Dark Memories - Nichts ist je vergessen - Wendy Walker - E-Book
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Dark Memories - Nichts ist je vergessen E-Book

Wendy Walker

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Beschreibung

Eine Klasse für sich: Wendy Walkers »Nicht alles ist vergessen« ist hoch manipulative Psycho-Spannung auf internationalem Bestseller-Niveau. Du musst dich erinnern, Jenny. Du musst dich erinnern, was in jener Nacht im Wald geschehen ist. Fairview, eine beschauliche Kleinstadt in Connecticut. Die 16-jährige Jenny Kramer wird Opfer einer brutalen Attacke und kommt schwer traumatisiert ins Krankenhaus. Dort wird ihr auf Wunsch ihrer Eltern ein Medikament verabreicht, das ihr helfen soll. Ein Medikament, das jegliche Erinnerung an den schrecklichen Vorfall auslöscht. Danach hat Jenny keine Bilder mehr für das, was passiert ist. Da ist nur noch Schwärze. Sie bemüht sich weiterzuleben wie zuvor, beinahe so, als ob nichts geschehen wäre, während ihre Mutter Charlotte krampfhaft versucht, so etwas wie Normalität wiederherzustellen, und ihr Vater Tom wie besessen ist von dem Gedanken, den Täter, der seiner Tochter das angetan hat, zu überführen. Doch das Nicht-Erinnern-Können wird für Jenny mehr und mehr zu einem Albtraum. Denn ihr Körper weiß noch immer, was ihm angetan wurde. Gemeinsam mit dem Psychiater Alan Forrester, der auf Fälle wie Jenny spezialisiert ist, versucht sie, Stück für Stück Licht in das Dunkel jener Nacht zu bringen, die Chronologie der Ereignisse wiederherzustellen. Aber kann sie denen, die sie dabei unterstützen wollen, vertrauen? Wie manipulierbar ist Erinnerung? Und helfen die Erinnerungen, die langsam zu ihr zurückkommen, wirklich, den Schuldigen zu finden? »Dieses Buch dürfen Sie auf keinen Fall verpassen!« Karin Slaughter

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Seitenzahl: 508

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Wendy Walker

Dark Memories

Nichts ist je vergessen

Roman

Aus dem Englischen von Verena Klichling

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536Anmerkung der AutorinDank

Für Andrew, Ben und Christopher

1

Er folgte ihr durch den Wald hinter dem Haus. Der Boden war übersät mit Überresten des Winters – toten Blättern und Zweigen, die während der letzten sechs Monate von den Bäumen gefallen und unter der Schneedecke vermodert waren. Vielleicht hörte sie ihn kommen. Vielleicht drehte sie sich um und erblickte ihn mit seiner schwarzen Sturmhaube, deren Wollfasern man unter ihren Fingernägeln fand. Als sie auf die Knie fiel, zerbrachen die Überbleibsel morscher Ästchen wie alte Knochen und zerkratzten ihr die nackte Haut. Ihr Gesicht und ihre Brust wurden unsanft gegen den Boden gepresst, wahrscheinlich mit der Außenseite seines Unterarms, und sie muss den Sprühnebel des Rasensprengers gespürt haben, der vom nur wenige Meter entfernten Garten herüberwehte. Ihre Haare waren nass, als man sie fand.

Als kleines Mädchen war sie gern dem Wasserstrahl des Sprengers im eigenen Garten nachgejagt, hatte sich an heißen Sommernachmittagen von ihm erwischen lassen oder war ihm an kühlen Frühlingsabenden ausgewichen, immer dabei ihr kleiner Bruder, der nackt und mit vorgestrecktem Bäuchlein und fuchtelnden Ärmchen, die er noch nicht mit seinen kleinen Beinen koordinieren konnte, hinter ihr hergetappt war. Manchmal hatte sich noch der Familienhund dazugesellt und so laut gebellt, dass er ihr Gelächter übertönt hatte. Viertausend Quadratmeter Rasen, rutschig und nass. Ein weiter, offener Himmel mit weißen Wattewolken. Ihre Mutter, die ihnen durchs Fenster zusah, und ihr Vater auf der Heimfahrt von Orten, deren Geruch sich in seinem Anzug festgesetzt hatte – schaler Kaffee aus dem Büro des Autohauses, neues Leder, Reifengummi. Diese Erinnerungen schmerzten sie heute, und dennoch waren ihre Gedanken sofort zu ihnen geeilt, als man sie nach dem Rasensprenger gefragt hatte, danach, ob er an gewesen sei, als sie durch den Garten zum Wald gerannt war.

Die Vergewaltigung hatte fast eine ganze Stunde gedauert. Erstaunlich, dass die Ermittler dies so genau feststellen konnten. Offenbar war es auf irgendeine Weise an der Blutgerinnung rund um die Körperöffnungen erkennbar, die der Täter penetriert hatte, an den unterschiedlich fortgeschrittenen Stadien der Hämatome an Rücken, Armen und Nacken, die durch seine jeweiligen Klammergriffe entstanden waren. Innerhalb jener Stunde war die Party genauso weitergelaufen, wie sie sie zurückgelassen hatte. Vermutlich hatte sie von der Stelle aus, an der sie auf dem Waldboden lag, die Lichter gesehen, die grell aus den Fenstern schienen, die flackerten, wenn sich jemand durch den Raum bewegte. Es war eine große Party, zu der fast alle Zehnt- und auch ein paar Neunt- und Elftklässler erschienen waren. Die Fairview High School war selbst für das ländliche Connecticut eine kleine Schule, und die Jahrgangsgrenzen, die andernorts existierten, waren hier deutlich durchlässiger. Sportmannschaften waren genauso gemischt wie Theatergruppen, Bands und Orchester. Mathematisch oder fremdsprachlich besonders begabte Schüler hatten die Möglichkeit, in diesen Fächern eine Jahrgangsstufe aufzurücken. Jenny Kramer hatte es zwar in keine derartige Förderklasse geschafft, betrachtete sich aber dennoch als intelligent und humorvoll. Außerdem war sie eine gute Sportlerin – Schwimmen, Hockey, Tennis. Keine dieser positiven Eigenschaften schien jedoch von besonderer Bedeutung gewesen zu sein, bis ihr Körper endlich herangereift und aufgeblüht war.

Am Partyabend hatte sie sich zunächst besser gefühlt als jemals zuvor. Ich glaube, sie hätte sogar gesagt: Das wird die Nacht meines Lebens. Nach jahrelanger Isolation in ihrem »Pubertätskokon«, wie ich es gern bezeichne, hatte sie endlich das Gefühl, voll zu ihrem Recht zu kommen. Widrigkeiten wie Zahnspange, hartnäckiger Babyspeck, Brüste, die zu klein für einen BH waren und sich dennoch durch ihr T-Shirt abzeichneten, Akne und widerspenstige Haare waren verschwunden. Sie war immer eher der knabenhafte Typ gewesen, Kumpel und Vertrauensperson von Jungen, die sich grundsätzlich für andere Mädchen interessierten, nie für sie. Das waren ihre Worte, nicht meine, aber ich finde, sie beschrieb ihre Entwicklung sehr treffend für eine Sechzehnjährige. Überhaupt war sie sich ihrer selbst auf ungewöhnliche Weise bewusst. Trotz allem, was ihre Eltern und Lehrer ihr eingebläut hatten, nicht nur ihr, sondern allen Mädchen der Stadt, glaubte sie – und damit stand sie innerhalb ihrer Altersgruppe nicht allein da –, dass Schönheit für ein Mädchen das wertvollste Gut sei. Diese Schönheit endlich zu besitzen war für sie wie ein Lottogewinn.

Und dann war da dieser Junge gewesen. Doug Hastings. Er hatte sie an einem Montag zwischen Chemie und europäischer Geschichte auf dem Schulflur gefragt, ob sie mit ihm zu der Party gehen wolle. Diesbezüglich hatte sie sehr konkrete Angaben machen können, auch darüber, was er an jenem Tag angehabt hatte, wie sein Gesichtsausdruck gewesen war, dass er ein wenig nervös gewirkt, seine Nervosität jedoch lässig überspielt habe. Sie hatte die ganze Woche an kaum etwas anderes denken können als ihr Party-Outfit, ihre Frisur, die Farbe ihres Nagellacks, wenn sie am Samstagvormittag mit ihrer Mutter zur Maniküre ging. Ich war ein wenig überrascht gewesen. Was ich über Doug Hastings weiß, hat dazu geführt, dass ich nicht viel von ihm halte. Da ich selbst eine Tochter habe, maße ich mir ein Recht auf derlei Meinungen an. Ich habe durchaus Verständnis für seine Situation – ein Tyrann als Vater, eine schwache Mutter, die ihren erzieherischen Aufgaben nur ungenügend gerecht wurde. Dennoch war ich irgendwie enttäuscht, dass Jenny ihn nicht durchschaut hatte.

Die Party war genauso gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte: Gastgeber, die sturmfrei hatten, weil ihre Eltern verreist waren, Jugendliche, die so taten, als wären sie erwachsen, in Martinigläsern gemixte Cocktails, Bier aus großen Kristallkrügen. Doug hatte sich direkt auf der Party mit ihr verabredet. Aber er war nicht allein gekommen.

Die Musik hatte in voller Lautstärke aus den Boxen gedröhnt, sie musste sie am Ort ihres Martyriums gehört haben. Es wurden ausschließlich beliebte Popsongs gespielt, Hits, die sie gut kannte, wie sie sagte, mit Texten und Melodien, die hängenblieben. Trotz der lauten Musik und des gedämpften Gelächters, das aus den offenen Fenstern herüberwehte, wird sie auch jene anderen, näheren Geräusche gehört haben, das perverse Stöhnen ihres Angreifers, ihre eigenen panischen Schreie.

Nachdem er mit ihr fertig und in die Dunkelheit verschwunden war, stützte sie sich auf einem Arm ab und hob das Gesicht aus dem Gestrüpp. Womöglich spürte sie in diesem Moment einen Luftzug auf der Wange und merkte, dass ihre Haut feucht war. Die Blätter und Äste, auf denen sie gelegen hatte, blieben an ihr hängen, als hätte jemand ihr Gesicht zuvor mit Klebstoff bestrichen.

Wie sie so auf den Unterarm gestützt dalag, muss sie das Geräusch gehört haben.

Irgendwann setzte sie sich aufrecht hin, versuchte, die Unordnung zu beseitigen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Wange, woraufhin die Überreste trockener Blätter zu Boden rieselten. In diesem Moment hat sie vermutlich gesehen, dass sich ihr Rock um ihre Taille bauschte und ihre Genitalien freilagen. Offenbar kroch sie daraufhin auf allen vieren ein kurzes Stück über die Erde, vielleicht, um ihre Unterhose zu suchen. Sie hielt sie in der Hand, als sie gefunden wurde.

Das Geräusch muss lauter geworden sein, denn irgendwann hörten es ein Mädchen und ihr Freund, die sich auf der Suche nach einem ungestörten Plätzchen in den Garten zurückgezogen hatten und ganz in ihrer Nähe waren. Vermutlich knackte und knisterte der Waldboden unter dem Gewicht ihrer Hände und Knie, als sie begann, auf den Rasen zuzukrabbeln. Als ich davon hörte, stellte ich mir vor, wie sie langsam vorankroch, wie ihr angetrunkener Zustand ihre Koordination einschränkte, wie der Schock die Zeit zum Stillstand brachte. Ich stellte mir vor, wie sie die Situation einzuschätzen versuchte, als sie schließlich aufhörte zu kriechen und sich hinsetzte; ihre zerrissene Unterhose ansah, die Erde an ihrem nackten Hintern spürte.

Eine Unterhose, die zu zerfetzt war, um sie wieder anzuziehen, an der überall Blut und Erde klebten. Das Geräusch, das immer lauter wurde. Die Frage, wie lange sie schon im Wald war.

Auf Händen und Knien setzte sie sich erneut in Bewegung, doch wie weit sie auch krabbelte, das Geräusch ließ sich nicht abschütteln, wurde lauter und lauter. Wie verzweifelt sie versucht haben muss, ihm zu entfliehen, den weichen Rasen zu erreichen, das saubere Wasser, das ihn benetzte, den Ort, an dem sie gewesen war, bevor sie ihre Verzweiflung in den Wald getrieben hatte.

Sie kroch noch einen Meter und hielt dann inne. Vielleicht ging ihr in diesem Moment auf, dass das Geräusch, das sie nicht loswurde, jenes verstörende Wehklagen, ihrem eigenen Mund entsprang. Erschöpfung überkam sie, zwang erst ihre Knie und dann ihre Arme, unter ihr einzuknicken.

Sie sagte mir, sie habe sich selbst immer als starke Person betrachtet, als Sportlerin mit eisernem Willen. Ein starker Geist in einem starken Körper. Das trichterte ihr Vater ihr schon ein, seit sie ein kleines Mädchen war: Wenn Körper und Geist stark sind, wirst du ein gutes Leben führen. Vielleicht befahl sie sich aufzustehen. Vielleicht befahl sie ihren Beinen, sich zu bewegen, und anschließend ihren Armen. Aber ihr Wille konnte nichts ausrichten. Statt sie dahin zurückzubringen, wo sie zu Beginn des Abends gewesen war, schmiegten ihre Glieder sich schlaff um ihren misshandelten Körper, der ungeschützt auf dem schmutzigen Boden lag.

Tränen, die ihr übers Gesicht liefen, ihre Stimme, die weiterhin jene schrecklichen Laute von sich gab. Endlich hörte man sie, endlich wurde sie gerettet. Seit jener Nacht fragte sie sich wieder und wieder, warum nichts, was sie in sich trug – weder ihre Muskeln noch ihr Verstand, noch ihr Wille –, aufzuhalten vermocht hatte, was passiert war. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie um Hilfe geschrien und sich gegen ihn gewehrt oder ob sie einfach kapituliert und alles widerstandlos hingenommen hatte. Niemand hörte sie, bis es vorbei war. Sie sagte, sie wüsste nun, dass es nach jeder Schlacht Bezwinger und Bezwungene gebe, Sieger und Besiegte. Sie selbst habe schließlich die Wahrheit akzeptieren müssen: dass sie vollkommen und unwiderruflich bezwungen worden sei.

Ich konnte nicht sagen, wie viel von alldem wahr war, als ich sie zum ersten Mal hörte – die Geschichte der Vergewaltigung von Jenny Kramer. Sie war anhand von forensischen Beweisen, Zeugenaussagen, kriminalpsychologischen Profilen und den unzusammenhängenden, zerstückelten Erinnerungsfetzen rekonstruiert worden, die Jenny nach der Behandlung noch blieben. Sie nennen es eine »Wunderheilung«, wenn unvorstellbar grausame Traumata einfach aus der Erinnerung gelöscht werden. Natürlich handelt es sich weder um Magie noch um sonderlich eindrucksvolle wissenschaftliche Errungenschaften. Aber darauf werde ich später noch zurückkommen. Was ich jetzt, zu Beginn der Geschichte, zum Ausdruck bringen möchte, ist Folgendes: Für dieses hübsche junge Mädchen war es keine Wunderheilung. Was aus ihrer Erinnerung gelöscht wurde, lebte in ihrem Körper und in ihrer Seele fort, weshalb ich mich gezwungen sah, ihr zurückzugeben, was man ihr genommen hatte. Das mag Außenstehenden seltsam vorkommen. Jeder Intuition widersprechend. Verstörend.

Fairview ist – ich erwähnte es bereits – eine Kleinstadt. Im Laufe der Jahre hatte ich immer wieder Fotos von Jenny Kramer in der Lokalzeitung gesehen oder auf den Schulplakaten zur Ankündigung von Theaterstücken oder Tennisturnieren, die bei Gina’s Deli an der East Main Street hingen. Ich erkannte sie, wenn sie durch die Straßen ging, mit ihren Freunden aus dem Kino kam oder ein Schulkonzert besuchte, zu dem auch meine eigenen Kinder gingen. Sie hatte eine Unschuld an sich, die die von ihr so angestrebte Reife Lügen strafte. Selbst in den kurzen Röcken und bauchfreien Oberteilen, die derzeit in Mode zu sein schienen, war sie ein Mädchen, keine Frau. Wenn ich sie sah, erwachte wieder Hoffnung in mir, was den Zustand der Welt anging. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass Jugendliche generell dieses Gefühl in mir auslösen, all diese jungen Leute, die unser Leben manchmal heimsuchen wie ein Schwarm Heuschrecken und keinen Stein auf dem anderen lassen. Auf ihre Handys fixiert wie hirntote Drohnen, desinteressiert an allem außer Promi-Klatsch und Dingen, die ihnen unmittelbar Befriedigung verschaffen: Videos, Musik und um sich selbst kreisende Twitter-, Instagram- oder Snapchat-Beiträge. Teenager sind von Natur aus ichbezogen, ihre Gehirne sind noch nicht voll entwickelt. Manche schaffen es dennoch, sich ihre Unschuld aus Kindheitstagen zu bewahren, und diese Jugendlichen stechen hervor. Sie sind es, die einem in die Augen blicken, wenn man sie grüßt, die höflich lächeln, die einem den Vortritt lassen, weil man älter ist und sie den Stellenwert von Respekt in einer geordneten Gesellschaft verstanden haben. Jenny war eine von ihnen.

Bis zu ihrer Vergewaltigung. Danach löste ihr Anblick – das Fehlen jeglicher Freude, vor der sie zuvor gesprüht hatte – rasende Wut in mir aus, Wut auf die gesamte Menschheit. Nachdem ich wusste, was ihr in jenem Wald zugestoßen war, fiel es mir schwer, mich gedanklich wieder davon zu lösen. Wir alle sind fasziniert von sexuell motivierten Verbrechen, von Schrecken und Gewalt. Wir geben vor, dass es nicht so ist, doch es liegt in unserer Natur. Das stellen wir jedes Mal unter Beweis, wenn wir im Schritttempo an einem Rettungswagen am Straßenrand vorbeifahren, um möglicherweise einen Verletzten zu erspähen. Deshalb sind wir noch lange nicht böse.

Dieses makellose Kind, sein besudelter, vergewaltigter Körper. Seine geraubte Tugend. Sein gebrochener Geist. Ich klinge melodramatisch. Klischeehaft. Aber dieser Mann ist mit derartiger Gewalt in Jenny eingedrungen, dass sie chirurgisch wieder zusammengeflickt werden musste. Das muss man bedenken. Man muss bedenken, dass er sich ein Kind ausgesucht hat, vielleicht in der Hoffnung auf eine Jungfrau, damit er sich nicht nur an ihrem Körper, sondern gleich auch noch an ihrer Unschuld vergehen konnte. Man muss die körperlichen Schmerzen bedenken, die sie ertragen musste, als er ihre intimsten Körperteile regelrecht zerfetzte. Und dann muss man sich vor Augen führen, was er noch alles zerfetzte während der Stunde, in der er ihren Körper malträtierte, immer und immer wieder in sie hineinstieß und dabei womöglich in ihr Gesicht blickte. An wie vielen verschiedenen Empfindungen geilte er sich dabei auf? Entsetzen, Furcht, panische Angst, unerträgliches Leid, Resignation und schließlich Gleichgültigkeit, weil sie sich in sich selbst zurückzog? Und jede Empfindung war ein Stück von ihr, das dieses Monster ihr entriss und verschlang. Danach war vermutlich jeder romantische Tagtraum von ihrem ersten Mal mit einem Jungen, jede Liebesphantasie, jedes Lächeln beim Gedanken daran, irgendwann von einem Mann angebetet zu werden wie niemand sonst auf der Welt, für immer verloren – trotz der Behandlung, denn Jenny wusste dennoch, was passiert war. Und was bleibt einem Mädchen, das gerade zur Frau heranwächst, dann noch? Ebenjenes Thema, das unser Herz fast unser ganzes Leben lang beschäftigt, wird ihr sehr wahrscheinlich verschlossen sein.

Sie erinnerte sich an einen starken Geruch, auch wenn sie ihn nicht zuordnen konnte. Sie erinnerte sich auch an einen bestimmten Song, aber es war durchaus möglich, dass er mehr als einmal auf der Party gespielt worden war. Sie erinnerte sich an die Ereignisse, die sie dazu gebracht hatten, durch der Hintertür zu flüchten und über den Rasen in den Wald zu rennen. Sie erinnerte sich nicht an den Wasserstrahl eines Rasensprengers, und dieser Umstand trug dazu bei, den Tathergang zu rekonstruieren. Die Bewässerungsanlage war nämlich an eine Zeitschaltuhr angeschlossen und ging um neun Uhr abends an und um zehn Uhr abends wieder aus. Die beiden verliebten Jugendlichen, die Jenny schließlich fanden, waren bei nassem Gras, aber trockener Luft hinaus in den Garten gegangen. Die Vergewaltigung hatte also dazwischen stattgefunden.

Doug war mit einem anderen Mädchen auf der Party aufgetaucht, einer Elftklässlerin, die mit ihm irgendeinen Jungen aus der Zwölften eifersüchtig machen wollte. Es lohnt sich nicht, näher auf die oberflächlichen Motive dieses Mädchens einzugehen. Für Jenny zählte nur, dass sich alles, was sie sich in der Woche davor erträumt hatte, alles, wovon maßgeblich ihre Stimmung abhing, innerhalb einer einzigen Sekunde zerschlagen hatte. Wie vorherzusehen war, fing sie an, ihren Kummer in Alkohol zu ertränken. Ihre beste Freundin Violet erinnerte sich später, dass Jenny mit Wodka-Shots begann. Nach weniger als einer Stunde musste sie sich im Badezimmer übergeben, was zur Belustigung der anderen Partygäste führte und sie noch mehr demütigte. Bis zu diesem Punkt hätte das Ganze noch aus dem Drehbuch eines harmlosen Highschool-Films stammen können, wäre da nicht der Teil der Geschichte gewesen, der nun folgte. Der Teil, in dem sie in den Wald rannte, um allein zu sein und zu weinen.

Für meine Wut werde ich mich nicht entschuldigen, auch nicht für meinen Wunsch nach Gerechtigkeit. Aber ohne Erinnerungen des Opfers, ohne hinterlassene Spuren bis auf die Wollfasern unter ihren Fingernägeln – der Vergewaltiger hatte offenbar Vorkehrungen getroffen –, war Gerechtigkeit keine Option. Fairview ist eine Kleinstadt. Ja, ich weiß, ich wiederhole mich, doch es ist zum Verständnis dieses Falls unerlässlich, sich bewusstzumachen, dass Fairview kein Ort ist, der Fremde dazu verleitet, hier ein Verbrechen zu verüben. Wenn ein Unbekannter eine der beiden kurzen Geschäftsstraßen unserer Innenstadt entlangschlendert, drehen sich die Leute nach ihm um. Nicht im negativen Sinn, wohlgemerkt, sondern aus Neugier. Ist das ein Verwandter von einem Anwohner? Jemand, der gerade erst hergezogen ist? Zu besonderen Veranstaltungen wie Sportwettkämpfen oder Jahrmärkten haben wir natürlich Besucher in der Stadt und heißen sie herzlich willkommen. Überhaupt sind wir freundliche Menschen, vertrauensvolle Menschen. An einem gewöhnlichen Wochenende ohne besondere Ereignisse fallen Auswärtige bei uns dennoch auf.

Worauf ich mit alldem hinauswill, ist der folgende naheliegende Schluss: Hätte man Jenny nicht der Behandlung unterzogen, wäre ihr Erinnerungsvermögen unversehrt geblieben und sie hätte den Täter vielleicht doch identifizieren können. Die Fasern unter ihren Fingernägeln deuteten darauf hin, dass sie nach seiner Sturmhaube gegriffen hatte. Vielleicht hatte sie sie ihm vom Kopf gerissen oder weit genug nach oben geschoben, um sein Gesicht erkennen zu können. Vielleicht hatte sie seine Stimme gehört, denn es ist wohl ziemlich unwahrscheinlich, dass er die ganze Stunde, während der er sie vergewaltigte, vollkommen stumm blieb. Sie hätte sagen können, wie groß er gewesen war, welche Statur er gehabt hatte. Vielleicht hatte er alte Hände gehabt oder eindeutig junge. Vielleicht hatte er einen Ring getragen, einen Goldring oder das Emblem einer Sportmannschaft. Hatte er Turnschuhe oder Slipper oder Arbeitsstiefel angehabt? Waren seine Schuhe abgetragen oder mit Öl oder Farbe bespritzt gewesen oder vielleicht blankgeputzt? Hätte sie ihn erkannt, wenn sie neben ihm in der Eisdiele gestanden hätte? Oder im Coffeeshop? Oder an der Essensausgabe der Schulmensa? Hätte sie es innerlich gespürt? Eine volle Stunde in unmittelbarer Nähe zu einem anderen Körper – das ist eine lange Zeit.

Vielleicht war es grausam, sich all das für Jenny Kramer zu wünschen. Vielleicht war ich grausam, weil ich danach trachtete, meinen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen. Er würde, wie sich noch zeigen sollte, zu unerwarteten Konsequenzen führen. Doch die Ungerechtigkeit des Ganzen, die rasende Wut, die in mir hochkochte, meine Fähigkeit, das Leid dieses Mädchens nachzuempfinden – all das löste ein unbeirrbares Bestreben in mir aus. Das Bestreben, Jenny Kramer den schrecklichsten aller Albträume zurückzugeben.

2

Jennys Eltern erhielten den Anruf um kurz nach halb elf. Sie hatten mit zwei befreundeten Paaren aus ihrem Country Club zu Abend gegessen, nicht im Club, sondern bei einem der Paare zu Hause. Über diesen Umstand hatte sich Charlotte Kramer, Jennys Mutter, auf der Hinfahrt durch die Stadt am frühen Abend ausgiebig beschwert. Sie war der Ansicht gewesen, sie hätten lieber im Club zu Abend essen sollen, vorgeblich, um ihr Kontingent für Speisen und Getränke auszunutzen. Ihr Mann Tom vermutete hingegen den wahren Grund in der Tatsache, dass Charlotte das gesellschaftliche Leben im Club genoss. Der Aperitif wurde grundsätzlich in der großen Lounge serviert, daher hatte man, ungeachtet der Begleitung, in der man zu speisen gedachte, Gelegenheit, sich mit anderen Clubmitgliedern zu unterhalten und auszutauschen.

Tom konnte den Country Club nicht leiden und besuchte ihn nur, um sonntags mit seiner üblichen Viererrunde Golf zu spielen – einem alten Collegefreund und zwei Vätern, die er durch Jennys Leichtathletik-Mannschaft kennengelernt hatte. Charlotte hingegen war sehr gesellig und strebte in der kommenden Saison einen Sitz im Clubkomitee an. Jeder Samstagabend, den sie nicht im Club verbrachte, war für sie eine verpasste Chance, was einer der vielen Auslöser ihrer ehelichen Konflikte war. So hatte die kurze Autofahrt mit den üblichen bissigen Kommentaren begonnen und mit verärgertem Schweigen geendet.

Daran erinnerten sich die beiden später, weil es ihnen so nichtig vorkam angesichts der brutalen Vergewaltigung ihrer Tochter.

Einer der Vorteile einer Kleinstadt besteht darin, dass ihre Einwohner die Gesetze auch mal ein wenig freier auslegen, wenn es ihnen angemessen erscheint. Die Gefahr, verwarnt oder sogar verklagt zu werden, schwebt nicht ganz so bedrohlich über einem wie in einer größeren Gemeinde. Als Detective Parsons also die Kramers anrief, erzählte er ihnen nicht sofort, was passiert war, sondern erklärte, Jenny habe auf einer Party zu viel getrunken und sei ins Krankenhaus eingeliefert worden, schwebe jedoch keineswegs in Lebensgefahr. Tom war ihm hinterher dankbar, dankbar dafür, dass ihnen auf diese Weise während der Fahrt von ihren Freunden ins Krankenhaus noch ein paar Minuten Kummer und Leid erspart geblieben waren. Denn nachdem sie erst einmal von der Vergewaltigung erfahren hatten, war für Tom jede Minute genau das – unaufhörliches Leid.

Charlotte reagierte nicht ganz so verständnisvoll, weil die halbe Wahrheit des Detective zunächst dazu führte, dass sie sich über den Leichtsinn ihrer Tochter echauffierte. Bestimmt würde die ganze Stadt von Jennys Alkoholvergiftung erfahren, und was würde das für ein Licht auf die Familie werfen? Auf der Fahrt zum Krankenhaus diskutierten Tom und Charlotte über eine angemessene Strafe, überlegten, ob es wirkungsvoller sei, Jenny Hausarrest aufzubrummen oder ihr das Handy wegzunehmen. Natürlich packten Charlotte die Schuldgefühle, als sie im Krankenhaus die Wahrheit erfuhr, und aus diesem Grund regte sie sich so über die Fehlinformation auf. Das ist nur verständlich, wenn man gerade noch glaubte, Grund zu haben, sich über sein Kind zu ärgern, und dann erfährt, dass es auf brutale Weise vergewaltigt worden ist. Trotzdem konnte ich mich besser mit Toms Reaktion identifizieren, vielleicht, weil ich ein Vater bin und keine Mutter.

Das Krankenhausfoyer war leer, als sie eintrafen. Im Laufe der vergangenen Jahre hatte sich die Klinik immer wieder um Finanzierungshilfen und Nachrüstungen bemüht, und das Ergebnis war sichtbar, wenn es auch – wie manch einer unkte – eher kosmetischer als substantieller Natur war. Holzverkleidung, neuer Teppichboden, sanfte Beleuchtung und klassische Musik aus kabellosen Lautsprechern, die diskret in den Ecken hingen. Charlotte »stürmte« (Toms Ausdruck) sofort zum Empfang, und Tom stellte sich neben sie, sobald er zu ihr aufgerückt war. Mit geschlossenen Augen ließ er zu, dass die Musik ihre beruhigende Wirkung auf ihn entfaltete. Er befürchtete, dass Charlotte einen unangemessen schroffen Ton anschlug, und nahm sich vor, »ausgleichend« auf sie einzuwirken. Jenny brauchte jetzt Schlaf, sie sollte wissen, dass ihre Eltern sie trotz allem liebten und dass alles wieder gut werden würde. Die Konsequenzen konnten warten, bis sie alle wieder nüchtern waren und einen klaren Kopf hatten.

Bei den Kramers waren die Rollen innerhalb der Familie klar verteilt. Es war Charlottes Aufgabe, ihre gemeinsame Tochter zu disziplinieren, während die Rollen bei ihrem Sohn Lucas oft vertauscht waren, was wahrscheinlich an seinem Geschlecht und seinem Alter lag (er war zehn). Tom beschrieb diese Tatsache so, wie man einen blauen Himmel beschreibt – als sei alles genau so, wie es sein sollte und in jeder Familie war. Theoretisch hatte er da durchaus recht. Es gibt immer eine bestimmte Rollenverteilung, wechselnde Allianzen, einen »guten und einen bösen Bullen«. Bei den Kramers schienen sich die natürlichen Gezeiten jedoch ganz und gar Charlottes Bedürfnissen untergeordnet zu haben, so dass für die anderen Familienmitglieder nur die Rollen übrig blieben, an denen sie nicht interessiert war. Mit anderen Worten: Die Normalität, die Tom seiner Familie zu unterstellen versuchte, würde sich bald als ziemlich anormal und hinfällig erweisen.

Die Krankenschwester lächelte ihnen teilnahmsvoll zu, während sie die Tür zu den Behandlungszimmern öffnete. Die Kramers kannten sie nicht, aber das galt für den Großteil des Pflegepersonals im Krankenhaus. Die schlechter bezahlten Mitarbeiter wohnten meist nicht in Fairview, sondern im Nachbarort Cranston. Tom sollte sich später an ihr Lächeln erinnern. Es war der erste Hinweis darauf, dass die Lage ernster war, als man sie glauben gemacht hatte. Menschen unterschätzen die verborgenen Botschaften gern, die flüchtige Gesichtsausdrücke transportieren können. Wenn Sie sich jedoch das Lächeln vorstellen, das Sie einem Freund gegenüber aufsetzen würden, dessen jugendliche Tochter beim Trinken erwischt worden wäre, dann würde es eine eher scherzhafte Art von Mitgefühl ausdrücken, würde implizieren: Mach dir nichts draus, Teenager sind hart im Nehmen. Weißt du nicht mehr, wie wir damals waren? Und dann stellen Sie sich vor, wie Sie lächeln würden, wenn dieselbe Tochter vergewaltigt worden wäre. Dieses Lächeln würde aussagen: O Gott, es tut mir so leid! Das arme Mädchen! Der Unterschied liegt in den Augen, dem Hochziehen der Schultern, der Form des Mundes. Als ihn an diesem späten Abend also die Krankenschwester anlächelte, dachte Tom nicht länger darüber nach, wie er seine Frau zügeln konnte. Er dachte nur noch daran, dass er endlich seine Tochter sehen wollte.

Sie gingen durch die Sicherheitstüren in die Notaufnahme und landeten vor einem kreisrunden Empfangstresen, hinter dem die Schwestern am Computer Krankenakten bearbeiteten. Hier erwartete sie eine weitere Frau, ein weiteres beunruhigend mitleidiges Lächeln. Die Frau griff zum Telefon und ließ einen Arzt ausrufen.

Ich habe die beiden in diesem Moment vor Augen: Charlotte in ihrem beigefarbenen Cocktailkleid, die blonden Haare ordentlich hochgesteckt, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie wappnete sich für ihre Begegnung mit Jenny, für die Krankenhausmitarbeiter, die mit Sicherheit ihr Urteil über sie fällen würden. Und daneben Tom, der einen halben Kopf größer war als seine Frau und mit wachsender Sorge von einem Fuß auf den anderen trat, die Hände in die Taschen seiner Khakihose geschoben. Sein Instinkt heizte seine unkontrollierbaren Gedanken immer weiter an. Beide waren sich hinterher einig, dass ihnen die wenigen Minuten, in denen sie auf den Arzt warteten, wie Stunden vorkamen.

Die scharfsinnige Charlotte hatte rasch die drei Polizisten entdeckt, die in einer Ecke Kaffee aus Pappbechern tranken. Sie hatten den Kramers den Rücken zugedreht und unterhielten sich mit einer Krankenschwester, die in diesem Moment Charlottes Blick auffing. Ein Flüstern später drehten sich die Polizisten nach ihr um. Tom blickte in die andere Richtung, begann jedoch ebenfalls die Aufmerksamkeit wahrzunehmen, die sie auf sich zogen.

Keiner der beiden würde sich hinterher an die genauen Worte des Arztes erinnern. Als Charlotte ihn erblickte, kam ihr als Erstes der Gedanke, dass sie ihn vom Sehen kannte – seine Tochter ging in dieselbe Grundschule wie Lucas und war eine Klasse unter ihm –, was ihre Sorge um Jennys Ruf noch verstärkte. Sie hoffte inständig, dass die Geschichte nicht bis zu ihrem Sohn durchsickerte. Dr. Robert Baird. Ende dreißig, korpulent. Dünne hellbraune Haare und freundliche blaue Augen, die klein wurden, wenn er gewisse Worte sagte, Worte, bei denen er die Wangen nach oben zog. Sowohl Charlotte als auch Tom erinnerten sich später an diese Einzelheiten über den Mann, der nun begann, Jennys Verletzungen aufzuzählen. Äußerer Einriss von Damm und After … rektale und vaginale Läsionen … Hämatome an Nacken und Rücken … chirurgischer Eingriff … Stiche … Wiederherstellung.

Die Worte verließen seinen Mund und schwebten um sie herum, als entstammten sie einer fremden Sprache. Charlotte schüttelte den Kopf und wiederholte mehrmals nachdrücklich das Wort »Nein«. Sie ging davon aus, dass er sie mit den Eltern einer anderen Patientin verwechselte, und bemühte sich, ihn vor der Enthüllung weiterer Einzelheiten und der anschließenden Verlegenheit zu bewahren. Also nannte sie noch einmal ihren Nachnamen und betonte, ihre Tochter sei nur eingeliefert worden, weil sie auf einer Party »ein wenig zu tief ins Glas geschaut« habe. Tom hingegen erinnerte sich, dass er vollkommen stillgehalten hatte, als könnte er durch das Vermeiden jeglicher Geräusche die Zeit anhalten und verhindern, dass die Geschichte den Verlauf nahm, der sich abzuzeichnen begann.

Dr. Baird verstummte und warf den Polizisten einen auffordernden Blick zu, woraufhin einer von ihnen, Detective Parsons, herüberkam. Der Arzt und der Detective traten beiseite und unterhielten sich leise. Baird schüttelte den Kopf und blickte auf seine schwarzen Schuhe hinunter. Er seufzte, während Parsons entschuldigend mit den Schultern zuckte. Dann kam Baird zurück zu den Kramers. Nachdem er seine Hände wie zum Gebet gefaltet hatte, sagte er ihnen die Wahrheit, knapp und schonungslos:

Man hat Ihre Tochter hinter einem Haus an der Juniper Road im Wald gefunden. Sie wurde vergewaltigt.

Dr. Baird erinnerte sich später an den Laut, der daraufhin Tom Kramers Körper entfuhr. Es war weder ein Wort noch ein Stöhnen oder Keuchen. Etwas Derartiges hatte der Arzt noch nie zuvor gehört. Der Laut klang so, als wäre in diesem Moment ein Teil von Tom Kramer gestorben. Seine Knie gaben unter ihm nach, und er griff haltsuchend nach Baird, der seine Arme packte und ihn auf den Beinen hielt. Eine Krankenschwester eilte herbei und bot ihre Hilfe an, wollte Tom einen Stuhl holen, doch er weigerte sich, sich zu setzen. Wo ist sie?! Wo ist mein Kind?, wollte er wissen und schüttelte die Hände des Arztes ab. Blind stürmte er auf einen Vorhang zu, aber die Krankenschwester hielt ihn zurück, umfasste von hinten seine Unterarme und steuerte ihn den Flur entlang in die richtige Richtung. Sie liegt hier drüben, sagte sie. Sie wird wieder ganz gesund … im Moment schläft sie.

Nachdem sie die abgetrennte Nische erreicht hatten, in der Jenny untergebracht war, zog die Krankenschwester den Vorhang zurück.

Seit der Geburt unserer eigenen Tochter, unseres ersten Kindes – sie heißt Megan und studiert inzwischen –, erzählt mir meine Frau immer wieder davon, dass sie sich Horrorszenarien wie diese ausmalt. Zum Beispiel, als wir Megan zum ersten Mal am Steuer unseres Autos vom Grundstück fahren sahen. Als sie für ein soziales Projekt nach Afrika reiste. Als wir sie vor gefühlt hundert Jahren dabei erwischten, wie sie im Garten auf einen viel zu hohen Baum kletterte. Die Beispiele sind endlos. Jedes Mal schloss meine Frau die Augen und sah einen Haufen Schrott und menschliche Überreste am Straßenrand vor sich, einen Stammeskrieger mit Machete, vor dem unsere schluchzende Tochter kniete, ihren leblosen Körper mit abgeknicktem Hals unter dem Baum. Eltern leben jeden Tag mit der Angst um ihre Kinder, und es hängt von so vielen Faktoren ab, wie wir mit dieser Angst umgehen und sie verarbeiten, dass ich sie hier nicht alle aufzählen könnte. Meine Frau jedenfalls muss sich ihr stellen, muss die Bilder vor Augen haben, den Schmerz spüren. Anschließend verstaut sie ihre Angst in einer Kiste und stellt sie ins Regal, und wenn sie sich wieder anzuschleichen droht, kann sie die Kiste ansehen und die Angst durch sich hindurchfließen lassen. So verhindert sie, dass sie sich dauerhaft in ihr einnistet und ihr die Lebensfreude raubt.

Meine Frau hat mir die Bilder in ihrem Kopf schon oft beschrieben, hat manchmal sogar in meinen Armen geweint. Was alle ihre Schilderungen faszinierenderweise gemeinsam haben, ist der Kontrast von Reinheit und Verderbnis, von Gut und Böse. Denn was könnte reiner und besser sein als ein Kind?

In jener Nacht erblickte Tom Kramer seine Tochter in der Notaufnahme der Klinik und sah, was meine Frau sich nur ausmalte. Ein von schmalen Zöpfen eingerahmtes Gesicht voller Blutergüsse. Verschmierte schwarze Wimperntusche auf Wangen, die noch kindlich rund waren. Rosa Nagellack auf abgebrochenen Nägeln. Nur einer der Geburtsstein-Ohrstecker, die er ihr geschenkt hatte, war noch da, der andere fehlte an ihrem blutigen Ohrläppchen. Um sie herum standen Metalltische voller Instrumente und blutgetränkter Tupfer. Da die Erstversorgung noch im Gange war, hatte man sie noch nicht weggeräumt. Eine Frau im weißen Laborkittel saß neben Jennys Bett und maß ihren Blutdruck. Sie trug ein Stethoskop um den Hals und warf ihnen nur einen flüchtigen Blick zu, bevor sie wieder auf die Anzeige der schwarzen Gummipumpe sah. Eine Polizistin stand diskret in einer Ecke und gab vor, mit ihrem Notizblock beschäftigt zu sein.

So wie das eigene Leben kurz vor dem Tod noch einmal »vor dem inneren Auge abläuft«, sah Tom in diesem Moment ein neugeborenes, in eine rosa Decke gewickeltes Baby vor sich. Er spürte den warmen Atem des Neugeborenen an seinem Hals; es schlief in seinen Armen, eine winzige Faust verlor sich in seiner Handfläche. Dann sah er einen kleinen Körper, der vor ihm stand und seine Beine umarmte, hörte ein schrilles Kichern, das ein rundes Bäuchlein zum Wackeln brachte. Das Verhältnis zwischen ihm und seiner Tochter war gänzlich ungetrübt von Fehlverhalten oder Strafe, denn Letztere war allein Charlotte Kramer vorbehalten. Damit hatte sie ihrem Mann und ihrer Tochter unbeabsichtigt ein Geschenk gemacht, davon war ich überzeugt.

Die Wut auf den Angreifer folgte erst später. In diesen ersten Momenten sah, spürte und hörte Tom vor allen Dingen sein eigenes Versagen, seine Unfähigkeit, sein kleines Mädchen zu beschützen. Die Verzweiflung, die er darüber empfand, ist unermesslich und unbeschreiblich. Er begann, wie ein Kind zu weinen, während neben ihm die Krankenschwester stand und vor ihm auf dem Bett seine bleiche, leblose Tochter lag.

Charlotte Kramer blieb neben Dr. Baird stehen. Für sie war die Vergewaltigung ihrer Tochter ein Problem, das gelöst werden musste, so schockierend das auch klingen mag. Wie ein Rohrbruch, der den Keller unter Wasser gesetzt hat, oder vielleicht eher ein schlimmerer Vorfall: ein Feuer, das das gesamte Haus niedergebrannt, seine Bewohner jedoch verschont hat. Entscheidend war genau das, nämlich, dass sie noch lebten. Sofort richteten sich Charlottes Gedanken auf den Wiederaufbau des Hauses.

Sie blickte Dr. Baird mit verschränkten Armen an.

Was für eine Vergewaltigung war es?, fragte sie ihn.

Baird zögerte, weil er nicht wusste, worauf sie hinauswollte.

Charlotte spürte seine Verwirrung.

Sie wissen schon. War es ein Junge von der Party, der über die Stränge geschlagen hat?

Baird schüttelte den Kopf. Ich weiß es nicht. Detective Parsons kann Ihnen vielleicht mehr sagen.

Charlottes Frust wuchs. Der Untersuchung nach zu urteilen, meine ich. Haben Sie ein Vergewaltigungs-Kit verwendet?

Natürlich. Dazu sind wir gesetzlich verpflichtet.

Na also. Haben Sie dabei irgendetwas festgestellt, was bereits in die eine oder andere Richtung weisen könnte?

Mrs Kramer, sagte Baird, jetzt gehen Sie doch erst einmal zu Jenny, und dann besprechen wir alles Weitere in einem etwas privateren Rahmen.

Charlotte war wie vor den Kopf gestoßen, tat jedoch, was er gesagt hatte. Sie ist kein schwieriger Mensch, und falls meine Schilderung etwas anderes vermuten lässt, entspricht dies keineswegs meiner Absicht. Ich habe großen Respekt vor Charlotte Kramer. Sie hatte keine einfache Kindheit, und trotzdem sind die Spätfolgen ihres eigenen Traumas erstaunlich mild und spiegeln die Stärke ihrer seelischen Verfassung wider. Ich bin der Ansicht, dass sie ihren Mann aufrichtig liebte, auch wenn sie ihn regelmäßig »entmannte«. Und ihre Kinder liebte sie auch, beide gleich, obwohl sie an Jenny höhere Ansprüche stellte. Aber Liebe ist ein künstlicher Begriff, keine wissenschaftliche Kategorie. Jeder Einzelne von uns findet andere Worte für die Liebe, zeigt andere körperliche Reaktionen darauf. Liebe kann den einen zum Weinen bringen und den anderen zum Lächeln. Den einen wütend machen und den anderen traurig. Den einen erregen und den anderen träge und zufrieden machen.

Charlotte nahm Liebe wie durch ein Prisma wahr. Es fällt mir schwer, es zu beschreiben, ohne erneut abwertend zu klingen oder sie unsympathisch darzustellen. Sie hatte einfach das verzweifelte Bedürfnis, zu schaffen und zu erhalten, was ihr als Kind genommen worden war: eine traditionelle (ich glaube, sie sagte sogar »langweilige«) amerikanische Familie. Ihren Wohnort liebte sie deshalb so sehr, weil er voll war mit gleichgesinnten, hart arbeitenden, tugendhaften Menschen. Ihr Haus liebte sie, weil es im neuenglischen Kolonialstil erbaut war, und ihre Ehe mit Tom liebte sie, weil er ein Familienmensch war und eine gute Arbeit hatte – keine sehr gute Arbeit, aber eine solche tendiert ohnehin dazu, Männer von ihren Familien fernzuhalten. Tom war Geschäftsführer mehrerer Autohäuser, und es ist wichtig zu unterstreichen, dass er BMW, Jaguar und andere Luxusmarken im Angebot hatte. Wie ich gehört habe, ist das etwas vollkommen anderes als das »Verscherbeln« von Hyundais. Ob Charlotte Tom über diese Vorzüge hinaus liebte, wussten sie wohl beide nicht. Sie liebte ihre Kinder, weil es ihre waren und weil sie alles erfüllten, was man sich von Kindern erwartete. Sie waren intelligent, sportlich, folgsam (meistens), aber auch unordentlich, laut und albern. Sie nahmen viel Zeit und Mühe in Anspruch, was Charlotte eine sinnvolle Beschäftigung und ein Thema lieferte, über das sie beim Lunch im Country Club ausführlich mit ihren Freundinnen diskutieren konnte. Jedes Puzzleteil ihres »langweiligen« amerikanischen Lebens liebte sie heiß und innig. Deshalb wollte sie die »kaputte« Jenny so verzweifelt wieder in Ordnung bringen. Wie bereits erwähnt: Sie musste ihr Haus reparieren, ihre heile Welt.

Jenny war sediert worden, nachdem sie in der Notaufnahme eingetroffen war. Die beiden Jugendlichen, die sie gefunden hatten, erzählten, sie habe immer wieder vorübergehend das Bewusstsein verloren, ein Umstand, der wohl eher dem Schock als ihrem berauschten Zustand zuzuschreiben war. Sie hatte die Augen offen und war in der Lage, sich aufzusetzen und nach einer Weile mit ein wenig Unterstützung zu einem Gartenstuhl zu gehen. Die Teenager berichteten, sie habe sie bisweilen erkannt und gewusst, wo sie sei und was sich ereignet habe, nur um Sekunden später nicht mehr auf ihre Fragen zu reagieren. Katatonische Starre. Sie bat um Hilfe und weinte. Und dann war sie nicht mehr ansprechbar. Die Rettungssanitäter vermeldeten das gleiche Verhalten, gaben ihr jedoch keine Beruhigungsmittel, da dies ihren Grundsätzen widersprochen hätte. Erst als im Krankenhaus die Untersuchung begann, wurde Jenny hysterisch, und Dr. Baird traf die Entscheidung, ihr ein wenig Linderung zu verschaffen. Ihre Blutungen waren stark genug, um eine Medikamentengabe ohne vorheriges Einholen des elterlichen Einverständnisses zu rechtfertigen. Nur so hatte man sie weiter untersuchen können.

Dem äußeren Anschein zum Trotz war Charlotte Kramer zutiefst betroffen vom Anblick ihrer Tochter. Ich hatte sogar den Eindruck, dass sie sehr ähnlich empfand wie Tom. Auch wenn die beiden sich außerhalb ihres Schlafzimmers nur selten berührten (und auch dort nur zum mechanischen Austausch ehelicher Zärtlichkeiten), packte sie nun mit beiden Händen Toms Arm. Sie vergrub ihr Gesicht im Ärmel seines Hemds und flüsterte die Worte »O Gott«. Sie weinte nicht, aber Tom spürte, wie sich ihre Nägel in seine Haut bohrten, während sie um Fassung rang. Als sie zu schlucken versuchte, stellte sie fest, dass ihr Mund staubtrocken war.

Detective Parsons konnte durch den halbgeöffneten Vorhang die Gesichter der Kramers sehen, als sie auf ihr Kind hinabblickten. Toms Gesicht sei verzerrt und tränennass gewesen, man habe ihm seinen Kummer deutlich angesehen. Charlottes Ausdruck sei hingegen – nach ihrem kurzen ersten Ringen um Fassung – fest entschlossen gewesen. Sie habe Haltung bewahrt, so schilderte es Parsons, der sich unwohl dabei fühlte, die beiden in diesem intimen Moment zu beobachten, und der dennoch nicht den Blick abwenden konnte. Toms Schwäche und Charlottes Stärke hätten ihn erstaunt, erzählte er mir, dabei weiß jeder, der über ein komplexeres Verständnis der menschlichen Psyche verfügt, dass es in Wahrheit umgekehrt war. Es erfordert wesentlich mehr Kraft, Gefühle zuzulassen, als sie zu unterdrücken.

Dr. Baird stand hinter den Kramers und studierte das Krankenblatt, das an einer Metallklammer am Fußende von Jennys Bett hing.

Warum unterhalten wir uns nicht im Aufenthaltsraum?, schlug er vor.

Tom nickte und wischte sich die Tränen ab. Er beugte sich vor und küsste seine Tochter auf den Kopf, wobei er erneut von Schluchzern geschüttelt wurde. Charlotte strich Jenny eine Haarsträhne aus dem Gesicht und streichelte ihr dann mit dem Handrücken die Wange. Süßer Engel … süßer, süßer Engel, flüsterte sie.

Sie folgten Baird und Detective Parsons den Flur entlang zu einer verschlossenen Doppeltür. Dahinter befand sich ein weiterer Flur und an dessen Ende ein kleiner Aufenthaltsraum mit einigen Sitzmöbeln und einem Fernseher. Baird bot an, Kaffee oder etwas zu essen zu organisieren, aber die Kramers lehnten dankend ab. Der Arzt schloss daraufhin die Tür, und Parsons ließ sich neben ihm nieder, so dass sie den Kramers gegenübersaßen.

Hier Charlottes Darstellung des nun folgenden Gesprächs:

Die beiden redeten um den heißen Brei herum, fragten uns über Jennys Freunde aus, ob wir von der Party gewusst hätten, ob sie Ärger mit Jungen gehabt habe, ob jemand aus ihrer Schule oder der Stadt oder den sozialen Medien sie belästigt habe. Tom antwortete ihnen wie in Trance, als merke er gar nicht, dass wir alle dem Thema auswichen, das eigentlich zu besprechen war. Ich sage nicht, dass das keine legitimen Fragen waren, die irgendwann beantwortet werden mussten, aber ich hatte die Nase gestrichen voll, verstehen Sie? Ich wollte, dass MIR jemand Antworten lieferte! Ich gab mir wirklich Mühe, Tom die »Männerrolle« zu überlassen, weil ich weiß, wie dominant ich sein kann. Andererseits: Wenn das Haus perfekt aufgeräumt und der Kühlschrank voll und die Kleider gewaschen und gebügelt und an ihrem Ort sind, beschwert sich natürlich niemand … Na ja, wie auch immer … Ich gab mir trotzdem Mühe, weil ich weiß, wie wichtig es in einer Ehe ist, dass der Mann sich als Mann fühlt. Aber irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen, es ging einfach nicht!

Also unterbrach ich sie alle, die ganze Männerrunde, und sagte: »Einer von Ihnen muss uns jetzt bitte endlich erzählen, was mit unserer Tochter passiert ist.« Dr. Baird und der Detective sahen sich an, als wollte keiner von ihnen den Anfang machen. Der Arzt zog schließlich den Kürzeren und erzählte uns alles, erzählte uns, wie sie vergewaltigt worden war. Es war nicht so, wie ich gehofft hatte – dass der Täter ein Junge war, in den sie verliebt gewesen war, ein Junge, der die Beherrschung verloren hatte. Mein Gott, ich weiß, wie furchtbar das klingt! Jede Feministin würde mir dafür den Hals umdrehen. Ich sage ja nicht, dass es dann keine richtige Vergewaltigung gewesen wäre oder dass man den Jungen nicht hätte bestrafen müssen. Glauben Sie mir, sobald Lucas ein wenig älter ist, werde ich ihm genauestens verklickern, dass er bei allem, was er tut, ganz explizit die Zustimmung seiner Partnerin einholen muss. Ohnehin bin ich der Ansicht, dass Männer eine besondere Verantwortung tragen und sich darüber im Klaren sein sollten, dass wir Frauen ihnen beim Sex ausgeliefert sind. Nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Damit meine ich, dass Mädchen sich heutzutage immer noch unter Druck gesetzt fühlen und meinen, sie müssten Dinge tun, zu denen sie eigentlich nicht bereit sind. Und Jungen, oder Männer allgemein, haben wenig Ahnung davon, was Mädchen so alles durchmachen. Wie auch immer, was ich im Aufenthaltsraum erfuhr, war nicht das, worauf ich gehofft hatte. Im Gegenteil, es übertraf meine schlimmsten Befürchtungen. Detective Parsons steuerte die Details bei. Der Täter habe eine Sturmhaube getragen. Er habe sie auf den Boden gezwungen, ihr Gesicht auf den Boden gedrückt. Er … Tut mir leid, es fällt mir schwer, es auszusprechen. Ich höre die Worte in meinem Kopf, aber sie zu sagen ist etwas ganz anderes.

Charlotte hielt inne, um sich zu sammeln. Dabei bediente sie sich der immer gleichen Methode. Sie bestand in einem langen Einatmen, mit geschlossenen Augen, einem raschen Kopfschütteln und dann einem langsamen Ausatmen. Bevor sie die Augen wieder öffnete, senkte sie zunächst den Kopf. Anschließend nickte sie, wie um sich selbst die Kontrolle zu bestätigen, die sie zurückerlangt hatte.

Ich werde es einfach aussprechen, alles, möglichst schnell. Dann habe ich es hinter mir. Sie wurde von hinten vergewaltigt, vaginal, anal, immer abwechselnd, eine Stunde lang. Okay, ich habe es gesagt. Es ist vollbracht. Bei der Untersuchung wurden Latex- und Spermizid-Spuren gefunden. Dieser … diese Kreatur hat ein Kondom getragen. Es wurde kein einziges Haar von ihm gefunden. Die Spurensicherungsexperten, die am späten Abend aus Cranston eintrafen, sagten, er habe sich vermutlich rasiert. Können Sie sich das vorstellen? Der Kerl hat sich wie ein Olympiaschwimmer auf die Vergewaltigung vorbereitet. Aber seine Goldmedaille hat er nicht bekommen, nicht wahr? Ihre äußeren Wunden sind allesamt verheilt. Sie wird genau das Gleiche fühlen können wie jede andere Frau auch. Und was die inneren Verletzungen angeht, nun ja …

Sie hielt erneut inne, dieses Mal nicht, um sich zu fangen, sondern um Bilanz zu ziehen. Dann fuhr sie mit völlig emotionsloser Stimme fort:

Zum Glück gibt es diese Behandlung, habe ich gedacht. Alles, was er meinem kleinen Mädchen angetan hat, haben wir damit rückgängig gemacht. Entschuldigen Sie bitte die ordinäre Ausdrucksweise, aber ich dachte nur: Scheiß auf ihn. Er existiert nicht mehr.

3

Charlotte und Tom Kramer waren sich nicht einig darüber gewesen, ob Jenny der Behandlung unterzogen werden sollte oder nicht. Charlotte hatte sich schließlich durchgesetzt.

Die Entstehung und Speicherung von Erinnerungen ist ein Thema, bei dem selbst die medizinischen Fachkreise noch lange nicht ausgelernt haben. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Studien zu diesem Thema durchgeführt, und so tauchen in regelmäßigen Abständen neue Forschungsergebnisse auf. Unser Gehirn verfügt über ein Langzeit- und ein Kurzzeitgedächtnis. Das Orten und Abrufen von Erinnerungen erfolgt aus Speicherorten, die Wissenschaftler inzwischen für unermesslich groß halten. Jahrzehntelang glaubten Neurowissenschaftler, Erinnerungen würden in den Synapsen gespeichert, die unsere Gehirnzellen miteinander verbinden, und nicht in den Gehirnzellen (oder Nervenzellen) selbst. Dies gilt inzwischen als widerlegt. Heute gehen die Forscher davon aus, dass es die Nervenzellen sind, die unsere Vergangenheit enthalten. Sie haben außerdem entdeckt, dass Erinnerungen nicht statisch sind. Im Gegenteil: Sie verändern sich jedes Mal, wenn wir sie aus dem Archiv holen.

Die Behandlung, mit der man heute gezielt eine begrenzte, anterograde Amnesie traumatischer Erlebnisse herbeiführen kann, wurde nach jahrzehntelangen, immer wieder variierten Versuchen an Tieren und Menschen entdeckt. Die Versuchsreihe begann mit Morphium. Bereits in den fünfziger Jahren stellten Ärzte eine Milderung posttraumatischer Belastungsstörungen durch eine frühe, hochdosierte Gabe von Morphium fest. Es war ein durch Zufall zustande gekommenes Studienergebnis. Man hatte das Morphium Kindern verabreicht, die nach einem Feuer unter schweren Verbrennungen litten, und zwar einzig zum Zweck der Schmerzlinderung. Jene Kinder, die direkt nach dem Brand die höhere Dosis Morphium bekommen hatten, wiesen deutlich weniger Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung auf als diejenigen, die weniger oder gar kein Morphium erhalten hatten. Im Jahr 2010 wurde in einer offiziellen Publikation die positive Wirkung von Morphium auf an Verbrennungen leidende Kinder bestätigt. Seit Jahren wird Morphium, genau wie viele andere Medikamente, zur Behandlung von Soldaten an der Front eingesetzt. Forscher, die Daten bezüglich Traumata, Morphium und posttraumatischer Belastungsstörung abgeglichen hatten, stellten fest, dass eine hohe, direkt nach dem erlittenen Trauma verabreichte Dosis eine posttraumatische Belastungsstörung bei im Einsatz verletzten Männern und Frauen erheblich reduzieren kann.

Der Grund ist folgender: In jedem wachen Moment machen wir Erfahrungen. Wir sehen, spüren, hören. Unser Gehirn verarbeitet all diese Informationen und speichert sie in unserem Gedächtnis ab. Das nennt sich Gedächtniskonsolidierung. Jedes faktische Erlebnis bringt ein emotionales Pendant mit sich, und das wiederum löst eine chemische Reaktion im Gehirn aus. Diese sorgt dafür, dass die Erlebnisse im richtigen »Aktenschrank« archiviert werden, wenn man so will. Erfahrungen, die unsere Gefühle ansprechen, kommen in die abschließbaren Metallschränke. Sie werden nicht durch nachfolgende Ereignisse überschrieben und können mühelos abgerufen werden. Andere, weniger aufwühlende Erlebnisse – zum Beispiel, was wir letzten Donnerstag zu Abend gegessen haben – wandern hingegen in irgendeine beliebige Aktenmappe. Im Laufe der Zeit wird diese unter anderen Mappen vergraben, bis man sie irgendwann nicht mehr wiederfindet. Womöglich wandert sie sogar unwiderruflich in den Reißwolf. Morphium reduziert die emotionale Reaktion auf Erlebnisse, indem es das Noradrenalin blockiert. Auf diese Weise kann ein »Metallschrank-Ereignis« auf ein »Aktenmappen-Ereignis« herabgestuft werden. Dies ist die erste Komponente der Behandlung.

Da das Archivieren eines jeden Ereignisses die Interaktion von Chemikalien im Gehirn erfordert, liegt es auf der Hand, dass der Archivierungsprozess unterbrochen wird, wenn man diese Chemikalien während ihrer Arbeit beeinflusst. Deshalb führt eine durchzechte Nacht auch zu einem »Blackout«, und deshalb funktioniert eine Person unter Einfluss von Drogen wie Rohypnol (die Vergewaltigungsdroge schlechthin) zwar einigermaßen »normal«, kann sich hinterher aber an nichts erinnern. Die Archivare im Gehirn haben sozusagen Pause. Nichts wird abgespeichert, und die Erlebnisse sind vermeintlich für immer verloren, als hätten sie nie stattgefunden. Dies gilt jedoch nur für die Kurzzeitgedächtnis-Phase. Der zweite Teil der Behandlung besteht in der Verabreichung eines revolutionären Medikaments, das die Archivare angeblich während der Konsolidierung des Langzeitgedächtnisses in die Pause schickt – es hält die Synapsen während dieser Phase von der Arbeit ab, indem es die dafür nötigen Proteine hemmt. Kurzzeiterinnerungen werden so verworfen.

Das Knifflige dabei ist das Timing. Es gibt keine exakt bestimmbare Zeit zwischen Kurzzeit- und Langzeit-Konsolidierung. Jede Erinnerung beansprucht andere Areale des Gehirns, je nachdem, woraus sie besteht. Handelt es sich um einen Anblick, ein Geräusch, ein Gefühl? Ist es die Erinnerung an Musik, an Mathematik oder an eine Begegnung mit einem anderen Menschen? Das Gehirn arbeitet weiter während eines Traumas, also ist auch die Archivierung in vollem Gange. Die Behandlung muss wenige Stunden nach dem traumatischen Erlebnis erfolgt sein, und selbst dann ist ihre Wirkung möglicherweise nicht vollständig, weil es einige Vorkommnisse bereits ins Langzeitgedächtnis geschafft haben.

Bei Jenny lagen perfekte Bedingungen vor. Sie war betrunken, als die Vergewaltigung begann. Der tätliche Angriff löste zudem einen Schockzustand bei ihr aus. Eine halbe Stunde nach Beendigung der Vergewaltigung bekam sie bereits ein Beruhigungsmittel verabreicht, und knapp zwei Stunden später folgte dann die Behandlung. Als sie zwölf Stunden später erwachte, besaß sie nur noch die wenigen Erinnerungsfetzen, die ich bereits erwähnt habe.

Tom Kramer erinnerte sich ebenfalls an das Gespräch im Aufenthaltsraum der Klinik. Ich kann seine Gemütslage, während er mir diese Erinnerungen schilderte, nur ungenügend wiedergeben, deshalb werde ich lediglich seinen Wortlaut wiederholen und hinzufügen, dass er nicht weinte. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt hatte er längst keine Tränen mehr.

Ich weiß nicht mehr genau, was gesagt wurde, ich hörte nur immer wieder das Wort Vergewaltigung. Bei mir blieb hängen, dass es ein brutaler, gnadenloser Angriff gewesen war. Dass es keine Verdächtigen gab. Dass der Täter vorsichtig gewesen war, ein Kondom getragen, sich womöglich die Körperhaare abrasiert hatte. Die Polizei vermutete – und diese Vermutung wurde später durch die Forensiker bestätigt –, dass er eine schwarze Wollmaske getragen habe, eine dieser Skimützen, die fast das ganze Gesicht bedecken. Es hieß, die Vergewaltigung habe ungefähr eine Stunde gedauert. Über diesen Punkt habe ich eingehender nachgedacht, als mir guttut. Als Jenny neun Monate nach der Vergewaltigung wieder im Krankenhaus landete und mir klarwurde, dass es noch lange nicht vorbei war, ging ich nach Hause und legte mich hin, das Gesicht gegen den Boden gepresst, so wie sie angeblich dagelegen hatte. Diese Position behielt ich eine Stunde lang bei. Eine Stunde Folter ist unendlich lang, länger, als es sich irgendein Mensch vorstellen kann, das versichere ich Ihnen.

Wie auch immer … die Behandlung. Sie erklärten uns das Prozedere, beschrieben die Medikamente, die man ihr geben würde. Diese würden sie für rund vierundzwanzig Stunden in eine Art Koma versetzen und – wenn wir Glück hatten – ihre Erinnerungen an die Vergewaltigung blockieren. Auf jeden Fall würden sie, das sei gesichert, eine mögliche posttraumatische Belastungsstörung lindern. Diese könne sehr lähmend wirken und jahrelange Therapien erforderlich machen. Dr. Baird fragte, ob wir mit einem Psychiater sprechen wollten, um die Behandlung besser zu verstehen und uns von ihm erklären zu lassen, wie Jennys Leben ohne die Behandlung aussehen könnte. Allerdings verringere jede verstreichende Minute die Wirkung, fügte er noch hinzu.

Charlottes Augen wurden riesengroß. »Ja!«, sagte sie, ohne mich anzusehen. »Tun Sie es! Worauf warten Sie noch?« Sie stand auf und zeigte zur Tür, als erwartete sie, dass beide Männer hinauseilten und ihren Anweisungen sofort Folge leisteten. Ich packte sie beim Arm. Ich bin bestimmt nicht der Klügste, aber was ich gehört hatte, klang nicht richtig in meinen Ohren. Wenn sie sich nicht mehr erinnern konnte, wie sollte sie dann der Polizei helfen, diese Bestie aufzuspüren? Wie sollte sie dazu beitragen, ihren Peiniger hinter Gitter zu bringen, wie er es verdient hatte? Detective Parsons nickte und blickte zu Boden, als wüsste er genau, was ich damit sagen wollte. Er räumte ein, dass dies äußerst schwierig werden würde. Selbst wenn das Medikament nicht vollständig wirkte, würde man alles, woran sie sich noch erinnerte, im Gerichtssaal als nicht verlässlich abtun. Natürlich, das war mir auch klar! Dadurch verbauten wir uns doch alle Chancen! Damit will ich nicht sagen, dass mir das Aufspüren und Bestrafen dieses Monsters wichtiger war als die Heilung meiner Tochter. Doch während ihre Mutter diese Heilung darin sah, zu vergessen und vorzugeben, dass nichts geschehen sei, erkannte ich sie eher darin, dem Teufel ins Gesicht zu blicken, verstehen Sie? Ihm direkt in die Augen zu sehen und ein Stück dessen zurückzuholen, was er gestohlen hatte. Und damit hatte ich recht, nicht wahr? Mein Gott, ich wünschte, es wäre nicht so, aber ich hatte recht.

Ich stellte Tom die Frage, die auf der Hand lag.

»Wenn Sie so eine entschiedene Meinung zu dem Thema hatten, warum haben Sie dann zugestimmt?«

Er dachte einige Sekunden darüber nach. Ich glaube, er hatte sich selbst genau diese Frage schon Tausende Male gestellt, ohne die Antwort je laut aussprechen zu müssen. Als er es tat, sah er mich dabei verständnislos an, als müsste das doch eigentlich offensichtlich sein. Tom hatte noch nicht verstanden, dass die seiner Ehe zugrundeliegende Dynamik alles andere als offensichtlich war. Und im Übrigen auch nicht normal.

Weil Charlotte mir die Schuld gegeben hätte, wenn ich mich geirrt hätte und Jenny ohne Behandlung nicht darüber hinweggekommen wäre. Warum ich zugestimmt habe? Weil ich ein Feigling war.

4

Was ich bisher nicht erwähnt habe, ist die Einkerbung auf Jennys Rücken. Sie wird erst jetzt wirklich relevant für die Geschichte, und ich sollte sie vielleicht erklären, bevor ich fortfahre. In der Nacht, in der Jenny vergewaltigt wurde, ging alles sehr schnell. Eine halbe Stunde nachdem sie gefunden worden war, war sie im Krankenhaus und wurde sediert, ihre Eltern trafen wiederum eine halbe Stunde später ein und wurden sofort damit konfrontiert, dass sie bezüglich der Behandlung eine Entscheidung treffen mussten. Die entsprechenden Medikamente mussten vom Psychiater durch den intravenösen Zugang verabreicht werden, den eine Schwester in Jennys Handrücken gelegt hatte. Verzichtserklärungen, Formulare und Zahlungsgarantien mussten gelesen und unterschrieben werden, denn die Behandlung wurde nicht von der Krankenkasse übernommen. Und schließlich wurde Jenny für den chirurgischen Eingriff zur Behebung ihrer Verletzungen und für die gründliche gerichtsmedizinische Untersuchung vorbereitet.

Tom blieb bei ihr, bis sie in den OP gerollt wurde. Ihm kam es vor, als wäre seine Tochter in einer Autofabrik gelandet, einer Fabrik, wie er sie einmal vor Jahren besucht hatte, als er noch Ford-Händler gewesen war. Überall Metallteile, Schrauben und Muttern, Plastik und Kabel und Computerchips, Tausende Arbeiter mit fleißigen Händen und bewegliche Maschinen, die selbständig Teile zusammensetzten. Diese Bilder kamen ihm nun wieder in den Sinn, als er beobachtete, wie fünf Personen gleichzeitig an Jennys schlaffem Körper herumhantierten, während ihr Geist von Chemikalien manipuliert und gezwungen wurde weiterzuschlafen. Sie verstörten ihn zutiefst, diese Erinnerungen, genau wie sein eigenes unterwürfiges Verhalten. Er hätte seine Tochter am liebsten von der Transportliege gerissen, die Faust in die Luft gereckt und allen zugerufen, dass sie seine Tochter verdammt nochmal in Ruhe lassen sollten. Aber natürlich tat er das nicht.

Ohne auf den Unterschieden herumreiten zu wollen, verhielt sich Charlotte erneut vollkommen anders. Sie hätte sich dem betäubten Zustand ihrer Tochter am liebsten angeschlossen, wäre am liebsten eingeschlafen, um zu vergessen, dass die Vergewaltigung je passiert war. Sie sah dem Klinikpersonal nicht dabei zu, wie es seine Arbeit machte, sondern fuhr nach Hause und löste den Babysitter ab, nahm eine Schlaftablette, stopfte die Decke um den schlummernden Lucas herum fest und rollte sich auf dem Gästebett zusammen, das ebenfalls im Kinderzimmer stand. Dort lauschte sie den Atemzügen ihres Sohnes, bis sie selbst einschlief. Später erfuhr ich, dass sie das oft tat, um nicht mit Tom in einem Bett liegen zu müssen.

Nachdem die Chirurgen Jennys Genitalien und inneren Organe wieder zusammengeflickt hatten, wurde sie auf die Intensivstation verlegt. Dr. Baird kam vorbei, um nach Tom zu sehen, und kurz darauf gesellte sich auch Detective Parsons zu ihnen. Tom erfuhr nun zum ersten Mal von der Einkerbung auf dem Rücken seiner Tochter. Parsons schilderte das Gespräch später so:

Die vorläufigen Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung lagen vor. Man hatte einige Körperflüssigkeiten und Haare gefunden, die zum Test ins Labor geschickt werden mussten, wobei jedoch keine brauchbare Spur herauskommen würde, wie wir heute wissen. Im Zuge der Untersuchung war außerdem eine Einkerbung an ihrem Rücken entdeckt worden. Sie war so tief, dass sie fast schon einer Schnittwunde glich. Obwohl sie nur knapp drei Zentimeter lang war, waren siebzehn Stiche nötig, um sie zu nähen. Anfangs war die Wunde niemandem aufgefallen, weil Jennys Haut vom Waldboden verdreckt war und zahlreiche andere, oberflächliche Kratzer aufwies. Erst als man Jenny gewaschen hatte, stellte man fest, dass dieser Kratzer nicht aufhörte zu bluten. Das Spurensicherungs-Team, das den Tatort im Wald absuchte, fand einen Stock, der an einem Ende mit einem scharfen Gegenstand zugespitzt worden war und aussah wie ein kleiner Speer. Er war nur etwa dreißig Zentimeter lang, und die daran befindlichen Hautreste stammten allesamt von Jenny, aber es wurden auch einige Fasern entdeckt, die sich als Neopren herausstellten. Dieses Material kommt unter anderem für die Herstellung von Sporthandschuhen zum Einsatz. Wir vermuten, dass der Täter den Speer wie ein Schnitzmesser verwendete und damit Jennys Rücken einritzte, indem er nach und nach die Hautschichten wegraspelte.

Detective Parsons ist ein junger Mann von einunddreißig Jahren, was vielleicht erklärt, warum er den Kramers in jener Nacht kein noch so grausames Detail über die Vergewaltigung ihrer Tochter ersparte. Mit der Jugend geht oft die Unfähigkeit einher, sich die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen vorzustellen. Es ist eine der großen Tragödien der menschlichen Existenz, dass wir erst lernen, uns angemessen zu benehmen, wenn uns nicht mehr viel Zeit dazu bleibt.

In Fairview herrscht normalerweise nicht viel Bedarf an Kriminalbeamten. Die Arbeit hier ist für die meisten entweder das Sprungbrett zu einem »aktiveren« Job in einer größeren Stadt, zum Beispiel dem benachbarten Cranston, oder ein Schritt in Richtung Pensionierung. Parsons ist kein schlechter Detective, doch mit seiner relativen Unerfahrenheit ging eine gewisse Unbeholfenheit bei der Schilderung der »intimen« Einzelheiten der Vergewaltigung einher. Sein Bestreben, neutral und professionell zu wirken, verriet im Gegenteil, wie groß sein Interesse in Wirklichkeit war. Sein Verhalten war verstörend, doch wie gesagt: Unsere menschliche Faszination für Dinge, die grausam und pervers sind, bedeutet noch lange nicht, dass wir böse sind. Wir geben uns die größte Mühe, diese Faszination zu verbergen, und genau das tat auch Detective Parsons, als er fortfuhr:

Unsere Spezialisten für Vergewaltigung in Cranston zweifelten zunächst den Zeitrahmen an, in dem sich die Tat abgespielt hatte. Eine Stunde ist ungewöhnlich für eine Vergewaltigung an einem öffentlichen Ort. In jener Nacht wäre es zwar schwierig gewesen, die Tat im Wald zu erspähen, denn es war Neumond und zudem bewölkt, aber das Opfer befand sich in Hörweite von jedem, der auf dem Weg zu oder von der Party die Straße entlanglief, und natürlich erst recht in Hörweite von Partygästen, die in den Garten hinausgingen, wie die beiden Zeugen, die später tatsächlich ihre Schreie hörten und ihr zu Hilfe kamen. Trotzdem: Die medizinischen Fakten sprachen unmissverständlich für die zeitliche Länge von einer Stunde. Als unsere Spezialisten von dem Stock und der Ritzwunde hörten, kam ihnen alles schon deutlich plausibler vor. Sie glauben, dass der Täter seine zahlreichen (an dieser Stelle legte er bei seinem Bericht eine merkwürdig lange Pause ein) Penetrationen immer wieder unterbrach, um weitere Hautschichten wegzukratzen. Die Einkerbung befand sich an ihrem unteren Rücken. An dieser Stelle lassen sich junge Mädchen gern tätowieren. Unsere Experten glauben, dass der Täter sie sozusagen markieren wollte. Vielleicht hat er aber auch nur das Auf und Ab aus vorübergehender Linderung der Schmerzen und erneut aufflammender Panik genossen, das er mit seinen Unterbrechungen bei Jenny erzeugte, und ihr Zusammenzucken, wenn sie die Spitze des Stocks in ihrer Haut spürte (erneut folgte eine lange, diesmal nachdenkliche Pause). Damit durchlief der Täter möglicherweise einen Kreislauf aus auf- und abebbender Erregung und lud seine Batterien mit dem Schnitzen immer wieder neu auf, so zumindest die Vermutung der Spezialisten. Das hat unsere Theorien in eine ganz neue Richtung gelenkt. Der Täter ist sogar noch psychopathischer veranlagt, als wir ursprünglich angenommen hatten, und das will etwas heißen.