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Daniel Kehlmann über Leo Perutz E-Book

Daniel Kehlmann

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Beschreibung

Es ist eine unglaubliche Entdeckungsreise. Daniel Kehlmann, Autor des Weltbestsellers »Die Vermessung der Welt« und des historischen Zauberromans »Tyll«, führt uns tief hinein in das Werk des unbekanntesten Großmeisters der deutschen Literatur: Leo Perutz. Voller Verehrung, Begeisterung und mit tiefer Kenntnis stellt uns Kehlmann die Bücher jenes Mannes vor, der 1882 in Prag zur Welt kam, in Wien studierte, in Kaffeehäusern schrieb und in derselben Versicherungsanstalt wie Franz Kafka sein Brot verdiente. Leo Perutz war ein bedeutender Vertreter sowohl der großen osteuropäisch-jüdischen Erzähltradition als auch der Wiener Moderne. Sein Meisterwerk ist der Roman »Nachts unter der steinernen Brücke«. Kehlmann beschreibt eindrücklich, welch tiefe Spuren Perutz in seinem eigenen Werk hinterlassen hat. Und teilt mit uns seine Verblüffung darüber, dass dieser Mann heute nicht zu den berühmtesten Romanciers seiner Sprache gehört. Mit diesem Buch könnte sich das ändern.

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Daniel Kehlmann

Daniel Kehlmann über Leo Perutz

Bücher meines Lebensherausgegeben von Volker Weidermann

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Daniel Kehlmann

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Daniel Kehlmann

Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien sein Roman »Lichtspiel« sowie die von ihm verfasste Fernsehserie »KAFKA«.

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Über dieses Buch

Es ist eine unglaubliche Entdeckungsreise. Daniel Kehlmann, Autor des Weltbestsellers »Die Vermessung der Welt« und des historischen Zauberromans »Tyll«, führt uns tief hinein in das Werk des unbekanntesten Großmeisters der deutschen Literatur: Leo Perutz.

Voller Verehrung, Begeisterung und mit tiefer Kenntnis stellt uns Kehlmann die Bücher jenes Mannes vor, der 1882 in Prag zur Welt kam, in Wien studierte, in Kaffeehäusern schrieb und in derselben Versicherungsanstalt wie Franz Kafka sein Brot verdiente. Leo Perutz war ein bedeutender Vertreter sowohl der großen osteuropäisch-jüdischen Erzähltradition als auch der Wiener Moderne. Sein Meisterwerk ist der Roman »Nachts unter der steinernen Brücke«.

Kehlmann beschreibt eindrücklich, welch tiefe Spuren Perutz in seinem eigenen Werk hinterlassen hat. Und teilt mit uns seine Verblüffung darüber, dass dieser Mann heute nicht zu den berühmtesten Romanciers seiner Sprache gehört. Mit diesem Buch könnte sich das ändern.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Dramaturgie und Schicksal

Wie funktioniert ein Wunder?

Das nebensächliche Leben

Stirbt man je vor der Zeit?

Das Leben ein Traum

Die vertauschten Schicksale

Der Roman in den Zwischenräumen

Das metaphysische Puzzle

Pest und Vergessenheit

Lebensdaten

Quellen

Vorwort

Daniel Kehlmann ist ein tapferer und geduldiger Mann. Seit Beginn seines öffentlichen Schreibens und Auftretens weist er, mal leise, mal verschlüsselt, mal laut und deutlich darauf hin, was für ein großer, bedeutender Schriftsteller Leo Perutz gewesen ist. Und wie wichtig dessen Werk für ihn und für sein Schreiben ist.

Einer seiner Romanfiguren, vielleicht eine von denen, die ihm selbst am nächsten sind, hat Kehlmann den Namen Leo gegeben. Der Roman heißt »Ruhm« und bezieht sich formal auf ein Meisterwerk von Leo Perutz, »Nachts unter der steinernen Brücke«, denn er besteht aus zunächst scheinbar unzusammenhängenden Novellen, die aber am Ende doch eine große Geschichte ergeben. Dieser Leo ist Schriftsteller, ein gnadenvoller und berechnender Mann. Er verschont eine seiner Figuren, die sich schwer krank in ein Sterbehilfezentrum begeben hat, vom Tod, weil sie doch eigentlich leben will. Und Leo lässt ihr ihren Willen. Erstens hat er ein weiches Herz, zweitens hofft er, dass auch ihm selbst, wenn es eines Tages ans Sterben gehen soll, Gnade widerfahren wird.

Mit diesem vor uns liegenden Buch nimmt uns Daniel Kehlmann an die Hand und führt uns durch das staunenswerte Werk des Leo Perutz. Dabei erfahren wir gleich zu Beginn, dass wir, die wir doch so begierig sind, die Schicksale der Schriftsteller zu erforschen, davon auf den nächsten Seiten beinahe nichts lesen werden. Perutz wollte keine öffentliche Person sein. Selbst das Porträt, das der Verleger für die Umschläge seiner Bücher verlangte, ließ er nur widerwillig anfertigen. Er wollte seine Texte für sich sprechen lassen. Ja, es liegt nahe zu vermuten, dass er auch gerade deswegen Schriftsteller geworden ist: um sich neue Leben zu erfinden, die Wirklichkeit auf Papier neu und anders zu errichten. Für die wirkliche Wirklichkeit braucht es den Dichter nicht.

In dieser wirklichen Wirklichkeit hatte der Mathematiker Leo Perutz die Todeswahrscheinlichkeit der Versicherten berechnet, für ebenjene Versicherungsanstalt, für die schon Kafka gerechnet hatte. Doch über Perutz lassen sich keine Fernsehserien drehen. Perutz ist seine Bücher. Oder, wie Daniel Kehlmann schreibt: »Der Dichter der Schicksalhaftigkeit war selbst nicht mit einem großen Schicksal gesegnet.«

Es ist so ein großes Glück, dass Kehlmann sich trotz der Harthörigkeit der Menschen nicht von seinem unermüdlichen Einsatz für Leo Perutz abbringen lässt. Und dass er jetzt dieses fantastische Buch über seine Werke geschrieben hat. Ich habe so ein Buch noch nie zuvor gelesen, in dem wir von einem Weltautor geduldig und von seiner Begeisterung getragen durch die Prosa eines anderen Weltautors begleitet werden, staunend die Handlung der vorgestellten Texte verfolgen, aber auch die handwerklichen Tricks gezeigt bekommen, in dem wir einen Blick werfen dürfen in den Werkzeugkasten des Künstlers. Niemand könnte das besser als Daniel Kehlmann, der selbst in seinen Texten auf magische Weise Zauberei und Mathematik, Nostalgie und Berechnung vereint, genau wie Perutz. Hier schreibt ein dankbarer Nachfahre über die Kunst eines Mannes, in dessen Spuren er geht.

Was für ein Werk hat Leo Perutz geschaffen! Und was für ein erschütternder, erneuter Beweis ist dieses weitgehend unbekannte Werk für den Riss in der Kette der Tradition, den die Herrschaft der Nazis in Europa für die deutschsprachige Literatur bedeutet hat und bis heute bedeutet. Nein, die Bücherverbrenner von 1933 fühlten sich 1945 in der Mehrheit durchaus nicht »befreit«. Nur besiegt. Und wie sie hofften und hoffen, nicht für immer. Dass sein langjähriger Verlag Zsolnay die Veröffentlichung von Perutz’ Meisterwerk »Nachts unter der steinernen Brücke« 1952 (!) in einem freundlichen Brief an den jüdischen Autor mit der Begründung ablehnte, man habe »durch Thema und Milieu« mit zu viel »Widerständen beim Publikum« zu rechnen, nimmt einem noch heute den Atem. Die Kunst dieses Mannes sollte verschwinden. Das Publikum wollte das so.

Daniel Kehlmann aber ficht weiter tapfer für dieses große, erstaunliche, für unsere Literaturgeschichte, für unsere Kultur so bedeutende Werk. Mit diesem Buch – so meine Gewissheit – wird er endlich siegen.

 

Volker Weidermann

Dramaturgie und Schicksal

Handlung ist das, was in einer Geschichte passiert – nicht Sprache, nicht Form, nicht Gestaltung, sondern das, was tatsächlich vor sich geht. Handlung ist also das in der Literatur, was selbst nicht Literatur ist.

Im Inneren erzählender Prosa aber verbirgt sich eben immer noch ein Bericht. Etwas ist passiert, und man soll davon erfahren. Wie Diamanten nicht existieren können ohne die Unreinheit in ihrem Kern, so kann Erzählkunst nicht existieren ohne den in ihrem Inneren fest umschlossenen Faktenreport.

Aus der Perspektive des Lesers ist Handlung Ereignis: Etwas passiert, ebenso gut könnte etwas anderes passieren. Aus der Perspektive der Figuren aber ist die Handlung weder zufällig noch beliebig. Figuren werden erschaffen, um ihren Handlungsbogen zu erfüllen. Was im Buch Plot ist, ist im Leben unser Schicksal.

Schicksal heißt, dass da ein formendes Bewusstsein ist, das sich uns gegenüber verhält wie ein Autor gegenüber seinen Figuren. Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt, wir haben guten Grund, es zu bezweifeln. Für Romanfiguren aber gibt es immer einen Gott, denn jemand hat sie geschaffen und ihre Geschichte absichtsvoll gestaltet. Ganz gleich, ob sie den albernsten Krimis entstammen oder den Meisterwerken von Tolstoi: Für Figuren in Geschichten existiert ein Schöpfungsplan.

Wir Menschen sehnen uns nach ebensolch einem Plan, nach Handlung in unserem Leben. All die dramaturgischen Elemente, die eine gut erzählte Geschichte ausmachen – Vorankündigung und Wiederaufnahme, die Steigerung zum Höhepunkt, das retardierende Element, die Auflösung und die Schlusswendung sowie der Umstand, dass man sich darauf verlassen kann, dass die entscheidenden Rätsel gelöst werden –, fänden wir gerne auch in unserem Dasein. Ein Roman, ein Film oder auch nur eine simple Anekdote lassen uns ahnen, wie es wäre, in einer Welt zu leben, in der die wesentlichen Entwicklungen nicht dem Zufall überlassen sind.

 

Der österreichische Schriftsteller Leo Perutz ist der Meister des Prinzips Handlung. Und zwar nicht nur deshalb, weil er ein genialer Dramaturg ist, sondern deshalb, weil seine Romane das Prinzip Handlung selbst zu ihrem Inhalt machen; die metaphysische Frage, ob es eine lenkende Absicht hinter den Ereignissen gibt, wird in seinen Büchern zu einer Grundfrage, Perutz’ Geschichten handeln davon, ob es Handlung nur in Romanen gibt oder auch in der realen Welt.

 

Perutz ist ein guter, aber kein großer Stilist. Seine Sätze ähneln in Klang und Rhythmus denen seines Generationsgenossen Joseph Roth, aber sie haben nur ab und an die gleiche magische Schönheit. Obwohl er viel komödiantisches Talent hat, lacht man nur selten beim Lesen laut auf, so wie man es immer wieder bei Anton Kuh tut, einem anderen Generationsgenossen, der in denselben Wiener Cafés schrieb. Und auch wenn es in Perutz’ Romanen oft um Wirklichkeitsbrüche und Träume geht, so wird die Logik des Alltags in ihnen doch nie so weit in jene des Traums aufgelöst wie in den Fiktionen von Franz Kafka, der nur ein Jahr nach Perutz in derselben Stadt geboren wurde und eine Zeit lang für dieselbe Versicherungsgesellschaft arbeitete. Perutz kann darüber hinaus als Spezialist für historische Romane bezeichnet werden: Die seinen aber weiten sich nie zu solchen Großpanoramen wie bei seinem Kollegen Lion Feuchtwanger. Doch kommt keiner der Genannten Perutz in dem gleich, was er am besten kann: die Kunst der mehrdeutigen Dramaturgie.

 

Leo Perutz’ Werk ist zur Gänze lieferbar, die Literaturwissenschaft beschäftigt sich mit ihm, es hat Ausstellungen über ihn gegeben, es liegt eine profund recherchierte Biografie vor. Und dennoch ist Perutz, gemessen an seinem Rang, kaum bekannt. Das hat wohl damit zu tun, dass niemand so recht weiß, wer dieser Mann war. Egal, wie lange man sich mit Perutz beschäftigt, es gelingt nicht, ein klares Bild von ihm zu formen. Perutz hat niemals ein Interview gegeben. Auch gibt es kein autobiografisches Werk von ihm, ja selbst in seinen Briefen finden sich, dem Biografen Hans-Harald Müller zufolge[1], kaum intime Bekenntnisse. Der Mensch Leo Perutz war einst und ist bis heute seltsam unverfügbar, er war so manisch diskret, dass man ein großes Geheimnis vermuten möchte, aber keines hat sich je finden lassen. Perutz ist also nicht unbekannt geworden, er war es immer, gleich wie viele Leser er hatte. Man konnte und kann seine Bücher gut kennen, ihn selbst aber nicht.

 

Ein weiteres Problem beim Sprechen und Schreiben über Leo Perutz liegt eben darin, dass es bei ihm wirklich um den Plot geht. In vielen Romanen ist Handlung etwas, das man vernachlässigen kann, um sich stattdessen über Sprache, Metaphern und Bilder zu unterhalten – bei Perutz ist es umgekehrt. »Der Inhalt dieser Bücher«, schrieb Alfred Polgar, »besteht, sozusagen, aus lauter Inhalt.« Will man Perutz analysieren, muss man die hochkomplexe und meist vieldeutige Handlung entweder voraussetzen, oder man muss sie nacherzählen.

Wie funktioniert ein Wunder?

Nehmen wir zum Beispiel »Herr, erbarme dich meiner«, veröffentlicht 1930 als Titelgeschichte des gleichnamigen Erzählbandes. In meiner Erinnerung stellte sich diese Erzählung so dar: Ein ehemaliger Entschlüsselungsexperte der zaristischen Armee wird von den Bolschewiken verhaftet und aufgefordert, innerhalb kürzester Zeit eine Depesche der »Weißen« lesbar zu machen. Dies funktioniert über eine Codephrase, also einen kurzen Satz, den man sich gemerkt haben und auf die zu übersetzende Nachricht anwenden muss. (E‑Mail-Encryption funktioniert im Prinzip genauso, nur, dass die Schlüssel nicht mehr aus einem Satz bestehen, sondern aus enorm langen Buchstaben- und Ziffernfolgen.) Der Protagonist verbringt nun quälende Stunden über der Depesche mit dem Versuch, sich an den Satz zu erinnern, aber keiner von denen, die er noch im Gedächtnis hat, ist der richtige. Es wird enger und enger, die letzte Minute der ihm zugestandenen Zeit bricht an, schließlich fällt er auf die Knie und fängt an zu beten: »Herr, erbarme dich meiner!« Und da, noch bevor er die Gebetsformel ganz ausgesprochen hat, erinnert er sich: »Herr, erbarme dich meiner«,