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Mit leichter Feder beschreibt Tim Uhlemann seine fulminante Auswanderung ins kleine Königreich Dänemark und verbindet dabei gnadenlose Beobachtungsgabe mit Selbstironie und einem großen Herzen: eine nahezu unschlagbare Mischung. Ein Streifzug durch die bunte dänische Welt, Trübsinn und Langeweile haben hier keine Chance. Wie ticken die Menschen an der Westküste Jütlands? Warum werden die Dänen regelmäßig zum glücklichsten Volk der Erde gekürt? Wie steht das kleine Königreich heute zu Europa und dem Euro? Dieses Länderporträt über unseren nördlichen Nachbarn liefert die Antworten. Darüber hinaus gewährt Tim Uhlemann, stetig begleitet mit einem Augenzwinkern, tiefe Einblicke in die wundersame Welt der Ferienhausvermietung und beschreibt das Leben im Fischerdörfchen Hvide Sande. Auswandererglück oder Existenzangst? Uhlemann blättert mit jedem Kapitel andere Facetten des Landes auf. Er führt dabei liebevoll und hintergründig in seine Wahlheimat ein, dazwischen grundsympathische und unvergessliche Besuche in Norwegen und Island mit einer landschaftlichen Vielfalt, die ihresgleichen sucht. Für alle, die schon immer wissen wollten, wie der dänische Alltag hinter der Urlaubsfassade aussieht. Wecke den Dänen in dir! Mit einem Vorwort von Norbert Heisterkamp.
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Seitenzahl: 406
Veröffentlichungsjahr: 2025
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Von Tim Uhlemann ist außerdem im Lau-Verlag erschienen:
Dänemark– Leben auf der schönsten Sandbank der Welt
Im Frühjahr 2025 erscheint:
Dänemark– Die beste Reise meines Lebens
Instagram: @timuhlemann
Bildnachweis: Bilder S. 186 und 188 © Archiv Henne Strand Camping. Sämtliche Fotos von Tim Uhlemann.
1. Auflage, 6. Nachdruck 2025
1. Auflage 2020
ISBN 978-3-95768-214-7
eISBN 978-3-95768-272-7
© 2025 by Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek
Lau-Verlag & Handel KG
Kirschenweg 10a
21465 Reinbek
E-Mail: [email protected]
www.lau-verlag.de
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Umschlagentwurf: pl, Lau-Verlag, Reinbek
Umschlagabbildung: © Tim Uhlemann
Satz und Layout: pl, Lau-Verlag, Reinbek
Vorwort
1. Hvide Sande calling
2. Nordsø-Beach-Marathon
3. Æ Hawfest! Operation: Gute Laune!
4. Dänemark - das Mutterland aller Ferienhäuser
5. Mit Dänen on Tour …
6. Skandinavischer Winter
7. Hauptberuf: Nebenjobber
8. Leni, Leni, Leni …
9. Blåtårn / Der blaue Turm!
10. Das dänische Bildungssystem: Lerne lieber ungewöhnlich
11. Dieses Dänisch - willkommen in der Hilflosigkeit
12. Henne Strand Camping
13. Ferienhausvermietung
14. 48 Stunden Norwegen
15. 72 Stunden Island
16. Hvide Sande Boldklubben Klitten
17. Bützje-Alarm oder meine erste dänische Hochzeit
18. Hvide Sande - 9 Jahre danach!
19. Gekommen, um zu bleiben …
20. Woran man merkt, dass man schon ziemlich lange in Dänemark lebt
21. Danke, danke, danke
Achtung! Lesedelikatesse! Wirkt ansteckend! »Dänemark – gekommen, um zu bleiben« – eine leidenschaftlich erzählte Lektüre von Tim Uhlemann, die ausgezeichnet unterhält und das Herz erwärmt. Große Kunst. Ohne Allüren.
Mit jeder Seite wird man mehr und mehr in sein lustiges und persönliches Universum hineingezogen, dabei werden nicht nur alle erdenklichen Humorzentren aktiviert, obendrein schwingt sich der Autor immer wieder zu großartigen Beschreibungen auf. Kurzweilig, lebendig, erfrischend und voller Wortakrobatik schildert Uhlemann all die Absurditäten des Alltags, die ihm die dänische Kultur beschert, der alltägliche Wahnsinn, der einem begegnet, wenn man den Mut hat und den Schritt in die Fremde wagt. Ein ganz heißer Tipp für Freunde lustiger Bücher, herrlich leicht, aber dennoch fesselnd zu lesen, auch für jene lesenswert, die mit Dänemark weniger vertraut sind. Maximale Unterhaltung mit sympathischen Charakteren.
Einziger Nachteil: Es ist zu kurz! Und was mich als Schauspieler interessiert: Wann kommt der Film?
Norbert Heisterkamp
Norbert Heisterkamp (*6. Mai 1962) ist ein deutscher Schauspieler mit einer ungewöhnlichen Karriere. Der gelernte Elektriker kam in den 90er-Jahren über seinen Traumjob als Stuntman zum Film. Er wirkte in seiner bisher 27-jährigen Laufbahn bei mehr als 280 Film- und Fernsehproduktionen mit. Sein großer Durchbruch gelang ihm in der deutschen Comedyserie »Alles Atze« als Harry, dem Kumpel von Atze Schröder. Auch in dem Kinofilm »7 Zwerge – Männer allein im Wald« und der Fortsetzung »7 Zwerge – der Wald ist nicht genug« spielte er als achter Zwerg die Hauptrolle »Ralfie«. In dem Animationsfilm »Der 7bte Zwerg« leiht er »Ralfie« seine Stimme. (Auszeichnungen: 3 x deutscher Comedy-Preis, 2 x goldene Leinwand, 1 x deutscher Fernsehpreis.)
Endlich: Der neue Uhlemann – 21,7 cm lang, 13,9 cm breit! Werden Sie Zeuge, wie ein kleiner Mann seine gesamte Auswanderung auf wenige Seiten pfercht und trotzdem alles erzählt. Menschheit, halte dich fest!
Zur Bedienungsanleitung dieses Buches sei hinzugefügt: Dänemark macht süchtig. Ein Versprechen und eine Warnung zugleich. Wahrscheinlich sind schon einige Leserbriefe mit dem Hinweis darauf, dass Sucht eine ernste Krankheit sei und nichts, womit man kokettiert, in Arbeit. Einige werden es vielleicht verwerflich finden, dass diese Sucht auf den folgenden Seiten noch befeuert wird und Suchtmittel wie Meer, Sand, Strand und Dünen noch beworben werden. Ein Land, das zur Sucht wird. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker – oder lesen Sie einfach dieses Buch! Dabei jederzeit mit im Gepäck: eine gesunde Portion Humor. ACHTUNG: Dieses Buch kann Spuren klarer Meinung enthalten.
Tagträumer? Hvide Sande hat dafür wunderbare Plätze!
Seit drei Jahren führten Leni und ich nun eine Fernbeziehung. Ich, wohnhaft im tiefsten Ruhrgebiet – Oberhausen, malerisches Ruhrflorenz an der Emscher, Leni im beschaulichen Hvide Sande, kleine Hafenperle zwischen Nordsee und Ringkøbing Fjord.
Eine wundervolle Laune des Schicksals brachte uns zusammen. Damals, Hvide Sande, Hawfest 2007, stand sie plötzlich vor mir, Gottes achter Tag! Allein ihre Edelstein-Augen – sie leuchteten von Ocker über Grün bis zu einem hellen Nussbraun, alle erdenklichen Schattierungen eines kanadischen Herbstwaldes waren vorhanden. Ich schaute dem unverfälschten Glück direkt in die Augen.
Ich hatte gerade meinen achtmonatigen Aufenthalt in Odense abgeschlossen, wo ich der Sozialarbeit an der Syddansk Universität, im Rahmen eines Auslandssemesters, mit vollster Hingabe und Leidenschaft frönte. Nun ja, von der Sozialarbeit bekam ich weniger mit, vor Ort standen plötzlich soziale Bindungen sowie die gesellschaftlichen Strukturen Dänemarks, inklusive Entdeckung unbekannter Spaßwelten, im Vordergrund. Ich war einfach nur konsequent. Schon in den Anfängen meiner Studienzeit am Campus Essen saß ich lieber im Café als in irgendwelchen Vorlesungen.
Drei Jahre fuhr ich nun mit dem City-Night-Line, im Schnitt alle acht Wochen, die Strecke von Oberhausen bis ins dänische Kolding. Liebe kennt keine Entfernung. Von Kolding ging es weiter Richtung Esbjerg, wo mich Leni oder einer ihrer fleißigen Gehilfen stets abholte. Der City-Night-Line mit seinen gemütlich veralteten Waggons ruckelt die Strecke täglich aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet über Padborg, Kolding und Odense bis nach Kopenhagen.
Bis heute warte ich auf die goldene DB-Karte – verdient hätte ich sie!
Von Zugumleitungen, Zugausfällen, Schaffner als Art Marktschreier (die natürlich immer dann kontrollierten, wenn ich gerade gemütlich eingeschlummert war), stundenlangem Warten auf Anschlusszüge, Stationen, die kurzfristig nicht angefahren wurden (… TUSCH!!! Riesenstimmung an Bord, nur übertroffen von der Stimmung auf dem Bürgeramt), bizarren Zugdurchsagen sowie nervigen Mitreisenden, war alles dabei. Beim Einlaufen in den nächsten Bahnhof lässt man seinen Blick über die Mitreisenden schweifen. Dabei immer auf der Suche nach Passagier »Arschkarte«, »das kleinste Übel« oder dem »Joker«. Dann heißt es für die nächsten Minuten nur noch: hoffen, bangen, abwarten! Welcher Typ wird es wohl sein, man ist als Alleinreisender dem Sitzplatzroulette gnadenlos ausgeliefert. Regelmäßiges Bahnfahren ist wie eine Sozialstudie – der Schnarcher, der Workaholic, die Plaudertasche, die Schmatzerin, der Stinker – eine vermutlich unvollständige Typologie.
Relativ oben auf der Nerv-Skala rangieren die Selbstdarsteller, hauptamtliche Nervensägen, die innerhalb von wenigen Minuten das Gesamtklima eines Großraumabteils vergiften. Zum Beispiel der »Handymann«, der teilweise gesamte Großprojekte in mehrstündigen Intensivtelefonaten abhandelt, und zwar in einer Form, dass es der Wagen 21 des ICE 529 flächendeckend erfahren soll. Daraus kann wirklich eine ungebremste, lupenreine Hassstimmung entstehen. An Lesen war dabei nicht zu denken, schlafen unmöglich und selbst Musik hören ging nicht, da sich seine Stimme von außen durch jeden Kopfhörer bohrte.
Menschen, die beim Kreuzworträtsel ihr Zwiebelmettbrötchen oder gleich die Leberwurststulle auf mein Handgepäck fallen lassen. Mitreisende, die sich im Unterhemd mit komischem Ausschlag unter den Achseln konzentriert die Fingernägel mit dem Nagelknipser kürzen und das abgeschnippelte Zeug fein säuberlich zu einem Haufen formen. Doppeligitt. Der Einzige, der im Zug einen Knipser verwenden sollte, ist der Schaffner.
Kegelclubs oder Gruppen, die auf Abiturfahrt gehen oder eine Klassenreise machen, sorgen gerne für Biergartenstimmung. Da kreist um 6.30 Uhr das erste Frühstücks-Pils. Zugegeben, solche Gruppen nerven nur, wenn man nicht selbst Teil des Ganzen ist, und ja, das ein oder andere Gerstenkaltgetränk habe ich mitgetrunken. Menschen in Gruppen verhalten sich nun mal anders, als wenn sie alleine reisen. Gerade wenn man noch ein wenig wegnickern möchte, sind euphorisierte Frauenreisegruppen im Waggon besonders kostbar. Es gab Nächte, da war ich so verzweifelt, dass ich sogar die Bord-Zeitschrift Bahn mobil durchblätterte.
Der ruhigste und unscheinbarste Mitreisende trägt graue Haare, Vollbart, Wanderschuhe sowie eine Allwetterjacke. Ihn bemerkt man eigentlich nur, wenn sein Kopf ab und zu, nach dem Einnicken, nach vorne kippt.
Zwischendurch: Riesige Funklöcher. Zeit, nachzudenken, was einem wirklich wichtig ist. Ergebnis: Internet!
Mit anderen Worten: Ich war drei Jahre gefangen in einem Großraumabteil. Der pure Bahnsinn! Aber was sag ich, im Grunde hat die Bahn nur vier Probleme: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Zumindest für den Winterfahrplan müsste die Deutsche Bahn eigentlich eine Glücksspiel-Lizenz beantragen. Ich fühlte mich dann immer an den deutschen Dichter Matthias Claudius erinnert, der bereits vor über 200 Jahren formulierte: »Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen«.
Für Bahnkunden der alltägliche Realitäts-Wahnsinn. Voraussichtlich werden alle Anschlusszüge erreicht – thank you for waiting for Deutsche Bahn. Mein Unwort des Jahres stand bereits fest: Pünktlichkeit-und-Deutsche-Bahn.
Allein aus diesem Grund und weil ich mein restliches Leben nicht an einem Bahnschalter verbringen möchte, wurde es Zeit, eine Veränderung herbeizuführen.
Es war so weit, Uhlemann goes to Danmark, ab in den »Schrebergarten«, wie Dänen ihr Land liebevoll im Vergleich zu Nordskandinavien bezeichnen. Der Ausstieg aus dem alltäglichen Hamsterrad war vollbracht, der Job als Sozialarbeiter bei der Stadt gekündigt. Die Auswanderung stand bevor, alles andere wäre auch Verrat an meinem Herzen gewesen.
Dänemark braucht junge Menschen – ich bin einer. Dänemark braucht fleißige Menschen – das bin ich auch. Dänemark braucht intelligente Menschen – ich fahre trotzdem hin!
Am 1. Mai 2010 fuhr ich, original Ureinwohner des Ruhrpotts, den Kompass Richtung Norden ausgerichtet, mit meiner sympathisch rollenden Zweisitzer Sturmfront über die Grenze und verließ das Land der Trauerklöße. Die deutsche Wirtschaft, vor allem die Rentenkasse, wird mich vermissen. Und ich vielleicht ein wenig die deutsche Autobahn. Ohne Tempolimit kann man hier die »Power« voll ausreizen – Träume aus Asphalt, bei der die Tachonadel befreit bis weit über die 200 km/h stürmt. Andererseits wird man in Dänemark nicht mehr mit 220 km/h von verkappten Vollgas-Paganis grob-schonungslos von der Bahn geschossen. Sanft glitt ich mit meinem Zuffenhausener Atomblitz mit schier unglaublichen 110 km/h souverän, stoisch gelassen, auf der rechten Spur gen dänische Westküste. Ich verfalle in einen meditativen Fahrstil, verbunden mit möglichst wenig Aufregung für alle. Alltagssorgen des modernen Stadtlebens verblassen hier bei jedem weiteren Kilometer. Gelbe Rapsfelder, grüne Wiesen, die Weite des flachen Landes, der scheinbar magische Horizont, das dunkle Rot der Backsteinhäuser, der freie Blick über das Meer oder den Fjord, unaufhörliches Brandungsrollen und endloser Azur. Ich vermisse nichts. Und das, obwohl die Landschaft hier ohne richtige Berge, ohne Täler, ohne Weinberge am Horizont auskommen muss. Maximal sanfte grüne Kuppen begegnen einem. Was hatte ich Lust auf das Leben im hohen Norden. Kein »Küsschen links, Küsschen rechts«-Schnickschnack. Im Norden sagt man Moin. Bei großer Sympathie und wenn man richtig gut drauf ist, nickt man eventuell kurz dazu. Fertig!
Dänemark, von jetzt an das gesamte Jahr. Sommer voller Sonne, Sand und Meer. Der Herbst mit niemandem am Strand außer mir, klirrendkalter skandinavischer Winter, Weihnachten mit all seinen Traditionen.
Der liebenswerte Nachbar im Norden, dieses Land, in dem sich die Menschen immerfort ein freundliches »Hej, Hej« zurufen, hatte mich schon immer fasziniert, war schon immer eine Art seelische Reinigung für mich. Der dänische Volkscharakter, eine perfekt funktionierende Demokratie, ein sympathisches Königshaus, die Liebe zur Gemütlichkeit und Gelassenheit, die Gewissheit, dass es sich lohnt, das Leben zu genießen, die hohe Zufriedenheitsquote am Arbeitsplatz! Und surprise, dass nun die Dänen in einer neuen Studie mal wieder zum glücklichsten Volk der Erde gekürt wurden. Ruhen dort oben in Skandinavien wirklich alle Menschen zufrieden und relaxt in sich? Oder gehört es zu ihrer Kultur, zu sagen, dass sie glücklich sind – auch wenn sie es nicht sind? Was bedeutet es, glücklich zu sein? Regelmäßig werden neue Untersuchungen veröffentlicht, die erklären sollen, wo denn nun die glücklichsten Menschen wohnen. Halten Forscher den materiellen Reichtum für entscheidend, schneiden bei vielen Studien entsprechend gut die Schweizer ab. Bhutan ist zwar arm, wird aber auch gerne genannt, weil es als einziges Land der Welt seinen Wohlstand nicht am Wirtschaftswachstum, sondern am Wohlbefinden seiner Menschen misst. Ich werde es herausfinden, was es mit dem Glück der Dänen auf sich hat.
Generell sind ja die Skandinavier immer irgendwie Nummer eins. Egal ob bei gutem Geschmack, bei Bildung oder Gleichberechtigung, wenn es um gesunden Menschenverstand und Humanismus geht – irgendwie alles elende Streberchen da oben. Diese Superdänen, nicht nur sympathisch, auch Macher! Konzerne wie Lego, Jack & Jones, BoConcept und viele mehr vermarkten ihre Produkte glänzend, gehören zur dänischen Erfolgsgeschichte. Etliche Unternehmen, die es auf die Landkarte des globalen Designs gebracht haben.
Beim Global Peace Index Ranking landet Dänemark auf dem zweiten Platz und auch den Korruptionsindex führen die Dänen mal wieder an! Europaweit sind die Mitarbeiter im öffentlichen Sektor in Dänemark am unbestechlichsten. Dänemark gilt als Paradies für Arbeitnehmer: familienfreundliche Arbeitszeiten, hohes Lohnniveau, jeder mit dem Chef per Du. Arbeiten Dänen glücklicher?
Aber wollte ich wirklich einem Volk angehören, in dem 90 Prozent der Befragten angaben, persönlich glücklich zu sein? Kann das, gerade für einen Deutschen, nicht auch unheimlich anstrengend werden? Kann so eine dauerhafte Happinesssuppe, so eine permanente Glücksseligkeit, nicht auch ein wenig fad werden? Und kann so eine überaus hohe Anzahl an glücklichen Menschen wirklich zutreffend sein? Solch verdächtig hohe Zahlen hörten sich doch eher nach Verlautbarungen von Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un an!
Und wenn diese Zahlen zutreffen, was, bitte schön, war denn da mit den restlichen 10 Prozent los?
Laut all dieser Studien wäre der Li-La-Launebär in Dänemark jedenfalls arbeitslos.
Dennoch, da sind mir diese nordischen Wonneproppen doch lieber als irgendwelche Dauernörgler. Wie hoch ist wohl mein Gute-Laune-Basislevel?
Vermutlich hatte meine Skepsis gegenüber den Nachbarn im Norden aber auch nur etwas mit deutscher Pflichtreaktion zu tun, schließlich rangieren wir in der gleichen Zufriedenheitsstatistik abgeschlagen, laut Bericht waren nur zwei Ostblockstaaten noch mieser drauf.
Mir egal, ich bin deutsch, ein bisschen Meckern, ein gesunder Zorn, ein bisschen Zögern, wenn es um die eigene Vollzufriedenheit geht, wird erlaubt sein. Da darf man die normalen Widrigkeiten des Alltags auch mal mit heiligem Zorn ein wenig aufblähen. Und wie meine Großmutter schon immer scherzhaft zu sagen pflegte: »Man kann doch nie genug klagen!«
Die Zufriedenheitsstatistik dürfte wohl auch der Grund sein, warum Ausländer, egal ob EU-Bürger oder Kokosnuss-Millionär, in Dänemark keine Ferienhäuser kaufen dürfen, es sei denn, sie haben seit fünf Jahren ihren Erstwohnsitz in Dänemark. Klar, ein glückliches Volk will unter sich bleiben, Trauerklöße und Spaßbremsen bitte draußen bleiben. Obwohl, auch ein wenig gemein wiederum von unserem Nachbarn; selber glücklich sein und uns Muffelköppen und Unheilspropheten nicht mal ein kleines Ferienhaus bei sich gönnen. Zumindest in diesem Punkt war Dänemark nicht das Epizentrum des internationalen Gönnertums.
Ich für meinen Teil war bereit, durch den Umzug zu den nordischen Strebern meine Glücksreserven aufzufrischen. Nine-to-five-Job als Sozialarbeiter, Weihnachtsgeld, Bausparvertrag: Bisher führte ich nicht gerade ein Leben auf der Überholspur.
Leben, wo andere Urlaub machen: Die Realität sieht oft weniger romantisch aus. Viele Glücksritter sind naiv, scheitern an »Anpassungsproblemen«, Sprachbarrieren oder schlicht mangelndem Geschäfts-Know-how.
Diverse fürsorgliche Soaps warnen uns ständig davor, wie schwer es ist, sich im Ausland eine Existenz aufzubauen. Viele haben den Wunsch, Deutschland auf der Suche nach besserem Wetter, beruflichen Perspektiven oder einem neuen Lebensgefühl zu verlassen.
Die Suche nach besserem Wetter konnte es bei mir jetzt nicht sein, auch beruflich konnte ich mich in meiner Heimat nicht beschweren. Für mich ging es in erster Linie der Liebe wegen nach Dänemark, aber natürlich versprach ich mir auch noch ein Stückchen mehr Lebensqualität. Lebensqualität im Sinne von Bescheidenheit und Gelassenheit, ungefüllten Zeiten, Zeiten ohne Druck.
Ich stürzte mich doch recht optimistisch in mein Abenteuer, wusste im Grunde genommen auch, was mich erwartete. 20 Jahre Urlaub an der dänischen Westküste, seit drei Jahren mehr als regelmäßiger Besucher dieser Gegend, da konnte man sich zumindest eine vorsichtige Bewertung erlauben. Ein Restriskio bleibt immer, Garantien für Liebe und Zufriedenheit gibt es nicht, darüber hinaus war mir bewusst, dass alles vorher Gewesene durchweg Urlaubs-, und Spaßcharakter hatte und der wirkliche Alltag, auch an solch einem Ort, sehr wahrscheinlich viel Romatik raubt. Von nun an war mein Leben an diesem Ort nicht mehr nur eine Postkarte, es war eine Reise in den Alltag Dänemarks. Einen Rucksack voller Baustellen galt es abzuarbeiten. Eine Arbeitsstelle konnte ich noch nicht vorweisen und auch als Sprachgenie bin ich in der Vergangenheit bisher nicht großartig aufgefallen. Trotzdem ging ich meine Auswanderung erstaunlich gelassen an. In der nun anstehenden Hauptsaison wird sich schon irgendeine Arbeit in der Tourismusbranche finden. Und sollten zum Winter hin die dänischen Taler ausbleiben, gab mir ein kleines finanzielles Polster Sicherheit.
Wie fühlt es sich an in der »Fremde«, außerhalb des gewohnten Kreises? Einen Mangel an Offenheit wird man sich nicht erlauben können – Armut an Kontakten führt schnell zur Isolation, vor allem im Ausland. Aber Dank Leni und Familie versprach ich mir eine schnelle Integration, inklusive zügigem Kontakt zu Einheimischen.
Ich passierte Nymindegab – das Tor zum Meer!
Man gleitet auf den Holmsland Klit, die imposanten Dünen links empfangen einen wie freundliche Nachbarn. Ein paar vierbeinige Rasenmäher zur Rechten, das ist Natur-Idylle pur, die man mit allen Sinnen erleben kann. Du siehst, du riechst es. Du hörst die Stille. Das ist Lebensqualität. Dieser Holmsland Klit, das Auenland des Nordens, hier sieht es aus wie in Frodo Beutlins Mittelerde. Man fällt in einen anderen Rhythmus, ein Ort zum Luftholen! Der Holmsland Klit darf ein glücklicher Landstrich genannt werden, umschlossen von viel Wasser – wie ein Amphitheater öffnet sich die Landschaft von Nymindegab zum Holmsland Klit.
An diesen Ort zu reisen ist wie ganz großes Kino – im echten Leben! Die Strände sind selten überlaufen, immer wieder finden sich Ecken, an denen der Wind der einzige Begleiter ist. Eine Welt, wo das Meeresrauschen den Autoverkehr übertönt. Im Sommer sind die Urlaubsdestinationen an der Westküste überlaufen, trotzdem ist das Leben entspannt.
Eine beeindruckende Landschaft, erschaffen von gewaltigen Kräften während der Eiszeit. Nicht umsonst heißt das kleine Fischerdorf hier Hvide Sande, was nichts anderes bedeutet als weißer Sand.
Die schönsten Badeorte liegen an der Westküste aufgereiht wie Perlen an einer Kette: Blåvand, Vejers Strand, Henne Strand, Hvide Sande, Søndervig! Hier findet man kein Sterne-Chichi, aber durchaus alles zu diesen Preisen.
Hvide Sande, mein Zielflughafen. Das noch junge Dorf schmiegt sich sanft an die Nordsee, wie ein Schlupfloch des Friedens wirkt der kleine Ort, inmitten von Wasser umgeben. Der Start war mit Wind und Regen sehr authentisch. Ein schwerer Regen ist das freundliche Willkommen der Küste. Fisch, Fähren und schäumende Gischt, in Hvide Sande lebt man von und mit dem Meer. Die Fischerei ist seit Generationen die Lebensgrundlage von Hvide Sande. Fisch stinkt nicht, Fisch riecht nach Geld, sagen sie hier. Er gehört zu Hvide Sande wie der Whiskey zu Schottland. Die andere Haupteinnahmequelle ist seit Jahrzehnten die Tourismusbranche.
Mein Bullerbü mit seinen knapp 3500 Einwohnern sollte also nun mein Zuhause sein. Und Ringkøbing, 2007 vom Cambridge Institut zur glücklichsten Stadt Europas gekürt, liegt nur 25 Kilometer von Hvide Sande entfernt. Ich war gespannt auf Meer.
Leni, ihre Schwester Maike sowie Schwiegermutti – meine Golden Girls – sowie Vatter Wolfgang, ein knapp zwei Meter großer norddeutscher Hüne – halb Mensch, halb Abrissbirne – empfingen mich gebührend, inklusive gehisster Dannebrog, der dänischen Landesfahne. Sie strahlten dabei eine Ruhe aus, die man wohl erlangt, wenn man hier eine Zeit lang wohnt. Lenis Eltern waren samt Nachwuchs in den 90er-Jahren von Schleswig-Holstein nach Hvide Sande ausgewandert. Der Vater fuhr die ersten Jahre zur See, die Mutter kaufte sich mit einer dänischen Freundin eine dieser typischen dänischen Hotdog-Buden. Häuschen inklusive, hatten sie die Integration scheinbar mühelos gemeistert. Mittlerweile war der PV (Pølsevogn) verpachtet, Mutti sowie Maike waren in der Tourismusbranche bei einer Ferienhausvermietung aktiv und Wolfgang, der Gicht nahe, schweißt heute fröhlich im Hafen vor sich hin.
Nachdem ich mich von Wolfgangs zementfestem Händedruck erholt hatte, erwartete mich in meinem neuen Wohnzimmer ein Fernseher, der auch als Autokino durchgegangen wäre. Überhaupt, hätte ich es mit meinem neuen Zuhause definitiv schlechter treffen können. Mikkel – Hausbesitzer, Nachbar und Ex-Freund von Maike in einem, vermietete uns diese integrierte Wohnung von knapp 80 Quadratmetern zu einem wirklich fairen Kurs.
Wow, einzigartige Lage trifft auf interessante Architektur, dachte ich mir. Das Haus groß, harmonisch geschnitten. Mit viel Schick und skandinavischer Wärme eingerichtet. Vom großzügig gestalteten Wohnraum samt großer Fensterfront blickt man über eine idyllische Dünenpracht hinaus auf die spiegelnde Oberfläche des Ringkøbing Fjords. Der Fjord liegt in einigen Metern Entfernung, eingehüllt in eine unwirkliche Stille. Was für eine paradiesische Atmosphäre. Kaminofen sowie Bad samt Whirlpool rundeten den positiven Gesamteindruck ab. Keine Frage, dieses Haus war mehr als nur ein Dach über dem Kopf!
Es wirkte alles so surreal – da, wo ich jahrelang meinen Urlaub verbrachte, werde ich nun jeden Morgen aufwachen. Alles war gerichtet und geregelt, um sich darin zu aalen.
Coffee to go beim Autofahren, nebenbei noch schnell telefonieren: Das Leben wird hektischer. Dank moderner Technik versendet man ratzfatz Nachrichten, ist ständig erreichbar, bestellt per 24-Stunden-Lieferung. Die alte Leier, nur Wirtschaftswachstum garantiere Wohlstand. Immer mehr, mehr, mehr, immer weiter, weiter, weiter. Und nun: Sweet home Hvide Sande, wo Tourismus und Fischerei ein demokratisches Miteinander pflegen.
Dieses putzige Fischerdörfchen war schon immer mein Anker. Ab jetzt alles nur noch auf Dänisch – Nordic-Talking sozusagen! Die dänische Sprache, Sinfonie in meinen Ohren, hatte mich schon immer fasziniert. Ich hatte eine besondere Affinität zu dieser Sprache, sie wirkte auf mich angenehm weich und klangvoll. Bei meiner Ankunft wurde mir versichert, dass ich spätestens zu Silvester die Sprache beherrschen würde – nur das Jahr wurde mir verschwiegen.
Es war schon immer meine eigene romantische Sehnsucht nach der heilen Welt des Nordens. Der Norden, egal ob Dänemark, Norwegen oder das Bilderbuchschweden, samt Astrid Lindgren und Småland, ist ein Sehnsuchtstraum der Deutschen.
Vor meinem inneren Auge decken Mädchen mit selbst geflochtenen Blütenkränzen auf den goldblonden Haaren einen geschmackvollen Tisch, liebevolle Väter mit wuscheliger Mando-Diao-Frisur wiegen den Säugling in den Schlaf, machen anschließend den Hausputz, altersweise Rentner lassen sich zufrieden auf einer Bank vor ihrem roten Blockhaus nieder … Hvide Sande ist Friede, das kleine Glück der Langeweile. Der Stadtmensch trifft auf eine volle Breitseite Natur. Leben mit dem Prädikat wertvoll. Ich mag einfache Dinge und einfache Orte, die perfekte Inspirationsquelle. Ich freute mich, in die Kultur des Gastlandes einzutauchen.
Stille, Ruhe und aus gut 300 Metern Entfernung die rauschende Brandung der Nordsee. Wenn hier was rauscht, dann nicht der Autoverkehr, sondern die Nordsee, quasi direkt vor dem Fenster. Eine natürliche Melodie, die im Gedächtnis bleibt. Früher hörte ich das als Meditationsmusik. Da klatschte schon mal nächtelang die Nordseebrandung gegen mein IKEA-Holzbett, was nur dazu führte, dass ich plötzlich wieder einnässte. Vom feinstaubgeplagten NRW, dieser malerischen Industriebrache, in die salzige Nordseeluft! Schon während meiner Odense-Zeit begann ich mir auszumalen, wie es wohl wäre, hier zu wohnen. 1989 bereiste ich Hvide Sande das erste Mal (übrigens das Jahr, in dem Dänemark als erstes Land überhaupt eine registrierte Partnerschaft zwischen Homosexuellen zuließ). Jeden Tag Meerluft schnuppern, diese Weite, an jeder Ecke Hotdog-Buden … über 20 Jahre hatte mir Hvide Sande schöne Augen gemacht. Ab morgen Schützenverein, Feuerwehrfeten, Enten schießen? Gibt es so was wie Kulturleben? Wohin wird mich dieses Gleis führen?
Einfach mal machen, neue Leute kennenlernen, die mir sonst nie begegnet wären, beruflich profitieren und, mit Verlaub, Hvide Sande mal in seinem Lebenslauf stehen zu haben hat doch einen gewissen Sex-Appeal. Man lernt dabei nicht nur sich selber kennen, sondern sieht auch sein eigenes Land in einem anderen Licht. Mein Plan war wirklich easy. Ich fahr einfach mal hin, genieße wie immer drei Wochen Urlaub und bleibe anschließend einfach da! Sollten alle Stricke reißen, wechsel ich halt wieder in meinen Lehrberuf als Eintänzer am Autoscooter auf der Lütgendortmunder Zwetschgenkirmes.
An meinem ersten Morgen fand ich mich fein gebettet – mit Meeresrauschen einzuschlafen, ein wahrlich kostbares Erlebnis. Wer früh vom Flügelschlag der Gänse, die vom nahen Fjord herüberfliegen, geweckt wird, erfährt ohne große Worte, was es heißt, mitten in der Natur zu leben. Das rotweiße Liebesbarometer ist am Anschlag. Fernweh hat eine Heimat: Hvide Sande. Ich hatte wahnsinnig gut geschlafen. Die gute Luft wird ihren Teil dazu beigetragen haben. An diesem Morgen blieb ich ein wenig länger liegen.
Vorhang auf! Die ersten Tage saß ich auf der Düne und träumte in den Horizont hinein. Fühlte mich wie einer der Surf-Dudes, die in VW-Bullis Wind, Wellen und Weltcups hinterherreisen. Der Holmsland Klit, der sich von Nymindegab bis Søndervig erstreckt, liegt wie ein Bandwurm an der Nordsee. Dieser lange Streifen Sand in der Nordsee, der das Wegblenden schlechter Nachrichten perfektioniert und das Ausschalten der rauen Wirklichkeit optimiert hat. Das Meer sah hier die letzten Tage aus, als habe jemand die Pausetaste gedrückt. Ein Standbild aus Wasser und Himmel. Makellose Melange aus Himmelblau und sanftem Wellengang. Eine Art maritime Apotheke mit frischer Luft und heilsamen mineralischen Aerosolen – eine spürbar gesunde Lebensqualität. Mein Herz hüpft vor Freude, hinter jeder Düne bleibt eine Alltagssorge liegen. Dünen, Meer, Himmel, eine seelenstreichelnde Ruhe begleiten einen. Was ein wunderschönes Fleckchen Erde. Jütland, halbe Insel, doppelt Urlaub, haben wir früher immer gesagt.
Das überlaute Grundrauschen von Großstädten erscheint Lichtjahre entfernt. 36 Kilometer ist sie lang, die schmale Landzunge, die geprägt ist von Dünen, kleinen Wäldern und langen Stränden. Die Kampfzone zwischen Land und Meer. Mythos Nordsee – Sehnsuchtsort! Mehr denn je gehört die Natur jetzt zu meinem Leben.
Ist das das Paradies auf Erden?
Ich atme stellvertretend für alle die Freiheit. Keine GEZ-Gebühr mehr! Bei dem Programm der Öffentlich-Rechtlichen müsste man die monatlichen 17,50 Euro eigentlich als Schmerzensgeld an jeden Haushalt auszahlen, statt ihn einzufordern (dass die dänische GEZ-Gebühr, auch DR Licens genannt, mich knapp 27 Euro monatlich kosten sollte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen). Wie geht es weiter mit Angela – »Sitz ich aus« – Merkel und Wolfgang – »Die schwarze Null« – Schäuble? Hat das Prinzip Raute und Ratlosigkeit bald ausgedient?
Genüsslich werde ich mich in Zukunft Neuigkeiten aus meiner Heimat hingeben. Die journalistische Grundversorgung ist hier durch die Süddeutsche Zeitung, FAZ, Die Zeit und ein bekanntes Kampfblatt gewährleistet. Diese Lektüren sind mein Zuhause für zwischendurch.
Nun bin ich also Bewohner dieses Skandinaviens. Mit diesen lustigen Dänen, den zum Niederknien hübschen Schwedinnen und den reichen Norwegern. Das einstige Armenhaus Europas hat heute zwischen Oslo und Stavanger das höchste Einkommen pro Kopf weltweit. Dank Öl und Gas ist Norwegen heute so reich, dass selbst Gehwege in Oslo beheizt werden. Für Norwegen liegt der »Sechser im Lotto« unter dem Meer, es wird noch so viel Öl vermutet, dass mittlerweile sogar die Bohr-Plattformen ausgehen. Einkommen und Lebensstandard steigen von Jahr zu Jahr. Experten vermuten, dass dies noch 40 Jahre lang so weitergehen könnte. Nach neuesten Daten der Zentralbank ist der staatliche Spartopf mittlerweile 830 Milliarden Euro schwer. Norwegens staatlicher Pensionsfonds, den die Rohstoffe des Landes zum größten Staatsfonds der Welt gemacht haben. Oslo könnte mit einer Überweisung Griechenland aufpäppeln. Dieser Spartopf soll primär sicherstellen, dass nicht nur der heutigen Generation der Erdölreichtum zugutekommt. Des Weiteren soll er dem Land wirtschaftliche Stabilität garantieren. Für die kommenden zehn Jahre erwarten Experten sogar eine Verdopplung der Summe. Aber genau das ist auch das Problem nichtsahnender Touristen – wer in Oslo einen Hamburger plus Cola bestellt, zahlt umgerechnet an die 20 Euro!
Nach ein paar Wochen wurde der Tagesablauf zum Schema. Frühstück, Hvide Sande »Promenade«, Kaffee in meinem Stammlokal Under Broen und den Promenierenden zusehen, Supermärkte nach den besten Weinangeboten durchkämmen, erneut »Promenade«, Füße ins Meer halten, um das Wasser für zu kalt zu befinden. Alle Läden durchstöbern, die Sinnlosigkeiten anbieten, »Promenade«, deutsche Zeitung kaufen, auf eine Bank setzen und die Zeitung durchblättern, ausliegende Speisekarten studieren, in den Sonnenuntergang laufen oder wahlweise schauen, den Nachthimmel anstarren, dann schlafen und wieder frühstücken!
Die Seele froh, der Leib ermüdet, eine freudige Leichtigkeit breitet sich aus, obwohl vordergründig betrachtet die äußere Anmutung des Fischereihafens, seine nüchterne Funktionalität, die asphaltierte Fläche, mir keinen in diesem Sinne irgendwie gearteten stimulierenden Anlass bietet, denn hier kommt alles ohne das große Panorama aus. Sagen wir mal so, Hvide Sande ist kein städtebauliches Schatzkästlein. Dennoch erscheint mir in diesem Moment nirgendwo die Luft klarer, die Natur magischer, die Weite schöner, das Wolkentheater majestätischer als hier.
Zeit, Muße, Langeweile! Für mich gibt es nur schöne Langeweile – Zeit, in der man nichts tun muss, aber alles tun kann. Gegen Langeweile sollte man nicht ankämpfen, wer Leerlauf akzeptiert, wird neue Energie daraus gewinnen. Wenn die Gedanken auf Wanderschaft gehen, können sie zu positivem Handeln animieren. Wer den Gemütszustand Langeweile akzeptiert und annimmt, hat Zeit zur Entspannung, kann ihn zur Selbstreflexion nutzen und weiterdenken, kreativ sein. Ich kann mich durchaus mit Begeisterung langweilen. Oft fahre ich auch einfach irgendwo hin. Denn wenn man irgendwo hinkommt, dann gerät man auch irgendwo hinein, wenn man will. Und dann bewundere ich immer, dass die Menschen hier doch mit relativ wenig zurechtkommen. Weit weg von wirklichen Promenaden, keine Einkaufszentren, keine Piazzas. Ich glaube, ein Däne kann sich besser langweilen als wir Mitteleuropäer. Bewundernswert! Ruhe aushalten zu können – das ist eine große Gabe heutzutage.
Ob ich mich einsam fühlte? Nein, die Bahnhofsmission hatte ich zumindest noch nicht angerufen. Abgesehen davon liebe ich es, ab und an mit meinen Gedanken alleine zu sein. Und dank Leni und Maike waren mittlerweile auch die Hälfte der 3500 Einwohner mehr oder weniger bekannt. Diese ersten Wochen waren ein einziger Genuss, mein Kopf hatte noch längst nicht von Urlaub auf Alltag umgeschaltet.
Zwei Wochen, vier Wochen, sechs Wochen. Und nun?
Jeden Sonnenuntergang hatte ich fotografisch festgehalten, die Angebote jedes Supermarktes im Kopf, jeden Flecken des Bandwurmes durchstöbert, jedes als Geheimtipp angepriesene Restaurant getestet, jedes Frauenmagazin durchgearbeitet und dabei festgestellt, wie verrückt die Welt ist. Während auf der anderen Erdhälfte Menschen verhungern, scheint es kein Frauenmagazin ohne Diät-Wahnsinn zu geben. Irgendwann war selbst der Gipfel eines ewigen Urlaubs überschritten. Leider gehöre auch ich zu den weiten Teilen der Bevölkerung, die noch arbeiten müssen – denn die Freiheit, die man sich nahe den Wellen erträumt, ist meist eine materielle, und jene muss erst einmal geschaffen werden.
Urlaub auf ewig?
Nein, ich konnte nicht weiter in meinem goldenen Freizeitkäfig herumirren und alle meine Fähigkeiten damit vergeuden, kuhäugig aufs Meer zu starren und Vitamin Sea zu inhalieren.
Ganz untätig war ich die letzten Wochen aber nicht. Die Beantragung der sogenannten CPR-Nummer war ordnungsgemäß erfolgt. Ohne diese CPR-Nummer (Centrale Personregister) ist es nicht möglich, ein Konto zu eröffnen, und nahezu unmöglich, mit Arbeitsstellen oder Sprachschulen in Kontakt zu kommen. Des Weiteren ist man mit dieser Karte, auf der sich oben links der Name und die Anschrift des Hausarztes befinden, automatisch krankenversichert und wird von der öffentlichen dänischen Krankenversicherung aufgenommen, d. h., man hat den gleichen Anspruch auf Gesundheitsleistungen wie dänische Bürger.
Alle in Dänemark lebenden Menschen sind registriert, jeder dänische Staatsbürger bekommt von Geburt an eine persönliche zehnstellige Nummer. Die ersten 6 Ziffern für das Geburtsdatum, die 7. Ziffer für das Geschlecht. Bei Jungen eine ungerade, bei Mädchen eine gerade Ziffer. Fertig ist die Eintrittskarte fürs Leben.
Da ich bereits 2007 in Dänemark studiert hatte, wurde meine alte CPR-Nummer lediglich reaktiviert. Nun hieß es: Konto eröffnen, Steuerkarte beantragen, für den kostenlosen Sprachkurs anmelden, PKW beschaffen, Arbeitsstelle suchen.
Kontoeröffnung sowie Beantragung der Steuerkarte klappten ja noch reibungslos. Die Steuerkarte (skattekort) kann man bei der lokalen Steuerbehörde (skattecentre) beantragen und besteht aus zwei Teilen: der Hauptkarte (hovedkort) und der Nebenkarte (bikort). Die Hauptkarte wird dem Arbeitgeber automatisch elektronisch zugesandt.
Die Nebenkarte wird benutzt, wenn man mehr als einen Arbeitgeber hat. Soweit alles nachvollziehbar und auch für mich durchschnittsintelligenten Mitteleuropäer transparent und verständlich.
Etwas komplizierter wurde es, als ich mich bei der örtlichen Sprachschule für den kostenlosen Dänischunterricht anmelden wollte. Etwas verdutzt wurde mir mitgeteilt, dass dieser Sprachkurs für mich nicht kostenlos sei, da seit meiner ersten Registrierung in Dänemark bereits mehr als drei Jahre vergangen waren. Das Recht auf kostenlosen Sprachunterricht gilt drei Jahre, nachdem man das erste Mal als Arbeitnehmer oder Einwohner in Dänemark registriert wurde. Eine Regelung, von der ich bis dato nichts wusste. Auf meine Nachfrage, ob man denn da nichts machen könnte, grunzte die nette Dame im Pullover mit Bulldogge-Motiv: »Doch, natürlich! Sie müssen den Kurs nur bezahlen!« Okay, wirklich unglaublich unbestechlich diese Dänen. Ich hatte gehofft, sie mit meiner Stimme umgarnen zu können. Mir wurde mal wieder bewusst: Lässig, charmant und attraktiv zugleich kann nur einer sein – George Clooney!
Da die einzelnen Module dieser Sprachschule, wie auch alles andere im Land, nicht sehr billig waren, entschied ich mich für einen kostenlosen Sprachkurs am VUC (Voksenuddannelsecentre) in Ringkøbing. Dieses Erwachsenenbildungszentrum bietet Kurse für Personen an, die ihre Dänischkenntnisse aufbessern müssen, bevor sie an einer Fort- und Weiterbildung teilnehmen oder einer Beschäftigung nachgehen können.
Ein bisschen »braintuning« auf Dänisch war nötig.
Die Angelegenheit mit meinem fahrbaren Untersatz hatte ich dagegen weitsichtig im Vorfeld organisiert. Ausländer, die ihren Wohnsitz nach Dänemark verlegen, müssen spätestens 14 Tage nach der Anmeldung den eingeführten Wagen ummelden und die Registrierungsabgabe zahlen. Nun war mir vorab bewusst, dass mein »Oben-ohne-Auto« bei dieser besagten Registrierungsabgabe einen Wert erzielen würde, den ich – bei aller Liebe zu Dänemark –, nicht bereit war zu zahlen.
Das dänische Steuersystem ist mit Sicherheit nicht so kompliziert wie das deutsche, dafür aber deutlich teurer. Eine der bemerkenswertesten Abgaben in Dänemark ist sicherlich die Registrierungsabgabe. Wer hier mit einigen Hundert Euro oder gar Kronen rechnet, egal für welches Fabrikat, dem wird spätestens zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass dieses kleine Königreich ein wahrlich teures Fleckchen Erde ist.
Auf Grundlage der Fahrzeugdaten wird ein »abgabepflichtiger Wert« von der Steuerbehörde ermittelt. Er richtet sich danach, wie viel ein Autohändler in Dänemark für den Verkauf des Wagens erzielen würde.
Aus diesem ermittelt sich dann die Registrierungsabgabe. Handelt es sich um einen Neuwagen (weniger als 6 Monate alt und weniger als 6000 km gelaufen), kommt noch die dänische Mehrwertsteuer von satten 25 Prozent hinzu.
Diese sogenannte registreringsafgift führt dazu, dass sich die Anschaffung eines PKWs in Dänemark ca. zwei- bis dreimal so teuer darstellt wie zum Beispiel in Deutschland.
Von diesem Wert, den die Steuerbehörde ermittelt, werden ungefähr 50 Prozent als Einfuhrsteuer berechnet. Ein wahrlich königlicher Wert.
Diese Registrierungsabgabe wurde zu einer Zeit eingeführt, als Autos noch als Luxusgüter galten. Heute gehören sie zu den Gebrauchsgütern, die Luxussteuer allerdings ist geblieben. Mittlerweile mehren sich Forderungen nach Abschaffung dieser Abgabe. Konservative, Sozialdemokraten sowie die Venstre-Partei haben signalisiert, über eine Veränderung nachzudenken, mit einer Veränderung ist die nächsten Jahre jedoch nicht zu rechnen.
Wer jetzt Kopfkino betreibt und überlegt, wie er die Registrierungsabgabe umgehen kann, dem sei mit auf den Weg gegeben, es besser gar nicht erst zu versuchen. Der dänische Staat hat hier quasi keine Schlupflöcher gelassen. Auch Fahrzeuge, die noch auf einen Halter in Deutschland zugelassen sind und lediglich von einer Person mit dänischem Wohnsitz gefahren werden, müssen umgemeldet werden. Verstöße gegen diese Regel werden u. a. mit hohen Geldstrafen geahndet. Sogar Gefängnisstrafen sind die Folge, meldet man sein in Deutschland zugelassenes Auto nicht in Dänemark um.
Und die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, ist relativ hoch, da das Finanzministerium zusammen mit der Polizei regelrecht Jagd auf Steuersünder macht. Ausländische Fahrzeuge werden gezielt kontrolliert. Die dänische Polizei steht dabei im direkten Kontakt zur Finanzbehörde. Stellt sich dabei heraus, dass der Fahrzeughalter in Dänemark gemeldet ist und über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten keine Steuern bezahlt hat, wird das Fahrzeug sofort an Ort und Stelle beschlagnahmt und zur Sicherung von nicht entrichteten KFZ-Steuern eingezogen. Man darf sicher sein, das wird teuer!
Den Anruf bei der örtlichen Zollbehörde konnte ich mir somit sparen. Mein Automobil war auf diversen Plattformen inseriert und auch recht zügig an den Meistbietenden versteigert.
Da mein neuer Nachbar Mikkel seit Längerem mit dem Gedanken spielte, sein KFZ zu verkaufen und ich die PS-Profis von SPORT1 nicht zu einem Ritt nach Dänemark überreden konnte, bot sich ein Nachbarschaftsdeal geradezu an.
Was fuhr er noch gleich für einen Asphaltlutscher? Fiat-Panda! Von deutscher Wertarbeit, meinem Beschleunigungsmonster mit einer gewissen Blecherotik, zu diesem kleinen italienischen Kurvenbeißer mit kernigen 55 PS! Ich hatte fast vergessen, was für ein Wummern 55 PS unter der Haube entfesseln können – was für ein Geräusch- und Beschleunigungsinferno. Mikkel überreichte mir den Schlüssel. Einsteigen, bitte! Ich lasse mich in die perfekt modellierten Rennschalen gleiten. Das mit Leder ausgeschlagene Cockpit, in dieser Qualität gibt es das kein zweites Mal auf der Welt, jede Naht sitzt perfekt und da, wo sie hingehört. Der Schlüssel gedreht, das Triebwerk bellt kurz und bissig, ein Untier von Motor lauert auf seinen Einsatz, die Härchen auf dem Unterarm stehen in Sekundenbruchteilen stramm wie die Kompanie beim Morgenappell. Der Antrieb ist eine auf Heavy Metal getrimmte Oper, die 14-Zoll-Dunlop Reifen schmatzen von Kurve zu Kurve, der Fahrtwind untermalt diese einzigartige Inszenierung. Ein Fahrgefühl, das sich nicht imitieren lässt. Die Drehzahlmessernadel tanzt hektisch um die 3500er-Marke. Dumpfes Brodeln aus der Abgasanlage kombiniert mit einem gediegenen Roadtrip-Soundtrack. Der Schub ist gewaltig, alle Sinne schalten auf vollen Empfang, alle Körperfasern frohlocken. Schaltvorgänge so nahtlos und ohne jede Zugkraftunterbrechnung. Die Landstraßen hier sind gemacht für ein leidenschaftliches Kurvenspiel. Wer meinen Keil im Rückspiegel sieht, sollte die Klangschleppe während meines Überholens genießen …
Willkommen in der Realität. Bühne frei für Ruckel, Quietsch, Klapper und Qualm. Gefühlte eineinhalb Minuten dauert die Prozedur von 0 auf 100 km/h, das Dach dämmt kaum besser als drei Lagen Seidenpapier. Der Basismotor ist kein steter Quell der Freude, ächzend arbeitet er sich durch sein Drehzahlband, müht sich schon in der Ebene. Hier wird schnell klar: Fortbewegung ist harte Arbeit. Menschen mit großem Sicherheitsbedürfnis bekommen hier nicht viel geboten, außer vielleicht die Garantie für ein langweiliges Auto. Am Design-Ingenieur wurde gleich gänzlich gespart. Keine Frage: Wer ein solches Meisterstück auf vier Rädern fährt, dem fehlt es nicht an Selbstbewusstsein. Mikkels Anlage war zumindest top, da klang sogar Robbie Williams wie Musik. Doch man muss es auch positiv sehen: Er fährt! Gekauft!
Der Franzose an sich würde eher von Carton de Blamage sprechen. Ich bekam diesen Italo-Klapperkasten für 15000 Dänische Kronen, ziemlich genau 2000 Euro auf der Umrechnugstabelle. 2000 Euro! Unfassbar! Der kleine italiensiche Knödel hatte 220000 km auf der Uhr. In Deutschland hätte man für dieses Modell wohl noch 200 Euro zum Abwracken obendrauflegen müssen. Und das war wirklich ein Freundschaftspreis. Auf dem freien dänischen Automarkt hätte Mikkel noch gute 20000 DKK erzielen können.
Es geht doch nichts über gute Nachbarschaft! Der Vorteil: Nicht mal baltische Autoschieber würden meine kleine Sondermülldeponie mit der Rohrzange anfassen. Fiat Panda – endlich macht die jahrelange ADAC-Mitgliedschaft Sinn. Okay, Vernunft voraus, in Sachen Verbrauch machte dem Kleinen wirklich keiner was vor. 4,5 Liter auf 100 Kilometer waren nahezu unschlagbar. Aber er war schon ein wenig der Macho unter den Vernunftautos – Italiener halt.
Nachdem die wichtigsten organisatorischen Dinge erledigt waren, konnte ich mich gezielt der Arbeitssuche hingeben.
Bevor ich mich von meiner Lethargie befreien konnte und den Arbeitsmarkt auf Seiten wie jobnet.dk oder jobindex.dk nach geeigneten Jobs durchstöberte, überrumpelte mich Maike: »Panda-Driver, du sollst dich morgen mal bei meiner Chefin vorstellen. Wir haben entschieden, dass wir noch eine Sommerhilfe einstellen und da habe ich dich mal ins Spiel gebracht. Morgen um 10.00 Uhr, wir sehen uns!«
Ähm, was, wie …? Gestern noch in den Sonnenuntergang geträumt und morgen schon auf dem heißen Stuhl? Nun war mir klar, dass ich mein Leben bis zur Rente nicht auf irgendwelchen Dünen verbringe, aber wenn es dann so weit ist, wummert die Pumpe ganz schön. Puh, in welcher Sprache gehe ich das Ganze eigentlich an? Wäre die Eröffnung: »Gestatten – Uhlemann – Diplom-Sozialarbeiter, Innovator, Autor, Kunstmäzen, Weltbürger«, zu dick aufgetragen? Sollte ich mir noch einen falschen Schnurrbart aufkleben, um männlicher zu wirken? Gerda, die Chefin der Ferienhausvermietung, hatte hier schließlich einen charismatischen Charakter eingeladen, das genaue Gegenteil schmallippiger französischer Aristokraten. Sollte ich meine Hobbys – Schwertransporter fotografieren, Serviettentechnik, Weltfrieden – überdenken? Die Zeit rannte wie Ben Johnsen auf Doping! Wäre ich doch schon mal Rentner mit abgeschlossener Vermögensbildung, dachte ich mir. Ey Mann, wo waren meine Coolness und Selbstsicherheit? Schließlich hatte ich als Heranwachsener eine ziemlich triumphale Zeit. Durch gezieltes Peinigen noch kleinerer, bebrillter Exemplare stand ich in der Ranghöhe unmittelbar unter dem Bandenchef. Das änderte sich jäh, als einige dieser Bebrillten recht zügig zu Klöpsen heranwuchsen und ich in Zwergengröße verharrte.
Es half nichts – die Nacht war kurz!
Punkt 10 Uhr parkte ich meine Straßenblockade auf vier Rädern gekonnt vorwärts ein. Schick gemacht hatte ich mich, schließlich gibt es keine zweite Chance für den ersten Eindruck. Ich hatte einen Look gewählt, der sagt: »Hallo, hier bin ich, erfolgreicher Selfmademann, alternativlos, bereit, alles wegzumoderieren.« Mode meets Erfolg.
Gerda begrüßte mich mit einem herzlichen Lächeln und bat mich in ihr Büro.
Mit ihrer sanften Stimme flößte sie mir gleich Ruhe ein. Der warme Sound ihres dänischen Akzents tat sein Übriges. Einfach nur freundlich, verbindlich – eine Person, bei der man sich leichten Herzens am Biertisch dazusetzt. Die 30 Minuten vergingen wie im Flug und sie hatten nichts von einem Vorstellungsgespräch. Eine halbe Stunde hatte ich das Gefühl, mich mit einem guten Nachbarn über das Wetter zu unterhalten. Ich schlug mich wacker mit meinen vorab ausgewählten dänischen Formulierungen. Am Ende des Gespräches fragte ich Gerda, wann ich denn mit einer Entscheidung rechnen könnte. Gerda trocken: »Du hast den Job, du kannst morgen anfangen!« Alter Schwede! (Ob dieser Ausdruck in Dänemark wohl eine Beleidigung ist?) Im ersten Moment entglitten mir meine Gesichtszüge, aber sie meinte es tatsächlich ernst. Mein Stundenlohn betrug über 20 Euro brutto, da dürfte auch netto einiges übrig bleiben. Und das Ganze als Sommerhilfe, als vollkommen Ungelernter. Nach meinem Hinweis, dass ich allerdings keinerlei Erfahrung in diesem Arbeitsbereich aufweisen könnte, entgegnete Gerda, dass ich die schon noch bekommen würde. Das mit der Erfahrung hat mich sowieso schon immer irritiert. Erfahrung erwünscht …! Da halt ich es wie Kurt Tucholsky: »Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen!«
Vollkommen verwirrt zog ich mich anschließend erst mal wieder auf meine Düne zurück und konnte mein Glück kaum fassen. »Yeeeese«, »Strike«, ich Premium Stück DNA, ich hatte einen Job, ich hätte Jubelschreie von mir geben können. Da hatte sich die exzellente Erbmasse doch mal durchgesetzt. Von der Kindeswohlgefährdung, Hilfen zur Erziehung und Teilnahme an Jugendgerichtsverfahren zur Arbeit in der Tourismusbranche! Weltklasse! Ich Global Player, wo ich bin, ist vorne! Doch so schnell die Euphorie meinen Körper durchfuhr, so schnell kam auch gleich die Ernüchterung. Gedanken der Unsicherheit blitzten durch meinen mit Gel-Frisur verzierten Kopf.
Konnte ich mein Lauftraining hochhalten für den am 27. Juni geplanten Nordsøbeach-Marathon? Ja, ich hatte mich für diesen angemeldet und die letzten Monate war ich doch so einige Kilometer gewetzt, nachdem mir mein Sportarzt eine uneingeschränkte Sporttauglichkeit nach eingehender Untersuchung bescheinigte.
Von Erkältungen blieb ich die letzten Monate ebenfalls verschont, ich konnte behaupten, gut vorbereitet zu sein. Sechs Marathonbücher hatte ich verschlungen, von »Marathon – Die Herausforderung«, »Mein Marathontraining«, »Perfektes Marathontraining«, »Erfolg ist planbar«, »Vonnull-auf-42«, bis »Der erste Marathon« war alles dabei. Vor dieser Herausforderung hatte ich allerhöchsten Respekt. Aber wenn Integration, dann richtig! Die Dänen sind ein begeistertes Laufvolk und bieten im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl zahlreiche Marathonis.
Der Nordsøbeach-Marathon ist, wie der Name schon sagt, ein reiner Strandmarathon. Der Einzige seiner Art weltweit. Ausgetragen wird er jährlich am letzten Junisonntag. Die Strecke bewegt sich dabei immer zwischen Hvide Sande und Vejers Strand, wobei in geraden Jahren nach Norden und in den ungeraden nach Süden gelaufen wird. Seit dem Jahre 2000 gibt es diese Laufveranstaltung, wo neben der klassischen Marathonstrecke von 42,195 Kilometern auch ein Halbmarathon sowie Läufe über 5 und 10 Kilometer angeboten werden. Bei normalen Stadtmarathons beträgt das Zeitlimit in der Regel 6 Stunden. Beim Nordsøbeach-Marathon wurde das Zeitlimit auf 7 Stunden erhöht, da man mit einem ähnlichen Zeitaufschlag wie bei einem Bergmarathon rechnen kann.
Bereits eine Woche vor dem Startschuss tigerte ich recht unentspannt durch meine neue Behausung und checkte auf dmi.dk und yr.no das Wetter für Hvide Sande die nächsten Tage. Gerade bei diesem Lauf spielte das Wetter eine besondere Rolle – gibt es Rückenwind, verfluchten Gegenwind, wobei die See die Zähne zeigt und die Läufer mit Gischt bespritzt, knallende Sonne, die sich auf dem ruhigen Meer spiegelt, Sommerwetter oder 10 Grad und Dauerregen? Vor allem: Wird der Strand in diesem Jahr einen festen Untergrund bieten?
Stürmischen Gegenwind konnte ich bei diesem Unterfangen am wenigsten gebrauchen. Dann dürfte wohl einiges gegen einen Zieleinlauf sprechen. Der Wind spielte als Helfer oder Gegner eine entscheidene Rolle.
Der Tag war gekommen. Der frühe Morgen präsentierte einen Sonnenaufgang, dessen kraftvolle Farben so intensiv und schön waren, dass sie schon fast wieder kitschig erschienen. Der Fjord lag ruhig da, darüber ein dramatisch geflammter Himmel. Die Luft war herrlich klar. Ein mögliches Scheitern würde zumindest nicht an meinem Betreuerteam gelegen haben. Leni und die gesamte Dänenbande positionierten sich wahlweise an der Strecke oder im Zieleinlauf. Meine Eltern samt Bruder im Gepäck hatten extra ein Ferienhaus angemietet.
Was sollte ich zum Wetter sagen. Petrus verzichtete nicht nur auf stürmischen Wind, er verzichtete gleich komplett auf irgendeine Brise. Höchst selten in dieser Gegend.
So weit, so gut. Weniger gut: Lagen die Temperaturen in den zurückliegenden Wochen bei 13 bis 16 Grad, kletterte das Thermometer just an diesem Tag auf cremige 26 Grad, bei einem wolkenlosen Himmel. Spätestens da dämmerte es mir, das Ganze könnte höchst anspruchsvoll werden.
Nach dem Frühstück ging es mit meinem kompetenten Betreuerteam gut gelaunt zum Marathongelände. Die Sonne knallte bereits um 10 Uhr kräftig vom Himmel und kein Wölkchen trübte die Aussicht, absolutes Kaiserwetter. Am Strand zeigte diese Veranstaltung ein familiäres Flair, alle Aktiven sowie Zuschauer erwartete eine nette, entspannte Atmosphäre. Keine Hektik, kein Stress und der Moderator war einfach super. Er verbreitete gute Laune, leitete das Aufwärmprogramm und spielte zwischendurch immer wieder klasse Beats ein.
Im Startblock ging ich noch mal meine Vorbereitungsrituale durch. Hatte ich an alles gedacht? Habe ich an die drei Gramm Kochsalz pro Liter gedacht, um das Wasser im Körper zu binden? Wie gehe ich den Lauf an? Gehe ich noch mal zur Toilette? Und vor allem, was mache ich hier eigentlich?
Zu spät, es gab kein Zurück!
Eigentlich wollte ich ja nur Brötchen holen, aber wenn ich schon mal da bin, kann ich ja auch mitlaufen. Mein Vater haute auch noch mal einen raus: »Könnt heute klappen mit dem Sieg, Kenianer habe ich noch keine gesehen.« Ich, in meiner biologischen Funktion als Granate, war bereit. Lautstark wurden wir mit fetziger Musik auf die Strecke geschickt. Aus den Lautsprecherboxen dröhnte aufpeitschende Musik. Es fehlte eigentlich nur noch die Filmmusik des dritten Rocky-Films – »Eye of the Tiger«. Jetzt wird sich zeigen, was in mir steckt. Die Läufer feuerten sich gegenseitig an. Der Laufsport ist wirklich ein besonderer Sport. Schon deshalb, weil man sein eigener Trainer und Manager ist. Ein »Ein-Mann-Unternehmen« sozusagen. Man ist für sich ganz allein verantwortlich.
Seine individuelle Schwäche verstecken, wie es teilweise im Mannschaftsport möglich ist, ging hier nicht mehr.
Ich versuchte, erst mal meinen Laufrhythmus zu finden. Bei normalen Straßenmarathons recht schwierig. 6 Schubser von links, 7 rechts, geschätzte 44 Füße in den Hacken. Nicht so hier, es klappte von Anfang an ganz gut, da der Strand breit genug war und jeder Läufer seinen Schritt laufen konnte. Die Sonne bearbeitete den Schädel von der ersten Minute an. Schattenlaufen war angesagt! Nur, wo war der Schatten? Okay, die ersten Kilometer machte das Ganze noch Spaß. Bei solch einer guten Luft, das herrliche Meer immer auf der linken Seite, der Zieleinlauf war in diesem Jahr in Hvide Sande.
Am Start war ich noch die Coolness in Person.
Was dann folgte, war eine einzige Quälerei. Ohne jeden Schatten und ohne Wind gefühlte 35 Grad. Der Puls hämmerte, die ganze Konzentration war auf den Laufrhythmus gerichtet. Auf geht’s Buam, wenns gar nicht mehr geht, einfach locker weiterlaufen. Ab morgen mach ich nur noch Gehirn-Jogging. Ist ja schließlich mein erster Lauf dieser Art. Wenn ich ankomme, habe ich automatisch persönliche Bestzeit.
Gedanklich lief meine gesamte Trainingsphase noch mal an mir vorbei, fernab vom Bürostress. Was im hektischen Alltag nie funktioniert, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, auf der Laufstrecke kommt dieser Prozess wie von selbst in Gang.
Auf wundersame Weise findet man sein seelisches Gleichgewicht wieder, wenn sich der Körper verselbstständigt, sich das sogenannte »Runners High« einstellt. Wenn man den »Flow« erreicht, einen Zustand, in dem es sich eigentlich wie von selbst läuft – »Schwebezustand«, »Schwerelosigkeit«.
Ich habe gelernt, dass Muskelkater kein Schmerz ist, sondern Lohn. Dass man erst dann weiß, wie tief eine Pfütze ist, wenn man reingetreten ist. Teilweise bin ich während der Vorbereitung so viel gelaufen, dass ich selbst meine französischen Designerschuhe mit einem festen Doppelknoten gebunden habe. Vor allem sollte man beim Training besonders darauf achten, dass es stattfindet!
Wenn Oberschenkel brennen, Waden zwicken und einem die Lunge zum Hals raushängt, muss der Kopf stark sein. Genau an dem Punkt war ich nun, der Kopf bestimmte den Ausgang!
Schmerzen in der linken Ferse, dazu gesellte sich noch eine Blase unter dem rechten Fuß. Momentan hätte ich sicherlich mit einer älteren Dame mit Rollator nicht Schritt halten können. Jaja, überholt ihr alle nur, von vorne sehe ich noch besser aus!
Das Schönste an so einem Lauf ist der Start und dann der Zieleinlauf. Das Dazwischen muss nicht unbedingt so lang sein. Egal, es ging hier schließlich um Ruhm und Ehre. Und an die erinnerte mich auch noch mal mein Vater, der zwischendurch ein wenig »mitwalkte«. »Junge, was ist los, gehst du noch oder läufst du schon? Du hast doch fürs Laufen be