Zwielicht. Verrat. - Tiina Nevala - E-Book
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Zwielicht. Verrat. E-Book

Tiina Nevala

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Beschreibung

Nea war Kunstdozentin in Stockholm, Nadezhda ihre begabteste Studentin. Bis die beiden, unverschuldet in Geldnöten, das Metier wechseln mussten und feststellten: Sie sind begnadete Kunstfälscherinnen. Durch den Verkauf zweier Bilder, die angeblich vom berühmten russischen Maler Ivan Botkin stammen, ist es ihnen fürs Erste gelungen, dem Zorn ihrer Gläubiger zu entgehen und ihre Familien zu schützen. Nun planen sie ihren bisher größten Coup, der sie von Stockholm nach London führen soll. Dabei ist ihnen nicht nur die Polizei gefährlich dicht auf den Fersen: Sie haben sich auch Feinde bis in die Moskauer Unterwelt gemacht. Und die verfolgen jeden Schritt, den sie tun – denn sie müssen die beiden Frauen aufhalten, koste es, was es wolle … Mitreißend und temporeich erzählen Nevala & Karlsson von Kunstfälschung, Erpressung und dunklen Geheimnissen. Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen, die gezwungen sind, sich auf Abwege zu begeben, um in einer Welt voller Abgründe zu bestehen. So spannend, dass man nicht mehr aufhören kann zu lesen! Die Kunstfälscherinnen-Reihe: Band 1: Dämmerung. Falsch. Band 2: Zwielicht. Verrat. Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 480

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Nea war Kunstdozentin in Stockholm, Nadezhda ihre begabteste Studentin. Bis die beiden, unverschuldet in Geldnöten, das Metier wechseln mussten und feststellten: Sie sind begnadete Kunstfälscherinnen. Durch den Verkauf zweier Bilder, die angeblich vom berühmten russischen Maler Ivan Botkin stammen, ist es ihnen fürs Erste gelungen, dem Zorn ihrer Gläubiger zu entgehen und ihre Familien zu schützen.

Nun planen sie ihren bisher größten Coup, der sie von Stockholm nach London führen soll. Dabei ist ihnen nicht nur die Polizei gefährlich dicht auf den Fersen: Sie haben sich auch Feinde bis in die Moskauer Unterwelt gemacht. Und die verfolgen jeden Schritt, den sie tun – denn sie müssen die beiden Frauen aufhalten, koste es, was es wolle …

Mitreißend und temporeich erzählen Nevala & Karlsson von Kunstfälschung, Erpressung und dunklen Geheimnissen. Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen, die gezwungen sind, sich auf Abwege zu begeben, um in einer Welt voller Abgründe zu bestehen. So spannend, dass man nicht mehr aufhören kann zu lesen!

Autorenfoto: © Anna-Lena Ahlström

Tiina Nevala und Henrik Karlsson arbeiten beide in der schwedischen Verlagsbranche. Bei DuMont erschien bereits der erste Band der Trilogie um die Kunstfälscherinnen Nea Hallgren und Nadezhda Volkova ›Dämmerung. Falsch.‹ (2022). Die beiden Autoren leben in Gustavsberg in der Nähe von Stockholm.

Karoline Hippe, aufgewachsen an der Ostseeküste, studierte u.a. Skandinavistik und Anglistik in Leipzig und Berlin. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen und Englischen, u.a. zuletzt Heidi Furre, Heidi Sævareid, Lotta Elstad und Anne Mette Hancock.

Nevala & Karlsson

ZWIELICHT.VERRAT.

Ein Stockholm-Krimi

Aus dem Schwedischenvon Karoline Hippe

Von Nevala & Karlsson ist bei DuMont außerdem erschienen:

Dämmerung. Falsch.

Deutsche Erstausgabe

eBook 2023

DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

© Lou Berg 2022

Published by agreement with Hedlund Agency.

Die schwedische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

›Och skuggan faller‹ bei Piratförlaget, Stockholm.

© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Übersetzung: Karoline Hippe

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: Haus © Nathaniel Shuman/unsplash;

grüne und blaue Farbe pastös: © Elen11/istock by Getty Images

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8274-8

www.dumont-buchverlag.de

ZWIELICHT.VERRAT.

Ein lautes Rascheln durchbricht die Stille im Raum. Der Mann mit dem Pferdeschwanz, der vor dem verschlossenen Safe hockt, blickt sich genervt über die Schulter. Dmitri Bulgakov bleibt sofort stehen und hebt entschuldigend die Hände. Er schaut auf die blauen Überschuhe aus Plastik hinab, die er über seine makellos weißen Adidas gezogen hat. Der Safe ist das Letzte, was ihnen noch bleibt, den Rest des Hauses haben sie bereits systematisch durchsucht, ohne Erfolg. Bulgakov hegt wenig Hoffnung, dass sich der Tresor als Schatzkammer entpuppt. Olof Wallner ist seit drei Monaten wie vom Erdboden verschluckt. Keinerlei Hinweise, nichts, was darauf schließen lässt, wohin er verschwunden sein könnte. Die Frage nach dem Warum ist vermutlich nicht so schwer zu beantworten.

Das Gemälde ist genauso wenig auffindbar.

Bulgakov umrundet den Schreibtisch, durchkämmt dessen Inhalt, dann tritt er an das Fenster mit Blick in den Garten. Scheißt drauf, dass diese bescheuerten Plastiküberzieher, die sie in diesem Land zu lieben scheinen, an seinen Füßen rascheln, scheißt auf den Typ am Safe, der ihm schon wieder einen mahnenden Blick zuwirft. Der Pferdeschwanz mag ein Experte für diese Art des diskreten Eindringens sein, aber Bulgakov ist hier derjenige, der die Operation leitet.

Ein Mähroboter fährt frustrierend langsam über den Rasen und ändert sofort die Richtung, wenn ihm ein Apfelbaum in die Quere kommt. Das erklärt, warum der Garten nicht zugewuchert ist.

Im Haus deutet nichts darauf hin, dass hier in den letzten Monaten irgendjemand seinen Fuß hineingesetzt hat. In der Spüle stand eine Kaffeetasse, an deren Boden der Kaffeesatz festgetrocknet war, eine dicke dunkelbraune Kruste. Der Kühlschrank ist im Grunde leer. Eine geöffnete Packung Magermilch mit Mindesthaltbarkeitsdatum Anfang Juni verrät, dass Olof Wallners Flucht aus der Villa wahrscheinlich nicht geplant war. Ansonsten gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er übereilt aufgebrochen ist. Ganz im Gegenteil, alles ist in tadelloser Ordnung. Reinlich. Vielleicht sieht es bei Wallner immer so aus. Ärgerlicherweise ist Bulgakov noch nie zuvor bei Wallner gewesen, ist nicht auf die Idee gekommen, dass so ein Besuch mal nützlich sein könnte.

Auf dem Fensterbrett stehen keine Zimmerpflanzen, nur eine hohe, unerwartet schwere Glasvase. Oder vielleicht ist es eine Skulptur. Bulgakov kann sich nicht recht vorstellen, wie man dort Blumen hineinstellen soll. Er wiegt das bunte Glasobjekt in der Hand, sieht dem Rasenmäher nach, der sich seinen Weg über das Gelände bahnt.

Der Pferdeschwanz murmelt etwas, und die Tür zum Safe springt auf. Bulgakov eilt herbei, stellt die Vase achtlos auf dem Schreibtisch ab.

Der Mann tritt zur Seite, um für Bulgakov Platz zu machen. Der Safe ist zwar groß genug, dass man ein Gemälde in ihm aufbewahren könnte, aber er enthält ebenso wenig wie der Kühlschrank: einen Aktenordner mit irgendwelchen Verträgen, eine Rolex und eine Breitling in Schatullen, Olof Wallners Pass. Falls er das Land verlassen hat, dann hat er dies unter einer anderen Identität getan, was Bulgakov nicht überraschen würde. Zwar hat er schon häufiger an Olof Wallners Kompetenz gezweifelt, aber er ist kaum so dumm, dass er unter richtigem Namen untertauchen würde. Nicht, wenn er mit dem Gemälde verschwindet, das für Bulgakovs Arbeitgeber in Moskau offensichtlich unersetzlich ist.

So oder so ist es erstaunlich, dass Olof Wallner mutig genug ist, sie zu hintergehen. Er weiß, mit wem er es zu tun hat. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass Gier den Selbsterhaltungsinstinkt übertrumpft.

Bulgakov nimmt den Aktenordner an sich, lässt aber die Uhren und den Pass im Safe. Er befiehlt dem Pferdeschwanz, ihn wieder zu verschließen, und lässt sich in Wallners Bürostuhl sinken. Das Leder knarzt. Der Pferdeschwanz sieht ihn fragend an.

»Dreh mal eine Runde, vergewissere dich, dass wir keine Spuren hinterlassen haben.«

Der Mann lässt ihn allein im Büro zurück. Bulgakov schließt die Augen.

Er kann sich gut vorstellen, was man in Moskau sagen wird. Die Stimmung ist in den letzten Monaten immer gereizter geworden, aber es ist ihm bisher gelungen, alle davon zu überzeugen, dass er die Situation im Griff hat. Er weiß, dass Moskaus Geduld am Ende ist. Und er weiß, dass die Verantwortung für Olof Wallner bei ihm liegt.

Jemand muss für die Lage, in der sie sich jetzt befinden, geradestehen. So funktioniert das nun mal. Diesmal sieht es so aus, als müsse Bulgakov höchstpersönlich diese Sache ausbaden, auch wenn er gegenüber seinen Vorgesetzten immer wieder Zweifel an Olof Wallners Zuverlässigkeit geäußert hat. Seine Vorgesetzten haben sich das angehört, haben entschieden, die schlechten Vorzeichen zu ignorieren, und jetzt werden sie natürlich völlig vergessen haben, dass er, Bulgakov, das Thema überhaupt angesprochen hat. Die Frage ist nur, wie viel Zeit er bekommt, um Wallner und das verdammte Gemälde, das er ihm anvertraut hat, zu finden.

Er steht auf, reißt die Glasvase vom Schreibtisch und knallt sie mit voller Wucht gegen die Wand. Es macht überraschend wenig Lärm, als sie zerbricht und die tausend Glasscherben sich wie ein Fächer auf dem Eichenboden ausbreiten. Reglos steht er da, wie hypnotisiert von dem Glitzern, bis der Mann mit dem Pferdeschwanz seinen Kopf zur Tür hereinsteckt. Mit ausdruckslosem Gesicht sieht er Bulgakov an, entdeckt dann die Scherben auf dem Boden und schüttelt den Kopf.

Das Glas knirscht unter Bulgakovs blauen Überschuhen, als er den Raum verlässt.

EINS

1

Der Pistolenschuss reißt Nea aus dem Schlaf. Sie spürt, wie der Rückstoß durch ihren Arm zuckt, bis in die Fingerspitzen, hört das Echo zwischen den Betonwänden. Olof Wallner sinkt leblos zu Boden. Er sieht überrascht aus. Blut fließt über den Beton, langsam und dick wie Farbe. Sie tastet nach seinem Puls. Erschrocken schlägt sie die Augen auf.

Immer wieder derselbe Traum. Sie kann sogar noch seine warme Haut an ihren Fingerspitzen fühlen.

Ihr läuft der Schweiß, ihr Herz rast, und der Atem geht schwer. Das Echo des Schusses hallt in ihrem Kopf wider, aber in der Wohnung ist es still. Sie reißt sich die Bettdecke vom Leib und schwingt die Beine aus dem Bett. Ihre Füße berühren das knarrende Parkett. Das Licht, das zwischen den Lücken des Verdunklungsvorhangs ins Zimmer dringt, ist gleißend hell, sie blinzelt, schließt die Augen jedoch nicht. Sie möchte die Bilder nicht noch einmal sehen, die sich hinter den geschlossenen Augenlidern wie ein Film abspulen. Ihr Gehirn braucht ein paar Sekunden, um zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden, zwischen dem blutbefleckten Betonboden des Ateliers und dem kühlen Holzboden unter ihren nackten Füßen. Aber ihr Körper ist langsamer als ihr Gehirn, er verweilt in der Angst, der Panik, der Wut, dem Adrenalin. Sie wird noch die ganzen nächsten Stunden lang das Zittern unterdrücken müssen.

Als sie die Tür zur Toilette knarren und dann ins Schloss fallen hört, steht sie auf und zieht sich die karierte Pyjamahose und ein T-Shirt über. Sie weiß nicht, ob sie eine oder dreißig Minuten auf der Bettkante gesessen hat. Auf jeden Fall hat sich ihr Puls wieder beruhigt. Der Blick, der ihr im Spiegel über der Kommode begegnet, ist gefasst. Das hat sie lange geübt, sie ist selbst überrascht, wie gut sie die Fassade aufrechterhalten kann. Das T-Shirt hat Nea an ihrem letzten Tag an der Kunstakademie von ihrer Kollegin Teija bekommen, es trägt den Aufdruck: Head high and fuck ’em all.

Ella steht in der Küche und starrt auf den zisselnden Wasserkocher. Sie ist bereits angezogen und hat es sogar schon geschafft, ihre neue Foundation mit mittlerer Deckkraft aufzutragen. Ohne das restliche Make-up sieht ihr Gesicht aus wie eine nackte Leinwand. Der Küchentisch ist schon für das Frühstück gedeckt: ein schief abgehobelter Käseblock, eine Tüte Saft, ein halbes Stück Butter und eine Packung dunkles finnisches Roggenbrot, das einzige Brot, das sie alle mögen. Nea legt eine Hand auf die Hüfte ihrer Tochter, als sie sich auf dem Weg zum Küchentisch an ihr vorbeischlängelt.

»Guten Morgen«, sagt sie.

»Mmh«, erwidert Ella nur, im selben Moment beginnt das Wasser zu kochen. Sie gießt es in eine Kanne mit drei Beuteln Earl Grey, stellt sie mitten auf den Tisch und setzt sich Nea gegenüber.

»Hast du gut geschlafen?«

»Mmh.«

Ella faltet die Tageszeitung auseinander. Sie war noch nie für morgendliche Gespräche am Frühstückstisch zu haben.

Nick schlurft barfuß in die Küche, er trägt Jeans und ein weißes T-Shirt, die Haare stehen ihm zu Berge. Er lässt sich neben Nea auf einen Stuhl fallen, greift schweigend nach dem Brot.

Ella sieht nicht einmal auf.

»Guten Morgen«, sagt Nea.

Nick brummelt eine Antwort, dann nimmt er sich die Butter. Extra gesalzen, so wie er es am liebsten mag.

Sie frühstücken schweigend. Nea hat nichts dagegen einzuwenden. Sie sieht ihre Kinder an und schafft es, die Albtraumbilder in ihrem Kopf Stück für Stück zurückzudrängen, die Panik in ihrer Brust zu unterdrücken. Alles, was sie getan hat, war letztendlich für die beiden, sie würde rückblickend nichts anders machen. Die Albträume sind der Preis, den sie dafür zahlen muss.

Ella schaut von der Zeitung auf.

»Was ist?«, fragt sie.

»Nichts.«

»Du starrst mich an.«

»Nein, ich sehe dich ganz einfach an. Hübsch bist du.«

»Hör auf damit. Das ist mega creepy.«

»Ich werde euch vermissen, wenn ihr die Woche bei Papa verbringt«, sagt Nea. »Vor allem eure Morgenmuffeligkeit.«

»Ist ja kein Wunder, dass man schlechte Laune kriegt, wenn man so was hier lesen muss.«

Ella hält ihr die Zeitung hin. Drei begeistert lächelnde Parteichefs nebeneinander. Der blaubraune Außenrand.

»Die schon wieder.«

»Ja. Das ist eine Katastrophe.«

»Klar, aber sie sind nicht an der Macht, und es ist noch ein Jahr bis zur Wahl.«

Nea muss sich eingestehen, dass sie die Sache nicht so sehr bewegt, wie sie es sollte. Nicht so wie Ella, tief und mit echter Verzweiflung. Noch vor einem Jahr hätte sie selbst wahrscheinlich genauso heftig reagiert. Doch bei allem, was in den letzten Monaten passiert ist, nehmen die Dinge, die ihre eigene Existenz nicht direkt gefährden, eine vage Gestalt an. Ohne Schärfe, ohne Konturen, ohne klar erkennbare Formen.

»Scheißnazis«, sagt Nick neben ihr nüchtern und gießt sich ein Glas Orangensaft ein.

»Immerhin damit hast du recht«, sagt Ella, faltet achtlos die Zeitung zusammen und steht auf. Nick starrt sie überrascht an.

»Hä? Womit habe ich denn nicht recht?«

Ella ist offenbar noch nicht zu alt dafür, ihrem jüngeren Bruder die Zunge auszustrecken, ehe sie aus der Küche rauscht.

»Telefonieren wir heute Abend?«, ruft Nea ihr noch nach.

»Ja, ja«, ist Ellas gedämpfte Stimme aus dem Wohnzimmer zu hören, dann fällt die Tür zu ihrem Zimmer ins Schloss.

Nea sieht Nick an, er erwidert ihren Blick.

»Du hättest dir niemals Teenager anschaffen sollen, Mama«, sagt er.

Ein befreiendes Lachen entfährt Nea. Sie wuschelt ihm durchs Haar.

***

Nadezhda ist schon da, als Nea das Atelier betritt. Sie hockt vor einer der Staffeleien vor einer Leinwand, die Arme um die Knie geschlungen.

»Was machst du?«, fragt Nea und schließt die Tür. Sie legt die Sicherheitskette vor, die sie haben anbringen lassen.

Nadezhda steht auf, dehnt sich, dreht ihren Oberkörper erst nach links, dann nach rechts.

»Wie findest du das?«, fragt sie und zeigt auf das Gemälde. Es ist eines ihrer eigenen, keine Fälschung.

»So wie gestern«, erwidert Nea. »Es gefällt mir.«

Nadezhda antwortet nicht und lässt den Blick durch den Raum schweifen. Sie haben den größten Teil des Atelierbodens mit Orientteppichen bedeckt, die sie in Secondhandläden gefunden haben. Der größte, ein persischer Hamadan, liegt über der Stelle, wo der Betonboden mit Olof Wallners Blut befleckt war.

Nea gießt sich eine Tasse Kaffee ein, dann betrachtet sie Nadezhdas Malerei genauer.

»Es ist fertig, würde ich sagen.«

Nadezhda verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, geht hinüber und öffnet eines der hohen Fenster.

»Es wird echt heiß hier drin, wenn der da an ist.«

Mit einem Kopfnicken deutet sie auf den Trockenschrank, der in einer Ecke des Ateliers dumpf vor sich hin surrt. Sie haben ihn zu einem Spottpreis auf eBay erstanden.

»Hast du da gerade einen Botkin drin?«, fragt Nea.

»Zwei. Den einen, den du morgen mitnehmen willst, und einen neuen, den ich gestern Abend noch angefangen habe.«

Nea dreht sich zur Leinwand auf der Staffelei um.

»Lass das hier eine Weile ruhen«, sagt sie und trinkt einen ersten Schluck von ihrem Kaffee. »Stell es erst einmal weg und guck in ein paar Wochen, wie du dich damit fühlst. Es hat ja keine Eile.«

»Ja, wir werden sehen.«

Nadezhda nimmt sich eine Cola aus dem Kühlschrank, setzt sich an den runden Tisch aus Kiefernholz, den sie weinrot gestrichen haben, holt ihr Handy aus der Tasche und beginnt zu scrollen. Sie lächelt vor sich hin und beginnt zu tippen.

Nea setzt sich ihr gegenüber.

»Ja, das Leben«, sagt sie, seufzt tief und lässt sich in ihrem Stuhl zurücksinken.

Nadezhda legt das Handy weg.

»Was ist los? Anstrengende Nacht? Hast du schlecht geträumt?«

»Ja. Aber um ehrlich zu sein, fühlt es sich auch ziemlich übel an, in der Wirklichkeit aufzuwachen.«

»In der Wirklichkeit?«

»Diese ganze Sache mit Roger.«

»Verstehe. Aber angesichts der Sache, die sich hier zugetragen hat, haben wir keine andere Wahl. Wenn wir nicht in seine Bedingungen eingewilligt hätten, würden wir jetzt wahrscheinlich in Hinseholm in getrennten Zellen sitzen und Miniaturflickenteppiche weben.«

Nadezhda sieht sich um, als ließe sie die Ereignisse, die sich dort vor ein paar Monaten abgespielt haben, noch einmal vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Sie selbst gefesselt an einem der Rohre an der Wand. Nea und Wallner, wie sie übereinander herfielen. Wallner, der durch die schiere Krümmung eines Zeigefingers innerhalb weniger Sekunden von einem äußerst lebendigen in einen äußerst toten Mann verwandelt wurde. Neas aufeinandergepresste Kiefer, als der Schuss im Atelier widerhallte. Roger, der im nächsten Augenblick hereinstürmte.

»Hinseberg«, berichtigt Nea. »Das weiß ich ja alles. Aber es nervt, dass er uns so auf die Pelle rückt.«

»Hast du ihn dir nicht sogar mal freiwillig auf die Pelle rücken lassen?«

»Haha.«

»Na, ist doch wahr.«

Nea geht zum Waschbecken und gießt sich ein Glas Wasser ein, das sie in einem Zug leert, als wäre Roger Forsén eine schlechte Mahlzeit, deren Geschmack sie sich von der Zunge spülen wollte. Nadezhda beobachtet sie, wie sie dort steht, und versucht, ihr Gesicht hinter dem Glas zu verbergen.

»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du ihn mit nach Hause genommen hast. Nach der Examensausstellung. Hätte nicht gedacht, dass das dein Typ ist.«

»Jetzt lass doch bitte das Thema!«

Nea stellt das Glas ab und setzt sich wieder, aber mit halb vom Tisch abgewandtem Stuhl, als wolle sie sich einen Fluchtweg offen halten.

»Ja, ja, aber was hast du denn eigentlich für ein Problem mit ihm? Es läuft doch alles ganz okay. Den Umständen entsprechend.«

Nadezhda knibbelt an ihrer bereits eingerissenen Nagelhaut herum.

»Ich weiß nicht. Er drängt sich hier rein und spielt sich auf. Ihm geht es nur darum, das Geld einzusacken. Geld, das uns zusteht, nicht ihm. Auch wenn er einen Haufen Kontakte hat.«

»Wir haben uns das Geld schließlich durch ehrliche harte Arbeit verdient«, ergänzt Nadezhda.

Nea setzt ein schiefes Grinsen auf, dann fährt sie fort.

»Er lässt uns nach seiner Pfeife tanzen, zieht die Fäden, damit wir seine Choreografie abspulen.«

»Und das passt dir nicht.«

»Er trägt nichts zu unserer Arbeit bei. Wir kriegen das auch ohne ihn hin.«

»Ach, komm schon. Er hat dich über Wallners Leiche stehen sehen, mit einer rauchenden Knarre in der Hand.«

»Aber vielleicht können wir ihn trotzdem loswerden.«

»Der kleinste Fehltritt, und er buchtet uns ein. Es gibt nur einen Weg, da durchzukommen: den Feind im Blick zu behalten. Wir haben keine andere Wahl.«

Nadezhda steht auf und geht zur Staffelei, an der sie bis eben gearbeitet hat. Das Motiv ist dasselbe, wie auf den Gemälden der Examensausstellung von vor einigen Monaten, ein unscheinbares Haus in einem zugewucherten Garten. Das Haus ist von der Zeit gezeichnet, der Garten eine regelrechte Wildnis. Das Szenario ruht in einem wunderbar warmen Licht. Nea kann sich nicht erklären, wie Nadezhda dieses Licht erschaffen hat.

»Hast du dir mal überlegt, dir eine Woche freizunehmen?«, fragt Nadezhda mit dem Rücken zu Nea. »Du sprichst doch immer davon, nach Sizilien zu reisen.«

Sie dreht sich um und sieht Nea an.

»Ich habe doch gerade erst Urlaub mit Nick und Ella gemacht, das weißt du doch. Das war vor ein paar Wochen.«

»Du siehst fertig aus.«

Nea lacht laut auf.

»Immerhin bist du ehrlich.«

Auf dem Tisch vibriert Nadezhdas Handy. Sie wirft einen Blick auf das Display, lässt es aber unberührt.

»Ich habe ein bisschen was über posttraumatische Belastungsstörungen gelesen. Es würde mich nicht wundern, wenn du gerade darunter leidest. Albträume sind Teil der Diagnose.«

Nea winkt ab. Sie geht hinüber in ihren Teil des Ateliers, stellt die Kaffeetasse auf ihrem Werktisch ab und geht in die Hocke, um den Laptop aus dem Aktenschränkchen unter der Tischplatte zu kramen.

»Ernsthaft jetzt. Du solltest einen Termin beim Psychologen vereinbaren«, sagt Nadezhda.

Nea steht auf.

»Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du dir Sorgen machst, aber das brauchst du wirklich nicht. Ich habe heute Nacht einfach nicht gut geschlafen, weil ich bis spät in die Nacht mit Ella geredet habe, Teenagerprobleme, du weißt schon.«

Nadezhda will etwas erwidern, doch sie wird von einem Rasseln an der Tür unterbrochen, gefolgt von einem lauten Hämmern. Erschrocken drehen sie sich beide um, Nea fällt der Laptop beinahe aus der Hand. Ein gedämpftes Fluchen ist zu hören, während die Sicherheitskette klappert. Die beiden Frauen werfen sich einen Blick zu, und Nea sieht, dass Nadezhda genauso verängstigt ist wie sie.

»Wäre eine von euch mal so freundlich, mir aufzumachen?«, dringt Roger Forséns Stimme durch den Türspalt.

Nadezhda eilt zur Tür und hakt die Kette aus.

»Ihr seid ganz schön paranoid.« Diese Bemerkung ist wohl ein Versuch, witzig zu sein, aber es klingt mehr nach einem Vorwurf. Weder Nea noch Nadezhda gehen darauf ein.

»Gibts noch Kaffee?«, fragt Roger.

Ohne eine Antwort abzuwarten, geht er zur Küchenzeile und bedient sich.

»Was verschafft uns denn die Ehre?«, fragt Nea.

Sie gibt sich alle Mühe, lässig zu klingen, aber sie weicht seinem Blick aus. Achtet darauf, körperlichen Abstand zu halten. Der schwache Duft seines Parfums ruft ungewollte Bilder in ihr hervor.

»Tja, du«, erwidert Roger. »Man könnte dies den Tag der Abrechnung nennen.«

Er lässt sich am weinroten Tisch nieder und holt ein zusammengefaltetes Papier aus der Innentasche seines hellgrauen Leinenblazers, faltet es auseinander und schiebt es ihnen über den Tisch zu.

Nea und Nadezhda ziehen beide einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzen sich. Das Papier auf der Tischplatte ist kariert und aus einem Notizbuch herausgerissen worden. Nea versucht zu entziffern, was darauf geschrieben steht. Die Zahlen sind winzig.

»Hier ist der Verkaufspreis. Und hier sind die Gebühren des Auktionshauses«, erklärt Roger, beugt sich vor und zeigt auf die jeweiligen Zahlenreihen. Nea lehnt sich instinktiv in ihrem Stuhl zurück. Er sieht sie an, dann deutet er auf die nächste Reihe und die darunter.

»Das hier müssen wir bezahlen, um das Geld zu waschen. Und hier, unsere gemeinsamen Unkosten.«

Er wirft ihnen einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgen können.

»Mein Anteil. Nea. Nadezhda.«

Er reicht Nea den Zettel und lässt sich in den Holzstuhl sinken, der unter seinem Gewicht besorgniserregend knarrt.

»Ich rechne damit, dass das Geld Anfang nächster Woche auf eurem Konto sein wird.«

Nea studiert die Zahlen. Nadezhda hat ihre Aufmerksamkeit wieder zur Staffelei schweifen lassen.

»Da bleibt unterwegs ja einiges auf der Strecke«, bemerkt Nea, als sie endlich zu Roger aufschaut.

Er blickt verständnislos drein.

»So viel kostet das alles nun mal, und das haben wir die ganze Zeit gewusst. Das Gemälde ging sogar für mehr weg, als wir gehofft hatten.«

Der Trockenschrank gibt ein Plingen von sich, und das leise Brummen verstummt. Nadezhda steht auf, zerdrückt ihre Coladose. Das metallische Geräusch schneidet in ihren Ohren. Sie lässt die Dose auf den Tisch fallen und geht zum Trockenschrank, um sich ihre Bilder anzuschauen.

»Es gibt viele, die ein Stück vom Kuchen abhaben wollen«, sagt Roger. »Da können wir nichts machen. Die Gebühren der Auktionshäuser sind nun mal so hoch, wie sie sind. Und auch Geldwäsche kostet Geld. Denn ich nehme mal an, dass ihr Geld haben wollt, dass ihr auch benutzen könnt, und keinen Seesack voller Goldmünzen, den ihr im Schrank verstecken müsst so wie Pippi Langstrumpf?«

Ausdruckslos sieht Nea ihn an. Roger nimmt seine handgeschriebene Rechnung und beginnt, sie in kleine Stücke zu zerreißen. Sie dürfen keine Spuren hinterlassen.

»Am Ende gehen wir ein hohes Risiko ein – für einen ziemlich kleinen Gewinn«, sagt Nea. »Und wir machen die ganze Arbeit.«

Roger zuckt mit den Schultern.

»So hoch ist das Risiko gar nicht. Übrigens, morgen triffst du diese Russin aus der Moskauer Galerie.«

»Katerina Lebdeva«, fällt Nea ihm ins Wort.

»In dem Fall kommen wir ja dann schon mal um die Auktionsgebühren rum.«

»Dein Anteil übersteigt bei Weitem alle Gebühren«, bemerkt Nea. »Und wer wäscht denn überhaupt das Geld? Geht das nicht irgendwie billiger?«

Roger hält einen Moment inne und sieht sie an.

»Darum müsst ihr euch keine Gedanken machen.«

»Wie tröstlich. Warum?«

»Aus dem gleichen Grund, aus dem ihr nicht wisst, wer die Leichen von hier weggebracht hat und spurlos verschwinden ließ. Je weniger ihr wisst, desto besser. Um eurer selbst willen.«

Er sammelt die Papierschnipsel ein und steht auf, wirft sie in den Müllsack unter der Spüle. Nadezhda geht mit zwei Leinwänden, eine in jeder Hand, an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten. Sie stellt die Bilder auf zwei Staffeleien, neben ihr anderes Bild, das an der Luft trocknen soll.

»Woher sollen wir wissen, dass du dir das Geld nicht einfach direkt in deine eigene Tasche steckst?«, fragt Nea.

Roger lächelt sie nachsichtig an.

»Das könnt ihr nicht wissen. Ihr müsst mir einfach vertrauen. Du nimmst den Müll mit raus, wenn du nachher gehst, nicht wahr?«

»Selbstverständlich. Sind es dieselben Leute?«, hakt sie nach.

»Wer?«

»Sind es dieselben Leute, die sich um das Geld kümmern und … hier aufgeräumt haben?«

Roger schüttelt den Kopf, tut die ganze Frage ab.

»Wenn dir wirklich Sorgen bereitet, wie wenig unterm Strich für dich abfällt, gibt es eine einfache Möglichkeit, den Umsatz zu steigern.«

»Ach ja?«

Roger setzt sich wieder an den Tisch und stützt die Ellbogen auf die Tischplatte.

»Wir dringen in andere Gefilde vor.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, dass es vielleicht an der Zeit ist, in lukrativere Kunst zu investieren. In Werke, die mehr Geld generieren.«

»Das Thema haben wir bereits diskutiert. Die Risiken würden gleichermaßen steigen.«

»Das streite ich gar nicht ab. Aber das Entscheidende ist doch, dass wir haben, was wir brauchen, um Erfolge zu erzielen«, erwidert Roger und deutet mit einem Kopfnicken in Nadezhdas Richtung. »Man kann es auch so sehen«, fährt er fort. »Je mehr Deals wir machen, desto mehr setzen wir uns dem Risiko aus aufzufliegen. Wenn wir weniger, aber fettere Deals machen, reduzieren wir die Risiken auf eine Art.«

»Krieg ist Frieden«, sagt Nea. »Sklaverei ist Freiheit.«

Roger mustert sie skeptisch.

»Ich meine es ernst«, sagt er. »Ich sag ja nicht, dass wir plötzlich einen unentdeckten Rembrandt hervorzaubern sollen, aber ich finde, wir können uns höhere Ziele setzen. Auf jeden Fall können wir nicht unendlich viele Botkins auf den Markt bringen, bevor jemand Verdacht schöpft.«

»Klingt so, als hättest du schon einen Namen im Kopf«, sagt Nea.

Rogers Gesicht verzieht sich zu einem zufriedenen Grinsen.

»Delphine Moreau.«

***

Nea sitzt an ihrem Werktisch im Atelier und blinzelt auf den Bildschirm ihres Laptops. Seit Roger gegangen ist, sitzt sie dort, klickt sich durch Bilder von Moreaus Kunstwerken und taucht in die Biografie der Künstlerin ein.

»Delphine Moreau. Ach, ich weiß nicht«, sagt sie. Sie greift nach ihrer Kaffeetasse. Sie ist leer. »Hältst du das für eine gute Idee? Roger hat wahrscheinlich recht, dass es nicht funktioniert, bis in alle Ewigkeiten Botkins zu machen. Aber das hier … Ist das Risiko nicht zu hoch?«

Sie schaut über ihre Schulter, als Nadezhda nicht reagiert. Mit dem Rücken zur Wand sitzt sie auf dem Boden und ist in ihr Handy vertieft.

Nea dreht sich wieder zu ihrem Laptop um.

Delphine Moreau, französische Malerin, geboren 1906 in Paris, Ausbildung an der Académie Colarossi 1924–1928. Unverheiratet. Ihren Durchbruch feierte sie im Jahre 1929 mit dem Gemälde Le Combat, das Revolutionärinnen in Militäruniformen auf den Straßen von Paris zeigt, gemalt in einer Art Modemagazinästhetik. Die Galerie L’Homme Rose, die das Gemälde kaufte, war eine der renommiertesten in Europa, und nachdem mehrere ausländische Zeitungen über die Ausstellung berichteten, zog sie Reisende und Kunstliebhaber aus aller Welt an. Delphine Moreau starb 1947 an Krebs, im Alter von nur 41Jahren.

Nea steht auf und tritt ans Fenster. Eine junge Frau in rosa Trainingsanzug überquert den Parkplatz mit einer Papiertüte in der einen und einer Babyschale in der anderen Hand. Mit der für Eltern von Kleinkindern typischen Effizienz verstaut sie sowohl die Tüte als auch das Baby im Auto und parkt geschmeidig rückwärts aus der Parklücke aus.

Rogers Idee ist nicht völlig abwegig, Delphine Moreau könnte definitiv funktionieren. Der Hype um sie ist im Moment groß genug, die Gemälde treffen den Zeitgeist, was sie zu geeigneten Einrichtungsgegenständen für Leute mit dem nötigen Kleingeld macht. Das Interesse an ihr hielt sich bis vor Kurzem in Grenzen – bis ein bekannter amerikanischer Schauspieler auf Instagram einen Einblick in sein Zuhause in Beverly Hills gab und unter anderem auf einen »Auktionsfund« über seinem Doppelbett hinwies. Und vor allem gibt es kein verifiziertes Werkverzeichnis. Es wäre alles andere als unmöglich, dem Markt ein vermeintlich unbekanntes Werk der Künstlerin vorzustellen, es bräuchte nur eine gute Hintergrundgeschichte, einige gefälschte Dokumente, die die Provenienz belegen, und ein gutes Gemälde. Letzteres stellt für Nadezhda das geringste Problem dar.

Bei den zuletzt registrierten Preisen könnte ein Verkauf mehr als zehn Millionen einbringen.

Eine unglaubliche Summe. Aber neue, größere Risiken einzugehen, wo sie doch ein bereits funktionierendes Geschäft haben … Außerdem stört es sie, dass Roger das Kommando übernommen hat. Was sie und Nadezhda zuallererst brauchen, ist ein Ausweg aus der erzwungenen Kooperation. Sie müssen ihre Geschäfte wieder in die eigene Hand nehmen. Geschäfte, bei denen Roger Forsén kein Mitspracherecht mehr hat und sie zu zweit über ihre gemeinsame Zukunft entscheiden, falls es eine gemeinsame Zukunft geben wird. Dieser Filip scheint Einfluss auf Nadezhda zu nehmen. Früher waren sie nicht mehr als Kommilitonen, jetzt scheinen sie ein Paar zu sein. Nicht dass Nadezhda besonders ausschweifend über ihr Privatleben berichtet.

Nea geht zurück zum Computer, ihre Kaffeetasse ist immer noch leer. Als sie sich umdreht, sieht sie, dass Nadezhda ein paar Dinge zusammenpackt.

»Willst du schon gehen?«

»Ich bin mit Filip verabredet.«

»Okay. Aber wir müssten noch mal sprechen wegen Rogers Vorschlag. Delphine Moreau.«

»Auf jeden Fall. Aber nicht heute oder morgen, da habe ich etwas anderes vor. Übermorgen bin ich wieder hier.«

»Seid ihr beide jetzt zusammen, oder was?«

Neas Frage lässt Nadezhda zusammenzucken. Sie wird rot.

»Das haben wir noch nicht so genau definiert.«

»Okay.«

Nadezhda sieht sich an ihrem Arbeitsplatz um, als hätte sie Angst, etwas vergessen zu haben.

»Aber dann reden wir übermorgen?«, fragt Nea.

Nadezhda hält inne.

»Ja«, antwortet sie und geht Richtung Tür. »Viel Glück mit dieser Russin.«

Als die Tür hinter Nadezhda ins Schloss fällt und Nea allein im Atelier zurückbleibt, wendet sie sich wieder Moreaus Gemälden zu. Nadezhda könnte das hinkriegen. Sehr gut sogar.

Aber sich noch weiter in Rogers Fänge zu begeben, ist keine Option.

***

»Monsieur Forsén! How are you? It’s been a long time.«

Die englischen Worte, die aus dem Hörer strömen, haben einen deutlichen französischen Akzent, die Stimme klingt aufrichtig glücklich und fast überrascht, als hätte Roger angerufen und nicht umgekehrt. Roger steckt den Schlüssel in das Sicherheitsschloss und öffnet die Tür.

»Hervé! Bei mir ist alles in Ordnung, wie geht es Ihnen?«

Roger betritt die Wohnung, sieht das Gesicht des französischen Immobilienmaklers vor sich. Die dunkelgrünen Augen, das spitze, gepflegt stoppelige Kinn. Ein breites Lächeln, das eine schiefe Lücke zwischen den Vorderzähnen offenbart. Nicht viel älter als dreißig.

»Ach, wissen Sie, ich sitze hier mit den Füßen auf dem Schreibtisch und schaue aufs Mittelmeer. Keine Wolke am Himmel. Die Leute packen ihre Sachen zusammen, für einen Tag unten am Strand, die Außenbereiche der Restaurants und Cafés sind voll.«

Hervé macht eine kurze Pause. Roger schaltet die Flurlampe ein, zieht seine Schuhe aus und streift sich die Jacke ab.

»Wie ist es in Stockholm?«, fährt Hervé fort. »Hat es schon angefangen zu schneien?«

Roger lässt sich in den Wohnzimmersessel sinken.

»Es ist September«, sagt er. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«

»Und ich habe mir schon vorgestellt, Sie wären draußen im Garten und machen Schneeengel.«

Roger lacht. Es fühlt sich ungewohnt an, und er fragt sich, wie lange es her ist, dass er das letzte Mal gelacht hat. Offenbar ist dafür der Anruf eines Maklers aus Nizza erforderlich.

»Ja, es ist bald Zeit, die Winterstiefel hervorzuholen«, erwidert er.

»Es sei denn, ich kann Sie retten. Sitzen Sie an Ihrem Computer? Ich schicke Ihnen gleich mal einen Link per E-Mail. Die Antwort auf all Ihre Gebete.«

»Na endlich«, sagt Roger, ohne sich die Mühe zu machen, aus dem Sessel aufzustehen. »Ich werde mir das heute Abend mal ansehen, Hervé. Passt im Moment eher schlecht.«

»Verstehe, verstehe. Aber ich glaube wirklich, das ist etwas, was Sie gesehen haben müssen, wirklich eine einzigartige Gelegenheit.«

»Sagt ihr Makler das nicht immer?«

»Mehrmals am Tag«, lacht Hervé. »Aber wissen Sie, ein paarmal im Jahr meinen wir es ernst.«

»Okay. Worum handelt es sich?«

»Drei Schlafzimmer, ausladendes Wohnzimmer und Küche. Zwei Badezimmer, neu renoviert. Relativ kleiner Garten, pflegeleicht, aber mit Pool. Und von der Dachterrasse: Blick auf das Mittelmeer.«

»Klingt sehr verlockend.«

»Außerdem: zwei Zitronenbäume und ein Feigenbaum auf dem Grundstück. Ich habe sofort gedacht, dass es das Haus für Monsieur Forsén ist. Deshalb rufe ich an und schicke Ihnen nicht nur eine E-Mail. Das müssen Sie sich ansehen. Am liebsten vor Ort, ich meine es Ernst. Ein Diamant.«

»Wo liegt er denn, dieser Diamant?«

»In Villefranche-sur-Mer.«

Roger hat den Namen schon einmal gehört, kann sich aber nicht daran erinnern, jemals dort gewesen zu sein.

»Nur einen Steinwurf von Nizza entfernt«, fügt Hervé hinzu. »Dieses Haus wird in Rekordschnelle vom Markt sein.«

»Und wie viel soll es kosten?«, fragt Roger und schließt die Augen, wohl wissend, dass Träume ihren Preis haben.

Die Zahl, die aus dem Hörer hervorploppt, ist so hoch, dass es ihm kurz einen Stich in die Magengrube versetzt, aber nicht so hoch, dass es fernab jeder Realität wäre, das Geld aufzutreiben, wenn alles nach Plan läuft. Zum Beispiel, wenn es ihm gelingt, Nadezhda zu überreden, sich an Delphine Moreau zu versuchen. Er sieht schon vor sich, wie er mit einem ausgefüllten Kündigungsformular in der Hand ins Büro seines Chefs marschiert, alles hinter sich lässt, frei ist und …

Er jagt den Gedanken davon, ehe er den Boden unter den Füßen verliert. Die Summe auf dem Konto in der Schweiz ist nicht hoch genug. Noch nicht.

»Das klingt fantastisch, Hervé. Ich schaue mir den Link mal an, den Sie mir geschickt haben. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, glaube ich, dass das Timing gerade nicht optimal ist.«

Ein kurzes Zögern am anderen Ende.

»Aber Sie suchen immer noch nach einer Immobilie hier im Süden?«

»Auf jeden Fall. Aber ich fürchte, dass ich frühestens in sechs Monaten die Möglichkeit haben werde, etwas zu kaufen. Vielleicht im Frühjahr.«

»Ah ja. Wie schade. Dann wird Ihnen dieses Objekt hier durch die Lappen gehen. Aber ich verstehe. Es werden neue Häuser auf den Markt kommen. Es kommen ständig neue Häuser. Soll ich weiter die Augen für Sie offen halten?«

»Unbedingt. Das weiß ich sehr zu schätzen. Eines Tages wird das richtige Haus zum richtigen Zeitpunkt kommen, und ich werde zuschlagen.«

»Ich freue mich darauf. Und dann werde ich mich um eine Flasche Champagner kümmern. Bis dahin wünsche ich Ihnen viel Spaß im Schnee.«

Roger lacht leise in sich hinein.

»Ich wünsche Ihnen auch alles Gute, Hervé. Wir hören uns.«

2

»Viel Glück«, sagt Filip und reicht Nadezhda die beiden in grobes Papier gewickelten Gemälde. »Sie werden dich lieben.«

Nadezhda nimmt die Gemälde entgegen und versucht, sich nicht vom Gebäude der Galleri Pruit einschüchtern zu lassen. Selbst bei Tageslicht strömt ein helles weißes Licht durch die Glasfronten nach außen. Dass etwas, wonach man so lange gestrebt hat, gleichzeitig so angsteinflößend sein kann. Die Menschen in dieser Galerie können sie zu einer echten Künstlerin machen, zu einer Person, die tatsächlich von ihrer Kunst leben kann. In all den Jahren, in denen sie malt, hat sie nie ernsthaft daran geglaubt, dass ihr das jemals passieren könnte. Auch nicht, als sie an der Kunstakademie angenommen wurde und Nea kennenlernte, die ihr immer versicherte, dass sie es schaffen würde.

»Allein schon ein Treffen mit denen ist ein echter Erfolg«, fährt Filip fort. »An Orte wie diesen laden sie nicht einfach irgendwen ein.«

»Falls du gerade versuchst, mir die Nervosität zu nehmen, machst du echt einen beschissenen Job.«

Doch so, wie Filip sie anlächelt, fühlt sie sich wie die wichtigste Person auf dieser Welt. Sie wünscht sich oft, für immer in diesem Gefühl verweilen zu können, dem Gefühl, dass sie es wert ist. Es ist ihr in vielerlei Hinsicht unverständlich, was zwischen ihnen beiden entstanden ist, seit sie im vergangenen Frühling ihren Abschluss gemacht haben. Unverständlich, aber es fühlt sich absolut richtig an.

»Warte kurz«, sagt er, als sie schon einen Schritt auf die Tür zumacht. Er zückt die alte analoge Nikon-Kamera, die er immer bei sich trägt. »Ein Moment, der der Nachwelt erhalten bleiben soll. Die wenigen Sekunden, bevor Nadezhda Volkova ihren Durchbruch als Künstlerin feierte.«

Ehe sie reagieren kann, drückt er dreimal hintereinander auf den Auslöser.

»Perfekt.«

Sie kann nicht anders, sie muss grinsen.

Die Tür zur Galerie ist so schwer, dass sie zunächst glaubt, sie sei verschlossen. Erst als sie ihr ganzes Gewicht einsetzt und die Fersen fest gegen den Boden stemmt, schafft sie es, sie aufzuziehen. Drinnen ist alles weiß. Weiß und hell. Der Boden ist aus poliertem Beton. Die Wände sind kahl, aber in dem riesigen Raum verstreut stehen Sockel unterschiedlicher Größe, auf denen kleine Skulpturen ausgestellt sind. Nadezhdas Blick richtet sich automatisch auf den robusten Schreibtisch am anderen Ende des Raumes und auf den Mann und die Frau, die sich dort über etwas gebeugt haben. Nadezhda tritt einige leise Schritte in den Raum hinein, hinter ihr fällt die schwere Tür mit einem klaren metallischen Klicken ins Schloss. Das Geräusch lässt den Mann und die Frau aufblicken. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich ein Lächeln auf ihren Gesichtern abzeichnet. Sie kommen Nadezhda entgegen.

»Nadezhda Volkova?«, sagt der Mann. »Ich bin Tomas Pruit. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«

Nadezhda hatte mit einem Händedruck gerechnet, wird jedoch mit Luftküssen auf beide Wangen begrüßt. Tomas Pruit duftet nach Nadelwald.

»Nina«, stellt sich die Frau vor, und Nadezhda durchläuft abermals das Wangenkuss-Ritual. »Gleicher Nachname«, ergänzt Nina. »Wir sind verheiratet und betreiben die Galerie gemeinsam.«

»Beziehungsweise – Nina betreibt die Galerie, und ich treibe sie in den Wahnsinn«, wirft Tomas ein.

Nina verdreht die Augen. Nadezhda vermutet, es ist nicht das erste Mal, dass er diesen Witz macht.

»Kommen Sie«, sagt Nina und deutet mit einer Handbewegung Richtung Schreibtisch. »Wir freuen uns schon, einige Ihrer Werke zu begutachten.«

»Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen«, sagt Nadezhda.

»Aber selbstverständlich. Sie haben in diesem Frühjahr Ihren Abschluss an der Kunstakademie gemacht, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ich kann mich an Ihre Arbeiten von der Examensausstellung erinnern«, sagt Nina.

»Haben Sie seitdem etwas verkauft?«, erkundigt sich Tomas.

Nadezhda denkt an das Botkin-Gemälde, das an die Bukowskis ging, und an die, die Nea an die Moskauer Galerie verkauft hat.

»Nein, ich habe den Sommer damit verbracht, zu malen und mich ein bisschen zu sortieren.«

»Schlau«, erwidert Nina. »Kaffee? Tee? Wasser?«

»Ich nehme gern ein Glas Wasser.«

»Mit oder ohne Kohlensäure?«

»Mit, danke.«

Tomas räumt einen Stapel Papiere von dem schwarz gebeizten Eichenschreibtisch. Der Tisch ist größer als Nadezhdas Bett. Das Einzige, was jetzt noch darauf steht, ist ein zusammengeklapptes MacBook Air. Kein Stift. Kein Staubkorn, nicht eine einsame Büroklammer.

»Ich habe zwei Arbeiten mitgebracht«, sagt Nadezhda. »Und dann habe ich noch Fotografien von weiteren Gemälden auf meinem Computer.«

Sie stellt die beiden Leinwände ab und holt den Laptop aus ihrer Schultertasche. Während er hochfährt, zaubert Tomas zwei Staffeleien aus einem Raum links hinter dem Schreibtisch hervor, den Nadezhda bisher nicht bemerkt hat. Er stellt sie im Abstand von einem halben Meter vor die Wand, blinzelt dann hinauf an die Decke, zu den an Schienen montierten Lampen und rückt beide Staffeleien einen Fußbreit nach rechts.

»So. Bitte schön.«

Nadezhda entfaltet das Papier, in das die Bilder eingewickelt sind, und stellt sie auf die Staffeleien. Ihre Hände zittern, aber nicht so sehr, dass man es sieht, Gott sei Dank.

Sie tritt einen Schritt zurück und nimmt einen Schluck Mineralwasser aus dem Rotweinglas, das Nina ihr gereicht hat. Im Glas schwimmt eine halbe Zitronenscheibe. Tomas und Nina stehen vor den Staffeleien. Nina hat die Arme vor der Brust verschränkt, Tomas die Hände in den Taschen der dunkelgrauen Anzughose. In der Galerie ist es plötzlich ganz still. Draußen auf der Straße heult der Motor eines Autos auf. Nadezhda schaut hinaus. Filip schlendert auf dem Bürgersteig an den großen Fenstern vorbei, und Nadezhda wird gleich viel ruhiger.

»Wow«, entfährt es Nina, nachdem sie die Malereien eine Weile schweigend betrachtet hat. Sie hat Nadezhda den Rücken zugekehrt.

»Öl«, bemerkt Tomas und wirft Nadezhda einen flüchtigen Blick über die Schulter zu.

»Damit arbeite ich am liebsten«, sagt sie.

»Dazu haben heutzutage ja nicht mehr viele die nötige Geduld.«

Nadezhda kratzt sich am Arm.

»Ich habs nicht eilig.«

Tomas lacht laut auf.

»Schön, schön.«

»Ich liebe das linke«, sagt Nina. »Also, ich meine, beide Bilder sind wirklich stark. Aber das besonders. Man kann die Atmosphäre beinahe greifen. Die Wehmut.«

»Danke. Es ist auch eines meiner eigenen Favoriten.«

»Wer sind Ihre Vorbilder? Es ist sehr ungewöhnlich, muss ich sagen, dass eine junge Künstlerin realistisch malt, im Grunde fotografisch. Erinnert mich ein wenig an die Bilder von Zorn. Ihre technischen Fähigkeiten sind erstaunlich.«

Nadezhda hofft, dass die beiden nicht sehen, wie rot sie geworden ist. Aber weder Nina noch Tomas schauen in ihre Richtung.

»Ich weiß nicht«, antwortet Nadezhda. »Ich bewundere viele, die atmosphärisch malen.«

»Sie sagten, Sie hätten noch weitere Bilder auf Ihrem Computer dabei?«, fragt Tomas.

»Ja.«

Nadezhda öffnet die Bilder im Diashow-Modus, Tomas und Nina nehmen Platz. Nadezhda steckt die Hände in die Hosentaschen, um nicht an den Nägeln zu kauen, und sieht ihnen zu, wie sie schweigend ihre Arbeit begutachten.

Nina dreht sich zu ihr um.

»Das sind unglaublich tolle Arbeiten«, sagt sie mit sachlichem Tonfall.

»Meine Gattin hat recht«, pflichtet Tomas ihr bei und klickt vor und zurück.

»Könnten Sie uns diese Fotografien Ihrer Werke zukommen lassen?«, fragt Nina.

»Selbstverständlich. Ich kann sie Ihnen jetzt sofort mailen.«

»Wir haben über einiges nachzudenken, nicht wahr, Tomas?«

»In der Tat.«

»Wir nehmen jedes Jahr nur sehr wenige neue Künstler in unser Portfolio auf. Und um ehrlich zu sein, sehr selten völlig unbekannte Namen.«

»Verstehe«, erwidert Nadezhda.

»Aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Wir werden uns beraten.«

»Nur keine Eile«, sagt Nadezhda. »Ich schicke Ihnen die Bilder zu.«

»Perfekt. Könnten Sie uns auch die Gemälde einige Tage hierlassen?«, fragt Tomas. »Sie können sie abholen, wann immer es Ihnen passt.«

***

Ungefähr eine Minute später steht Nadezhda leicht desorientiert auf dem Bürgersteig, als wäre sie gerade aus einem Karussell gestiegen. Filip eilt auf sie zu.

»Das lief gut, oder?«

Nadezhda verzieht das Gesicht zu einer Grimasse.

»Was weiß ich. Aber denen schienen meine Arbeiten zu gefallen.«

In dem Moment, in dem sie die Worte ausspricht, wird ihr bewusst, dass sie wahr sind, und plötzlich fühlt sie sich unglaublich, wie berauscht vor Glück. Ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr empfunden hat, definitiv nicht, seitdem alles mit ihrem Stiefvater und den Fälschungen anfing. Vielleicht hatte Filip recht, als er sie fotografierte, ehe sie die Galerie betrat, vielleicht war das ein Wendepunkt.

»Hab ich doch gesagt«, sagt Filip, gibt ihr einen Kuss, auf den sie nicht vorbereitet ist, und schließt sie in seine Arme. »Das feiern wir mit einem Drink. Ich lad dich ein.«

Sie schaffen nur ein paar Schritte die Straße hinunter, dann klingelt Nadezhdas Handy. Eine unbekannte Nummer. Sie zögert, antwortet dann aber.

»Nadezhda Volkova? Yannis Gataki hier, von der Kriminalpolizei. Ich hoffe, ich störe nicht?«

Nadezhda schluckt.

»Nein, gar nicht.«

»Prima. Ich hätte ein paar Fragen zu Ihrem Vater.«

»Meinem Vater?«

Filip sieht sie verdutzt an. Sie entfernt sich einige Schritte von ihm.

»Olof Wallner. Er ist Ihr Stiefvater?«, fragt der Kommissar am anderen Ende der Leitung.

»Ja, das stimmt.«

»Wissen Sie, wie wir ihn erreichen können? Ich hoffe, dass er mir in einer Angelegenheit weiterhelfen kann.«

»Ich … Also, haben Sie es schon mal in seinem Büro probiert? Ich weiß nicht. Wir haben nicht besonders viel Kontakt …«

Sie bricht den Satz ab, als ihr klar wird, dass sie ins Schwafeln kommt. Roger Forsén hat sie gewarnt, dass früher oder später der Tag kommen wird, an dem jemand anfängt, Fragen zu Olof Wallner zu stellen. Sag nicht mehr als nötig und bleib so nah wie möglich an der Wahrheit.

»Ist was passiert?«, fragt sie also.

»Nein, ich versuche nur, ihn zu erreichen, was sich bisher als schwierig erwiesen hat. Wann haben Sie zuletzt mit ihm gesprochen, erinnern Sie sich daran?«

Nadezhda zählt schweigend bis fünf.

»Das muss irgendwann im Frühling gewesen sein. Vielleicht im Mai. Ich weiß nicht mehr genau. Wir stehen uns nicht besonders nah.«

Eine kurze Pause in der Leitung.

»Ich glaube, es wäre besser, wenn wir uns treffen könnten«, sagt Yannis Gataki. »Haben Sie Zeit?«

Der Bürgersteig gerät unter den Sohlen von Nadezhdas Converse ins Schwanken. Sie ist überrascht, dass ihre Stimme nicht bricht, dass sie es schafft, beinahe lässig zu klingen, als sie für den nächsten Tag einen Termin mit diesem Polizisten vereinbart.

»Schlechte Nachrichten?«, fragt Filip, nachdem Nadezhda das Gespräch beendet hat. Er sieht besorgt aus.

»Nur ein Gespenst aus der Vergangenheit.«

»Was?«

Sie holt ein Haargummi aus ihrer Jackentasche und bindet ihre Haare zu einem Knoten zusammen.

»Irgendwas wegen meinem Stiefvater. Ist nicht so wichtig.«

Dieser Kommissar kann unmöglich wissen, was mit Olof Wallner passiert ist oder welche Rolle sie und Nea dabei gespielt haben.

»Ich würde gern was trinken gehen«, sagt sie.

Er kann unmöglich davon wissen.

***

Kriminalkommissar Yannis Gataki beugt sich über die Dokumente, die er auf der Anrichte neben dem Herd ausgebreitet hat. Die Informationen sind spärlich. Er wischt mit dem Daumen über einen Fettfleck auf einem der Blätter, schiebt ihn sich dann in den Mund und leckt ihn ab. Olof Wallner starrt ihn von einem Foto an. Er sieht aus wie ein beliebiger Geschäftsmann aus Lidingö – gut gekleidet, gut gepflegt, gut frisiert. So jedenfalls stellt Yannis es sich vor, wie Geschäftsleute auf Lidingö aussehen. Sieht er auch aus wie jemand, der in Drogen- und Waffenhandel, in schwere organisierte Kriminalität verwickelt ist? Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Doch die Tatsache, dass er seit mindestens zwei Monaten wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint, wirft Fragen auf. Vor allem, weil sein Verschwinden mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, da er überhaupt erst auf dem Radar der Polizei aufgetaucht ist, im Rahmen einer großen Razzia. Hat er freiwillig die Biege gemacht, und wenn ja, hat das etwas damit zu tun, dass die Polizei gerade auf ihn aufmerksam geworden war? Aber wie sollte er davon erfahren haben? Die einzige Möglichkeit hierfür ist, dass sie einen Maulwurf innerhalb des Ermittlungsteams haben, was Yannis zwar für unwahrscheinlich hält, aber auch nicht ausschließen kann. Ein wahrscheinlicheres Szenario ist, dass er sich von seinen Komplizen oder Feinden fernhält. Aus Ersteren kann in diesen Kreisen nach Yannis Erfahrung schnell Zweiteres werden.

Eine weitere Alternative ist, dass Olof Wallner nicht freiwillig verschwunden ist, sondern jemand, eventuell mit Verbindung zu kriminellen Netzwerken, ihn aus dem Weg geräumt hat. Falls dem so ist, ist Wallner wahrscheinlich tot. Aber dann gibt es da auch noch harmlosere Erklärungen: Vielleicht ist er einfach in einen langen Urlaub gefahren, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Die Leute tun die seltsamsten Dinge.

Yannis weiß, dass er diese Olof-Wallner-Sache bleiben lassen sollte. Keiner seiner Kollegen teilt die Ansicht, dass Wallner für die Ermittlungen von Bedeutung ist, und er konnte ihnen ehrlich gesagt bislang keine stichhaltigen Beweise liefern. Strömmer, sein Chef, hat beschlossen, Wallners Verschwinden zu den Akten zu legen. Aber Strömmer kann ihm nicht vorschreiben, was er in seiner Freizeit liest. Außerdem …

»Papa! Papa! Es brennt!«

Yannis dreht sich zu seinen beiden Töchtern um, die am gedeckten Küchentisch sitzen. Vier große Augen starren ihn an. Elena hat ihren Schnuller fallen lassen, und Melina, die eben noch fleißig den Tisch gedeckt hat, zeigt mit einem Brotmesser auf ihn. Yannis’ Augen huschen zum Herd, wo ein Pfannkuchen dabei ist, zu verkohlen. Er schiebt die Pfanne von der Herdplatte, greift nach dem Pfannenwender und kratzt den angebrannten Pfannkuchen auf den Teller mit den bereits fertigen.

»Habt ihr etwa keine schwarzen Pfannkuchen bestellt?«, fragt er und wedelt mit einem Küchenhandtuch den Qualm weg. Die Mädchen grinsen ihn an.

Aus dem Nichts greift eine Hand zur Dunstabzugshaube und schaltet sie ein.

»Wir haben die hier nicht ohne Grund einbauen lassen«, sagt seine Frau Sara und gibt ihm einen spielerischen Klaps auf den Po.

Yannis fährt herum.

»Schon zu Hause?«

»Ich habe gerochen, dass hier irgendwas anbrennt und mir gedacht, dass ich wohl besser mal nach Hause fahre.«

Er beantwortet Saras Sarkasmus mit einem schiefen Lächeln.

»Das liegt an diesem neuen Induktionsofen«, sagt er, reißt ein Stück vom verkohlten Pfannkuchen ab und steckt es sich in den Mund. »Außerdem schmecken sie am besten, wenn sie gut durch sind, nicht wahr, Mädels?«

»Papas Pannkuken sind die besten!«, kräht Elena und bekommt von Yannis einen Daumen nach oben. Er zwingt sich, den verkohlten Bissen herunterzuschlucken, ohne dabei das Gesicht zu verziehen.

»Pfannkuchen«, sagt Sara an Elena gewandt, »Induktionsherd«, an Yannis gerichtet. »Viel los bei der Arbeit?«, fragt sie dann und deutet mit einem Kopfnicken zu den Akten auf der Anrichte.

»Nur so eine Sache.« Er winkt ab und schaltet die Herdplatte wieder an, die automatisch ausgegangen ist. Er weiß, er sollte dankbar sein, dass die Küchengeräte schlauer sind als er, aber im Moment ist er eher beleidigt.

»Eine Sache?«

Sie sagt es auf eine Weise, die suggeriert, dass sie genau weiß, was das bei ihrem Mann zu bedeuten hat.

»Eine verschwundene Person«, sagt Yannis. »Jemand, mit dem wir uns gerne mal unterhalten würden.«

»Untergetaucht?«

Yannis gibt einen Klecks Butter in die Pfanne und sieht dabei zu, wie er schmilzt.

»Vielleicht«, antwortet er. »Oder ihm ist etwas zugestoßen?«

»Weshalb wird er verdächtigt?«

»Also … im Prinzip wird er gar nicht verdächtigt, wir haben nichts Konkretes gegen ihn in der Hand. Nichts, was ausreicht, um eine Hausdurchsuchung zu beantragen oder ihn zur Fahndung auszuschreiben.«

Yannis gießt den letzten Rest Teig in die Pfanne.

»Aber warum willst du dich dann mit ihm unterhalten?«

Sara bindet sich die Haare zu ihrer üblichen Zuhausefrisur, einem Knoten in der Mitte ihres Kopfes.

»Wir haben Verbindungen zwischen diesem Typ und einem Netzwerk gefunden, das wir seit einer Weile beobachten. Im Frühling haben wir einige Razzien durchgezogen, den Leuten ein bisschen Feuer unterm Arsch gemacht. Und beinahe gleichzeitig hat sich dieser Mensch in Rauch aufgelöst. Und dieser ›Zufall‹ will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen.«

»Hast du schon mit seiner Familie gesprochen?«

»Seine Frau ist tot. Er hat eine erwachsene Stieftochter, aber sie scheinen keinen engen Kontakt zueinander zu haben. Ich habe heute kurz mit ihr telefoniert.«

»Sie hat ihn nicht als vermisst gemeldet?«

»Niemand hat ihn als vermisst gemeldet.«

»Und du kannst dich nicht einfach ganz diskret in sein Haus schleichen, um nach Hinweisen zu suchen?«

»Du weißt, dass das nicht erlaubt ist.«

Sie zuckt mit den Schultern und grinst.

»Vielleicht erlaubst du es dir einfach.«

»Strömmer will, dass ich mich der Sache nicht weiter annehme. Er denkt, dass es heißere Spuren gibt, denen wir nachgehen sollten, und damit liegt er nicht unbedingt falsch.«

»Aber du hast es dir jetzt in den Kopf gesetzt und kannst es nicht lassen. Intuition und so weiter. Verstehe«, sagt sie und zeigt auf den Pfannkuchen. »Sollen wir den als gar betrachten?«

»Induktion«, berichtigt er sie scherzhaft und legt den letzten Pfannkuchen auf den Stapel zu den anderen.

»Starrsinn«, erwidert Sara. »Sprich doch noch mal mit der Tochter.«

»Strömmer will wie gesagt, dass ich mich anderen Dingen zuwende.«

»Aber …?«

»Ich bin morgen mit der Tochter verabredet. Holst du mal die Marmelade?«

Er stellt den Teller mit den Pfannkuchen vor seinen Töchtern auf den Küchentisch.

»Pannkuken«, sagt er. »Haut rein. Genau richtig verkohlt.«

3

Nea schiebt die Badezimmertür mit dem Fuß auf, um den Dunst zu vertreiben, der sich über den Spiegel gelegt hat. Mit ruhiger Hand lässt sie den Kajal zuerst dem rechten und dann dem linken Auge folgen, dann lehnt sie sich zurück, blinzelt und betrachtet ihr Spiegelbild. Langsam gewöhnt sie sich daran, mehr Schminke, mehr Maske, mehr Schein, denkt sie und öffnet den Badezimmerschrank. Heute nimmt sie den Lippenstift von Dior.

Als sie mit dem Make-up fertig ist, setzt sie die Perücke behutsam auf ihren Kopf. Wird zur Blondine. Die Transformation ist vollendet.

Sie ist wieder erstaunt darüber, wie einfach es ist, jemand anderes zu werden. Ein paar kleine Änderungen genügen. Ohne diese Rüstung ist sie eine von Albträumen geplagte Mutter von Teenagern, mittleren Alters, eine ehemalige Kunstdozentin, die versucht, sich in einer Schattenwelt zurechtzufinden, deren Regeln sie nicht versteht. Doch mit dieser Rüstung wird sie zu einer Person, die ihr Schicksal selbst in der Hand hat. Die Verwandlung gibt ihr einen Kick. Hat Suchtpotenzial.

Nea wendet sich von der Person im Spiegel ab, schaltet das Badezimmerlicht aus und geht hinaus in den Flur, wo die Luft mehrere Grad kühler ist. Ihr bleibt noch etwas Zeit, bis sie Katerina im Hotel Diplomat trifft. Sie lässt sich im Wohnzimmer ins weiße Sofa sinken, atmet tief durch die Nase ein und lässt die Luft durch den Mund entweichen. Zuletzt haben ihr diese Atemübungen oft geholfen. Ihr Puls beruhigt sich sofort, und ihre Gedanken werden klarer. Sie lässt ihren Blick durch das Zimmer schweifen, das ihr völlig fremd vorkommt. Nach der Trennung von Johan ist sie hier überstürzt einzogen. Der Einrichtungsstil passt überhaupt nicht zu ihr. Aber wie an so vieles andere hat sie sich auch daran gewöhnt. Sie weiß gar nicht mehr genau, was ihr eigentlich nicht gefällt. Die ganze Wohnung ist sehr weiß. Unpersönlich. Eine Spur zu protzig.

Nea holt noch einmal tief Luft und hält für einen Moment den Atem an. Dann steht sie langsam auf, ein wenig erschöpft wie nach einer harten Session am Boxsack, aber mit einer langersehnten Ruhe im Körper.

***

Katerina Lebdeva von der Galerie Andrev Kuznetsov in Moskau öffnet in gewohnt eleganter Manier die Tür zu ihrem Zimmer im Hotel Diplomat. Ihr schulterlanges glänzendes Haar fällt auf eine perlweiße Bluse, deren obere Knöpfe geöffnet sind und ein kleines silbernes Kreuz an einer dünnen Kette zum Vorschein kommen lassen. Ihr Blick ist wach, das Lächeln auf den stark geschminkten Lippen warm. Nea nimmt ihren blumigen Geruch wahr, als sie mit drei Wangenküssen begrüßt wird.

Dies ist die dritte ihrer Verabredungen, die jedes Mal in diesem Hotel stattgefunden haben. An ihre erste Begegnung hat Nea nur vage Erinnerungen, sie war nervös, weil so irre viel auf dem Spiel stand. Diesmal ist es anders, sie ist weniger angespannt, aber trotzdem kann viel zu viel schieflaufen, als dass sie vollkommen locker in dieses Meeting gehen könnte. Sie hält das gut verpackte Gemälde fest umklammert.

Katerina tritt beiseite und bittet sie ins Zimmer, deutet auf einen einsamen Sessel vor dem Fenster.

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagt sie. »Hier oben kann ich Ihnen leider nichts anbieten, aber unten im Hotelrestaurant wartet ein Tisch auf uns.«

Alles wie vor knapp einem Monat, als sie sich das letzte Mal gesehen haben.

Nea reicht ihr das Bild, dann lässt sie sich im Sessel nieder. Katerinas Miene hellt auf, als hätte sie gerade ein unerwartetes Geschenk erhalten, als wäre das eingepackte Gemälde eine Überraschung und nicht etwa der Grund, warum sie sich heute überhaupt treffen. Vorsichtig packt sie Nadezhdas neueste Arbeit aus. Sie wirft die Kissen vom Hotelbett, lehnt das Bild ans Kopfteil und tritt einen Schritt zurück. Die Arme vor der Brust verschränkt, studiert sie die Malerei. Nea beobachtet sie.

»Ich glaube, mit diesem Bild hat Ivan Botkin sich selbst übertroffen«, kommentiert sie. »Stockholm scheint ihm gutzutun.«

Nea spürt, wie die Anspannung ihren Körper verlässt. Katerina hebt eine kleine Reisetasche aus braunem Leder vom Boden neben dem Bett auf und hält sie Nea hin.

»Jede einzelne Kopeke wert.«

Nea steht auf und nimmt die Tasche entgegen, legt sie aufs Bett, öffnet sie. Mehrere Bündel Banknoten. Es hat keinen Sinn, sie jetzt nachzuzählen, Nea vertraut Katerina. Sie schließt die Tasche wieder.

»Appetit?«, fragt Katerina.

»Kurz vorm Verhungern.«

Unten im Restaurant führt der Oberkellner sie zu einem Vierertisch mit weichen Sofas auf beiden Seiten. Sie nehmen einander gegenüber Platz, und Nea stellt die kleine Tasche neben sich ab. Der Ober reicht ihnen die Speisekarten.

»Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?«

»Champagner«, antwortet Katerina, ohne mit der Wimper zu zucken. »Zwei Gläser.«

Der Oberkellner verneigt sich und verschwindet hinter der Bar. Katerina schlägt die Speisekarte auf und beginnt, sie zu studieren. Nea legt eine Hand auf die Tasche, lässt sie dort ruhen.

Ein Kellner serviert ihnen kurz darauf den Champagner. Hunderte kleiner Bläschen sprudeln an die Oberfläche.

Sie stoßen an, und schon nach dem ersten Schluck spürt Nea, wie sich ein angenehmes Kribbeln in ihrem Körper ausbreitet. Aber es ist nicht der Alkohol, es ist die Erleichterung, die Sicherheit, die sie mit dem Geld, das neben ihr auf der Couch liegt, kaufen kann. Und wieder haben sie es getan. Ein erfolgreiches Geschäft. Das allein ist schon berauschend, auch wenn sich ein Teil von ihr schämt. Sie schafft es noch nicht ganz, die Tatsache auszublenden, dass sie jetzt Geld verdient, indem sie andere betrügt.

Von irgendwas muss man ja leben.

Und sie fügen niemandem Schaden zu, solange die Fälschungen gut genug sind. Diejenigen, die die Bilder kaufen, möchten zu Hause einen Botkin an der Wand hängen haben. Nea und Nadezhda geben ihnen einfach, was sie wollen.

Nea nimmt einen Schluck Champagner, verjagt das Bild von Olof Wallners Leiche aus ihrem Kopf, gibt sich dem Rausch hin.

»Was sagen Sie zu Rotzunge?«, fragt Katerina. »Oder doch lieber Entrecote? Aber ich habe eigentlich keine Lust auf Fleisch.«

»Die Rotzunge ist bestimmt gut«, sagt Nea und richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Speisekarte. Bis eben hat sie nur darauf gestarrt, ohne auch nur ein Wort zu begreifen.

Als der Kellner kommt, um ihre Bestellung aufzunehmen, wählt sie einfach dasselbe wie Katerina.

»Und eine Flasche Sauvignon blanc«, fügt Katerina hinzu, ehe der Kellner zur Bar zurückeilt.

Plötzlich wird ihr Gesicht ernst, und sie senkt die Stimme.

»Nach diesem hier müssen wir eine Weile die Füße still halten«, sagt sie. »Was Botkin angeht, meine ich. Wir haben jetzt in ziemlich kurzer Zeit mehrere Werke verkauft. Das kann unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Sie verstehen das doch?«

Nea greift nach dem Champagnerglas und nimmt einen Schluck, um ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Absolut. Bloß keine unnötigen Risiken eingehen.«

Katerina lächelt, wirkt erleichtert.

»Genau. Schade – bei der Qualität der Bilder. Aber wir müssen bis auf Weiteres eine Pause einlegen. Kein Botkin mehr, jedenfalls nicht in diesem Jahr. Wir sind jedoch an anderen Künstlern interessiert, eigentlich an allen russischen. Vielleicht könnte ich eine Liste schicken. Wer weiß, vielleicht stoßen Sie irgendwo auf ein bisher unbekanntes Meisterwerk.«

Nea denkt an Rogers Worte vom Vortag. Aber sie schafft es, die Maske zu wahren, setzt ein Lächeln auf.

»Man weiß nie«, sagt sie.

»Und wir können immer noch zu Botkin zurückkehren, wenn die Zeit reif ist«, sagt Katerina, in dem Moment, als der Kellner ihnen die Flasche Wein in einem Eiskübel bringt.