay. Nun denn. Ich habe ein bisschen recherchiert und Ihren Fund mit Botkins Gemälden aus den Fünfzigerjahren verglichen … Allerdings muss ich sagen, dass es mir schwerfällt, ein Urteil über die Echtheit dieses Bildes zu fällen.«

Roger nickt aufmunternd.

»Man muss so unglaublich viele Aspekte berücksichtigen, um ein Werk wirklich beurteilen zu können«, fährt Nea fort, »von der Maltechnik über Pinselführung und Konturen bis zu Licht und Schatten, Farbwahl, Motiv … ja alles.«

»Ich verstehe, dass es dauert, ein sicheres Urteil zu fällen. Mich interessiert vor allem, was Ihre Intuition sagt«, erwidert Roger.

Nea dreht sich leicht auf ihrem Bürostuhl hin und her.

»Ich denke, es könnte sehr gut ein echter Botkin sein. Es gibt keine offensichtlichen Anomalien an dem Gemälde, keine Unstimmigkeiten. Es scheint zwar nicht katalogisiert zu sein, aber es existiert ja auch gar kein vollständiges Werkverzeichnis von Botkins Arbeiten.«

Roger scheint diese Antwort zufriedenzustellen, obwohl Nea nicht den Eindruck hat, etwas besonders Erhellendes gesagt zu haben.

»Aber Sie können auch nicht ausschließen, dass es eine Fälschung ist?«

»Also … Es gibt keine Angaben zur Provenienz, anhand derer die Echtheit bestätigt werden kann … Und sollte es sich doch um eine Fälschung handeln, dann wurde hier ganze Arbeit geleistet. Erstklassige Malerei.«

Roger nickt.

»Es wäre großartig, der Person gegenüberzusitzen, die hier den Pinsel gehalten hat«, sagt er.

»Sie gehen also davon aus, dass es nicht Botkin selbst war?«

»Ich habe alle Ausstellungskataloge durchsucht«, sagt Roger. »Es existiert kein Gemälde, das diesem hier gleicht. Es wurde nicht gestohlen gemeldet. Warum nicht? Vielleicht weil es nicht echt ist.«

Nachdenklich starrt Nea ins Leere.

»Wenn das Gemälde gefälscht ist, haben wir es mit einem sehr talentierten Fälscher zu tun«, fährt er fort. »Vielleicht lebt er sogar hier in Stockholm. Was glauben Sie: Wie viele Menschen gibt es mit einem derartigen Talent?«

Er erhebt sich aus dem Sessel.

»Jedenfalls, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Das hat mir wirklich geholfen …«

Er wird von einem Klopfen an der Tür unterbrochen.

»Ich habe jetzt eigentlich Sprechstunde«, sagt Nea mit einem entschuldigenden Lächeln. Sie steht auf und öffnet die Tür. »Komm rein, Nadezhda. Wir sind hier gerade fertig.«

Nadezhda betritt den Raum und wirft Roger Forsén einen flüchtigen Blick zu.

»Das ist Nadezhda Volkova, eine der begabtesten Studentinnen, die ich je unterrichten durfte«, sagt Nea und legt ihre Hand auf Nadezhdas Schulter. »Den Namen sollten Sie sich merken.«

Nadezhda senkt den Blick, wie immer peinlich berührt von Lob und Anerkennung.

»Freut mich«, sagt Roger.

»Ebenso«, murmelt Nadezhda.

»Melden Sie sich, wenn Sie sich noch weiter über das Gemälde austauschen wollen«, sagt Nea an Roger gewandt.

»Darauf werde ich garantiert zurückkommen. Und Sie sagen mir Bescheid, wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt. Zum Beispiel, wer den Pinsel gehalten haben könnte.«

»Wenn es nicht doch Botkin selbst war«, erwidert Nea mit einem Schmunzeln. »Soll ich Sie hinausbegleiten?«

»Nicht nötig, ich finde den Weg«, sagt Roger und lächelt beiden zum Abschied zu.

Nea und Nadezhda sehen ihm nach, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fällt.

Roger Forsén stößt die Eingangstür auf und tritt hinaus in den rauen Winternachmittag. Er klappt den Kragen seines Mantels hoch und bläst warme Luft in die Hände. Ein schwaches Bimmeln erklingt, es dauert ein paar Sekunden, bis ihm bewusst wird, dass es sein eigenes Telefon ist. Nicht das Arbeitshandy in seiner Jackentasche, sondern das andere, das immer in der Innentasche steckt und nur selten klingelt. Er knöpft seinen Mantel auf und holt das klingelnde Handy hervor. Kein Name auf dem Display, nur eine Nummer – im Telefonbuch hat er keine Kontakte eingetragen –, aber er weiß genau, wer da anruft. Aus reinem Reflex schaut er über seine Schulter, bevor er antwortet.

»Ja, hallo«, sagt er und geht auf das U-Bahn-Schild zu.

»Wer war das?«

Nadezhda sieht der leicht vornübergebeugten Gestalt nach, die über den Campus Richtung U-Bahn geht. Auch Neas Blick folgt Roger Forsén. Sein Mantel flattert hinter ihm, von Weitem sieht er älter aus als der Mann mit den neugierigen blauen Augen, dem sie gerade die Hand geschüttelt hat.

»Er ist von der Polizei«, antwortet Nea und dreht sich zu Nadezhda um. »Netter Kerl.«

»Polizei? Was wollte er denn?«

»Er ermittelt in einem Fall von Kunstfälschung und hat sich in den Kopf gesetzt, ich könnte ihm dabei irgendwie behilflich sein.«

»Du? Warum denn?«

»Sie haben einen vermeintlichen Botkin gefunden.«

Nadezhda mustert Nea.

»Nun ja, Künstler, denen es nicht gelingt, Interesse für ihre eigenen Werke zu wecken, nutzen eben manchmal die Gelegenheit, sich die Werke namhafter Künstler zu eigen zu machen. Leicht verdientes Geld für diejenigen, die ausreichend talentiert sind und keine Moral haben.«