Der bestirnte Himmel über mir - Daniel Kehlmann - E-Book

Der bestirnte Himmel über mir E-Book

Daniel Kehlmann

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Beschreibung

Zwei der aufregendsten Denker der Gegenwart im Gespräch über Kant und den Geist der Aufklärung Wie kann ein Philosoph, der im Jahr 1724 geboren wurde, unser Denken heute maßgeblich beeinflussen? Dreihundert Jahre nach der Geburt des alten Meisters in Königsberg treffen sich Daniel Kehlmann und Omri Boehm zu einer Reihe von Gesprächen über Immanuel Kant, die alles andere sind als akademisch-abgehoben. Denn der Begründer der modernen Philosophie selbst hat die grundlegenden Fragen des Menschseins benannt und erklärt: was man wissen kann, was man tun soll, was man hoffen darf. Alle wichtigen Themen kommen zur Sprache: von Vernunft und Illusion bis zu Rassismus, Kolonialismus und Aufklärung; von Raum und Zeit bis zu Freiheit, Kunst, Gerechtigkeit und dem Problem des Bösen; von der Wissenschaft bis zum Glauben, vom Selbst bis zu Gott. Omri Boehm und Daniel Kehlmann behandeln Kant als Zeitgenossen, der uns heute noch wichtige Antworten auf aktuelle Fragen geben kann.

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Der bestirnte Himmel über mir

Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, studierte Philosophie und Germanistik. Sein Studium schloss er mit einer Diplomarbeit über Schillers Theorie der Entfremdung ab, eine Dissertation über das Erhabene bei Kant brach er nach ersten schriftstellerischen Erfolgen ab.

Für sein Werk wurde er unter anderem mit dem Candide-Preis, dem WELT-Literaturpreis, dem Per-Olov-Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet, zuletzt wurden ihm der Frank-Schirrmacher-Preis, der Schubart-Literaturpreis und der Anton-Wildgans-Preis verliehen. Sein Roman Die Vermessung der Welt ist zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit geworden, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf der Bestsellerliste, schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize 2020 und begeistert Leser im In- und Ausland. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.

Omri Boehm, geboren 1979, ist Associate Professor für Philosophie und Chair of the Philosophy Department an der New School for Social Research in New York. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger, hat u.a. in München und Berlin geforscht. Sein Buch Kant’s Critique of Spinoza erschien 2014 bei Oxford University Press. Er schreibt unter anderem über Israel, Politik und Philosophie in Haaretz, Die Zeit und The New York Times. Bei Propyläen erschien seine von der Kritik hochgelobten Bücher Israel – eine Utopie und Radikaler Universalismus. 

Dreihundert Jahre nach der Geburt des alten Meisters in Königsberg treffen sich Omri Boehm und Daniel Kehlmann zu einer Reihe von Unterhaltungen über Immanuel Kant. Denn der Begründer der modernen Philosophie hat die grundlegenden Fragen des Menschseins benannt und erklärt – was man wissen kann, was man tun soll, was man hoffen darf. Alle wichtigen Themen kommen zur Sprache: von Vernunft und Illusion bis zu Rassismus, Kolonialismus und Aufklärung; von Raum und Zeit bis zu Freiheit, Kunst, Gerechtigkeit und dem Problem des Bösen; von der Wissenschaft bis zum Glauben, vom Selbst bis zu Gott. Omri Boehm und Daniel Kehlmann behandeln Kant als Zeitgenossen, der uns heute noch Antworten auf aktuelle Fragen geben kann.

Daniel Kehlmann und Omri Boehm

Der bestirnte Himmel über mir

Ein Gespräch über Kant

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Propyläen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbHwww.propylaeen-verlag.de

ISBN 978-3-8437-3075-4

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Alle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Lektorat: Ulrich WankAutorenfotos: © Hans ScherhauferUmschlaggestaltung: Brian BarthE-Book powered bei pepyrus

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Daniel Kehlmann: Vorwort

Der erste Teil

Kant, persönlich

Freudentränen eines Bürgers über die Revolution

Die Aufgabe

Das Erhabene und der Sternenhimmel über uns

Braucht Moral Gott?

Was ist eine Person?

Denkt bei euch selbst!

Humanität oder Was ist der Mensch?

Die Frage des Bösen

Warum Kant keine Anthropologie hätte schreiben sollen

Kann Eichmann denken?

Der zweite Teil

Die Aufklärung kritisieren im Namen der Aufklärung?

Ein Atheismus-Verdacht

Spinoza, Leibniz und der subjektive Blick auf die Welt

Kant und die Geschichte

Antwort auf David Hume

Meister der Ambivalenz

Kant gegen Einstein?

Widerlegt die moderne Physik Kants Erkenntnistheorie?

Die Simulation der Welt

Der dritte Teil

Die grüne Brille

Erkennen wir alle die gleiche Welt?

Ist das Selbst eine Illusion?

Der böse Geist Descartes’ und der Zweifel

Raum und Zeit – wo lebt »Daniel«?

Die Selbstbewegung des Gedankens

Die kantischen Antinomien

Warum

die Welt

nicht existiert

Kant gegen den neuen Szientismus

Der vierte Teil

Gott als philosophische Frage

Das ontologische Argument

Der Henker Gottes?

Der fünfte Teil

Die Schönheit und Kant

Was ist schön?

Eine Frage der Freiheit

Das interesselose Wohlgefallen

Genie und der Tod des Autors

Die ästhetische Idee

Ist Ästhetik Politik?

Musik und Weltwille

Kann man Kunst allein auf einer einsamen Insel genießen?

Tolstoi ist der Tolstoi der Zulus

Was ist Kunst – und was nicht?

Es gibt keine identitäre Kunst

Der sechste Teil

Kritik der Urteilskraft und die Frage nach dem Schöpfer

Der vernünftige Entwurf der Welt

Gegen das intelligent design

Der Grashalm und die Rettung der Zweckursache

Der siebte Teil

Ist Freiheit des Handelns möglich?

Der moralische Imperativ: Kant gegen Sartre

Freiheit und der zureichende Grund

Der achte Teil

Der Mensch darf nie bloß ein Mittel sein, sondern immer ein Zweck

Warum der kategorische Imperativ auch für Engel gilt

Darf man aus Menschenliebe lügen?

Der Mörder an der Tür: die Lösung

Das Recht in die eigenen Hände nehmen

Anhang

ANHANG

Hinweis zu den Anmerkungen

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Daniel Kehlmann: Vorwort

Widmung

Für Adam und für Etgar

Motto

»Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit!«JURA SOYFER»Wo es keine Menschen gibt, versuche, ein Mensch zu sein.«

PIRKEI AVOT, MISCHNA

Daniel Kehlmann: Vorwort

Hin und wieder gibt es Philosophen, die das Werk von Vorgängern zu neuem Leben erwecken. Als Alexandre Kojève in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts seine Vorlesungen über Hegel hielt, wurde dieser plötzlich für eine Generation französischer Studenten wegweisend – doch es war ein gefährlicher, ein beunruhigend existentialistischer Hegel, von dem sich Verbindungslinien zu Sartre und Camus und später zu Foucault, Bataille und Derrida ziehen lassen.

Omri Boehm hat sonst wenig mit dem Stalin-Verehrer Kojève gemeinsam, aber auch in seinem 2022 erschienenen Buch Radikaler Universalismus tritt uns ein unerwartet relevanter und zugleich radikaler Immanuel Kant entgegen – ein Kant, der sich als Waffe gegen Autoritäten anführen lässt und der den Geltungsanspruch staatlicher Gewalt kompromisslos relativiert; der uns daran erinnert, dass man nie einfach gehorchen und nie darauf verzichten darf, die Frage danach zu stellen, wie richtig zu handeln wäre – ein Immanuel Kant, dessen Universalismus weit über die Grenzen jener biologischen Spezies hinausreicht, die wir Menschheit nennen.

Mein Philosophiestudium an der Universität Wien hatte mich mit Anfang zwanzig mit Kant in Berührung gebracht, ich hatte seine Hauptwerke studiert und als überwältigendes Erlebnis der Klärung empfunden: So viele Fragen der zeitgenössischen Diskussion waren schon vor langer Zeit von diesem Denker beantwortet worden – konnte es wirklich sein (ich war jung und idealistisch), dass viele angesehene Intellektuelle diesen Umstand einfach ignorierten? Kurz darauf begann ich eine Dissertation über Kants Ästhetik, genauer über seinen Begriff des Erhabenen, aber mein Leben nahm eine andere Wendung, mein erster Roman wurde veröffentlicht, ich begann an meinem zweiten zu arbeiten, die Dissertation blieb liegen und wurde nicht mehr aufgenommen.

Doch als ich Radikaler Universalismus las, fühlte ich mich mit alter Kraft an das erinnert, was mich einst an Kants Denken fasziniert hatte. Der Philosoph, dem ich durch Omri Boehms Vermittlung begegnete, war kein höflicher Wächter der Sittlichkeit, kein Produzent gewunden trockener Sätze, kein staatsfrommer Obrigkeitsanwalt, sondern ein Denker, vor dessen regelrecht anarchistischer Kompromisslosigkeit kein Stein auf dem anderen blieb. Er war, und das ist ein Wort, das man mit Immanuel Kant selten in Verbindung bringt, aufregend.

Wie also hätte ich die Möglichkeit ablehnen können, mit Omri Boehm auf Einladung und tätige Anregung von Kristin Rotter vom Propyläen Verlag ein Gespräch über Kant zu führen? Im normalen Leben hat man ja immer nur kurz Gelegenheit, sich mit Experten zu unterhalten, für ein Buch aber darf, ja muss man es zulassen, dass die Unterhaltung sich in immer größeren Kreisen ausweitet.

Wir verbrachten also den 30. und den 31. Mai 2023 im idyllisch ruhigen Gartenhaus des Ullstein Verlags in Berlin, in geduldiger Gesellschaft des Lektors Ulrich Wank und eines Tonaufnahmegerätes. Ich sprach deutsch, Omri sprach englisch, denn obwohl seine Beherrschung von Kants Sprache perfekt ist, drückt er sich bei philosophischen Gesprächen, um der Präzision willen, nicht gern selbst in ihr aus. Wir fingen bei Kants Lebensgeschichte an – oder eigentlich bei dem Mangel an einer gut erzählbaren konventionellen Lebensgeschichte – und versuchten von da aus, das Feld kantischen Denkens zu durchwandern, nicht in systematischer Weise, sondern der Unterhaltung ihren organischen Lauf lassend: Erkenntnistheorie und Wissenschaft, die Philosophie der Kunst, die Politik, die Theorie der Gesellschaft, die Religion und natürlich die Ethik. Auch über Kants Person und Persönlichkeit sprachen wir; und das bestürzende Problem seines Rassismus, dem naturgemäß in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als zuvor, wollten wir ebenfalls nicht vermeiden.

Das Transkript, von Ulrich Wank in lesbare Form gebracht, wurde von uns über die Sommermonate überarbeitet, danach wurden Omris Gesprächspassagen von Michael Adrian ins Deutsche übersetzt, sodann folgte eine weitere Phase der Überarbeitung.

Was immer das Resultat auch sein mag, es ist hoffentlich keine »Würdigung« in jenem fragwürdigen Sinn, den Jahrestage im Kulturleben nahelegen. Theodor W. Adornos Polemik gegen diese Gattung, vorgetragen anlässlich des 125. Todestages von Hegel, hat nichts an Schlagkraft eingebüßt: »[Die Würdigung] meldet den unverschämten Anspruch an, daß, wer das fragwürdige Glück besitzt, später zu leben, und wer berufsmäßig mit dem befaßt ist, über den er zu reden hat, darum auch souverän dem Toten seine Stelle zuweisen und damit gewissermaßen über ihn sich stellen dürfe. In den abscheulichen Fragen, was an Kant und nun auch an Hegel der Gegenwart etwas bedeute […], klingt diese Anmaßung mit.«

Diese Anmaßung also wollten wir vermeiden – wir weisen Kant keine Stelle zu, wir würdigen ihn nicht, und wir sprechen auch nicht von »der Gegenwart«, sondern von uns. Wir versuchen, Kant aus seinen eigenen historischen Voraussetzungen zu verstehen und zugleich ein Bild davon zu gewinnen, wie er uns dabei helfen kann, weiterzukommen auf jenem langen Weg, an dessen Ende wir hoffen dürfen, das zu sein, für das wir uns in voreiligen Momenten jetzt schon halten: eine Gemeinschaft denkender und freier Menschen.

Der erste Teil

Kant, persönlich

Daniel Kehlmann Beginnen wir mit einer ganz unphilosophischen Frage: Warum ist es eigentlich so schwer, über Kant als Person zu sprechen? Über ihn als Philosoph zu sprechen, ist offensichtlich deswegen schwer, weil er ein schwieriger Philosoph ist. Aber warum ist es so schwer, über diesen genialen Menschen, der er ja zweifellos war – auch wenn er den Begriff Genie für Philosophen ablehnt –, so zu reden, dass er als Person interessant wird?

Es gibt zwei zentrale Beispiele in der deutschen Literatur, nämlich auf der einen Seite die folgenreiche Passage in Heinrich Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Im Philosophiestudium bekommt man ziemlich bald gesagt, sie sei ganz irrig und gehe völlig an Kant vorbei. Ich denke, das ist nicht so. Ich denke, Heine trifft vieles sehr richtig. Vor allem spricht er von der Kritik der reinen Vernunft als dem Buch, das den Deismus, also eigentlich eine bestimmte Vorstellung von Gott, hingerichtet hat. Und hier drückt er sich noch vorsichtig aus, weil er eigentlich ja meint, Kant habe Gott hingerichtet, und er nennt ihn einen viel fürchterlicheren Menschen als Robespierre. Und dieses Bild von Kant, die Kritik der reinen Vernunft als ein Buch, das die Nachtgeister erschreckt, wie Heine sagt, das fand ich immer belebend und, ja, aufregend! Ich habe es einst als Student eigentlich wegen dieser Passage Heinrich Heines geschafft, die Kritik der reinen Vernunft ganz zu lesen, ich habe mir immer wieder gesagt: Das ist ein Buch, das die Nachtgeister erschreckt. Dann kommt natürlich der zweite Teil von Heines Auseinandersetzung mit Kant: Dass Kant ein öder Spießer gewesen, immer zur gleichen Zeit spazieren gegangen sei, immer jeden Tag genau wie den Tag zuvor verbracht habe, immer gefolgt von seinem Diener, und um diesem Diener seinen Glauben zurückzugeben, habe er dann den Gott, den die theoretische Philosophie, also die Kritik der reinen Vernunft getötet habe, in der Kritik der praktischen Vernunft als kleinen Dienst an seinem armen Diener Lampe wiederbelebt.

Auf der anderen Seite gibt es eine Passage in Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Der Gymnasiast Törleß, die Hauptfigur, liest Kant, und es ist ganz fürchterlich, ein Exzess der Langeweile und Trockenheit. Zu allem Überfluss erscheint ihm danach noch Kant im Traum, als ein schreckliches Männchen, und wenn Törleß zu sich kommt, spürt er die ganze Wollust und Lebenskraft des Jugendlichen, in Opposition zu der unerträglichen Dürre und Ödnis der Erwachsenenwelt, für die hier Kant steht.1

Und dann wiederum, im Kontrast dazu: ein Bericht des einzigen bedeutenden deutschen Schriftstellers, der Kant persönlich kannte. Johann Gottfried Herder wollte später an Kant gar nichts Gutes mehr lassen, aber aus seiner Jugendzeit gibt es einen kurzen Text, der so anfängt: »Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war.« Herder schildert Kant als akademischen Lehrer, als einen wachen, heiteren, lustigen Menschen. »Seine offene, zum Denken gebaute Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude.« Das ist, aus persönlichem Erleben heraus, genau die Gegenposition zu dem Schreckensbild, das später der junge Törleß am Phantombild Kants erlebt.

Also angesichts dieser Widersprüche fragt man sich ganz von selbst: Wie stellen wir ihn uns überhaupt vor? Wie stellst du dir Kant als Person vor?

Omri Boehm Über die Person Kant habe ich mir nur wenig Gedanken gemacht. Ich habe nie …

Kehlmann Typisch für einen Philosophen!

Freudentränen eines Bürgers über die Revolution

Boehm Vielleicht sollte es auch typisch für einen Philosophen sein … Womit ich nicht abstreiten möchte, dass eine bestimmte Art von Interesse an der Person eines Philosophen – die seine »Identität« sein kann, aber nicht muss – aus einer historischen, literarischen oder sogar philosophischen Perspektive fruchtbar sein mag. Fichte hat einmal gesagt: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt […] davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.«2 Ich wollte nur sagen, dass ich nicht zu jenen Philosophen gehöre, die nach Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, fahren, um ein Selfie an Kants Grab zu machen … Auch bin ich nicht so sehr an der »Identität« eines Philosophen interessiert, die sich als das Gegenteil der interessanten Frage nach seinem Charakter oder seiner Persönlichkeit erweisen kann. Und hier ist es sehr bezeichnend, dass wir gleich mit der Widersprüchlichkeit von Kant konfrontiert sind: ein dröger und seelenloser konservativer deutscher Techniker auf der einen Seite, ein revolutionärer Terrorist auf der anderen. Und in der Mitte ist sozusagen die Position Herders, der einen plötzlich mit etwas ganz anderem überrascht – einem Bild Kants als einem freundlichen Lehrer, der sogar eine gewisse väterliche Wärme an den Tag legen konnte.

Wie gehen wir also mit dieser großen Widersprüchlichkeit um, von der du sprichst – vor allem vor dem Hintergrund von Fichtes Behauptung, dass ein Zusammenhang zwischen Person und Philosophie besteht? Jemand, der die Berechtigung dieser Frage erkannte, war Ernst Cassirer. Er sagte, dass man keine zwei Philosophen finden könne, die auf den ersten Blick unterschiedlicher im Charakter oder Stil seien als Kant und Jean-Jacques Rousseau. Und gerade deshalb sei es interessant festzustellen, wie nah sie sich eigentlich waren – tatsächlich war Rousseau der Philosoph, den Kant am meisten bewunderte. Du hast zu Recht gesagt, dass Philosophen für Kant keine Genies sein konnten, doch bekommt man den Eindruck, dass er Rousseau für ein Genie hielt – in dem Sinne vielleicht eher für einen Autor als für einen »Philosophen«. Und man rührt, glaube ich, an eine tiefe Schicht, wenn man eher die Kontinuität als den Gegensatz zwischen Kant und Rousseau sieht, die dem Gegensatz – und der Kontinuität – zwischen dem Bild des trockenen Kant in Musils Törleß und Heines Terrorist nicht unähnlich ist. In gewisser Weise hoffte Kant, dieselbe zentrale Einsicht, die Rousseau in seiner leidenschaftlichen Sprache formuliert hatte, systematisch zu verteidigen. Ich will damit sagen, dass wir die Widersprüchlichkeit von Kants Person als eine Antinomie verstehen können – das heißt, der Widerspruch in seinem Charakter ist nur ein scheinbarer. Und wie bei allen Antinomien verhilft es einem zu einer klaren Einsicht in die Wirklichkeit, wenn man sie auflöst, wenn man entdeckt, dass der Widerspruch nicht real ist; in diesem Fall zu einer tieferen Einsicht, wer Kant, als Philosoph und als Person, in Wirklichkeit war. Das innere Bekenntnis, das man auf diese Weise entdeckt, das vorrangige persönliche philosophische Bekenntnis ist das zum Humanismus. Und zu der Überzeugung, dass der Humanismus durch die Freiheit zu verteidigen ist, nicht durch die Natur. Das war es, was Rousseau Kant beigebracht hat, würde ich sagen – über sich selbst und über die Philosophie. Doch kann dieser Humanismus, wenn er pervertiert wird, auch in Terrorismus abgleiten – jedenfalls ist das eine der Anschuldigungen, die immer wieder gegen Kant erhoben wird. Er versuchte, den Humanismus, die rousseausche Form von Humanismus mit seinen sehr technischen, rationalen Argumenten zu verteidigen, aber durch dieses System kann man den Kontakt mit dem Menschen verlieren und im Zuge dieses Versuchs in einen robespierreschen Terrorismus abgleiten.

Kehlmann Vielleicht ist die Denkbewegung der Antinomien, die Kant ja in dieser Form erfunden hat, tatsächlich das Persönlichste an ihm. Widersprüche, die man scheinbar hilflos nebeneinander stehen lassen muss und die dann letztlich doch ein konsistentes Bild ergeben – aber nicht indem man sie auflöst, sondern indem man sich über ihre Unauflöslichkeit Rechenschaft ablegt.

Boehm Was du hier das Persönlichste an Kant nennst, zeigt sich, sobald man es einmal bemerkt hat, wohin man auch schaut. Viele haben Kant beispielsweise als einen Philosophen in Erinnerung, der vom Begriff des Gesetzes fast schon besessen ist. Das hängt mit dem Bild des »staubtrockenen Ingenieurs« zusammen. Wenn man aber noch einmal auf Kant in dem Moment blickt, in dem er sich fragt, ob er ein »Vorzeichen« dafür erkennen kann, dass das »menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei«, da nennt er die Französische Revolution auf dem Höhepunkt des Terrors als Zeichen dafür, dass das Menschengeschlecht sehr wohl fortschreitet … 3 Er lässt es sich sogar nicht nehmen, zu sagen: Ganz gleich, ob die Revolution Gewalt hervorbringt, ganz gleich, ob sie Erfolg haben oder scheitern wird, ist die Revolution ein Zeichen des Fortschritts. Und da muss man sich schon fragen: Warum sollte jener staubtrockene Ingenieur, der angeblich von den Begriffen des Rechts und des Gesetzes besessen ist, die Revolution, also gerade den Moment, in dem die Menschen das Recht in ihre eigenen Hände nehmen, für ein Zeichen des Fortschritts halten? Wenn man Kants Philosophie in sehr enger Weise fasst, muss man zu dem Schluss kommen, dass eine Revolution definitionsgemäß ungerecht ist – ein direkter Verstoß gegen die Gerechtigkeit. Warum sollte der angeblich konservative Kant dieses Ereignis in seinem gewaltsam ungerechtesten Moment als das Zeichen des Fortschritts und der Hoffnung betrachten? Ich bin mir sicher, dass wir noch zu einer technischen Antwort auf diese Frage kommen; für den Moment soll sie nur noch einmal zeigen, dass die Antinomie von Kants Charakter tief reicht.

Kehlmann Ein Zeitgenosse hat berichtet, dass Kant, als er von der Erstürmung der Bastille erfuhr, beim Mittagessen mit Tränen in den Augen aufstand und die Bibel zitierte: »Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast.«

Boehm Das wusste ich gar nicht, aber der Bezug auf die Bibel, die Größenordnung, die das Ereignis in seinen Augen hat, ergibt absolut Sinn. Als Kant die Frage aufwarf, ob es ein »Zeichen« dafür gebe, dass Fortschritt möglich sei, suchte er ausdrücklich nach einer »wahrsagenden Geschichtserzählung des Bevorstehenden«, also der Prophetie.4 Ich bin immer davon ausgegangen, dass er diesen Begriff ziemlich wörtlich verstand. Wobei … Heine hat recht: So begrüßenswert es ist, dass sich Kant derart für die Französische Revolution begeistert, so stimmt es doch auch, dass er selbst bereits mehr erreicht hatte als die Franzosen. So verstehe ich Heine, wenn er sagt: O ja, ihr Franzosen habt einen König getötet, wir Deutschen aber haben durch Kant Gott getötet. Euch ist es geglückt, die Autorität des Königs abzuschütteln, was wir abgeschüttelt haben … sagen wir es so: Wir haben nicht nur den Kopf irgendeines alten weißen Mannes abgeschlagen, wir haben eine ganze Denkweise umgestürzt. Und es ist eine interessante Frage, ob Kant so begeistert über die Revolution ist, weil er das auch weiß, weil er versteht, dass die Revolution in gewisser Weise ein Ausdruck seiner eigenen Philosophie ist. Auch hier haben wir also wieder diese Widersprüche.

Vielleicht besteht ein Weg, diesen Widerspruch aufzulösen, falls Auflösung in diesem Zusammenhang nicht viel zu kurz gegriffen ist, vielmehr über ihn nachzudenken, darin, dass wir uns jenes berühmte Bild in Erinnerung rufen, das auch Heine erwähnt: das Bild jenes Kant, der so langweilig ist, dass jeder in Königsberg seine Uhr nach seinem Spaziergang stellen konnte. Jeden Tag macht er um genau dieselbe Zeit einen Spaziergang, lässt ihn nie aus – oder fast nie, und am interessantesten sind natürlich die Momente, wenn er doch einmal auf ihn verzichtet: als die Nachricht von der Französischen Revolution eintraf oder als, glaube ich, Rousseaus Émileoder Über die Erziehung erschien und er zu Hause blieb, um das Buch zu lesen, wenn diese Anekdote stimmt. In beiden Fällen ist der Grund im Wesentlichen der gleiche: Das ethische Ideal der Menschheit, das Kant aus dem Émile schöpfte, ist zutiefst mit der Revolution verbunden. Ich beginne meine Kant-Seminare oft damit, dass ich meine Studierenden frage, ob sie alle diese Anekdote kennen: Wie viele hier im Raum wissen, dass Kant so langweilig war, dass man die Uhr nach seinem Spaziergang stellen konnte? Alle Hände gehen hoch. Und dann frage ich: Und wie langweilig ist es, diese Anekdote immer wieder zu wiederholen? Wie kann man sich einen Reim auf diesen Revolutionär machen, der praktisch jeden Tag mit religiösem Eifer denselben Spaziergang machen musste? In meiner Vorstellung unternahm Kant diese Spaziergänge nicht, weil er so ein staubtrockener Charakter war, sondern weil er sich mit einem Ereignis von der Größenordnung der Französischen Revolution herumschlug, und das wusste er und musste sich in der Gewalt haben und funktionieren. Er wusste genau, was er tat – dass es ein naheliegender Grund war, den Verstand zu verlieren, ihm aber auch seine Bedeutung klar war und er seine eigene Revolution niederschreiben musste. Kants Spaziergangsbesessenheit lässt sich als eine Praxis der Selbstbeherrschung verstehen – wie sie Philosophen übrigens nicht unvertraut ist. Wir kennen den Gegensatz zwischen dem Bild des sitzenden Philosophen, beispielsweise von Descartes, der am Feuer in seinem Zimmer meditiert, und, wieder einmal, Rousseau mit seinen Träumereien eines einsamen Spaziergängers. Wir dürfen nicht vergessen, dass Kant mit seiner Revolution in gewisser Weise fast völlig allein war, in einer inneren Gedankenwelt, während die französischen Revolutionäre im Wesentlichen äußerlich gemeinsam handelten.

Kehlmann Noch dazu in einem zwar für damalige Verhältnisse ziemlich liberalen Staat, aber immer noch einem, der strengste Zensurgesetze hatte. Das heißt, sobald Kant etwas Politisches sagt, muss er enorm aufpassen. Der preußische Staat war damals noch immer der, über den Lessing geschrieben hatte: »Sagen Sie mir von Ihrer berlinschen Freiheit zu denken und zu schreiben ja nichts. Sie reduziert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion so viele Sottisen zu Markte zu bringen, als man will.« Also – wenn es um Politik geht, kann Kant auch in Preußen nicht frei sprechen. Kant vollbringt ein gewaltiges Werk der geistigen Freiheit, aber er ist sehr allein, und er lebt nicht in einem freien Staat.

Und dazu kommt noch etwas, das mich immer sehr beeindruckt und auch gerührt hat. Stell dir einfach vor, du gerätst in eine Zeitmaschine und wirst ins späte achtzehnte Jahrhundert gebracht, und jetzt musst du dort überleben, und du hast sehr viel zu tun, hast ein gewaltiges, ein revolutionäres, ein weltumstürzendes Werk zu schaffen. Du bist aber schon fast fünfzig, was für damalige Verhältnisse ziemlich alt ist …

Boehm Vielleicht habe ich da mit 44 noch eine Chance?

Die Aufgabe

Kehlmann Ich würde dich noch nicht abschreiben, heute ist fünfzig kein Alter mehr – hoffe ich wenigstens, aus persönlichem Interesse –, und auch damals ist es noch nicht das Greisenalter, aber vergiss nicht, du bist im achtzehnten Jahrhundert, und wenn du krank wirst, können die Ärzte nichts ausrichten. Nichts! Du sitzt in dieser Zeit fest. Du ahnst, es wird einmal eine medizinische Wissenschaft geben, die einem helfen kann, wenn man fünfzig ist, auch achtzig zu werden, aber jetzt gibt es sie noch nicht. Das heißt, auch in der Hinsicht ist Kant vollkommen allein. Er hat dieses ungeheure Werk zu schaffen. Er weiß, er muss die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft und dann wahrscheinlich noch die Kritik der Urteilskraft schreiben und einiges an Nebenwerken. Die einzige Möglichkeit, das Projekt durchzuziehen, ist, extrem pedantisch zu leben, damit du nie krank wirst. Kant war nicht so, als er jung war. Er hat sogar eine Zeit lang Geld als Profi-Billardspieler verdient. Das passt auch nicht gerade ins übliche Kant-Klischee. Wenn man seine vorkritischen Schriften liest, hört man einen ganz freien, heiteren, fließenden Ton, der in den späteren Werken nur noch selten durchschlägt.

Sein Pedantentum resultiert nicht nur aus seinem Charakter, sondern auch aus der Notwendigkeit, alt zu werden und zu arbeiten in einer Welt, in der die Medizin noch nicht helfen kann. In der, immer noch wie bei Molière, die Ärzte wirklich Idioten, Angeber und Quacksalber sind, in der Medizin noch eine okkulte Pseudowissenschaft ist und nichts anderes.

Boehm Und in der er immer noch mit einem Bein in der Epoche vor der Aufklärung steht, und das ist wichtig, dass es noch keine Wissenschaft ist …

Kehlmann Vielleicht sogar noch beide Beine. Man muss wirklich nur Molière lesen, um eine Vorstellung zu bekommen. Im späten 18. Jahrhundert macht die Medizin dann riesige Fortschritte, aber nicht schnell genug für Kant. Er muss also zu einer zwanghaften Witzfigur werden, um seine Arbeit machen zu können. Und das hat mich immer sehr gerührt. Er hatte sicher auch eine pedantische Veranlagung, aber hauptsächlich war es die Notwendigkeit eines Menschen, der relativ spät im Leben plötzlich vor einer ungeheuren Aufgabe stand.

Boehm Du hast meines Erachtens recht, wenn du darauf insistierst, dass sein Pedantentum nicht nur der geistigen Gesundheit gilt, sondern auch der körperlichen. Kant schreibt übrigens in seiner Korrespondenz nicht wenig darüber. Immer wieder klagt er, dass er nicht genügend Zeit hat, um zu lesen, nicht genügend Zeit, um Briefe zu schreiben, nicht genügend Zeit für Verabredungen, weil er ein alter Mann ist, der ein paar Dinge zum Abschluss bringen muss … Diese Angst liegt also offen zutage.

Kehlmann Ja, wie Kafka mal zu Max Brod gesagt hat: »Ich bin allein, und die Aufgabe ist ungeheuer.« Das hätte Kant auch sagen können. Und er hat sie erfüllt! Wenn auch leider nicht ganz vollendet, traurigerweise wurde er im hohen Alter dement. Seine Anthropologie, darauf kommen wir sicher noch, ist ein Buch, das selbst die größten Verehrer vor Probleme stellt. Also man merkt dann, dass die Natur gewinnt gegen … nun ja, gegen die Vernunft, will ich nicht sagen, aber gegen Kants Lebensplanung, die vor allem eine Arbeitsplanung ist. Aber die Natur gewinnt spät erst, also im Großen und Ganzen hat er das hinbekommen, was er wollte! Er hat die Aufgabe erfüllt, aber der Preis dafür war eben, dass die Leute die Uhr nach ihm stellen konnten und bis heute Witze darüber machen.

Boehm Das ist zweifellos eine bessere Lesart des Spaziergangs … Können wir auf die Frage des Widerspruchs in Kants Charakter zurückkommen? Warum noch mal ist es so schwer, über ihn zu schreiben, über ihn als Person? Warum ist er nicht jemand, den wir gut beschreiben können, etwa in seinem Innenleben?

Kehlmann Darüber habe ich viel nachgedacht. Er tritt ja in meinem Roman Die Vermessung der Welt auf, aber schon im senilen Zustand. Ich glaube, die Schwierigkeit, ihn darzustellen, hängt damit zusammen, dass ein Großteil seiner Persönlichkeit, seines wachen Lebens, auch seiner Leidenschaft von theoretischem Denken in Beschlag genommen war. Das heißt, er hat absichtlich die Unordnung des menschlichen Lebens, über die man ja schreibt, wenn man literarische Figuren entwickelt, aus seinem Leben ausgeschlossen. Sein Leben ist von Komik ebenso frei wie von Tragik. Man könnte tatsächlich diesen Feldzug, seine große Aufgabe zu vollenden, auch beschreiben als einen Feldzug, alles in seiner Persönlichkeit loszuwerden, was ihn zu einer interessanten literarischen Figur hätte machen können. Als interessanten Menschen kann man ihn also dann darstellen, wenn man über den jungen Kant schreibt, den hochbegabten Studenten und jungen Professor. Oder eben dann, und das habe ich ja in meinem Roman versucht, über den senilen Kant, der am Ende dann doch der Natur unterliegen musste.

Boehm Dass Kant seine Philosophie vollenden muss, bevor die Natur gegen ihn gewinnt, ist dramatisch, aber warum genau muss das in Die Vermessung der Welt durch seine beginnende Senilität thematisiert werden?

Kehlmann Das hat mit dem Wesen der erzählenden Literatur zu tun, glaub ich. Letztlich handelt sie immer davon, wie unordentlich das menschliche Leben ist, wie wenig Kontrolle man darüber hat. Und wenn jemand wie Kant sich dann doch solch ein Ausmaß von Kontrolle erkämpft – dann bedeutet das, dass wenig Erzählerisches übrig bleibt. Aber in dem Augenblick, in dem ihn die Natur doch übermannt, in dem sein Geist ihm nicht mehr gehorcht … Wenn man zum Beispiel im Opus postumum blättert und dort komplizierte Erwägungen philosophischer Art findet, die einfach in eine Einkaufsliste übergehen – das ist bewegend! Und daraus wurde bei mir eben diese Stelle, wo Gauß mit Kant eine Diskussion führen möchte und Kant antwortet: »Wurst und Sterne.« Das war mein Versuch, die Sache mit der Einkaufsliste im Opus postumum in einer einzigen Zeile zu kondensieren. Statt mit dem jungen Gauß über nichteuklidische Geometrie zu diskutieren, sagt Kant dann nur: »Der Lampe soll Wurst kaufen.« Das wurde wieder in vielen Rezensionen dann als Spott über Kant gelesen. Nichts könnte falscher sein! Carl Friedrich Gauß hat ja tatsächlich in der Mathematik die Grundlagen der nichteuklidischen Geometrie gelegt, letztlich also die mathematischen Werkzeuge der Relativitätstheorie. Und der historische Gauß – das ist nicht meine Erfindung! – hatte das Gefühl, dass Kants übergroßer Einfluss auch auf die Mathematik ein Problem geworden war. Und Gauß hat tatsächlich das, was er über nichteuklidische Geometrie gedacht hat, zu seinen Lebzeiten nicht publiziert, weil er keine Lust hatte, von den Kantianern, die damals die wichtigen Lehrstühle innehatten, angegriffen und verspottet zu werden.

Boehm Wenn ich mich recht entsinne, glaubt Gauß in der Vermessung der Welt, dass Kant der Einzige wäre, der ihn verstehen könnte. Er ist mit seiner Revolution ebenfalls ziemlich allein auf der Welt, wenn man so will, und reist nach Königsberg, um die eine Person zu treffen, die ihn vielleicht verstehen kann. Für einen Kantianer wie mich (wenn es das trifft) jedoch ist diese Szene eine Form von großem und herzergreifendem Narzissmus, weil Gauß in Kant einen Verbündeten sucht, aber nicht für einen Moment auf den Gedanken kommt: ›Moment mal, wenn ich recht habe, dann ist Kants Philosophie völlig falsch‹ – das heißt, wenn die nichteuklidische Geometrie die Welt beschreiben kann, dann gibt es nach Kants Maßstäben keine synthetischen Urteile a priori, und die zentrale Frage der Kritik der reinen Vernunft stellt sich in Wirklichkeit gar nicht. Zwar haben spätere Denker versucht, das synthetische Apriori und die Kritik vor der nichteuklidischen Geometrie zu retten, und wir können uns fragen, mit welchem Erfolg, doch kommt Gauß zu Kant, um Verständnis zu finden, während er ihm im Grunde sagt … »Ihre Kritik der reinen Vernunft ist kein philosophisches Buch, sondern ein literarisches Werk. Ihre ganze Philosophie ist bestenfalls eine interessante Geschichtsschreibung oder schöne Fiktion, aber keine Philosophie mit Wahrheitsanspruch.« Und das Schöne an deinem Gauß ist, dass es ihm entweder nicht klar ist, was das komische Element an der Szene herausbringt, oder, wenn es ihm klar ist, dass er glaubt, es sollte keine Rolle spielen. Weil ein Kant dazu fähig sein sollte, ihn zu verstehen und zu schätzen, was er zu hören bekommt, da es ihm doch um die Wahrheit geht, nicht um die Wahrheit der Kritik der reinen Vernunft – das ist einnehmend, weil Kant, trotz allem, was wir oben gesagt haben, ein Mensch war …

Kehlmann Gauß denkt natürlich auch als Mathematiker. In seinem Feld zählen Meinungen gar nichts. Die Mathematik ist ja die einzige menschliche Disziplin, die ohne jeden Zweifel konstant Fortschritt macht, weil tatsächlich jeder Beweis für immer feststeht und jede Widerlegung für immer wirkt. Gauß denkt, er besucht Kant, und sie klären die Frage nach der nichteuklidischen Geometrie ein für alle Mal, aber dann spielt die Natur hinein, und es kommt anders.

Boehm Kant wäre mit diesem Grundsatz absolut einverstanden gewesen: Wenn man etwas beweist, beweist man es ein für alle Mal, und das sollte genügen. Es steht aber noch eine andere Annahme im Hintergrund, und das ist der berühmt-berüchtigte Satz, den man Aristoteles zuschreibt: »Amicus Plato, sed magis amica veritas.« Isaac Newton hat ihn so gefasst: »Platon ist mein Freund und Aristoteles auch, meine liebste Freundin aber ist die Wahrheit.« Nur dass Kant ihn vermutlich nicht nur in Bezug auf jemand anderes Person und Philosophie akzeptiert hätte, sondern selbst in Bezug auf seine eigene Philosophie, die, mit Fichte gesagt, eine ganz persönliche Sache ist.

Kehlmann In der Philosophie ist natürlich das Beweisen komplizierter, schwieriger, wackeliger und angreifbarer als in der Mathematik. Das ist ein altes Problem, das Spinoza durch Verwendung der mathematischen Methode in der Philosophie lösen wollte. Aber obwohl er die mathematische Methode ja vorbildlich verwendet hat in seiner Ethik, ist es doch so, dass wir nicht alle überzeugte Spinozisten sind. Das heißt, irgendwas hat hier beweistechnisch nicht funktioniert.

Als ich die Kant-Gauß-Szene schrieb, dachte ich, wenn das eine bestimmte Art von postmodernem philosophischem Thesenroman wäre, dann hätten die beiden eine sehr interessante Diskussion über nichteuklidische Geometrie und die Kritik der reinen Vernunft, die ich für sie erfinden würde, als eine Art Bauchredner aus der Zukunft. Und ich dachte, erstens ist so etwas literarisch sehr fragwürdig – und zweitens: Hätte Gauß diese Reise tatsächlich gemacht, hätte er Kant nicht mehr bei voller Geistesklarheit angetroffen. Und ist das nicht erzählerisch viel interessanter, diese verpasste Chance? Es war für die Zeitgenossen ja sehr ergreifend, Kants Verfall zu sehen, er war vielleicht das erste welthistorisch berühmte Demenzopfer. Demenz kam ja noch nicht so häufig vor, aus dem schlichten Grund, dass die Menschen nur selten sehr alt wurden.

Das Erhabene und der Sternenhimmel über uns

Boehm Du hast mehrfach erwähnt, dass »die Natur am Ende gewonnen hat« oder dass Kant versucht hat, »gegen die Natur« zu kämpfen. Das ist eine interessante Feststellung und, glaube ich, die richtige Begrifflichkeit, weil es eine klare Auseinandersetzung zwischen Natur und Freiheit bei Kant gibt. Er wird oft dafür kritisiert, meines Erachtens zu Unrecht, denn er hat recht mit dem Gedanken, dass der Preis der Moderne darin besteht, diese Auseinandersetzung zu führen und zu verstehen und letztlich zu bewältigen. Genau aus diesem Grund finde ich deine Rede von einer Natur, die am Ende gegen Kant gewinnt, interessant: Kant führt in gewisser Weise einen Kampf gegen die Uhr und gegen die Natur …

Kehlmann Kants Philosophie reflektiert diesen Kampf gegen die Natur immer wieder. Wenn er in der Kritik der Urteilskraft vom dynamisch Erhabenen spricht, bringt er das Beispiel eines Beobachters, der auf einer Klippe sitzt und auf einem stürmischen Meer ein Schiff sieht, das in Gefahr ist unterzugehen. Und das Meer ist tausendfach stärker und größer als das Schiff. Dabei empfindet dieser Zuschauer ein Gefühl der Erhabenheit. Kant sagt ausdrücklich – und das ist zum Beispiel der Unterschied zu Ernst Jünger –, dass man Zuschauer sein muss, um diese Erhabenheit zu empfinden. Wer auf dem Schiff ist, empfindet sie nicht. Ernst Jünger würde sagen, man muss auf dem Schiff sitzen und in Lebensgefahr sein, das ist die wahre Erhabenheit! Das würde Kant für neurotischen Blödsinn halten, meiner Meinung nach zu Recht. Worauf er abzielt, das ist der Umstand, dass das, was sich da vor unseren Augen abspielt, eben immer nur die halbe Wahrheit ist. Die Natur, in diesem Fall in Gestalt des stürmischen Meeres, kann den Menschen töten, aber andererseits ist diese gewaltige Natur etwas, das in dieser Form unser Erkenntnisapparat formend hervorbringt und das uns vor allem auch nur physisch, nicht moralisch anfassen kann. Wir sind der Natur unterworfen, und zugleich sind wir ihr unendlich überlegen. Das Meer kann uns physisch töten, aber moralisch kann es uns nichts anhaben. Und diesem Meer, so würde ich sagen, entspricht der alternde Körper. Wir sind alle auf so einem Boot, wir sind, wie es bei William Butler Yeats heißt, »Fastened to a dying animal«, wir sind an einen verfallenden Körper gebunden und verwenden ein alterndes Gehirn. Die Erhabenheit im Fall Kants liegt eben darin, dass er dennoch seine Arbeit machen konnte, dass wir alle, gebunden an ein sterbendes Tier, dennoch die sein können, die wir sind, und die Welt verstehen und die ethischen Pflichten erfüllen können, die wir erkennen. Aber trotzdem werden wir in diesem Meer ertrinken. Die Natur gewinnt in der physischen Welt. In der moralischen nicht.

Boehm Um Yeats’ Formulierung und deine berechtigte Kritik an Jüngers Erhabenem noch etwas weiter auszuspinnen: Du gehst zu Recht davon aus, dass wir uns selbst von außen sehen können. Dass wir jedenfalls nicht mit unserem Körper identisch sind. Damit ist ein starker Dualismus gesetzt, der auch ein bestimmtes Verhältnis zum Tod impliziert – ich kann angesichts des Todes nicht nur Furcht oder Angst empfinden (hier ist an Heidegger zu denken, der uns in die Ohren bläst), sondern auch das Erhabene, in Bezug auf unseren eigenen Tod. Denn ich bin mit jenem sterbenden Tier nicht identisch und betrachte meinen sterbenden Körper wie einen Schiffbruch mit Zuschauer. Der Unterschied ist, dass die Erfahrung des kantischen Erhabenen uns für die Unendlichkeit öffnet, während die heideggersche Angst unsere Endlichkeit offenbart. Diese unterschiedliche »Urerfahrung« verrät ein gegensätzliches Verständnis des Menschseins.

Kehlmann Gibt es hier eine Verwandtschaft zwischen Kants Konzept des Erhabenen und Heideggers Begriff der Angst? Die Gegenpole scheinen sich zu berühren.

Boehm Beide Begriffe sind tatsächlich gleich und gegensätzlich, denke ich. Eine Möglichkeit, sich das klarzumachen, ist, dass beide der Furcht gleichen, aber als Nicht-Furcht definiert werden. Denn die Furcht besteht vor einem mächtigen Objekt in der Welt, während sowohl das Erhabene als auch die Angst sich einstellen, wenn wir so überwältigt sind, dass wir ein Objekt gar nicht mehr völlig erfassen können. Heidegger würde sagen: »Die Angst offenbart das Nichts. Wir ›schweben‹ in Angst. Deutlicher: die Angst lässt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt.«5 Das heißt ein Unvermögen, weltliche Objekte, die Welt als ein Objekt – und uns selbst als ein Objekt in der Welt – zu erfahren. Durch diese Angst erfahren wir Freiheit. Das Erhabene hat genau dieselbe Struktur: Überwältigt von äußeren Eindrücken auf den Geist, kolossalen Naturereignissen wie dem bestirnten Himmel oder einem Tsunami, gelingt es uns nicht, ein Ding bewusst zu erfassen. Für Kant aber können wir ein empirisches Bewusstsein unseres Daseins, das ein Bewusstsein unseres Fortbestehens in der Zeit erfordert, nur im Verhältnis zu einem äußeren, im Raum erfahrenen Ding entwickeln. Es gibt für ihn kein inneres Bewusstsein ohne ein äußeres, und das bedeutet, dass das Unvermögen, ein äußeres Ding im Raum zu fixieren, zugleich unsere Unfähigkeit einschließt, unser eigenes Dasein empirisch zu bestimmen: uns also das Seiende im Ganzen entgleitet, wenn man so will, und das ist zugleich eine Erfahrung der Freiheit. So weit die Ähnlichkeit.