Damsel – Der Pfad des Feuers - Evelyn Skye - E-Book
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Damsel – Der Pfad des Feuers E-Book

Evelyn Skye

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Beschreibung

Die Vorlage zur erfolgreichen Netflix-Verfilmung mit Millie Bobby Brown

Elodie kommt aus Inophe, einem kleinen, armen Herzogtum, das seit Jahren von einer Dürre heimgesucht wird. Als Prinz Henry aus dem Königreich Aurea um ihre Hand anhält und Inophe Unterstützung verspricht, sagt sie sofort Ja. Doch nach der Hochzeit erfährt Elodie das dunkle Geheimnis Aureas: Die Königsfamilie hat einen Pakt mit einem Drachen geschlossen. Der Drache sorgt für ewigen Wohlstand, im Gegenzug werden ihm jedes Jahr drei Prinzessinnen geopfert – und Elodie ist als Nächste an der Reihe. Wenn sie ihr Leben und das Tausender anderer Frauen retten will, muss sich Elodie dem Drachen stellen …

»Damsel« ist das Fantasy-Highlight auf Netflix – verfilmt mit Millie Bobby Brown (»Stranger Things«) in der Hauptrolle!

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Seitenzahl: 427

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Das Buch

Elodie kommt aus Inophe, einem kleinen, armen Herzogtum, das seit Jahren von einer Dürre heimgesucht wird. Als Prinz Henry aus dem sagenhaft reichen Königreich Aurea um ihre Hand anhält und Inophe Unterstützung verspricht, sagt sie sofort Ja. Zumal der Prinz, seinen Briefen nach zu urteilen, ein kluger, umsichtiger und feinfühliger Mensch zu sein scheint. Voller Optimismus reisen Elodie und ihre Familie nach Aurea – doch etwas Seltsames geht in diesem Königreich vor sich. Das dunkle Geheimnis hinter dem Reichtum des Landes erfährt Elodie unmittelbar nach ihrer Hochzeit: Aurea hat einen Pakt mit einem mächtigen Drachen geschlossen – und jedes Jahr verlangt dieser nach drei Prinzessinnen, die ihm geopfert werden. Doch Elodie ist nicht bereit, sich kampflos ihrem Schicksal zu ergeben. Um sich und zahllose junge Frauen, denen dasselbe Los zugedacht ist, zu retten, stellt sie sich dem Drachen – und den Männern, die ihr das angetan haben …

Die Autorin

Evelyn Skye studierte an der Stanford University und der Harvard Law School. Nach ihrem Abschluss wurde ihr sogar ein Job bei der CIA angeboten, den sie jedoch ablehnte. Stattdessen schrieb sie mehrere New-York-Times-Bestseller, darunter The Crown’s Game. Sie gewinnt mühelos jedes Pizza-Wettessen und lebt mit ihrer Familie in der San Francisco Bay Area.

EVELYN SKYE

Der Pfad des Feuers

Roman

Nach einem Drehbuch vonDan Mazeau

Aus dem Amerikanischen vonNina Lieke

Titel der Originalausgabe:

DAMSEL

based on a Screenplay by Dan Mazeau

Dragon Language by Reese Skye

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 12/2023

Redaktion: Babette Mock

Copyright © 2023 by Netflix

Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

This edition is published by arrangementwith Random House Worlds, an imprint of Random House,a division of Penguin Random House LLC

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung des Originalmotivs

Jacket design: Cassie Gonzales

Jacket illustration: Ruben Ireland

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-30948-0

Für all die tapferen Seelen, die es wagen,die Welt neu zu erschaffen

Elodie

Inophe war die Art von Ort, an dem die Uhren rückwärtszugehen schienen. Während sich der Rest der Welt weiterentwickelte, glitt der trostlose Landstrich Inophe immer mehr in die Vergangenheit ab. Siebzig Jahre Dürre hatten die ohnehin schon mageren Felder des Herzogtums in eine endlose Wüste aus Dünen verwandelt. Die Menschen gewannen ihr Wasser aus Kakteengärten und lebten von Tauschgeschäften – eine Bahn schlichtes Tuch für die Reparatur eines Zaunes, ein Dutzend Eier für eine Tinktur gegen Zahnschmerzen und zu besonderen Anlässen eine Ziege im Tausch für einen kleinen Sack wertvolles importiertes Mehl.

»Es ist ein wunderschöner Ort, trotz allem«, sagte Herzog Richard Bayford, während er an den Rand einer Anhöhe heranritt, die den Blick auf eine sanfte, braunfarbene Landschaft freigab, die hier und da von den mageren Zweigen eines Eisenholzbaums und gelben Akazienblüten aufgebrochen wurde. Bayford war ein großer, drahtiger Mann mit einem Gesicht, das von viereinhalb Jahrzehnten unter einer unbarmherzigen Sonne gezeichnet war.

»Es ist ein wunderschöner Ort wegen allem«, rügte ihn seine Tochter Elodie sanft, als sie zu ihm aufschloss. Sie war zwanzig Jahre alt und ihrem Vater im Herzogtum Inophe zur Hand gegangen, solange sie denken konnte. Und eines Tages würde sie dessen Titel erben.

Lord Bayford schmunzelte. »Du hast wie immer recht, mein Täubchen. Inophe ist wunderschön, und zwar genau so, wie es ist.«

Elodie lächelte. Unter ihnen sprang ein langohriger Fuchs aus dem Schatten einer Wüstenweide hervor und jagte irgendetwas – eine Wüstenrennmaus vielleicht oder eine Eidechse – um einen Felsbrocken herum. Im Osten erstreckten sich die hügeligen Dünen, die Berge aus Sand, weithin bis zur glitzernden See. Doch die trockene Hitze auf Elodies Haut fühlte sich an wie die Umarmung eines alten Freundes.

Im Gebüsch hinter ihnen raschelte es.

»Verzeiht, Lord Bayford.« Ein Mann mit einem Stock trat hinter dem Busch hervor, gefolgt von einer Herde bärtiger grauer Wüstenziegen, die wahllos stachelige Blumen und deren dornenbewehrte Stängel ausrupften und im Ganzen vertilgten. Hätten die Bewohner Inophes nur auch derart eiserne Gaumen und Mägen gehabt, das Überleben in dieser rauen Gegend wäre um einiges leichter gewesen.

»Seid gegrüßt, Lady Elodie.« Der Schäfer nahm seinen löchrigen Hut ab und neigte den Kopf, während der Herzog und Elodie absaßen.

»Was können wir für dich tun, Immanuel?«, fragte Lord Bayford.

»Ähm, nun ja, Eure Lordschaft, mein ältester Sohn, Sergio, wird bald heiraten, und er braucht ein neues Heim für seine Familie. Ich hatte gehofft, dass, ähm, Ihr vielleicht …«

Lord Bayford sprang ihm zur Seite, ehe die Pause unangenehm lang werden konnte: »Du brauchst Baumaterial?«

Immanuel fummelte verlegen an seinem Stock herum, dann nickte er. Die Tradition in Inophe sah vor, dass Väter ihren Söhnen am Tag der Hochzeit ein neues Haus schenkten, und Mütter ihren Töchtern selbst genähte Kleider. Doch Jahrzehnte der Verarmung erschwerten es der Bevölkerung zunehmend, diese alten Traditionen aufrechtzuerhalten.

»Es wäre mir eine Ehre, das Material für Sergios Hütte zur Verfügung zu stellen«, sagte Lord Bayford. »Brauchst du Hilfe bei dem Bau? Elodie kennt sich sehr gut mit Destillierapparaten aus.«

»Das stimmt«, sagte Elodie, »ich kann auch gut Latrinen bauen, die können Sergio und seine Frau dann nach dem Genuss des Wassers benutzen, das sie in den Destillierapparaten gesammelt haben.«

Immanuel starrte sie mit großen Augen an.

Elodie verfluchte sich leise. Leider hatte sie das Talent, die falschen Dinge zur falschen Zeit zu sagen. In bestimmten Situationen, besonders dann, wenn von ihr erwartet wurde, dass sie etwas sagte, verkrampfte Elodie förmlich – ihre Schultern verspannten sich, ihr Mund wurde trocken, und die eben noch geordneten Gedanken purzelten durcheinander wie Bücher aus einem umkippenden Regal. Dann platzte sie unbedacht mit einem ihrer Gedanken, der ihr gerade in den Sinn kam, heraus, und der entpuppte sich meist als unangemessen.

Das bedeutete indes nicht, dass Elodie nicht geachtet wurde. Die Menschen zollten ihr für ihre Hingabe an Inophe einigen Respekt. Mehrmals in der Woche ritt sie unter der glühenden Sonne von Pächter zu Pächter, um zu sehen, was die Familien brauchten. Sie half, wo sie konnte, baute Rattenfallen um Hühnerställe und las Kindern Märchen von Prinzessinnen und Drachen vor – Elodie liebte all das. Hierfür war sie erzogen worden. Ihre Mutter hatte immer gesagt, sich anderen Menschen anzunehmen, sei das edelste aller Opfer.

»Was Elodie meint«, erklärte Lord Bayford ruhig, »ist, dass sie es nicht scheut, sich die Hände schmutzig zu machen.«

Gott sei Dank hat Vater hier noch das Sagen, dachte Elodie. Eines Tages würde sie Herzogin sein, doch für den Moment war sie froh, dass die Führung des Herzogtums in den Händen Richard Bayfords lag, der eine charismatische Ausstrahlung besaß.

Elodie hörte genau zu, als Immanuel auflistete, was er an Nägeln und Holz brauchen würde, doch ihr Blick wanderte über die staubige Landschaft hin zu den dahinterliegenden offenen Wassern. Schon als Kind hatte das Meer sie beruhigt, und während sie sich auf die in der Sonne funkelnden Wellen konzentrierte, ließ die Anspannung nach ihrem Latrinen-Fauxpas spürbar nach, und ihre Schultern lockerten sich wieder.

Erleichtert atmete Elodie auf.

Vielleicht war sie in einem früheren Leben eine Matrosin gewesen. Oder eine Möwe. Vielleicht sogar der Wind. Denn auch wenn Elodie ihre Tage ganz der Arbeit für Inophe widmete, so verbrachte sie ihre Abende doch damit, vom Meer zu träumen. Sie saß gerne in den Kneipen der Stadt und lauschte den Geschichten, die die Seemänner mit nach Hause gebracht hatten – über die Feste und Bräuche fremder Königreiche, die Beschaffenheit des Landes, das Wetter. Wie die Menschen dort lebten und liebten, ja sogar, wie sie starben. Elodie sammelte Seemannsgarn wie Elstern glänzende Knöpfe: Jede Geschichte war ihr ein kostbarer Schatz.

Inzwischen war die Liste für Sergios neues Zuhause vollständig, und Immanuel und seine Ziegen waren wieder aufgebrochen. Lord Bayford gesellte sich zu seiner Tochter am Rande des Plateaus. Als sie so in die Ferne schauten, tauchte am Horizont plötzlich ein kleiner Punkt auf.

Elodie legte erstaunt den Kopf schief. »Was, glaubst du, ist das?« Die Schiffe, die dringend benötigtes Getreide, Früchte und Baumwolle nach Inophe bringen sollten, wurden noch nicht zurückerwartet.

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, erwiderte Lord Bayford, saß auf und zwinkerte Elodie zu. »Wer als Letzter am Hafen ist, muss Sergios Latrinen graben!«

»Vater, ich reite nicht um die Wette …«

Aber dessen Pferd stürmte bereits die Anhöhe hinunter.

»Du schummelst!«, beschwerte sie sich lautstark, während sie sich in den Sattel schwang.

»Meine einzige Chance zu gewinnen!«, rief Bayford über seine Schulter hinweg zurück.

Elodie lachte auf, als sie sich an seine Fersen heftete, denn sie wusste, dass das stimmte.

Die Flagge des Schiffs trug die Farben des Reichtums, Purpur und Gold, und der ebenfalls goldene Drache an seinem Bug funkelte stolz in der Sonne. Die Offiziere an Bord waren in Uniformen aus Samt gekleidet, deren Knöpfe und Aufschläge allesamt goldbestickt, und selbst die einfachen Seemänner trugen tiefrote Kappen mit goldfarbenen Quasten.

Demgegenüber lag der windschiefe Hafen von Inophe da wie ein hutzeliger alter Mann, wettergegerbt und grau, zerfurcht von Salz und Sonne. Die Pfosten bestanden mehr aus Seepocken denn aus Holz, und bei jeder Welle knarrten sie wie alte Knochen, die sich über Wind und Feuchtigkeit beklagen.

Die Größe des Hafens war beträchtlich, denn vom Handel hing die gesamte Versorgung Inophes ab. Das Herzogtum produzierte zwei Güter: Akaziengummi und Guano, getrockneter Vogelkot, der als Düngemittel eingesetzt wurde. Im Gegenzug erhielten die Bewohner Inophes gerade genug Gerste, Mais und Baumwolle, um über die Runden zu kommen.

Elodie hatte einen ebenso großen Teil ihres Lebens in den trockenen Ebenen im Landesinneren verbracht wie hier an den Piers, wo sie die Aus- und Einfuhren bewachte und hin und wieder Wortfetzen fremder Sprachen von den Kaufleuten aufschnappte. Doch die Farben dieses Schiffs waren ihr nicht vertraut, genauso wenig wie das Wappen, unter dem es segelte: ein goldener Drache, der in einer Klaue eine Weizengarbe umklammert hielt und in der anderen etwas, das wie Weintrauben oder Beeren aussah. Als Elodie den Kai erreichte, war Lord Bayford bereits dort.

»Na schön, du hast gewonnen. Gut, dass ich ohnehin vorhatte, Sergios Latrine zu graben«, brachte sie atemlos hervor.

Lord Bayford wischte ihr Eingeständnis mit einer Handbewegung weg. »Jetzt gibt es Wichtigeres. Elodie, ich möchte dir Alexandra Ravella vorstellen, die oberste Gesandte des Königreichs Aurea.« Ihr Vater wies auf eine schlanke Dame um die fünfzig, die einen goldenen Dreispitz und eine purpurfarbene Samtuniform trug. »Und, Leutnantin Ravella, darf ich Euch die ältere meiner beiden Töchter vorstellen, Lady Elodie Bayford von Inophe.«

»Sehr erfreut«, erwiderte Leutnantin Ravella in perfektem Ingleterr, das im internationalen Handel geläufig und auch die offizielle Amtssprache Inophes war. Sie nahm ihren Hut ab, enthüllte dabei silbernes Haar, das zu einem ordentlichen Knoten zusammengesteckt war, und verbeugte sich tief.

Elodie runzelte die Stirn. »Ich fürchte, ich kann nicht ganz folgen. Vater, was geht hier vor?«

»Es gibt wunderbare Neuigkeiten, mein Täubchen.« Lord Bayford legte einen Arm um Elodies Schultern. »Bitte vergib mir die Geheimniskrämerei, aber ich gestehe, dass ich Leutnantin Ravella bereits vor einigen Monaten kennengelernt habe. Als wir über deine Verlobung verhandelten.«

»Meine was?« Elodie erstarrte unter dem Gewicht des Armes ihres Vaters. Sie musste sich verhört haben. Niemals würde er so etwas tun, ohne sie zu fragen …

»Eure Verlobung, Mylady«, wiederholte Leutnantin Ravella mit einer weiteren Verbeugung. »Ihr werdet, so Ihr wollt, Kronprinz Henry heiraten und die nächste Prinzessin des goldenen Königreichs Aurea werden.«

Elodie

Acht Monate später

Wer glaubt, der Aufzug einer Frau sei nur äußerliche Zier, der sei eines Besseren belehrt: Wenn auch Kapitän Croat das Schiff steuerte, so war es doch Elodie, die dessen Navigation durch den nächtlichen Nebel mithilfe eines provisorischen Sextanten, bestehend aus einer Perlenhaarnadel und einer Schreibfeder, genau überprüfte. In den Jahren, in denen sie am Hafen die Ein- und Ausfuhren überwachte, hatte Elodie jede Information der Seeleute verschlungen, um des Nachts in ihren Träumen in See stechen zu können. Und nun, durch eine unvorhersehbare Wendung des Schicksals, war all das Realität geworden.

»Cóm visteù, Lady Bayford?« Gaumiot kam zu ihr herübergeschlendert. Wie der Rest der Crew redete auch er in einem vielsprachigen Dialekt, einem Mischmasch an Wörtern, die die Seefahrer hier und da auf ihren Reisen aufgeschnappt und zu einer ganz neuen Sprache zusammengebastelt hatten. Elodie hatte sie oft genug am Hafen gehört, um sie verstehen zu können, und nach zwei Monaten auf See hatte sie angefangen, sie auch zu sprechen.

Wie sieht’s aus?, hatte Gaumiot gefragt.

»Ach, nebline emâsia gruëo«, antwortete Elodie. Der Nebel war viel zu dicht, um klar sehen zu können. Seufzend steckte sie die Haarnadel zurück in ihre kastanienbraunen Locken.

»Ein Ziel, das wir nicht sehen können«, brummte Gaumiot und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Das bringt malseùr.«

Unglück. Elodie grinste in sich hinein. Die Seemänner waren ein abergläubischer Haufen. Aber abergläubische Leute hatten immer die besten Märchen und Legenden zu erzählen, und sie hatte die Gesellschaft der Mannschaft während dieser Reise sehr genossen. Die Seemänner kümmerten sich nicht um ihre Unbeholfenheit. Menschen, deren Gedeih und Verderb von der Gnade des Meeres abhing, hatten andere Sorgen als unbedachtes Geplapper.

Anders als Gaumiot konnte Elodie es nicht erwarten, Aurea zu sehen. In den acht Monaten, die seit ihrer Verlobung vergangen waren, hatten sie und Prinz Henry sich eine Handvoll Briefe geschrieben. Die aureanischen Gefährte waren viel schneller als die Schiffe aus Inophe, und so war es ihnen möglich, die Strecke zwischen Aurea und Inophe in Wochen statt Monaten zurückzulegen. Henrys Briefe waren in klarer, kantiger Schrift verfasst und enthielten Geschichten über die Schönheit und den Wohlstand der Insel, auf der er lebte. Elodies Briefe waren voller Geschichten über ihr Volk und dessen unbeugsamen Stolz. Und natürlich schrieb sie ihm auch von ihrer über alles geliebten kleinen Schwester. Zurzeit war Floria ganz versessen auf die vertrackten Irrgärten-Rätsel, die Elodie für sie ersann und die immer von besonderer Gestalt waren – ein Bienenstock, ein Kojote, ein Kuchen an Florchens dreizehntem Geburtstag.

Tatsächlich war es auf das Drängen ihrer Schwester hin geschehen, dass Elodie ein herzförmiges Labyrinth für Henry gezeichnet und es ihrem letzten Brief beigelegt hatte, der die Annahme seines Antrags und die Information enthielt, dass sie zur Ernte im September Richtung Aurea in See stechen würden. Und weil Elodie nun einmal Elodie war, war das nicht irgendein beliebiges Herz gewesen, sondern ein anatomisch korrektes.

Im Nachhinein, dachte sie, mochte das vielleicht ein wenig merkwürdig gewirkt haben. Elodie hoffte, dass Henry ebenso bereitwillig über ihre Unzulänglichkeiten hinwegsehen würde, wie die Seeleute es taten.

Sie war sich noch immer nicht ganz im Klaren darüber, was Aurea von diesem Ehearrangement hatte, was Inophe betraf, so war sie sich jedoch sicher: mehr, als sie ihrer Heimat jemals hätte bieten können, wäre sie dort geblieben, und hätte sie auch jede Faser ihrer Seele gegeben. Mit eisernem Willen allein konnte man kein Land ernähren.

Der feuchte Nebel küsste ihre Wange, als wollte er sie trösten. Sie tat das Richtige. Bald schon würden sie in Aurea ankommen und den Handel abschließen. Was die Ehe betraf, so würde sie das schon hinkriegen. Ihre Gefühle dazu waren nicht wirklich wichtig. Sie würde dem Volk Inophes dienen.

Leutnantin Ravella trat zu ihnen und verbeugte sich. Als königliche Gesandte begleitete sie Elodie und ihre Familie nach Aurea.

»Ich könnte Kapitän Croat nach einem ordentlichen Sextanten fragen, wenn Ihr es wünscht.« Ravella deutete auf Elodies Haarnadel. Sie musste gesehen haben, wie Elodie damit hantierte.

»Schon in Ordnung, meiner ist besser«, erwiderte Elodie, und nur den Bruchteil einer Sekunde später wurde ihr klar, wie unhöflich das geklungen hatte. »Bitte verzeiht, was ich sagen wollte, ist, dass ich weiß, wie mein selbst gebauter Sextant funktioniert, und dass es darum, ähm, nicht nötig ist, dass Ihr Euch Umstände macht. Ich kann sowieso nicht viel von den Sternen erkennen. Aber habt vielen Dank.«

»Es beeindruckt mich, wie gut Ihr den Nachthimmel kennt, wo Ihr doch nie zuvor auf See wart.«

»Ich hätte nicht einmal damit gerechnet, jemals Inophe zu verlassen.«

»Nein?« Leutnantin Ravella neigte den Kopf zur Seite. »Warum das Navigieren mithilfe der Sterne lernen, warum die Sprache derer studieren, die in Eurem Hafen anlanden, wenn nicht, um einmal die Welt zu bereisen? Die meisten Menschen bemühen sich nicht um die Feinheiten von Grammatik und Satzbau, wenn es nicht einem höheren Ziel dient.«

Unruhig trat Elodie von einem Bein aufs andere. Es fühlte sich wie ein Verrat an ihrem Land an, jemals etwas anderes gewollt zu haben als ein Leben dort. Ravella hatte recht. Elodie hatte wohl angefangen, die Sprache der Händler zu lernen, um Inophes Hafen besser führen zu können, aber irgendwann war daraus mehr geworden, und sie lernte auch für sich selbst.

»Ich liebe Inophe und würde alles für mein Volk tun, selbst wenn das bedeuten würde, seine Ufer niemals zu verlassen«, sagte sie. »Doch ich muss zugeben, dass ich durchaus davon geträumt habe, die Abenteuer aus den Geschichten der Seeleute eines Tages selbst zu erleben. Und dank Euch ist es mir nun möglich, die Pflicht an meinem Land zu erfüllen und gleichzeitig die Grenzen dessen zu erweitern, was ich für mein Leben hielt.«

Leutnantin Ravella zuckte zusammen. Zumindest erschien es Elodie so, doch im nächsten Augenblick war der Ausdruck verschwunden und einem distanzierten Lächeln gewichen, das Elodie gut von Händlern kannte, die ihren Bedingungen nicht zustimmten und nach einem Weg suchten, das Ganze zu drehen.

Oder war es doch Elodie gewesen, die wieder irgendeinen gesellschaftlichen Fehltritt begangen hatte? Diese Erklärung kam ihr jedenfalls schlüssig vor. »Vergebt mir, wenn ich etwas Falsches gesagt habe. Das war nicht meine Absicht, aber manchmal bin ich, na ja …«

Leutnantin Ravella schüttelte den Kopf. »Nein, Mylady. Ich dachte wohl nur kurz an die Verpflichtungen, die Sie als Prinzessin erwarten.« Der Ausdruck der Gesandten blieb förmlich, was einen gravierenden Unterschied zu der ungezwungenen Umgangsweise darstellte, die sie für den größten Teil ihrer Zeit auf See miteinander gepflegt hatten.

»Ich nehme Verpflichtungen sehr ernst«, sagte Elodie. »Bitte sorgt Euch um meinetwillen nicht darum. Ich versichere Euch, dass ich leisten werde, was auch immer Aurea von mir als Prinzessin erwarten wird. Solange es keine beeindruckenden Reden sind.«

Elodies Versuch, die Stimmung aufzulockern, scheiterte.

»Natürlich, Mylady«, erwiderte Leutnantin Ravella mit einem steifen Lächeln. »Wenn Ihr mich nun entschuldigen wollt, ich habe vor unserer Ankunft noch etwas zu erledigen, wie ich mich gerade erinnere.« Sie verbeugte sich knapp und eilte unter Deck zu den Kabinen.

Elodie seufzte. Wenn sie erst einmal in Aurea angekommen war, sollte sie wohl so wenig wie möglich sagen. Zumindest so lange, bis die Heirat offiziell war. So würde Prinz Henry vielleicht nicht seine Meinung ändern und sich auf die Suche nach einer Frau machen, die sich nicht bei jeder Gelegenheit um Kopf und Kragen redete.

Im nächsten Moment kam Floria an Deck gestürmt. Mit ihren dreizehn Jahren und ihren üppigen schwarzen Zöpfen war sie ein Ausbund an wilder Ausgelassenheit. »Ich hab dein Rätsel gelöst!«, rief sie und winkte Elodie aufgeregt mit dem Stück Papier zu, das diese ihr am Morgen gegeben hatte. »Mit deinen Scheinausgängen legst du mich nicht rein!«

Elodie schnappte ihrer Schwester das Papier weg und überprüfte deren Arbeit. Floria hatte tatsächlich den richtigen Weg aus dem schiffsförmigen Irrgarten gefunden.

Ihre Stiefmutter, Lady Lucinda Bayford, fest in ein graues, hochgeschlossenes Wollkleid geschnürt, trat zu ihnen an Deck. Sie war die Art Frau, deren Schönheit und Persönlichkeit an eine Bronzestatue erinnerten – würdevoll und elegant, aber vollkommen unbeweglich.

»Haben wir diese fürchterliche Odyssee bald hinter uns gebracht?«, stöhnte sie. »Wir sind seit dreiundsechzig Tagen auf diesem Schiff, und ich bin klamm bis auf die Knochen.«

»Liebling«, rief Lord Bayford, während er die Treppe hochkam, »hier ist dein Umhang.« Er trat an Deck und wickelte seine Frau in eine dicke silberne Pelerine, die mit Sandfuchsfell gefüttert war.

»Wir werden uns alle den Tod holen, noch ehe wir in Aurea ankommen«, murrte Lady Bayford.

Plötzlich durchdrang ein Strahl Mondlicht den dichten Nebel. Elodie verschlug es den Atem, als sie die Sterne sah. »Merdú!«

Lady Bayford zuckte zusammen, als sie diesen ungehobelten Ausdruck hörte, den Elodie von den Seemännern gelernt hatte. Doch jetzt war nicht die Zeit, sich um das Zartgefühl ihrer Stiefmutter zu kümmern, denn wenn Elodies Berechnungen stimmten …

»Was ist los?«, fragte Floria.

Elodie antwortete nicht, sondern sprang in die Wanten und fing an zu klettern.

»Komm sofort da runter!«, rief Lady Bayford entsetzt. »Du kannst nicht schwimmen! Du wirst runterfallen und sterben!«

Elodie würde nicht runterfallen. Ihr Leben lang war sie auf gewaltige Eukalyptusbäume geklettert.

»Und die Seemänner können dir unter den Rock gucken!«, fügte Lady Bayford noch hinzu, als würde diese Tatsache ebenso schwer wiegen wie Elodies Leben.

»Sie trägt doch Kniehosen unter ihrem Rock«, warf Floria ein.

Elodie lachte. Als würde das den Skandal relativieren, dass eine Frau jedermann einen Blick unter ihre Röcke gewährte. Aber auch das kümmerte Elodie gerade herzlich wenig. Von Bedeutung war nur …

»Pari u navio!«, rief sie den Seemännern zu, als sie oben im Tauwerk angekommen war. »Haltet das Schiff sofort an!«

Der alte Kapitän Croat, der hinter seinem Steuerrad vor sich hin gedämmert hatte, sprang hastig auf.

»Ihr habt die Lady gehört!«, blaffte er seine Männer an, »verlangsamt den Kurs!«

Das Schiff ächzte, als sich die Segel lockerten, das Tuch mit dem Wind schwang und der Schub nachließ. Das Mondlicht war wieder hinter der Nebelwand verschwunden, und das Schiff trieb blind vor sich hin. Die Stille an Deck war wie der Nebel, zum Schneiden dick. In Atemlosigkeit erstarrt, erwartete jeder das, was Elodie gesehen hatte.

Und dann tauchten unweit vom Schiff zwei bedrohliche Schatten auf. Die Seeleute reckten ihre Hälse nach den Umrissen.

Hungrige, mit rasiermesserscharfen Zähnen bewehrte Kiefer ragten über ihnen empor.

»Steindrachen«, flüsterte Elodie ehrfürchtig. Leutnantin Ravella hatte ihr von ihnen erzählt, sie markierten die Außengrenzen Aureas. Tau glitzerte auf den eingemeißelten Schuppen, die Augen aus Topas funkelten im Mondlicht, das nun durch den Nebel brach, und wie Fontänen sprudelte Wasser aus den geöffneten Rachen und benetzte das Schiff wie Regen.

»Malseùr«, raunten Gaumiot und einige der anderen Seeleute. Zum Schutz vor Unheil legten sie die Hände auf ihre Herzen.

Elodie aber lächelte. Es gab keine Drachen, das waren Hirngespinste. Das hier war kein böses Omen. Wenn überhaupt, dann konnte man darin ein Symbol für all die unbekannten Abenteuer erkennen, die noch vor ihr lagen.

Von ihrem Platz im Tauwerk aus streckte sie ihre Arme weit aus. Der Wind blähte die langen Ärmel ihres Kleides auf, und für einen kurzen Augenblick hatte Elodie das Gefühl, fliegen zu können. Zwei Jahrzehnte im kleinen Herzogtum Inophe. Zwei Jahrzehnte grübeln darüber, was es dort draußen in der Welt noch so geben mochte. Ein Leben lang aushalten, dass sie all diese Geschichten immer nur hören, aber niemals selbst erleben würde.

Und nun dies … Elodie atmete tief die salzige Luft ein. Sie tat es. Sie rettete ihr Land und brach gleichzeitig aus.

Auch das scheinbar vorhersehbarste Leben kann das Unerwartete bergen.

Kapitän Croat manövrierte das Schiff um die steinernen Wächter herum.

»Die gefallen mir nicht«, sagte Lady Bayford schaudernd.

»Ich finde sie wunderschön«, erwiderte Elodie und rutschte an einem Tau zurück aufs Deck.

Als das Schiff die Drachenstatuen passiert hatte, lichtete sich der Nebel schlagartig, als wäre ein Vorhang aufgezogen worden, und gab den Blick frei auf eine saphirblaue Lagune vor einer grünen Insel, die sich vor ihnen am Horizont erstreckte. Floria, die neben Elodie stand, fragte staunend: »Ist – ist es das? Unser Ziel?«

Im Osten lagen, so weit das Auge reichte, grüne Haine und sanfte Weizenfelder. Der Westen wurde von einem majestätischen violettgrauen Massiv dominiert, dessen Spitze von Wolken und Sternen bekrönt wurde. Im schmeichelnden Licht des Mondes funkelte ein goldener Palast.

Lord Bayford legte die Arme um seine beiden Töchter. »Willkommen, meine Täubchen, auf der Insel Aurea.«

Leutnantin Ravella ging als Erste von Bord und ritt zum Palast, um die Kunde von ihrer Ankunft zu überbringen. Noch immer fragte sich Elodie, warum sich das Verhalten der königlichen Gesandten so verändert hatte, als sie sich Aurea näherten, aber bald schon war sie wieder abgelenkt, denn eine goldene Kutsche kam herangefahren, um sie und ihre Familie vom Hafen abzuholen.

Mit der aufgehenden Sonne traten sie ihre Reise ins Innere der Insel an. Floria hielt Elodies Hand ganz fest und drückte sie jedes Mal, wenn sie etwas sah, was sie begeisterte.

»Sieh dir diese Gärten an!« Floria zeigte aufgeregt auf die endlosen Baumreihen, in denen die berühmte aureanische Silberbirne, die Henry in seinen Briefen erwähnt hatte, zuhauf hing, und auf die Hecken voller tiefroter Blutbeeren, die alle Welt wegen ihrer saftigen Süße und Heilkraft begehrte.

»Hier ist so viel … Grün«, wunderte sich Lady Bayford. »Woher haben sie genug Wasser für all diese Pflanzen?«

»Aurea ist nicht staubtrocken wie unser eigenes armes Herzogtum«, antwortete Lord Bayford. »Elodies Hochzeit mit Prinz Henry erlaubt es uns, endlich unsere Sorgen wegen der Dürre zu begraben. Dank diesem Bund wird das Volk von Inophe nie wieder Hunger leiden müssen. In diesem Winter werden unsere Lager voll sein, und auch in allen Wintern danach.« Er beugte sich in der Kutsche nach vorne und drückte Elodies Knie. »Danke.«

Elodie biss sich auf die Lippe und nickte. Es war nicht so, als wollte sie Henry nicht heiraten – ihr Austausch ließ vermuten, dass er ein vernünftiger Mann war, der ihre Intelligenz zu schätzen wusste und einmal ein ehrbarer König sein würde. Es war vielmehr gerade die Tatsache, dass sie ihn heiraten wollte, die Elodie so verunsicherte. Sie hatte sich bereits mit der Aussicht auf ein entbehrungsreiches Leben in Inophe abgefunden. An Aurea erschien ihr alles wie ein Traum – vom Wohlstand dieser wunderschönen Insel bis hin zu Henrys Eifer, sie zu heiraten –, und Elodie hatte Angst, dass er sich in Luft auflösen könnte, wenn sie zu viel darüber nachdachte. Vielleicht würde sie irgendwann aufwachen und feststellen, dass sie sich alles bloß eingebildet hatte.

Und überhaupt: Warum sollte der zukünftige König von Aurea, einem der reichsten Länder der Welt, die Tochter des unbedeutenden Herrschers über ein dürregeplagtes Herzogtum ohne natürliche Rohstoffe (abgesehen von Guano), militärische Macht oder politischen Einfluss heiraten? Dieses Bündnis sicherte die Versorgung Inophes – aber was sprang dabei für Aurea heraus?

Elodies Vater und Leutnantin Ravella hatten ihr versichert, dass die Menschen in Aurea begeistert davon waren, eine gebildete Dame wie sie als zukünftige Prinzessin zu gewinnen, besonders angesichts ihrer Erfahrung darin, ein Volk zu führen.

Die Komplimente waren schmeichelhaft, musste Elodie gestehen, und dennoch … Es ergab einfach keinen rechten Sinn. Sie nestelte an einem losen Faden ihres Ärmels herum. Die gelbe Seide war der feinste Stoff, der ihre Haut je berührt hatte, und doch schien selbst er grob und trist neben der Pracht Aureas.

»Oooh, seht euch die Lämmchen an«, rief Floria, als die Kutsche an Weiden voller flauschiger Schafe vorbeirollte. Ihre Wolle, so hieß es, war weicher als jede andere, und sie lebten nur hier auf Aurea. Ein weiterer Grund für den Reichtum der Insel.

Elodie lehnte sich aus dem Kutschenfenster, um die Lämmer zu bewundern. Sie hatten große schwarze Augen und niedliche kleine Näschen. Als wären die Bilder aus einem Kinderbuch lebendig geworden.

»Kannst du es fassen, dass du hier leben wirst?«, fragte Floria. »Es ist unglaublich, aber wenn es jemand verdient, Prinzessin in einem Paradies zu sein, dann du.«

Lady Bayford schnaubte. »Niemand verdient mehr als irgendjemand anders«, murmelte sie leise.

Elodie rang den Drang nieder, die Augen zu verdrehen. Seit ihre Stiefmutter in ihrer aller Leben getreten war, kämpfte sie mit der Unsicherheit, die Lord Bayfords Liebe zu seinen Töchtern in ihr verursachte. Wie lächerlich! Eine erwachsene Frau, die seine Aufmerksamkeit nicht mit zwei Kindern teilen konnte.

Doch vielleicht lag der Grund hierfür auch in Elodies Ähnlichkeit mit ihrer Mutter: Jedes Mal, wenn Lady Bayford Elodie ansah, wurde sie daran erinnert, dass Lord Bayford vor ihr eine andere geliebt hatte – und wahrscheinlich noch immer liebte.

Die Kutsche fuhr durch malerische Dörfer mit reetgedeckten Hütten, Windmühlen und Marktplätzen, und alle Bauern und Händler blieben stehen, um sich zu verbeugen, wenn die Kutsche sie passierte. Sie sahen so anders aus als die Menschen in Inophe. Hier wie dort waren sie sonnengebräunt und kräftig, aber die Wangen der Aureaner waren voller, und ihr leichtes Lächeln ließ ein Leben in Fülle vermuten, das nicht durch den Kampf ums Überleben getrübt war. Die Kinder jagten lachend Elodies Kutsche hinterher, winkten und wetteiferten darum, wer von ihnen dem Gefährt am längsten folgen konnte, ehe es aus ihrem Blickfeld verschwand. Elodie winkte zwar, aber zurücklächeln konnte sie nicht, denn ihre Gedanken waren bei den Kindern von Inophe, die nie so sorglos sein konnten.

Aber vielleicht werden sie es von nun an sein, dachte sie. Schließlich war das der Grund gewesen, warum sie Prinz Henrys Antrag überhaupt angenommen hatte. Ihre Heirat würde das Wohlergehen ihres Volkes sichern.

Darüber konnte sie lächeln.

Als die gewundene Straße sie allmählich höher führte, hinaus aus dem fruchtbaren Tal und an den Fuß des Berges, kam der königliche Palast in Sicht. Obwohl Elodie vom Schiff aus die glänzenden Mauern bereits gesehen hatte, war der Anblick des Schlosses aus nächster Nähe schier überwältigend.

Märchenhaft erwuchs der Palast aus purem Gold dem violettgrauen Felsen. Er hatte drei Geschosse und war von schildförmigen Zinnen bekrönt, hinter denen sich sieben perfekt zylindrische Türme erhoben, ein jeder berankt von goldenen Rosen, die die Luft mit ihrem Honigduft erfüllten. Purpurfarbene Banner mit goldenen Quasten, die das Wappen Aureas zeigten – ein Drache, der, wie Elodie inzwischen wusste, in der einen Klaue eine Garbe Aurumweizen hielt und in der anderen Blutbeeren –, hingen erhaben über der Zugbrücke, und Flaggen mit dem gleichen Aufdruck flatterten überall in der warmen, sanften Brise.

Dieser Ort soll mein Zuhause werden?, dachte Elodie.

Was sie aber sagte, war: »Es muss schwer sein, das alles sauber zu halten.«

Lady Bayford stöhnte. »Bitte sag so etwas nicht, wenn du die königliche Familie kennenlernst.«

Als die Kutsche über die Zugbrücke gerollt war und im großen Hof hielt, war es Elodie, die die Stirn runzelte.

Niemand war gekommen, um sie zu begrüßen.

Verwirrt blickte sie sich um. Leutnantin Ravella war ein gutes Stück vorausgeritten. Und trotzdem war das einzige Geräusch, das sie vernahm, das Plätschern eines Brunnens in der Mitte des Hofes. Wie konnte es in einem Schloss so still sein? Und wohin war Leutnantin Ravella verschwunden?

»Äh, finde nur ich das ein bisschen komisch?«, fragte Floria.

Ihr Vater zwang sich zu einem Lächeln und versuchte, so auszusehen, als wäre das alles Teil des Plans gewesen. »Ich bin mir sicher, dass wir sie lediglich überrascht haben. Nach Kapitän Croats Berechnungen sind wir tatsächlich einen Tag zu früh …«

Wie aufs Stichwort kam plötzlich eine Handvoll livrierter Diener in den Hof geeilt. Der Kammerdiener verbeugte sich, und aus der Ferne drang eine leise Melodie an ihr Ohr.

»Mylord, Myladys, Eure Anwesenheit in Aurea ehrt uns.«

»Ihr habt eine nachlässige Art, das zu zeigen«, erwiderte Lady Bayford, während ihr einer der Diener aus der Kutsche half.

Der Kammerdiener zögerte, als erwöge er seine nächsten Worte genau. »Bitte verzeiht, Mylady. Es ist nur so, nun ja … man hat heute noch nicht mit Euch gerechnet.«

Lord Bayford lachte auf die für ihn typische sanfte Art, die immer eine beruhigende Wirkung auf Menschen hatte. Dasselbe Lachen, das Elodie geholfen hatte, den Tod ihrer Mutter durchzustehen, auch wenn der Verlust seiner Frau ihrem Vater genauso heftig zugesetzt hatte. »Unser Schiff segelte unter einem ausgezeichneten Wind«, sagte er. »Ich hoffe sehr, unsere frühzeitige Ankunft macht keine Umstände?«

»Nicht im Geringsten«, antwortete der Kammerdiener. Etwas an seinem Ton behagte Elodie nicht. Vielleicht war es aber auch sein wiederholtes übertriebenes Verbeugen oder die Tatsache, dass sein Lächeln nie seine Augen erreichte.

»Eure Ankunft macht ganz und gar keine Umstände«, sagte er, »Eure Zimmer sind bereit, wenn Ihr mir folgen wollt?«

Elodie hob eine Augenbraue: »Werden wir nicht vom König und der Königin empfangen? Und von Prinz Henry?« Elodie mochte nur eine unbedeutende Adelige aus einem verschlafenen Herzogtum sein, aber immerhin heiratete sie den Erben Aureas.

Wieder verbeugte sich der Kammerdiener. »Meine aufrichtigste Entschuldigung, aber die königliche Familie ist beim Gebet. Sie wird von Eurer Ankunft unterrichtet.«

Und damit bat er sie in den goldenen Palast. Aber anstatt den Haupteingang zu benutzen, führte er sie durch eine Reihe gewundener enger Flure.

»Sind das die Gesindegänge?« Lady Bayford riss schockiert die Augen auf.

Floria zog die Nase kraus. »Auf jeden Fall scheinen sie einer zukünftigen Prinzessin nicht angemessen.«

Nein, wirklich nicht, dachte Elodie. Und es gab keinen erkennbaren Grund für den seltsamen Empfang. Doch ihre Erfahrung hatte gezeigt, dass das Äußere oft nicht dem entsprach, was sich dahinter verbarg.

Dennoch …

Aber Elodie wollte Florias Aufregung keinen Dämpfer versetzen, also nahm sie den Arm ihrer Schwester und hakte sie unter. »Wir sollten uns geschmeichelt fühlen, Florchen. Nur Außenseiter bekommen die öffentlichen Räume eines Schlosses zu sehen. Hinter die Kulissen eines königlichen Zuhauses dürfen nur diejenigen einen Blick werfen, denen wirklich vertraut wird.«

Floria entspannte sich. »Wahrscheinlich hast du recht. Und als zukünftige Prinzessin kennst du bald alle Geheimnisse Aureas.«

Elodie

Der Kammerdiener führte sie eine dunkle Wendeltreppe hinauf, höher und höher, und Elodie wurde auf einmal klar, dass sie sich in einem der goldenen Türme befinden mussten.

Als sie zehn Stockwerke später schnaufend und keuchend endlich oben ankamen, waren alle, von Lord Bayfords Soldaten bis hin zu Floria, völlig durchgeschwitzt. Alle außer Elodie, die immer durch Inophes Dünenlandschaft gewandert war. Das Einzige, was ihr an dieser Treppe missfiel, war die Enge. Als Kind war sie einmal ausgerutscht und in einen Felsspalt geraten, und stundenlang hatte niemand nach ihr gesucht, weil man angenommen hatte, sie sei draußen und würde spielen oder die Gegend erkunden, wie sie es immer tat. Erst als sie nicht zum Abendessen erschien, hatten ihre Eltern gemerkt, dass etwas nicht stimmte.

Elodie hatte ihre Klaustrophobie nie ganz überwunden, dieses erstickende Gefühl, in der Falle zu sitzen und vielleicht für immer zwischen diesen Felsen eingeklemmt bleiben zu müssen. Als also der Kammerdiener die Tür am obersten Treppenabsatz öffnete, stürzte Elodie auf der Flucht vor der Enge hinaus.

Sie kniff die Augen zusammen, denn das Mondlicht, das durch die Fenster in den Raum fiel, war nach dem dunklen Treppenhaus gleißend hell.

Doch dann wurde ihr klar, dass die Helligkeit nicht bloß vom Mond ausging. Der gesamte Raum strahlte. Die Wände bestanden aus glänzendem Gold, genau wie die Möbel. Spiegel und Fensterbänke waren vergoldet, Bettüberwürfe und Tapeten und Teppiche ebenfalls, sogar die Federkiele auf dem Schreibtisch waren in Gold getaucht worden.

»Ich hoffe, das Zimmer ist zu Eurer Zufriedenheit«, sagte der Kammerdiener.

»Ähm, ja … das ist es«, antwortete Elodie, noch immer leicht unter Schock. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so viel Gold auf einmal gesehen. Und auch wenn es ihr schmeichelte, dass all dies für sie sein sollte, so drehte sich ihr doch der Magen um bei der Vorstellung, dass sie und ihr Volk so lange hatten leiden müssen, während andere so lebten.

Floria jedoch rannte kreischend an Elodie vorbei und warf sich aufs Bett. Eine Wolke aus Goldstaub stieg auf und rieselte langsam wieder auf sie herab.

Selbst Lady Bayford taute bei dem Anblick auf und strich mit der Hand über die feinen Goldverzierungen am Türrahmen.

»Meine Mitarbeiter werden Euch zu Diensten sein«, sagte der Kammerdiener zu Elodie. »In diesem Moment wird ein Bad eingelassen, und anschließend wird Euch das Abendessen gereicht.« Er nahm eine goldene Glocke in die Hand, die auf dem Nachtschrank gelegen hatte. »Klingelt, sollte es noch irgendetwas geben, das Ihr wünscht. Wenn nicht, so werde ich beim ersten Licht des neues Tages wiederkommen, um Euch zu geleiten.«

Elodie runzelte die Stirn. »Geleiten? Wohin?«

»Zu Eurem Prinzen natürlich.« Der Kammerdiener klingelte einmal, es war lediglich ein sanftes Pling zu vernehmen, und schon kamen Diener hereingeströmt, die Arme voller Blumen, wie Elodie sie noch nie gesehen hatte. Sie sahen aus wie Kristalle in den Farben von Juwelen – rubinrot, citringelb, amethystviolett. Sie streckte die Hand aus, um sie zu berühren.

»Oh, seid vorsichtig, Mylady«, sagte eine Dienerin und trat einen Schritt zurück, sodass Elodies Finger ins Leere griffen. »Anthodite sind hübsch, aber sehr scharf. Ihr müsst Euch vor ihnen in Acht nehmen.«

Wie bei bestimmten Menschen, dachte Elodie und warf ihrer schönen, aber kratzbürstigen Stiefmutter einen flüchtigen Blick zu.

Lord Bayford, nach dem langen Treppenaufstieg endlich wieder zu Atem gekommen, drückte Elodies Schulter. »Und, was denkst du?«

»Ich hoffe, mein Leben hier wird aus mehr bestehen als aus schönen Zimmern und Blumen.«

Ihr Vater zog amüsiert eine Braue hoch.

»So meinte ich das nicht«, beeilte sich Elodie zu sagen. »Ich bin nicht undankbar. Im Gegenteil, wirklich. Aber ich hoffe, dass Henry …«

»Gut aussieht«, beendete Floria den Satz und rettete Elodie vor sich selbst. Sie rutschte vom Bett und wirbelte glückselig durch das goldene Turmzimmer.

Elodie lachte. »Ja, das wäre ein netter Bonus.«

Ihr Vater schmunzelte. »Nun gut, lasst uns Elodie ein bisschen Zeit geben, um hier anzukommen, ja? Außerdem könnten auch wir eine Erfrischung und ein Abendessen vertragen. Ich freue mich auf ein Bad und eine warme Mahlzeit auf festem Boden, ohne natürlich unserem exzellenten Schiffskoch zu nahe treten zu wollen. Würdet Ihr uns den Weg weisen?«

Lady Bayford ließ noch einen letzten Blick durch Elodies Zimmer wandern und bemerkte in spitzem Ton: »Ich will hoffen, dass unsere Unterkunft ebenso prächtig sein wird.«

Floria schnitt eine Grimasse, aber so, dass nur Elodie es sehen konnte. Elodie zwinkerte ihr zu und küsste ihre süße Schwester auf die Stirn. »Bis morgen früh?«

»Ich kann’s kaum erwarten!« Hüpfend folgte Floria ihrem Vater und ihrer Stiefmutter hinaus.

Elodie atmete aus. Sie war erleichtert, denn zum ersten Mal seit zwei Monaten hatte sie einen ruhigen Moment für sich. Sie ging in ihrem Zimmer umher und nahm diese neue Welt in sich auf. Die Anthoditkristalle erfüllten den Raum mit einem himmlischen Duft, das Mondlicht brach sich in den kristallenen Blütenblättern und warf blasse Lichtregenbögen an die goldenen Wände. Auf ihrem Nachttisch stand ein kleiner Teller mit Butterkeksen aus Inophe. Als hätte die königliche Küche sie mit einem kleinen Andenken an Zuhause begrüßen wollen. Vielleicht würde diese Ehe nicht nur ganz in Ordnung, sondern mehr als das werden?

Auf dem Schreibtisch unter dem Panoramafenster lag eine große verpackte Schachtel. Darum war eine breite goldene Schleife gebunden, und auf einer goldfarbenen Karte stand:

Für meine zukünftige Ehefrau,

Möge dieses Geschenk Euch an Eurem ersten Abend in Aurea Freude bereiten.

»Wie aufmerksam«, murmelte Elodie und löste die Schleife. Sorgfältig faltete sie das Band zusammen und legte es auf den Tisch, dann wickelte sie das Paket vorsichtig weiter aus und achtete tunlichst darauf, dass das Goldpapier nicht riss. Es war dick und kostbar, sie würde es aufheben, damit es wiederverwendet werden konnte.

»Oh, Henry«, hauchte sie, als sie sah, was sich in der Schachtel befand.

Es war eine golden eingerahmte Sternenkarte, die den Himmel über Aurea zeigte, wie er in drei Nächten zu sehen sein würde – in ihrer Hochzeitsnacht.

Ein Lächeln breitete sich auf Elodies Gesicht aus. Sie berührte sanft die goldenen Punkte, die für die Sterne standen, und fuhr die silbernen Linien entlang, die sie verbanden. »Wenn das die Sorte Geschenk ist, die du mir in Zukunft machen wirst, dann ist das eine vielversprechende Partnerschaft.«

Sie sah sich weiter im Raum um und entdeckte noch eine kleinere Schachtel auf ihrem Waschtisch. Als Elodie sie auspackte, wurde ihr die Brust eng vor Schuldgefühl im Angesicht dieser Verschwendung, wo doch just in diesem Moment die Menschen in Inophe noch immer hungerten.

Die Schachtel war mit goldenem Samt bezogen und mit purpurner Seide ausgekleidet. Darin lag ein Paar goldene Haarkämme, die mit einem Mosaik aus winzigen Schuppen verziert waren. Sie erinnerten Elodie an den Schwanz der Meerjungfrau, die in den Bug von Kapitän Croats Schiff geschnitzt war.

Eine weitere Karte mit Henrys eckiger Handschrift war beigefügt:

Ich hoffe, Ihr erweist mir die Ehre und tragt diese an unserem Hochzeitstag.

Elodies Hand zitterte, als sie einen der Kämme aus der Schachtel nahm und dessen Gewicht spürte. Nur einer dieser Kämme könnte alle Familien Inophes einen ganzen Winter lang ernähren, vielleicht sogar länger. Und für Henry und Aurea waren das lediglich Schmuckstücke.

Aber gleichzeitig wollte sie sich die Kämme unbedingt ins Haar stecken. Noch nie hatte sie so wunderschöne Dinge besessen. Niemals in ihrem Leben war sie derart verwöhnt worden.

Aus den königlichen Gärten erklang auf einmal leise Musik und lenkte Elodie von ihren widerstreitenden Gefühlen ab. Im Turm gegenüber trat eine Frau aus dem Schatten der Vorhänge ins Mondlicht.

Sie schien Anfang zwanzig zu sein, wie Elodie, aber sie hatte seidiges blondes Haar, das ihr bis auf die Hüften fiel, und sommersprossige Haut. Sie trug ein hübsches blaues Kleid, es hatte die Farbe einer Lagune, und ihre Juwelenohrringe funkelten in der Nacht.

Wer war sie? Eine Hofdame? Eine zukünftige Schwägerin?

Die Frau blickte hinunter in die königlichen Gärten, aber sie sah … traurig aus. Ihre Augen waren trüb und ihre Schultern zusammengesackt.

Warum reagierte sie auf diese Art auf die Feierlichkeiten?

»Hallo?«, rief Elodie.

Keine Antwort. Vielleicht verstand sie kein Ingleterr.

»Scuzimme? Hayo?« Elodie versuchte es mit zwei anderen Begrüßungen, die sie von den Händlern gelernt hatte.

Die Frau blickte auf.

Elodie lächelte und winkte.

Doch sobald die Frau sie erblickt hatte, riss sie die Augen auf, schüttelte den Kopf und zog die Vorhänge hastig zu.

Was zur …?

»Puh, ziemlich unhöflich«, murmelte Elodie.

Eine Schwalbe landete auf dem Fenstersims und zwitscherte zustimmend.

Elodie musste grinsen. »Ich weiß. Ich wollte eh nicht mit ihr befreundet sein.«

Die Schwalbe legte ihr Köpfchen schief, sah Elodie an und hüpfte hinüber zu einer goldenen Sanduhr, die auf dem Fenstersims stand.

Elodie hatte sie schon gesehen, ihr aber keine Beachtung geschenkt. Jetzt erkannte sie, dass der Sand purpurfarben war und dass der vergoldete hölzerne Rahmen die Form von zwei verschnörkelten Vs hatte, deren Spitzen sich in der Mitte trafen. Elodie nahm sie in die Hand und drehte sie um, sodass der dunkelrote Sand langsam durch das eine goldene V in das andere rieselte.

Gemeinsam sahen Elodie und die Schwalbe zu, wie die Zeit verrann. Sie hatte noch nie einen Vogel gesehen, der so geduldig war, der so lange stillhielt und sich auf eine Sache konzentrierte.

Doch sobald das letzte Sandkorn durch das goldene V gefallen war, stieß die Schwalbe ein scharfes Kreischen aus und schoss davon.

»Hm, na schön, dann mal auf Wiedersehen.« Elodie hoffte, dass nicht alle in Aurea so kurz angebunden waren wie die Schwalbe und die Prinzessin im Turm gegenüber.

Sie hob die Sanduhr hoch, um sie noch einmal umzudrehen. Da bemerkte sie einen dunklen, rötlichbraunen Fleck an der Spitze eines der goldenen Vs. Er hatte die Farbe von getrocknetem Blut. Elodie berührte ihn.

Plötzlich –

Das Aufblitzen leuchtend grüner Augen.

Rotes Haar.

Feuer, das von der glänzenden Oberfläche einer Krone zurückgeworfen wird.

Elodie wich zurück und stieß an die Stuhllehne hinter ihr. Ihr Herz raste. Der Schwung beförderte die Sanduhr vom Fenstersims, und zehn Stockwerke tiefer zerschellte sie.

Was zur Hölle war da eben passiert?

Sie keuchte, schnappte nach Luft, als wäre sie gerade fast ertrunken.

Doch als sie wieder zu Atem gekommen war, musste sie lachen.

Oje, ich bin so müde, dass ich mit offenen Augen träume, und ich beurteile die Bewohner einer ganzen Insel aufgrund des Wesens eines Vogels.

Elodie war in der Tat erschöpft, sowohl von der monatelangen Reise als auch von der Aufregung, hier in Aurea zu sein. Außerdem würde sie gleich am nächsten Morgen ihren zukünftigen Ehemann kennenlernen. Kein Wunder also, dass sie ein wenig durcheinander war.

Sie lehnte sich aus dem Fenster und guckte in die Tiefe.

Die zerborstene Sanduhr war nur ein kleiner Haufen kaputtes Holz und Glas, mehr nicht.

Elodie verdrehte die Augen angesichts ihrer übersprudelnden Fantasie und musste noch einmal über sich selbst lachen, während sie sich wieder in ihr Zimmer zurückzog.

Die Tatsache, dass sie in wenigen Stunden Henry kennenlernen würde, raubte Elodie den Schlaf. Unruhig warf sie sich im Bett hin und her. Sie deckte sich ab, sie deckte sich wieder zu. Sie zählte Wüstenziegen, die grauen mit den buschigen Bärten, die in ihrer Heimat die Hochebenen bevölkerten. Als auch das keine Wirkung zeigte, versuchte sie ihre Muskeln zu entspannen und konzentrierte sich dabei erst auf ihre Zehen, dann auf ihre Waden, dann auf die durch Jahre des Kletterns und Wanderns kräftig gewordenen Oberschenkelmuskeln. Bauch, Brust, dann die schlanken, starken Armmuskeln. Ihr Hals. Ihr Kopf. Sogar ihre Ohren.

Immer noch wach.

Elodie seufzte und gab auf. Um sich von ihrer Schlaflosigkeit abzulenken, begann sie zu üben, was sie am nächsten Tag zu König Rodrick, zu Königin Isabelle und vor allem zu Henry sagen würde. Sie konnte sich keine unbeholfenen Improvisationen und keine herausgeplatzten Taktlosigkeiten leisten. Elodie brauchte einen genauen Text, an dem sie sich festhalten konnte.

»Eure Majestäten, es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen.«

»Eure Majestäten, es ist mir eine große Ehre, hier bei Euch sein zu dürfen.«

»Eure Majestäten, es ist Euch eine große Ehre, hier bei mir … ah! Ich meine, ich bin ehrhaft … Quatsch! Liebe Majestäten … Eure Majestäten, es ist mir eine große Ehre, hier bei Euch sein zu dürfen.«

O mein Gott, Hilfe!

Elodie richtete ihren Blick stur auf die dunkle Zimmerdecke und konzentrierte sich nur auf die Worte, die sie sagen wollte.

Bis die Decke plötzlich anfing sich zu bewegen.

»Was zur Hölle passiert hier?«, schrie Elodie auf und sah plötzlich wieder die Sanduhr vor sich. Sie setzte sich hastig auf und tastete nach der Lampe auf ihrem Nachttisch.

Das sanfte Flackern erhellte eine goldene Decke, die mit dem gleichen Mosaik geschmückt war wie die Haarkämme, nur dass die schildartigen Formen hier anders angeordnet waren und sich von der Mitte der Decke zu den Ecken hin ausbreiteten. Elodie starrte nach oben, die Bettdecke wie zum Schutz eng um sich geschlungen. Sie wartete darauf, dass sich die Decke wieder bewegte, und hoffte gleichzeitig, dass die Schatten ihr lediglich einen Streich gespielt hatten.

Da war es wieder! Als würde das Mosaik wie eine Schlange dahingleiten …

Sie dachte scharf nach. Die Decke kann sich nicht bewegen. Es muss also eine logische Erklärung dafür geben.

Zumindest hoffte Elodie das.

Sie beobachtete die Decke noch ein paar Sekunden lang.

Das Mosaik bewegte sich nicht wirklich. Es hatte nur so gewirkt, weil das flackernde Licht von einer Kachel zur nächsten getanzt war. Wie zuvor bei der Sanduhr war es einzig und allein ihrer Erschöpfung zu verdanken, dass sie sich diese Dinge einbildete.

Doch das Licht kam gar nicht von ihrer Lampe. Es schien von draußen herein. Elodie glitt aus dem Bett und eilte zum Fenster, fest entschlossen, auch ihre letzten Zweifel auszuräumen.

Es war eine pechschwarze Nacht, nur die Berghänge glühten gespenstisch.

Fackeln. Ein ganzer Zug Fackeln.

»Was ist da draußen los?«

Doch von ihrem Fenster aus ließ sich nur schwer etwas erkennen, denn der Turm gegenüber – der mit der blonden Frau – versperrte ihr die Sicht. Elodie schnappte sich ihren Umhang und schlich die Treppe hinunter.

Als sie zwei Drittel des Weges hinter sich gebracht hatte, stieß sie eine der Türen auf und trat hinaus auf den Wehrgang des Schlosses. Einige Meter weiter war die Palastmauer gewölbt. Von dort würde sie viel besser sehen können.

Elodie schrie auf, als sie um die Kurve bog und in Floria hineinlief, die an den Zinnen lehnte.

»Merdú, Florchen, du hast mich erschreckt! Was treibst du hier draußen? Es ist drei Uhr morgens!«

Ihre kleine Schwester grinste spöttisch: »Wahrscheinlich das Gleiche wie du. Versuchen herauszufinden, was da am Mount Khaevis vor sich geht.«

»Da bist du mir wohl zuvorgekommen«, sagte Elodie, war aber heilfroh, ihre Schwester zu sehen, und drückte sie an sich.

Dabei bemerkte sie, was Floria anhatte, nämlich einen silbernen Umhang, der mit Sandfuchsfell gefüttert war. »Ist das der Umhang unserer Stiefmutter?«

Floria grinste breit. »Steht mir besser.«

»Sie wird einen Umhang aus dir machen, wenn sie merkt, dass er nicht mehr in ihrer Truhe liegt. Das ist ihr kostbarstes Stück.«

Floria kicherte.

Doch im nächsten Augenblick wurde ihre Aufmerksamkeit wieder von den Fackeln abgelenkt, denn der Zug begann sich in Bewegung zu setzen.

»Was, glaubst du, machen die dort oben?«, fragte Elodie.

»Ich hatte gehofft, du wüsstest das«, gab Floria zurück.

Es hatte etwas Unheimliches, wie die kleinen Lichtpunkte dort durch die tiefdunkle Nacht tanzten. Stirnrunzelnd beobachtete Elodie, wie die im Wind zitternden Lichter den Berg hinaufwanderten. Auf halber Strecke blieben sie stehen und verweilten dort für etwa zehn, vielleicht fünfzehn Minuten.

Dann plötzlich verloschen sie, alle auf einmal.

Die Härchen auf Elodies Armen stellten sich auf.

Floria atmete hörbar aus, doch sie hatte offenbar keine Angst, sondern klatschte leise in die Hände. »Das war großartig«, raunte sie.

Wirklich? Elodie starrte auf die schwarze Bergfront und versuchte zu sehen, was ihre Schwester sah.

»Ihre synchronen Bewegungen«, sagte Floria, »und die Wirkung des hellen Lichts in Dunkelheit und Nebel …«

Elodie nahm sich zusammen und versuchte, wie ihre Schwester zu denken. Ihre Aufregung in Bezug auf die königliche Familie und überhaupt auf die Veränderungen, die nun bevorstanden, brachten sie augenscheinlich völlig durcheinander. Nur weil hier mitten in der Nacht ein Fackelzug stattfand, musste man sich noch lange nicht derart beunruhigen. Viele gute Dinge passierten unter der Aufsicht des Mondes – man konnte Marshmallows am Lagerfeuer rösten. Mithilfe der Sterne Seereisen planen. Und dann war da noch der Ausdruck auf Florchens Gesicht, wie sie einem die Hand hielt und sich sehnlichst wünschte, ein paar Sternschnuppen zu sehen.

Munter plapperte Floria weiter: »Das war wahrscheinlich eine aureanische Vor-Hochzeits-Tradition!«

»Oder es hatte gar nichts mit meiner Hochzeit zu tun«, sagte Elodie, und auch wenn sich das ein wenig streitlustig angehört hatte, so wusste Elodie doch, dass sie sich nicht entschuldigen oder erklären musste, denn ihre Schwester verstand sie ohne Worte. Floria wusste, dass Elodie damit nur hatte sagen wollen, dass sie nicht wie eine Person wirken wollte, die meint, alles im Königreich drehe sich nur um sie selbst. Sie umarmte Floria noch einmal, und Floria drückte sie bestätigend zurück.

Sie blieben noch eine Weile draußen stehen, doch die Fackeln gingen nicht wieder an. Irgendwann wurde ihnen kalt, und so zogen sie sich auf die Turmstufen zurück.

»El?«, sagte Floria mit leiser Stimme.

»Ja?«

»Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun soll.«

»Wie meinst du das?« Elodie guckte ihre Schwester ernst an. »Du bist klug und stark und selbstständig. Du brauchst mich nicht mehr.«

»Ich weiß, dass ich dich nicht brauche … Aber ich will dich bei mir haben. Wer wird sich Rätsel für mich ausdenken? Wer lässt mich unter seine Decke schlüpfen, wenn ich Albträume habe? Und wer lacht darüber, wenn ich mir Stiefmutters Sachen ›ausleihe‹? Du warst immer da, mein ganzes Leben lang. Ich will nicht, dass du gehst.« Ihre Schwester, die sich mit ihren dreizehn Jahren für gewöhnlich sehr erwachsen fand, sah auf einmal ganz klein aus unter Lady Bayfords großem Umhang. Elodie hätte sie am liebsten auf den Arm genommen, so wie sie es immer getan hatte, als Floria noch klein war.

»Hey, willst du dich heute zu mir ins Bett kuscheln? Wie früher?«

Floria biss sich auf die Lippe und nickte. »Das wäre schön.«

Elodie musste nicht extra erwähnen, dass sie die Gesellschaft heute ebenso brauchte.