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Lakonisch beobachtend, dabei nie anmaßend, flaniert Tim Uhlemann virtuos und gut gelaunt durch die bunte dänische Welt und knüpft dabei nahtlos an den Vorgänger »Dänemark – Gekommen, um zu bleiben« an. Tim Uhlemann, seit mittlerweile über 13 Jahren in Dänemark zu Hause, erzählt kenntnisreich von den Vorzügen einer kleinen, stolzen Nation. Er weiß, was die Seele des Dänen bewegt, und nimmt Sie mit auf das magische Bornholm, auf die stolzen Färöer-Inseln und verrät, warum Dänemark eine Krimination ist und was es mit der Indfødsretsprøven auf sich hat. Mit viel Witz, einer guten Portion Selbstironie, aber auch der nötigen Ernsthaftigkeit erzählt der Autor von seiner außergewöhnlichen, inspirierenden Reise. Bei allem bleibt die unerschütterliche Liebe zum einzig Wahren: Dänemark. Klare Kante, ohne dass sein Schreibstil dabei an Leichtigkeit eingebüßt hätte. Klarer, unverstellter Blick auf die aktuelle Dänemarklage. Erfahren Sie, warum Lesungen mit Tim Uhlemann zum Spektakel werden. Geringste Zuschauerzahl: 20. Höchste Zuschauerzahl: 20. Dolce Vita des Nordens, lassen Sie sich von der Exotik der Dänen verzaubern und begleiten Sie den Autor auf diese kleine Reise in das Leben und die Welt von inspirierenden Dänen. Am Ende bleibt die Erkenntnis: Eine Auswanderung ist wie eine nie enden wollende Reise. Leben auf der schönsten Sandbank der Welt. Showdown inklusive! Mit einem eingeschmuggelten Vorwort von Brian Bojsen.
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Seitenzahl: 410
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tim Uhlemann
Tim Uhlemann
Leben auf der schönsten Sandbank der Welt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Von Tim Uhlemann ist außerdem im Lau-Verlag erschienen:
Dänemark– Gekommen, um zu bleiben
Im Frühjahr 2025 erscheint:
Dänemark– Die beste Reise meines Lebens
Instagram: @timuhlemann
Bildnachweis: S. 8 © Brian Bojsen, S. 81 © Claes Bech-Poulsen, S. 87 und S. 89 © Beinta á Torkilsheyggi, S. 97 © Katrin Meyer.
Weitere Fotos von Tim Uhlemann.
1. Auflage, 1. Nachdruck 2025
1. Auflage 2023
ISBN 978-3-95768-253-6
eISBN 978-3-95768-273-4
© 2025 by Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek
Lau-Verlag & Handel KG
Kirschenweg 10a
21465 Reinbek
E-Mail: info@lau-verlag.de
www.lau-verlag.de
Alle urheberrechtlichen Nutzungsrechte bleiben vorbehalten.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining
im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Umschlagentwurf: pl, Lau-Verlag, Reinbek
Umschlagabbildung: Cover © Tim Uhlemann, Backcover © Patrick Lau
Satz und Layout: pl, Lau-Verlag, Reinbek
Vorwort
1. Rückspiegel: Guten Morgen, Hvide Sande
2. Indfødsretsprøven … oder anders gesagt: Einbürgerungstest
3. Mit dem Mofa nach Bornholm – born to be wild
4. Färöer-Inseln
5. Lesung
6. 1000 Jahre deutsch-dänische Geschichte
7. Making of
8. 30 Jahre Feriepartner Dänemark
9. Uhlemann spannt aus
10. Warum ist das Morden im Norden so attraktiv?
11. Härte statt Hygge – Dänemarks Migrationspolitik
12. Abenteuer Hurtigruten
13. Zu Besuch bei der Schwägerin
14. Die entspannten Nachbarn – Dänemarks Umgang mit Corona
15. Es ist etwas warm im Staate Dänemark – mit Strom heizen
16. Die Idee des Nordens
Danke, Danke, Danke
Der Autor
Herzlichen Glückwunsch, Tim, es ist ein weiteres Buch über meine Heimat. Ein weiteres Mal surft Tim Uhlemann wieder durch den Irrsinn des dänischen Alltags und die Geschichten gehen einfach nicht aus. Ja, die Dänen sind manchmal ein wenig verschroben und eigentümlich. Eine Warnung für alle, die vielleicht planen, sich in eine Beziehung zu einem Dänen oder einer Dänin zu stürzen. Um mit dem dezenten Größenwahn der Dänen klarzukommen, kann die vorliegende Lektüre sehr helfen. Auf unterhaltsame Weise werden auch Missstände angeprangert, aber ohne den mahnenden Zeigefinger.
Tim Uhlemann, der charismatische Auswanderer, dessen Blick stets weit über den Tellerrand hinaus reicht, was er auch in dieser Lektüre messerscharf und ungefragt unter Beweis stellt. Der wortgewaltige Autor säbelt sich mit der Präzision eines Herzchirurgen durch alle gesellschaftlich relevanten Themen, die sich ihm Tag für Tag in den Weg stellen. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen. Als Stimme aller Auswanderer formuliert er frei von der Leber weg, Vergnügen pur! Eine großartige Geschichte, bei der man nach 352 Seiten zutiefst bedauert, dass sie schon zu Ende ist. Eine Lektüre, bei der sich auch das Wiederlesen lohnt. Dass ich nach 352 Seiten an drei Abenden einfach nicht aufhören wollte, ist vielleicht die beste Empfehlung für dieses Buch.
Für mich die individuellste Stimme der dänischen Auswandererliteratur.
Lesen Sie dieses Buch, es wird Sie entspannen. Und vielleicht hilft es ihnen, uns Dänen ein bisschen besser zu verstehen. Denn ja, wir sind schon speziell … und stolz drauf.
Doch genug der Worte. Der verrückte Däne wünscht Ihnen viel Spaß beim Lesen.
Hygge, Brian
Brian Bojsen – ein Mann vieler Talente. Der leidenschaftliche Gastronom und Abenteurer machte sich schon früh als Profisurfer und Fotograf einen Namen. Nach 16 Jahren auf Sylt, wo der gebürtige Däne in den Top-Spots der Sylter Spitzengastronomie (Sansibar, Seepferdchen, Osteria) zu Hause war, unterhielt der sympathische Däne seine Zuschauer mit seinen vielseitigen Talenten vor allem beim ZDF-Fernsehgarten, als Juror der ZDF-Kochshow »Küchenschlacht«, bei »Kitchen Impossible« sowie im RTL-Format Chefkoch TV. Brian, der lange sein eigenes Restaurant »Brians Steak & Lobster« in Hamburg führte, ist heute u. a. kulinarischer Berater im Europa-Park Rust, führt das Beach Side Restaurant »Wild Scandinavian BBQ« im Forte Village, Sardinien, und ist für seine Projekte weltweit unterwegs. Er hat die skandinavische Küche in Deutschland maßgeblich geprägt und ist als Gründer seines Labels »Wild Scandinavian Cooking« nie im Stillstand – vor allem nicht, wenn gerade wieder eine neue Staffel »Caravaning & Cooking« für den Sender DMAX abgedreht wird.
2018 präsentierte Brian mit dem Titel Lækker – Die skandinavische Küche des verrückten Dänen sein erstes Kochbuch. Brian Bojsen – ein Tausendsassa und doch irgendwie hyggelig.
»Ich möchte Däne werden!«
Alle großen Werke der Literatur fangen mit einem Paukenschlag an. Die Jury würde urteilen: »Mit diesem ersten Satz wird der Stein ins Rollen gebracht – es ist ein Versprechen, eine Duftmarke – kurz: der Brühwürfel, mit dem die folgende Suppe gekocht wird!«
Eingetaucht unter Nordlichtern. Was bisher geschah…
Bitte lesen Sie dafür einfach das Buch »Dänemark – Gekommen, um zu bleiben.«
Schön, dass Sie da sind!
Glückwunsch, Sie haben hier in eine weitere großartige Verklärung meiner Dinge investiert, ab jetzt werden neue Seiten aufgeschlagen. Sie halten somit die Anatomie meines dritten Literaturwerkes in Händen.
Sie und ich, wir haben jetzt ein Date, also die nächsten 352 Seiten. Ich hatte die Arbeit, der genüssliche Teil liegt bei Ihnen. Atmen sie den unkonventionellen Geist meiner verblüffenden alltagsphilosophischen Betrachtungen.
Wo erfährt man die Wahrheit über den dänischen Alltag? Und kriegt man sie wirklich für 17 Euro? (Geklaut gratis!) Ich habe mit viel Aufwand alle Aussagen aus diesem Buch überprüft und kann nun mit Gewissheit sagen: Es stimmt alles.
Sehnsucht nach Dänemark? Dann könnte dieses Buch durchaus interessant für Sie sein. Die dänische Westküste zieht hauptsächlich deutsche Urlauber an und dient als Projektionsfläche für die Sehnsucht der Menschen.
Guten Morgen, Hvide Sande! Möge dein Morgen strahlend sein.
In diesem Sinne: Lesen & lesen lassen – ich wünsche Ihnen, liebe Dänemark-Freunde, viele schöne Augenblicke mit diesem Buch und spannende Entdeckungen auf Ihrer Reise in die Welt der Dänen! Aber Achtung: Dieses Buch kann glücklich machen und ist auch ohne Akku für die Touchbedienung ausgerichtet.
Norden in Sicht! Leinen los! Feel Vergnügen!
Liebes Tagebuch!
Ein Seufzen entweicht meinen Lippen. Es ist nicht dieses Seufzen oder höhnische Stöhnen, wenn man am Bahnsteig steht und die Durchsage kommt, dieser oder jener Zug habe 30 Minuten Verspätung. Es ist mehr ein zufriedenes In-sich-zusammensacken-Seufzen. Ein behagliches, glückliches, leises Seufzen.
1.5.2020! Getöse der Intoleranz, Polonäse des Irrsinns, sprich die Hochsaison ist noch einige Tage entfernt. Immer noch liegt ein wenig die Schläfrigkeit eines schweren Winters über der Frühlingslandschaft. Auf den Tag genau seit 10 Jahren wohne ich nun an diesem herrlichen Fleckchen Erde. Nordsee – Oase des Reflektierens, Spielwiese für die Sinne. Vor 10 Jahren bei Google eingetippt: »Hygge«. 41400000 Ergebnisse. Heute, nach einem intensiven Integrationsprozess, weiß ich, was Hygge bedeutet. Ich befreite mich von meinem eingefahrenen Alltag als Sozialarbeiter – die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe. So weit hätte mich meine Vorstellungskraft nie getragen. Ich habe die letzten Jahre meinen eigenen Dopaminhaushalt per kulturell staatlich vorgeschriebenen Glücksvorstellungen auf Trab gebracht. Cant’t get any better than this, sagt der Amerikaner, wenn alles perfekt ist. Hvide Sande – ein filmreifes Fleckchen Erde. In dieser Welt leben knapp 3500 Einwohner, die sich auf vier Namen verteilen: Andersen, Jensen, Iversen und Kristensen. Lebt man in der Großstadt, lebt man zu seiner Unterhaltung, auf dem Lande zur Unterhaltung der anderen. Willkommen in der Romanwelt von Rosamunde Pilcher. Ein großartiger Moment, um kurz in sich zu gehen, die Zeit anzuhalten und sich zu fragen: Was bringt wohl das neue Jahrzehnt, was kommt in der nächsten Dekade?
Ich bin nun 10 Jahre der dänischen Kultur ausgesetzt, seit über einem Jahrzehnt habe ich die Möglichkeit erhalten, die Welt durch die dänische Brille zu betrachten. Vorsicht: Das kann Ihre gesamte Weltsicht verändern. Gerne möchte ich Ihnen auf den folgenden Seiten diese Brille anbieten.
Hvide Sande, diese Stadt hat sich im Westen Jütlands eingenistet. Irgendwie ein ungewöhnlicher Ort, überwiegend Nutzarchitektur. Hvide Sande schön zu finden erfordert Mühe. Drei Dinge erwarten die Besucher von einem dänischen Fischerdorf: Kutter, Windräder und einen Leuchtturm. Hvide Sande erfüllt alle diese Anforderungen. Der Nr. Lyngvig Leuchtturm ist so etwas wie das Wahrzeichen des Dorfes, von Weitem erinnert er an eine Rakete mit Startrampe, eine Art Cape Canaveral des Holmsland Klits. Der Leuchtturm steht auf einer 17 Meter hohen Düne und ist 38 Meter hoch, oben lässt man sich ein laues bis weniger laues Lüftchen um die Nase wehen und erlebt einen magischen Blick auf die schönste Sandbank der Welt. Zur linken Seite der Ringkøbing Fjord, zur rechten Seite die Nordsee, vor Kopf ragen drei Windräder empor.
Sitze ich im Café, tue ich so, als wäre ich ein Einheimischer – sitze, starre, trinke starken Kaffee, füge mich ein in dieses seltsam langsame Leben. Blicke schweigend durch die vom salzigen Wind zum Teil matt gewordenen Fenster in die Landschaft, ich genieße diese Art Stille, die hier zum Lärm wird, weil es nicht viel gibt, das meine Ohren ablenkt. Es ist ein eigenes Gefühl, eine eigene Landschaft, eine eigene Welt – es ist meine Welt. Hvide Sande und Westjütland sind die Gründe, warum es dieses Buch gibt, es sind Sehnsuchtsorte, Hvide Sande ist, und das möchte ich kurz betonen, bevor wir uns gemeinsam in dieses Kapitel stürzen, mein Lieblingsort in diesem wunderbaren Land.
Mitunter werde ich gefragt, wie aktiv man sein muss, um all die Geschichten rund um Dänemark zu erleben, dass man damit Hunderte von Seiten füllen kann. Ich habe immer das Gefühl, ich müsste nichts weiter tun, als einfach nur da zu sein, das Rohmaterial sind die Unterhaltungen der »einfachen Leute«. Ich tue im Grunde nichts anderes als hinzugehen, zuzuhören und die Dinge aufzuschreiben. Teilweise fliegen die Geschichten mir zu, teilweise liegen die Geschichten auf der Straße und bitten nur darum, aufgeschrieben zu werden. Manchmal habe ich das Gefühl, Dänemark entscheidet selbst, was es mir erzählt. Inspiration findet man nach einer Auswanderung ständig – im Alltag. Es kommt mir zugute, dass mein Alltag teilweise so aufregend ist wie woanders ein Abenteuerurlaub. Nun gut, im Umgang mit Dänen war ich schon immer sehr an Kommunikation interessiert und geradezu besessen von Geschichten. Irgendwann entsteht ein gewisser Stau im Oberstübchen. Diesen Stau gilt es abzuarbeiten, zu bürsten und zu polieren.
Mehr denn je freuen wir uns auf den kommenden Touristenansturm.
Die letzten Monate wurden wir hier alle auf eine große Probe gestellt. Wenn uns hier was ausbremst, dann ein Öltanker, der vor der Westküste auf Grund läuft oder in die Jammerbucht rast. Haben wir zumindest immer gedacht. Aber eine Pandemie?
Bakterienüberfüllte Türklinken, virenschleudernde Menschenmassen, niesende Mitbürger aus der Ferne sowie Mitbürger, deren Atem ich an der Supermarktkasse im Nacken spüre, waren schon immer ein Gräuel für mich. VIVA Corona, so trostlos wie eine Skatrunde mit nur zwei Spielern! Warum hat das Unglück immer mehr Fantasie als das Glück? Über Nacht stellt ein Virus unseren Alltag auf den Kopf. Der Corona-Wahnsinn zwang die Welt zu einer kollektiven Vollbremsung. Zwei Meter Abstand – die Dänen konnten es sehr schnell nicht mehr hören, weil sie endlich wieder zu den gewohnten vier Metern zurück wollten. Corona-Pandemie – was für eine absurde gesellschaftliche Großwetterlage.
Auch wir waren betroffen, die Reisebranche bekam die volle Breitseite. Anstatt Buchungen vorzunehmen, flatterten Stornierungen im Minutentakt herein. Ich fühlte mich urplötzlich wie im Call-Center, nur mit besserer Bezahlung. Nichts an dieser Krise war gut außer der Erkenntnis, dass man Krankenhäuser nicht wie Wirtschaftsunternehmen führen sollte. Zumindest musste ich in Hvide Sande keinem älteren Herrn in den Bauch boxen, um noch die letzte Rolle vierlagiges Toilettenpapier zu ergattern. Was ein Wahnsinn – dass »weiße Gold« als neues Statussymbol. Bei uns konnte man auch zu Corona-Hochphasen Toilettenpapier noch sicher im Fahrzeug liegen lassen. Vielleicht wohne ich schon zu lange in Dänemark, aber diese Hamsterkäufe bezüglich dieser Endlos-Serviette habe ich zu keiner Sekunde verstanden. Mit Sicherheit war diese Pandemie eine perfide Erfindung von Herstellern von Toilettenpapier. Was für eine Zeit! Virologen wurden die neuen Influencer, Planbarkeit war gestern. Bloß nicht zu nahe kommen, jede Herzlichkeit kann killen. Jeder legte sich ein Corona-Survival-Kit parat, ich zum Beispiel die Sechser-DVD-Box »Alles Atze«. Obwohl ich zugeben muss, zu Hause gammeln, DVDs gucken und Essen bestellen – das war für mich jetzt eher weniger der klassische Ausnahmezustand. Kurzfristig dachte ich an ein freiwilliges asoziales Jahr. Erinnerungen an früher wurden geweckt, als es darum ging, während dieser Corona-Festspiele die Haare zu kürzen. Ich nahm im Badezimmer Platz und entschied mich für den klassischen Topfschnitt. Meine Dänin nutzte eine Schüssel als Schablone, ihre Schneidetechnik würde ich mal als eher unorthodox beschreiben, aber es hätte schlimmer kommen können als diese Notfrisur. Auch in diesem schwierigen Augenblick war unsere Philosophie, unser Wesen darauf ausgerichtet, die Zeit so gemütlich und mit so vielen Lachfalten wie möglich zu verbringen. Auch privat hielt Corona fortwährend Einzug in unseren Sprachgebrauch. »Schatz, ich könnte noch einen kleinen Snack vertragen.« Leni: »Wenn die Waage bei dir wieder eine stabile Inzidenz von unter 70 anzeigt, sind auch wieder Öffnungen des Kühlschranks nach 18 Uhr erlaubt!« Dennoch, lieber Gott, gib uns bitte unsere Probleme von gestern wieder! Mein Elternhaus hat mich gelehrt, das Beste aus jeder Situation zu machen. Selbst aus einer so ausweglosen wie dieser Pandemie. Es hat auch sein Gutes. Ich muss nur noch herausfinden, worin es besteht.
Das Corona-Virus hatte mitunter auch in Dänemark kuriose Auswirkungen. Däne werden ging in diesem Moment nicht. Sämtliche Einbürgerungszeremonien wurden abgesagt, da das Gesetz vorsieht, dass Neubürger bei der Zeremonie die Hand eines Beamten schütteln müssen. Der Gesetzestext von 2019 erklärt den Händedruck zum zentralen Ausdruck dänischer Identität und verpflichtet einen jeden Neubürger, während der Einbürgerungszeremonie einem dänischen Beamten die Hand zu schütteln. Damit signalisiert der Neubürger, dass er »die Dänischen Werte« angenommen hat. Nackte Haut auf nackte Haut, natürlich eine Steilvorlage für das Corona-Virus. Das Gesetz sieht eindeutig vor: Handinnenfläche an Handinnenfläche, ausdrücklich ohne Handschuhe. Da ist der Däne konsequent, obwohl man natürlich die Frage stellen könnte, inwiefern die dänischen Werte an einen Handschlag gebunden sind.
Wir alle befanden uns in diesen Monaten in einem gewaltigen Knobelbecher. Wurden durchgeschüttelt und keiner wusste, wie wir wieder herausgewürfelt werden. Es war keine einfache Zeit, hätte aber auch schlimmer kommen können. Vor der Corona-Krise wurde mir teilweise alles zu viel: Überall grüßt abendlich Klima-Greta, Großbritannien schreibt an seiner eigenen Seifenoper, Diskussionen über Diesel und Energiewende, FFF sorgt für Wirbel und viele ausgefallene Schulstunden, das EU-Parlament mit zwei Sitzen, deren Abgeordnete ständig zwischen Straßburg und Brüssel hin und her pendeln, ruft den Klimanotstand aus, heimliches, eigenmächtiges und voreiliges Abschließen von Mautverträgen mit privaten Firmen, was den deutschen Steuerzahler bis zu 600 Millionen Euro kosten wird. Teilweise wurde ich das Gefühl nicht los, in Wahrheit handelt es sich um ein Experiment der Regierung, wie viel Inkompetenz Bürger zu ertragen bereit sind. Der Wohlstand eines Landes wird auch immer an der Qualität seiner Aufreger gemessen. Dann grätschte das Corona-Virus mit all seiner Wucht dazwischen. Wie sehr hätte ich mich in dieser Zeit über die alten, teilweise Nonsens-Diskussionen gefreut (alle Wünsche werden klein gegen den, gesund zu sein).
So langsam trudeln die ersten Teutonen wieder ein, deren Opfertempel aller Art von Outdoorläden wie Fjällräven, The North Face, Globetrotter, Mammut und Jack Wolfskin sind. Eingefleischte Dänemark-Fans erkennt man an wetterfesten Jacken, Fleece-Pullover-Kultur sowie Funktionshosen. In Dänemark befinden sie sich in einem fremden Land, können sich dennoch im Bekannten bewegen, machen Urlaub von Deutschland, indem sie mehr oder weniger in ihrer Wunschvorstellung von Deutschland leben. Hier reizt weniger das Exotische, weniger das Entdecken einer Fremdheit. Die Ferienhausliebhaber, die Motorradfahrer, die Wohnwagenfahrer, die Radsportler, Surfer und Reitfreunde. Da stehen sie. Am Kai. Auf der Mole. Am Strand. Am Leuchtturm von Nr. Lyngvig. Der Anblick von Gästen löst in diesen Tagen Zufriedenheit und wieder ein Stück Normalität aus.
Ich habe Platz genommen in unserem neuen, stylisch schicken Café direkt im Herzen von Hvide Sande. Unsere neue Sättigungsfabrik. Auf recht bescheidene Art hat Hvide Sande viel zu bieten.
Dazwischen ich, ausgewanderter Deutscher, attraktiver Sohn der Stadt Oberhausen, versteckt in einem norwegischen Pullover. Der Blick der anderen sagt: »Schau an, ein Idiot.« Ein Touareg mit einem Sylt-Sticker (dieser Aufkleber scheint geradezu ein Ausweis geschmacklicher Extraklasse zu sein) huscht vorbei, hier fühlt man sich als SUV-Fahrer noch wohl.
Ich sitze auf einem Holzstuhl in der Ecke an einem kleinen runden Tisch. Mein Blick wandert durch die Glasfront auf die durchaus belebte Straße. Ein spätes zweites Frühstück, mein Netbook bei solchen Anlässen dabei. Ich lausche den Gesprächen und dem Stimmengewirr, das sich aus den Dialogen der anderen Gäste ergibt. Schnappe Gesprächsfetzen auf wie: »Erzieher haben einen tollen Beruf. Ich würde auch gerne den ganzen Tag spielen und Kaffee trinken.« Ich denke an Eltern, die ihre Kinder trotz Fieber in die KITA schicken, kotzende Kinder beim Essen, Windeln, die bis zum Hals explodieren. Nein, ich möchte mit Erzieherinnen nicht tauschen wollen. Das Kaffeehaus, Ort für geistreiche philosophische Inspirationen.
Ich nippe wie immer zu spät an meinem Espresso, der cremige goldbraune Schaum ist längst verschwunden, eine hellbraune, lauwarme Brühe ergießt sich mit jedem Schluck so intensiv durch meine Kehle, dass ich danach einen Schluck Wasser trinken muss. Irgendwann schaffe ich es rechtzeitig, im Espresso zu rühren und ihn dann, von einem Moment auf den anderen, mit genussbereitem und konzentriertem Blick lässig und weltläufig wegzunippen.
Mein träger Blick verrät eine gewisse innere Zufriedenheit, ich lasse die gewohnte Umgebung auf mich wirken, nach kurzer Ekstase im Belohnungssystem (ich gönne mir ein typisch dänisches Gebäck) ist der Rausch schnell wieder verflogen. Am Nebentisch – peinlich und akribisch zugleich, wie die Influencerinnen ihr Superfood-Smoothie inszenieren. Ich hoffe, sie haben gesehen, wie ich dieses dänische matschige Gebäck in mich hineingeschaufelt habe. Deren Superfood erinnert mich an eine mexikanische Drogenküche, nur ungesünder, bzw. an eine Doku über Buckelwale, die sich über Plankton hermachen. Zufrieden stelle ich fest: Mein Bindegewebe ist straffer, meine Haut besser als das der Superfood-Tanten.
Ich schlage die Zeitung auf und lese den Allianz-Report zum Brutto-Geldvermögen in Industrie- & Schwellenländern (zum Brutto-Geldvermögen zählt die Allianz Bargeld, Bankeinlagen, Wertpapiere sowie Ansprüche gegenüber Versicherungen und Pensionsfonds). Am reichsten sind die Menschen pro Kopf immer noch in der Schweiz, dann folgen die USA. Dänemark schafft es als einziges EU-Land aufs Treppchen und sichert sich Platz drei. Das geht aus dem im September 2019 veröffentlichten »Global Wealth Report« der Allianz hervor. Ich kann es bestätigen. Große Teile der Gesellschaft verdienen so viel, dass es für einen angenehmen Lebensstil reicht – auch mit Kindern. Es sind eher wenige Menschen, die sich durch besonderen Reichtum oder durch besondere Armut von den anderen abheben. Die Oberschicht in Dänemark führt ihren Wohlstand eher selten in Form von Autos der Luxusklasse in der Innenstadt spazieren. Dänemark war immer mutig genug, auch unpopuläre Reformen durchzuführen – und dies, selbst wenn die öffentlichen Debatten in eine andere Richtung gezeigt haben. Vielleicht der entscheidende Faktor, dass Dänemark auch in Zukunft zu den reichsten Ländern gehört. Das kleine Königreich macht vieles richtig, was andere nicht schaffen: Digitalisierung auf dem Land, wenig Schulden und keine Angst vor Großprojekten. Nach der Großen-Belt-Verbindung und der Öresund-Brücke zwischen Dänemark und Schweden ist ein 20 km langer Tunnel zwischen Dänemark und der Insel Fehmarn beschlossene Sache. Bei diesem Projekt Fehmarnbelt-Tunnel könnte Dänemark schon längst loslegen, während sich die deutsche Seite noch mit Bürokratie rumschlägt. Seit 2009 gibt es dazu einen Staatsvertrag, seit über 10 Jahren haben Dänemark und Deutschland den Plan, die Meerenge zwischen den beiden Ländern zu untertunneln. Ursprünglich sollte alles bis 2020 fertig sein, nun geht man davon aus, dass kein Zug vor 2030 durch die Röhren rast. Über 10 Jahre Verzug, Milliarden Mehrkosten. Das dänische Gesetz für den Fehmarnbelt-Tunnel ist seit 2015 fertig, auch weil die Menschen vor Ort früh eingebunden und die Vorschläge ernst genommen wurden, um das Projekt zu verbessern. Diese Einbindung der Menschen beschreibt die Erfolgsformel einer ganzen Nation. Gab es in Dänemark 36 Einsprüche gegen den Tunnel, sind es auf deutscher Seite 12400. Und obwohl beide Länder an dieselben EU-Vorschriften gebunden waren, ist der dänische Umweltbericht für das Projekt 2000 Seiten lang, der deutsche 14000. Das Großprojekt-Horrorkabinett in Deutschland ist groß.
Was fühle ich mich da wohl in meinem Hvide Sande. Bei Tinder würde es heißen: Perfekt Match. I feel like Adam in the paradies. Diese Sandbank zwischen Nymindegab und Søndervig, sie bildet für mich die Trennlinie, die Pufferzone zwischen zwei Welten: der Welt draußen, Termine, Hektik, Verkehr, Job. Und der Welt drinnen: Hvide Sande. Alles etwas langsamer, etwas intimer, etwas relevanter, etwas entspannter.
Nach wie vor könnte alles in meinem Leben wesentlich schlimmer sein. Meine Zeit verbringe ich weiterhin glücklich und entspannt mit Leni. Diese Lebensleistung liegt allerdings allein bei »meiner Dänin«. Es ertragen nicht viele moderne Frauen, wenn der Partner morgens mit Siegeszeichen und ausgebreiteten Armen zum Frühstück erscheint – und nachts viermal raus muss. Es grenzt ans Übermenschliche, dass sie es so viele Jahre mit mir ausgehalten hat. Nach wie vor vermiete ich Ferienhäuser und arbeite für einen Spitzencampingplatz mit großer Bedeutung für die Region. Deutsche Gäste sprechen mit mir weiterhin LAUT, WEIL ICH JA DÄNE BIN UND NICHT SO GUT DEUTSCH VERSTEHE. Unser Motto gilt auch weiterhin: Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger. Die Kunst besteht darin, als Mister Nice Guy den Gast emotional zu binden. Die Kunst des Smalltalks besteht darin, zum Einstieg den kleinsten gemeinsamen Nenner mit seinem Gast zu finden. Top-Themen wie Politik oder Religion sollten beim Erstkontakt vermieden werden. Als Top-Eisbrecher eignet sich nichts so sehr wie das Wetter, eindeutig unverfänglicher als Themen, für die man eine Vorbildung benötigt. Das Fell sollte weiterhin dick sein, es gibt Gäste, die sind einfach auf Stunk gebürstet – lustigerweise werden gerade diese oft zu Stammgästen. Auch der größte Krakeeler wird nachsichtig, wenn er merkt, dass man sich doch bemüht hat. Schlechte Laune gibt es nicht, zumindest nicht vor dem Gast. Mein Problem besteht leider darin, dass ich in der Tat Schwierigkeiten damit habe, mir Namen zu merken. Wenn dann ein Stammgast freudig grüßend auf mich zukommt und mir der Name nicht einfällt, ist das ein durchaus peinliches Problem (dazu später mehr).
Der wichtigste Gast sollte immer der sein, der gerade vor einem steht. Auch das Zuhören ist unheimlich wichtig in meinem Job, oft werden uns wie bei Barmännern therapeutische Fähigkeiten zugerechnet. Man glaubt gar nicht, wie oft sich Gäste bei einem ausweinen. Aus dem Büro-Hund Zuri wurde Kenzo. Wieder ein stattlicher Rhodesian Ridgeback. Ob der beißt? Nein, der schlägt dich gleich zusammen. Und mit der dänischen Sprache ist es weiterhin wie mit meinem Aussehen: Man sieht zwar, dass ich ein Mann bin, aber schön ist was anderes.
Nach wie vor spielt sich unser Leben in Hvide Sande ab, ein Dorf das mich aufnimmt, meine Sorgen abfedert. Nach wie vor genießen wir unser Leben in unserem Häuschen auf der Nordseite von Hvide Sande. Die Betonung liegt auf der Nordseite. Es besteht eine gewisse, nicht ganz ernst gemeinte Konkurrenz zwischen den Bewohnern des Ortes. Die Grenze des Ortes bildet quasi die Schleuse. Man unterteilt den Ort in nördlich sowie südlich der Schleuse. Jemand, der im nördlichen Teil des Ortes aufgewachsen ist, würde nie in den südlichen Teil ziehen und umgekehrt. Diese lustigen Neckereien gehören zu einem Dorfleben einfach dazu. Auch hier gilt: Das Nonplusultra sind Beziehungen. Je länger man dabei ist, desto besser ist das Netzwerk.
Vorbei die Winter-Langeweile, die manchmal wie ein Leichentuch über der Landschaft liegt.
Morgens reiße ich zuerst die Terrassentür auf, die Seeluft strömt herein, es beginnt die kleine Betriebsamkeit des frühen Morgens: das Rauschen der Nordsee, das Ratschen der Möwen, das Pingen des Fahnenmastes, wenn das Tau gegen den Mast schlägt, der Hund, der vor sich hin bellt und monologisiert, die Sangeslust der Vögel in den Sträuchern. Würde gerne den Mythos aufrechterhalten, in einer Designervilla in den Dünen zu wohnen. Nein, es hat nichts groß Repräsentatives. Aber wer nennt schon ein Heim am Meer sein Eigen – Parkplatzsorgen ausgeschlossen. In meinen Augen ein schönes Haus, noch von keinem Hauch Salz des Meeres angegriffen, 300 Meter Luftlinie zum Meer (ein größerer Abstand zum Meer ist in Hvide Sande aber auch nur schwer möglich), das ist das Argument, was eine eventuelle Kaufpreisforderung unterstreicht.
Ich trete in den Garten und mustere meinen Besitz, vor die Wahl gestellt, zu schweigen oder einen sinnlosen kleinen Morgendialog mit dem Nachbarn zu eröffnen (Smalltalk mit dem Nachbarn links von uns bedeutet allerdings: In dieser Zeit hätte ich Goethes Faust geschrieben). Ansonsten sind die Privatgrundstücke hier lediglich durch hüfthohe Zäune abgegrenzt, hohe Zäune gelten als Zeichen des Misstrauens gegen seinen Nachbarn. Da es rundherum aber nur nette Leute gibt, hatten wir für einen hohen Zaun nicht den geringsten Grund. Mit den meisten Nachbarn gibt eher losen Kontakt. Lächeln, winken, grüßen – dieser Block, diese Straße bildet eine Einheit. Da kennt man sich, quatscht, klönt, hilft sich und hält zusammen. Hier geht es nicht um Musterlaufbahn und den perfekten Lebenslauf, die Leute müssen dich kennen, das geht über die persönliche Ebene. Hvide Sande ist eine Art Parallelkosmos, eine Art gallisches Dorf, Nebenstaat dieser Welt. Zum Verkauf stehende Häuser werden in der Regel nicht annonciert, alles geht unter der Hand, man möchte unter sich bleiben.
Endlich wieder Frühling – und wenn an der Fernbedienung kein Knopf mehr zu erkennen ist, sollte man am Leben mal wieder teilnehmen. Dazu gehört eben auch große Freude an Craziness dazu, ein wenig Bock auf unvorhergesehene Abenteuer, die man bestehen muss. Der Kick der Grenzbereiche, Ausnahmesituationen, kein Leben von der Stange. Was ich meine? So verrückte Dinge wie Rasen mähen. Sie lachen? Ich merke, Sie haben noch nie in Dänemark gewohnt.
In Dänemark mäht immer irgendwo irgendwer den Rasen. Sonntagmorgen, Punkt 7:30 Uhr – und jemand in der Nachbarschaft mäht den Rasen, unsere morgendliche hauptsächliche Unterhaltungsquelle. Wer sollte sich so was freiwillig antun? Das ist eindeutig Qualitätszeit, in der man nichts tut. Anfänglich dachte ich, dass das ein Irrtum sein muss. Dem ist nicht so. Das Einzige, was das Rauschen der Nordsee beeinträchtigen kann, ist das Geräusch eines Rasenmähers (ich glaube, für den Dänen klingt Rasenmähen wie Meeresrauschen). Was für den Zen-Meister sein Zen-Garten, ist für den Dänen sein Rasen. Rasen mähen, eine anerkannte dänische Yoga-Art. Leidenschaft der Dorflegenden. Auch Jørgen, mein KFZ-Meister des Vertrauens mit eigener Werkstatt sowie Nachbar von gegenüber, war im Zelebrieren der Rasenkultur Großmeister. Seine Hände sind rau (Trophäe ehrlicher Arbeit) und weisen deutliche Spuren von Gartenarbeit auf. Für seine durchaus bescheidene Rasenfläche nutzt er nicht weniger als einen Aufsitzrasenmäher. Unser Nachbar – makelloser Rollrasen, scheckheftgepflegter Vorgarten, die Kieselsteine der Einfahrt sind derweil so säuberlich drapiert, als wäre jeder einzeln gesetzt worden. Hardcore-Atheist mit Buddha im Garten. Jørgen hatte seine ganz eigene Sichtweise auf die Dinge: »Rasen mähen ist nichts anderes als Staubsaugen in freier Wildbahn. Wer den Aufsitzer zu kontrollieren weiß, schafft Ordnung und wird in seiner Männlichkeit beglückt!« Ein »Wheel Horse«-Aufsitzmäher, laut Jørgen war es Liebe auf den ersten Blick. Dieser 6 km/h vor sich hin tuckernde Rasentraktor stimmt ihn sehr friedvoll, dieses leise Uuuuihhhh, wenn sich die Messer auf Schnitthöhe senken, die Befriedigung, jedes denkbare Muster in den sattgrünen Rasen zu mähen und nicht zuletzt die sanfte Vibration zwischen den Schenkeln – ja, all das hat auch eine erotische Komponente. Und diese Arbeit wird auch von der Ehefrau geduldet, schließlich arbeitet der Kerl. Denkt sie, während er vergnügt am Dosenbier nuckelt. In meiner vorauseilenden Fantasie sah ich mich bereits auf diesem Aufsitzmäher und spürte das Bier meine Kehle fluten.
Für die schwer befahrbaren Ecken und Kanten war ein kleiner, schnittiger, mit Lithium-Ionen-Akkus betriebener und mit intelligenter Steuerung versehener Roboter verantwortlich. Ich für meinen Teil lasse mich zwar gerne in unseren Garten plumpsen, eine gewisse Vorliebe fürs Rasenmähen konnte ich bis heute allerdings nicht entfachen. In die Gartenarbeit hatte ich bisher bewusst nicht eingegriffen, um den Kreislauf der Natur nicht zu stören. Die wilde Schönheit des Gänseblümchens, die Ästhetik diverser Maulwurfshügel, die Erotik von Moos auf der Terrasse, das hat was. Nachhaltigkeit ist mir da sehr wichtig – aus Respekt vor der Natur. Sicherlich, weniger ökologisch interessierte Außenstehende würden mir bei dieser Untätigkeit in diesem Bereich eine gewisse Faulheit unterstellen. Eine Zeitlang bin ich mit der passiven Gartenarbeit gut gefahren, bis mich Leni mit Nachdruck darauf aufmerksam machte, dass die Toleranzgrenze der Natur anders verläuft als die der Andersens, Jensens, Iversens und Kristensens. Nachdem mich auch Jørgen mit einem »Erwischt«-Grinsen festnagelte (er hat eine Art, die einem zu Geständnissen verleitet), musste ich Ehrlichkeit walten lassen. Ja, ich war bisher nicht für regelmäßiges Mähen bekannt. Es half also nichts. Genug von Espresso- und Caféleben, die erste Rasenernte des Jahres war fällig.
Erotisiert und entscheidungsfreudig, mit dem nötigen Blick auf die Prioritäten gerichtet, mache ich mich auf den Weg zum 10-4 Baumarkt in Ringkøbing, Neugier ist die Mutter aller Erfahrung. Baumarkt bedeutet für mich: kaufen im Grenzbereich. Wähnen sich Heimwerker und echte Männer wie im Paradies, betrete ich einen Baumarkt eigentlich nur, wenn stark reduzierte Weingummis von außen sichtbar im Eingangsbereich liegen. Während sich Profis, Stammkunden und versierte Heimwerkerkönige zügig und zielsicher durch die Gänge bewegen, sind Baumärkte für mich sprichwörtlich böhmische Dörfer, lassen mich oft ratlos kapitulieren. Hilfsbedürftig tapse ich durch die Baumarkt-Schluchten und bin auf den kompetenten Baumarkt-Fachberater angewiesen. Zu meinem Erschrecken kommt bereits nach gut 15 Minuten ein Mitarbeiter (Morten Mortensen – der hieß wirklich so) freundlich lächelnd auf mich zu, Angst vor einem beratungsresistenten Kunden muss er in meiner Person nicht befürchten. Unsicher stammele ich auf Dänisch so etwas wie: »Ich hätte gerne 20% auf alles außer Tiernahrung«. Es genügt nicht nur, keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken. Schnell besinne ich mich und kann präzise erklären, was ich möchte. Einen Rasenmäher! Der Fachberater, in Erwartung vieler »Ähm, ich brauch, so nen Dingens, womit man, ähm, also im Prinzip … haben Sie sowas?«, reagiert erleichtert und erholt sich schnell von meiner vorab eingeleiteten narkotisierenden Performance. Ich, nicht minder erleichtert, da eigentlich in Erwartung eines vorab grazil vorgetragenen: »Das ist nicht meine Abteilung.«
Schnell sind wir uns beide einig, dass ein Elektro-Rasenmäher nicht infrage kommt. Um Jørgen ansatzweise zu beeindrucken, muss es ein Benzin-Rasenmäher sein – hier kann ich zumindest pseudo-männlich an der Kordel ziehen. Um bei meinem Nachbar richtig Eindruck zu schinden, gibt mir der Fachberater noch mit auf den Weg, ich sollte nicht von Kordel, sondern von Seilzugstarter sprechen. Rasenmäher-Latein, ich nicke fachmännisch, während ein Clown in meinem Kopf rhythmisch zwei Becken aneinanderschlägt. Spätestens in diesem Moment weiß auch Morten Mortensen, dass ich von Gartenarbeit weniger Ahnung habe als von südwestphilippinischer Agrarwissenschaft des 18. Jahrhunderts. Dabei setzt er wieder sein feinstes Lächeln auf. Und ich dachte immer, dass der Baumarkt-Fachberater über solche Muskeln im Gesicht gar nicht verfügt. Meine Augen jagen ungeduldig von Modell zu Modell. Morten Mortensen scheint ruhig, ausgeglichen, fast schon schläfrig in seinem Wesen. Könnte man seine Seele, sein Verhalten durch einen europäischen Vergleich nähern, dann wären die Schweizer ihm wohl am wesensverwandtesten. Er zeigte mir ein paar Objekte, nachdem ich ihm meine Vorstellungen (»gerne etwas repräsentativ«) mitgeteilt hatte. Er spürte schnell, dass ihm in mir kein Dauerkunde entgegenwuchs.
Ich entscheide mich für das Modell Hurricane Benzin-Rasenmäher, 3 in 1 Funktion: mähen, mulchen, fangen. Das war die Beletage, die Business Class, Statussymbol und Reviermarke zugleich und erlaubte dem Besitzer durchaus ein gewisses jovialeres Auftreten. Dieser Rasenmäher war eine einzige schlecht getarnte Eitelkeit. Klappbarer Griff mit Softgrip, zentrale 6-fache Höhenverstellung, zuverlässiger Hyundai Motor mit 3,6 kW. Krach muss er machen und natürlich nach Benzin riechen. Im besten Fall auch funktionieren. Was passiert, wenn ich die Geduld verliere mit Gegenständen, die nicht funktionieren? Laut Leni muss es verheerend sein, nicht einmal physische Gewalt kann restlos ausgeschlossen werden.
Ab jetzt wird Rasenmähen zur Männersache! Ab heute startet ein neues Zeitalter der Grashalmpflege in Hvide Sande. Die Grashalmschlacht kann beginnen, ab jetzt verschmelzen Motor, Grünfläche und meine Wenigkeit zu einem perfekten Gespann.
Jørgen zeigt sich auf den ersten Blick durchaus beeindruckt. Respektvoll entweicht ihm ein: »Das nenne ich Männermode zum Wohlfühlen!« Ein erleichtertes breites Lächeln macht sich auf seinem sonnengegerbten Gesicht breit.
Samstagmittag, die Frühlingssonne kitzelt, zarte weiße Schneeglöckchen wiegen sich sacht im Wind, eingebettet von mittlerweile mehr Moos als grünen Halmen. Jetzt schlägt meine Stunde, schließlich habe ich in meiner Jugend bei Pfadfinderdiaabenden eine tragende Rolle gespielt. Komme mir vor wie ein Boxer kurz vor dem Gong. Endlich beginnt das Schauspiel, von überall her in der Nachbarschaft ist es zu vernehmen. Geraspel, Stottern, das bekannte Geräusch, wenn allerlei Oberflächenreste wie Laub und Äste erbarmungslos von rotierenden Messern zermetzelt werden. Auf Handschuhe verzichte ich, möchte mein Weichei-Image nicht überstrapazieren. Handwerkliche Arbeiten werden bei mir nie elegant aussehen. Und schon gar nicht männlich.
Ich schalte die Pumpe auf Overdrive und reiße wie ein Irrer an dieser Kordel, um dieses Schmuckstück in Gang zu bekommen. Oberkörperfrei? Marke: Highperformer? Das überlasse ich meinem Nachbarn. Die Zeiten, dass ich mit meinem Brustmuskel nach Bedarf zucken konnte, sind vorbei.
Während Leni die Blumen in den Beeten liebevoll bettet, pflüge ich mich pedikürenhaft durch die Rasenfläche. Nur ich entscheide bei diesem archaischen Ritual über die Rasenlänge. Ich merke schnell, das mit dem Golf-Green wird hier und heute nix. Der Fangkorb verrichtet ausgezeichnete Arbeit, nach knapp einer Stunde ist dieses Spektakel vorüber, was Jørgen, samt Tuborg in der Hand, zu einer ersten Bestandsaufnahme animiert. Er schlendert herüber, Hallöchen, federnde Schritte, lässige Hut-Sonnenbrillen-Kombi, der lässigste Spätaufsteher des Dorfes, mit dem typisch dänischen automatischen Optimismus ausgestattet. »Fehlen nur noch die deutschen Elfen«, bemerkt er süffisant. »Deutsche Elfen?«, schaue ich verdutzt. »Gartenzwerge!«
Auch Leni schnurrt zufrieden, lässt mir einen anerkennenden Blick zukommen, begeistert von der Kombination aus Motor und Männlichkeit. Der Mäh-Kumpel von gegenüber schaut zufriedenstellend und bildet sich ein, bei mir einen gewissen Muskelaufbau festgestellt zu haben. Ich lächle ihn beseelt an und halte das für übertrieben, aber potenzfördernd wirkt es allemal. Diese Rasenmäh-Ouvertüre schreit nach anschließendem Grillevent, nicht ganz ohne Stolz blicke ich in die eigene Grün-Oase und begutachte mein imposantes Ergebnis. Das grüne Inferno zurückgeschlagen – jawohl!
Lässt man sich auf der Terrasse in seinen Liegestuhl gleiten, ertönt aus sämtlichen Himmelsrichtungen dieses Dorfes das bekannte, vertraute monotone Brummen wie ein Surround-Effekt, dasselbe Geräusch wiederholt sich nach einer nicht nennenswerten Zäsur von maximal zehn Minuten. Schaltet Andersen den Mäher aus, bringt sich Jensen in Stellung. Kristensen wartet, bis Jensen fertig gemäht hat. Anschließend zieht Iversen sofort den Anlasser. Dieses Brummen hat auf mich mittlerweile durchaus eine beruhigende Wirkung, ganz im Gegensatz zum Hundegebell des Terriers, der irgendwo, zwei bis drei Gärten weiter, sein Unwesen treibt.
Ein irrer, schriller Schrei, urplötzlich aus dem Nichts – keine Brandung der Welt kann das auffangen. Frodo verkündet seine Aggression stets mit haltlosem Gebell, dieser ADHS-Hund treibt mich in den Wahnsinn. Mindestens 10 Singvögel sind durch sein quietschfideles Gebell schon vom Baum gefallen.
Frodo, ein tiefergelegtes Etwas, eine Art Achselhund, war anscheinend ein Hund, der stets draußen im Zwinger gehalten wurde. Ich verstehe es zwar nicht, hätte aber auch kein Problem damit, würde Frodo, dieses hyperaktive, bellende Tischfeuerwerk auf Koks, nicht alles zum Anlass nehmen, seine hektischen Hasstiraden loszulassen. Andere Hunde, Katzen, vorbeilaufende Personen, Autos, alles wird in einen nicht enden wollenden Bell-Terror gehüllt. Hinter dem schützenden Zaun wird im Hochfrequenzbereich gearbeitet. Ich mag Hunde, wirklich (frag nach bei Kenzo), aber bei diesem Fellknäuel gehen mir nicht druckreife Gegenmaßnahmen durch den Kopf. Exemplare wie Frodo nerven gewaltig. Auch unser Nachbar zur linken Seite, selbst Hundehalter, schlug bereits eine Stimmbandverkürzung für den Vierbeiner vor. Legt Frodo los, ertönt in der Regel aus jedem Garten in der Nachbarschaft ein energisches: »Holt da kæft!« Nett übersetzt wie: »Halt die Klappe.« Ich arbeite noch an subtilen Mitteln aus der psychologischen Kriegsführung. Irgendwann wird gegen diese haarige Hupe zurückgeschossen (oder gleich gegen die Besitzer). Da sind wir uns in der Nachbarschaft einig. Zumindest solange es sich bei dem Hundebesitzer nicht um einen Hünen mit militärischem Kurzhaarschnitt handelt, dessen T-Shirt-Ärmel sich um seinen trainierten Bizeps spannen. Ich werde nie verstehen, wieso sich Großstadtmenschen mit 40 m2 Etagenwohnungen und wenig Zeit Hunde halten, die in Afrika zur Löwenjagd gezüchtet wurden bzw. von Natur aus nur zufrieden und ausgelastet sind, wenn sie vier Stunden am Tag durch eisige Kälte düsen und dabei immens schwere Lasten hinter sich herziehen. Genauso wenig verstehe ich, Hunde draußen im Zwinger zu halten, die sich mit der Zeit von ihrem eigenen Schwanz verfolgt fühlen und moderne Kunst in den Nordseehimmel bellen. Auch Koda, der Hund der Schwägerin, schaut immer sehr bemitleidenswert drein, wenn er mal wieder bei uns als Gast-Hund fungiert.
Da ertrage ich lieber das mächtige Motorgrollen von Jørgens rotem Rasentrecker mit garantiertem Schallleistungspegel von 100 Dezibel (laut Arbeitsschutztabelle bedeutet das: Kreissäge, Schleifhexe, Diskothek). Ich muss so was nicht haben – zu viel Besitz belastet. Viel wichtiger, nach diesem Mähspektakel fühle ich mich prompt dazugehörig. Ich stehe noch so unter dem Eindruck meines Jahrhundertereignisses, dass ich ganz vergesse, mit dem Nachbarn anzustoßen. Als Geräuschkulisse absolute Stille, die nur vom Zischen eines kalten Bieres unterbrochen wird. Dänische Gastfreundschaft, deren Einstiegsritual immer und überall entweder ein Bier oder eine Tasse Kaffee ist. Hier geschieht nichts ohne Bohnensaft.
In den Gesichtern der Nachbarn macht sich ein erleichtertes Lächeln breit: Der Deutsche mäht endlich den Rasen! Sie loben den lernbegierigen Immigranten.
Wer die Dänen verstehen will, muss nun mal ihre Sprache sprechen.
Indfødsretsprøven, Indfødsretsprøven … allein dieses Wort! Wie soll ich jemals diesen Einbürgerungstest bestehen, wenn ich das dänische Wort dafür nicht ansatzweise unfallfrei auszusprechen vermag? Dann riss mich der Wecker aus meinem (Alb-)Traum. Manchmal denke ich frühmorgens darüber nach, den eigenen Wecker wegen eines persönlichen Angriffs zu verklagen. In teuflischem Rot schreibt die Digitalanzeige 6:05 Uhr. Der Blick des Badezimmerspiegels traf den meinen, ein Blick aus völlig verschleierten Klüsen.
Um fit in den Tag zu starten, gönne ich mir eine Dusche und trinke meinen Kaffee aus meiner Lieblingstasse mit den Amigos drauf. Nach Monaten des Lockdowns war ich für diesen Tag extra noch mal beim Figaro meines Vertrauens. Ich schloss die Augen und legte unaufgefordert den Kopf weit zurück in die Einbuchtung des Waschbeckens. Es beginnt das Rauschen der Handdusche und nur einen Augenblick später wird der weiche Strahl auf mein Haar gelenkt. »Wassertemperatur so angenehm?« Noch nie hatte ich an der Wassertemperatur das Geringste auszusetzen.
Der Tag der Wahrheit war gekommen. 3. Juni 2020. Einbürgerungstest um 13 Uhr in Ringkøbing. Auf Dänisch: Indfødsretsprøven! Als ich den Ausdruck das erste Mal las, fühlte ich mich wie jemand, der mit shampoonierten Haaren unter der Dusche steht, während plötzlich das Wasser abgedreht wird. Das Wort hat sich der Däne mit Sicherheit als Abschreckung für alle Ausländer ausgedacht, es gar nicht erst zu versuchen.
Vorab noch schnell zum Brotberater meines Vertrauens – die Bäckerei und Konditorei Ejvings direkt an der Hauptstraße des Ortes gelegen. Die Auslagen dänischer Bäckereien ähneln denen der Juweliere auf der Düsseldorfer Kö, herrliche Teilchen und allerlei Süßkram funkeln im Fenster der Auslage. Nichts für Leute, die Minimal Art auf dem Teller schätzen, aber ein paradiesischer Genuss für alle, die keine Waage zu Hause haben.
Der hiesige Bäckeringenieur versteht sein Handwerk vorzüglich. Stoßzeit ist hier eigentlich immer. Ganz besonders allerdings, wenn wir uns in der Saison befinden. Dann fluten auch meine Landsleute dieses Bäckereifachgeschäft. Sie möchten etwas Skurriles erleben? Etwas Extravagantes? Etwas Ausgefallenes? Teilweise Schrullenhaftes? Damit meine ich nicht das Sortiment dieser Spitzenbäckerei. Nichts, was ich über all die Jahre in dieser Bäckerei nicht schon erlebt habe. Nahezu jedes Mal verlasse ich humoristisch beschwingt diese örtliche Lokalität.
Natürlich kann der ausländische Besucher nicht alle Bezeichnungen dänischer Brot- und Brötchenkunst mit Namen benennen, da habe ich, weiß Gott, einige Monate für benötigt. Deutet man somit tastend auf ein nach Form, Größe und Farbe genehm erscheinendes Exemplar in der Auslage und unterstreicht seine Forderung mit einem »One of this please«, bzw. »ein von denen, bitte«, hat das Ganze noch sympathische Züge und wirkt sich positiv auf die deutsch-dänische Völkerverständigung aus. Schon grenzwertiger, aber immer noch charmant und herzgewinnend, ein bezauberndes: »Das Ding da, bitte!« Die Bedienung etwas perplex, aber noch entspannt. Doch bei mindestens jedem zweiten Kunden müssen sich die höchstens 16-jährigen Hairsprayqueens Charlotte & Louise hinter dem Tresen auf ein wahres Backwaren-Quiz einstellen. Dann geben sich fantastische Kreationen neudeutscher Backkunst die Klinke in die Hand und man hat das Gefühl, jede deutsche Bäckerei wird heute von Marketingexperten betreut. Ich weiß nicht, ob eine Klausel im Grundbuch der Deutschen Bäckerinnung besagt, dass Brötchen und Brote auf keinen Fall normale Namen tragen dürfen. Wie Eltern bei ihren Kindern wollen Bäcker ihrem Sortiment möglichst individuelle Namen geben. Aber wie das nun mal mit individuellen Namen ist, ist es abzusehen, dass das früher oder später zum Problem werden würde. Und dann geht es los, ein Feuerwerk an infantilen Brötchennamen prasselt auf Charlotte und Louise nieder. Brötchen und seine 1001 Namen.
Menschen, die mit Schlafanzuggesicht an der Theke stehen und ohne Schmerzen im Sprachzentrum und in Form vom zivilen Flötenton fröhlich kundtun: »Ham se auch nen Fitmacher?« Ob Roggelini, Schoko-Wuppi, Schokoplunderteilchen, Weckli, Goldi, Krustli, Schrippe mit Herz, Käseding, Strahlemann oder Kraftmeier, diese Ausdrücke können zum ultimativen Test werden, was eine 16-Jährige ertragen kann. Ernste Blicke der Bedienung richten sich gen undefinierte Klangquelle. Gespannte Stille, der Blick leer. Und ich rede hier von erwachsenen Menschen jenseits der alles verzeihenden Jugend und Adoleszenz, die in eine Kleinkindsprache verfallen, um die gewünschten Backerzeugnisse ordern zu können. Die kleine Louise zuckt zusammen, als würde sie dem Teufel persönlich gegenüberstehen. Charlotte und Louise versuchen es im weiteren Verlauf mit Pantomime vor der Auslage als einzigen Ausweg und denken sich: »Warum tut ihr uns das an? Warum wird ein einfaches Körnerbrot mit dem furchteinflößenden ›Power-Fitness-Korn‹ gestraft?« Am liebsten würden sie vor Scham im Ikea-Bällebad versinken, sind aber dennoch professionell und fachmännisch an einem erfolgreichen Kaufabschluss interessiert. Mimik und Gestik suggerieren Betroffenheit und Engagement zugleich. Äußerlich unbeeindruckt und mit widerborstiger Penetranz wird der Kaufwunsch wiederholt. Meine Stirn wirft Falten und ich stehe dabei wahlweise in der zweiten oder dritten Reihe und denke mir: Wir sind hier doch nicht im Streichelzoo. Was soll diese Infantilisierung der Back-Welt?
Auch Formulierungen wie: »Bitte aus der letzten Reihe« sowie »Bitte ein frisches aus der hinteren Reihe« lösen mitunter Verwirrung aus. Am meisten »verhasst« ist unter den engagierten Verkaufskräften allerdings die Gegenfrage: »Wie viele insgesamt?« Ich möchte keinem persönlich böse Absichten unterstellen, habe aber nur eine Bitte. Bitte geben Sie vor der eigentlichen Bestellung doch kurz an, wie viele Brötchen Sie insgesamt zu kaufen gedenken, damit zumindest vorab die richtige Brötchentüte gewählt werden kann. Ich bedanke mich im Namen von Charlotte und Louise. Dann verzeiht man an der Bedientheke auch ein »Weckli« und »Krustli«. (Das Highlight der dänischen Bedienung in der Eisdiele ist übrigens stets die Frage: »Mit oder ohne Streusel?«) Und wenn Sie sich fragen, warum Sie jedes Mal auf Deutsch angesprochen werden, wenn Sie etwas bestellen oder kaufen wollen (selbst wenn Sie es auf Dänisch versuchen). Der Grund ist simpel. Es liegt an Ihrer Kleidung, man erkennt Sie an Ihrem Geologenoutfit, an Ihrer schönen North-Face-Jacke oder der schicken Jack-Wolfskin-Mütze. Kein Däne würde es hier so tragen. Auch nicht mit hinter dem Rücken verschränkten Armen – Gruß an meinen Vater.
Mein (hoffentlich) großer Tag war gekommen. Einbürgerungstest! Ich kann nicht behaupten, in der Vergangenheit groß unter Prüfungsangst gelitten zu haben. Manchmal wäre ein klein wenig Ernsthaftigkeit durchaus von Vorteil gewesen. Das konnte man mir die letzten sechs Wochen ganz sicher nicht vorwerfen. Es verging nicht ein Tag, dass ich nicht wie ein Nerd über irgendwelchen dänischen Texten hing, zwei Textmarker wurden bis zur völligen Erschöpfung malträtiert. 150 DIN-A4-Seiten konnte man sich im Vorfeld als Lernmaterial aus dem Internet ziehen. Angefangen von der Wikingerzeit im Jahr 850 bis ins Jahr 2020. 150 geballte Seiten dänische Geschichte, Kultur, Politik, Film, Literatur, Theater, Musik, Philosophie, Mittelalter, der dänische Weg zur Demokratie, Könige, Industrialisierung, Sozialreformen u. v. m.
Ich war durchaus aufgewühlt, die härteste Prüfung seit meinem Einschulungstest für die Grundschule stand bevor (und ich wurde alles andere als hochbegabt eingestuft).
Was habe ich im Vorfeld nicht alles über das dänische Einbürgerungsprozedere gelesen. Schenkt man all dem Glauben, ist der Versuch, dänischer Staatsbürger zu werden, zu einem absurden Unterfangen geworden. Ein lustiges Volk möchte unter sich bleiben, alle Party- und Stimmungskiller bitte draußen bleiben. Worum geht es in dem Ballet »Sylfiden« von 1836? In welchem Jahr erblickte der dänische Komponist Carl Nielsen das Licht der Welt? Welche Landesteile verlor Dänemark im dänisch-schwedischen Krieg von 1643 bis 1645 an Schweden? Wie viele Michelin-Sterne insgesamt wurden im abgelaufenen Jahr an dänische Restaurants vergeben? Fragen aus dem letzten Einbürgerungstest, die mit Sicherheit auch nur die wenigsten Dänen beantworten könnten. Plötzlich wirkt die »Olsenbande« nicht mehr ganz so lustig. Das Integrationsministerium teilte mit, dass bei dem letzten Einbürgerungstest landesweit zwei Drittel aller Teilnehmer durchgefallen seien. Man fühlt sich bei dem Test wie bei »Wer wird Millionär« mit durchweg 500000 Euro-Fragen. Passend zu dem restriktiven Kurs der Regierung gegen Migranten sind auch die Testfragen gewählt. Bei ca. 20% der Fragen benötigt man detailliertes Faktenwissen auf sehr hohem Niveau – oder aber Glück.
Ich will ehrlich sein. Ja, ich habe Verständnis für solch eine Art von Testfragen. Will man die Nationalität eines Landes annehmen, hat man sich gefälligst auch mit der Geschichte sowie der Politik und der Kultur des Landes auseinanderzusetzen. Ja, ich möchte gerne die dänische Staatsbürgerschaft annehmen, möchte mich als vollwertiger Bürger fühlen und dasselbe Stimmrecht haben wie meine dänischen Kollegen. Das uneingeschränkte Wahlrecht bringt die Integration und Vollwertigkeit als Bürger in einer Gesellschaft klar und kraftvoll zum Ausdruck. Plane ich, den Rest meines Lebens in einem Land zu leben, sollte man sich auch dazu bekennen und Staatsbürger werden. Meine Art, Respekt für das Land zu zeigen, in dem ich lebe und echter Teil der Gesellschaft sein möchte. Auch die Begründung der Integrationsministerin, die durchaus als Hardlinerin gilt, dass dänisch sein »etwas Besonderes sei« und man sich »die Staatsangehörigkeit verdienen muss«, kann ich durchaus nachvollziehen. Der Gedanke, neben der deutschen auch die dänische Staatsangehörigkeit zu besitzen (seit 2015 gibt es die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft in Dänemark), wirkte auf mich motivierend, einen Versuch war es allemal wert. Hätte ich im Vorfeld gewusst, dass es nicht »nur« darum geht, einen Test zu bestehen, ich weiß nicht, ob ich mich dieser Tortur ausgesetzt hätte.
Bekannt ist: Dänemark und die Schweiz bleiben die Staaten unter den europäischen Ländern mit den härtesten Bedingungen, um am Ende die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Es bleiben extrem hohe Hürden für den dänischen Pass und mitunter beschleicht einen das Gefühl, dass eine gehörige Portion Willkür mit im Spiel ist. Andere bezeichnen das dänische Einbürgerungsrecht als lupenreines Monty Python, u. a. der gebürtige Deutsche Thomas Borchert, Journalist und seit 30 Jahren als Auslandskorrespondent in Kopenhagen wohnhaft.
Herr Borchert berichtet aktuell für die Frankfurter Rundschau aus Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen und Island und schreibt gelegentlich Kolumnen in dänischen Zeitungen.
Er berichtet u. a. von Dennis Speaker, dem nach 47 Jahren als Tierarzt in Dänemark sein Antrag auf die dänische Staatsbürgerschaft abgelehnt worden war. Begründung des Einbürgerungsamtes im Ausländer- und Integrationsministerium: Seine Sprachkenntnisse seien nicht ausreichend genug. Besteht man den Einbürgerungstest, kämpft man sich durch das Bewerbungsformular, in dem man zum Beispiel alle Auslandsaufenthalte seit Ankunft in Dänemark angeben muss und selbst der geringste Gesetzesbruch über ein halbes Jahrhundert zurück untersucht wird. Schriftlich wird man belehrt, dass jede geringste Abweichung den Ausschluss von der dänischen Staatsbürgerschaft zur Folge hat. Pflichtbewusst hat man jede Strafe anzugeben. Darunter fallen auch Strafen fürs Falschparken oder Strafen für zu schnelles Fahren. Es gibt bezeugte Geschichten, dass Bewerbern die Staatsangehörigkeit verwehrt wurde, weil sie innerhalb der letzten 10 Jahre für zu schnelles Fahren bestraft wurden. Dann fühlt es sich in der Tat an wie ein schlechter Scherz. Man lässt sich 10 Jahre nichts zuschulden kommen, wird aber ab einem Bußgeld von 3000 DKK (knapp 400 Euro) für zu schnelles Fahren (welch unsägliches Vergehen) oder sonstige »Fehltritte« im Vorleben vom dänischen Staat als Krimineller abgewiesen bzw. vom Verfahren ausgeschlossen. Einfachste Verletzungen der Ordnungsregeln führen zur Abweisung des Antrags. Das nenne ich erbarmungslos effektiv. Gibt man brav alle Auslandsaufenthalte der letzten 10 Jahre an und übersteigt die Summe der Tage die Dauer eines Jahres, kann man ebenfalls fest damit rechnen, abgelehnt zu werden. Gummiparagrafen, von denen es im dänischen Einbürgerungsrecht nur so wimmelt und die Einbürgerung zu einem willkürlichen Unterfangen werden lässt. Bei der Bewertung scheint der Ermessensspielraum aller Angaben durch den Parlamentsausschuss grenzenlos. Da schrillen die Alarmglocken im Oberstübchen, vor allem wenn einem bewusst wird, nichts gegen diese Willkür unternehmen zu können. Ich kann somit nur hoffen, dass mein Antrag nicht von einem morbiden Deutschhasser bearbeitet wird oder ihm mein Passfoto nicht gefällt (diese Variante halte ich für die wahrscheinlichste). Bisher ging ich davon aus, die höchste Hürde besteht im Einbürgerungstest selbst, der auch mit Top-Unidiplom schwer zu bestehen ist. Ein wenig hilflos fühlt es sich an, dass man danach völliger Willkür ausgesetzt ist und man zur Not noch zum anschließenden Sprachtest eingeladen wird, indem man sodann zu schlechtes Dänisch bescheinigt bekommt, um Staatsbürger zu werden. Verletzt man diverse Einbürgerungsregeln, kann man im besten Fall auf »Quarantäne« hoffen, ehe nach einer gewissen Wartezeit ein kompletter Neustart des Einbürgerungsantrags möglich ist. Ein US-Bürger führte in seinem Antrag folgendes selbstkriminierendes Geständnis an: 1998 wurde er in Schweden zu einem Bußgeld von umgerechnet 80 Euro für zu schnelles Fahren verdonnert, konnte dies aber nicht belegen, da in Schweden nach fünf Jahren derlei Daten gelöscht werden. Das dänische Amt wies den Antrag somit zunächst ab.
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