Darling Days - iO Tillett Wright - E-Book

Darling Days E-Book

iO Tillett Wright

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Beschreibung

Mit sechs will iO kein Mädchen mehr sein. Im New Yorker East Village Ende der 80er sind unorthodoxe Entscheidungen Trumpf: Also gibt sich iO als Junge aus. Und wächst auf in einem rauen, grenzenlosen Wunderland, zwischen Drag Queens, Performancekünstlern und den Freunden seiner [sic!] Patentante Nan Goldin … Darling Days erzählt von der Suche nach Authentizität an einem verlorenen Ort – ein unwiderstehliches, ein heftiges Buch.
Als eine Gruppe Jungs im Central Park die sechsjährige iO ausgrenzen, ist die Entscheidung gefallen: iO ist jetzt ein Junge. Die Mutter unterstützt den Schritt, schließlich leben die beiden in einem Brownstone, in dem Anderssein gelebt wird, in dem ungarische Filmemacher, alt gewordene Pornostars und Künstler zusammen mit all den anderen Freaks die Gegenkultur feiern. Für iO beginnt ein Leben zwischen den Geschlechtern, befreit von starren Kategorien, am Rande des Chaos und an der Seite einer Mutter, deren Fürsorge außer Kontrolle gerät …

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Seitenzahl: 537

Veröffentlichungsjahr: 2017

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iO Tillett Wright

DARLING DAYS

Mein Leben zwischen den Geschlechtern

Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann

Suhrkamp

Inhalt

Liebe Ma

1    ERBGANG

1 Babygirls Knarre

2 Niederkunft

3 Fernando

4 Ich werde fünf

5 Alexander Newski

6 Meine Haare kommen ab

7 Die Invasion

8 Der lila Umhang

9 Poppa …

10 Pinkeln

11 Comicmond

12 Zack

13 Budapest

14 Mein Gedicht für das Jahrbuch der dritten Klasse

15 Der Umzug

16 Er hat Eier

17 Fourth Street

18 Rafik aus der Tierhandlung

19 Kalte Platte

20 Camouflage

21 PCS

22 Rocky

23 Orangensaft

24 Kletterpartie

25 Eine völlig neue Welt

26 Renee

27 Der Tag

28 Im Labyrinth

29 Der Ausbruch

30 Messer und Gabel

31 Karlsruhe

32 Bei Barbara

2    SELBSTBESTIMMUNG

33 Der Rausschmiss

34 Schenk mir das Leben

35 Das erste Mal

36 Wildwuchs

37 Geoutet

38 Zu bald

39 Runde zwei

40 Homecoming

41 Die Geschichte mit dem Krankenhaus

42 Leb wohl, Freundin

43 Die Antwort

44 Blaues Auge

45 Das Stück Scheiße im Mittelpunkt des Universums

46 Schlaf ist mein Kokon

47 Der Tod von Blue Pea

48 Leichen

49 Die OP

50 Abschied

51 Die Brücke

Nicht zu vergessen

Wenn es nicht höllisch weh tut, ist es einen Scheiß wert.

– Meine Ma

8. Januar 2016

Liebe Ma,

seit ich denken kann, warst du eine Gladiatorin für mich – ein leuchtendes Vorbild an weiblicher Stärke.

Für mich sind wir Zwillinge, die einander in der Dunkelheit sehen, in einer Welt von Schweigen hören, trotz der Traumaschichten, die in unsere gemeinsame Geschichte eingelagert sind. Du bist die Priesterin an der Spitze meines winzigen Ein-Seelen-Stamms.

Seit ich weiß, wie man ein Telefon benutzt, wendet die Familie sich an mich, wenn sie dich erreichen will. Ich bin die Stimme an deinem Ohr, die einzige, die dich im Dschungel von New York aufspüren kann, denn mich rufst du immer zurück.

Als niemand sonst dich erreichen konnte, musste ich dir die Nachricht vom Tod deiner Mutter beibringen. Du schriest auf wie ein waidwundes Tier. Die Erkenntnis, dass dein Verlust mich irgendwann ebenso treffen würde, war so unerträglich, dass ich auflegen musste.

Wir waren für Jahre unzertrennliche Freundinnen. Lange bevor wir uns zankten und anschrien und schließlich vor Gericht landeten.

Darum ist es mir wichtig, ein paar Dinge vorwegzuschicken, ehe du diese Geschichten und Episoden liest, in denen ich versuche, mein Leben nachzuzeichnen.

Viele wundern sich, dass ich »trotzdem so normal geraten bin«. Sie fragen, wie es kommt, dass ich nicht wütend bin, keine kaputte Existenz, dass ich nicht umgekehrt andere misshandle und verletze.

Sie finden es merkwürdig, dass ich mich mit dir ausgesöhnt habe.

Natürlich hat es Spuren hinterlassen. Meine zahllosen Narben zeugen davon. Und in den gerade mal dreißig Jahren meines Lebens habe ich genug Menschen verletzt, Vertrauen missbraucht, Verwirrung und Enttäuschung verursacht. Ich habe mich lange am Rande eines Ozeans von Wut bewegt, immer knapp vorbei an den lähmenden Angstzuständen, die mich zuletzt einholen würden.

Ich habe dreißig Jahre gebraucht, um aus dem Sandsturm von Gefühlen in mir Glas zu gewinnen, aber jetzt, da ich mich akzeptiert fühle, da ich gelernt habe, was Glücklichsein ist, und mir meine eigene Welt aufgebaut habe, erkenne ich dieses Glas als das, was es ist: ein wunderbares Geschenk, die Linse, die mich sehen lässt, dass ich statt einer »Mom« einen moralischen Kompass mitbekommen habe.

Deine Einsamkeit, deine rigide körperliche Disziplin, die funkelnde Originalität in deinem Blick, all diese Dinge sind deine Geschenke an mich.

Deinen Dämon – den dunklen Fremden, der in so vielen Nächten Macht über dich gewann, deine Güte auslöschte und deinen Speichel zu Gift werden ließ – ich kann ihn dir nicht verdenken.

Ich neige meinen Kopf in demütigem Respekt vor deinem Verlust, Ma.

Du hast mir von klein auf die Geschichte von Billy, eurer unbändigen Liebe und seiner Ermordung erzählt. Nichts anderes hat mich je so im Herzen berührt oder ein so tiefes Mitgefühl in mir geweckt wie die Grausamkeit deines Verlusts so kurz bevor ich in diese Welt kam. Wie hätte ich dich hassen können?

Ich glaube, ich begriff es schon als ganz kleines Kind; Billy ist dir entrissen worden, eine Tragödie, ohne die es mich nie gegeben hätte, daher warst du meinem Schutz befohlen.

Viele finden es mutig von mir, dass ich auf die Bühne gehe und offen dazu stehe, wer und was ich bin, aber mich zu verstecken ist mir fremd, das habe ich von dir.

Ihr habt mir das Wichtigste geschenkt, das zwei Eltern ihrem Kind mitgeben können: euren Respekt. Meine Achtung vor mir selbst.

Ganz egal, ob du Verständnis für mein Bedürfnis nach einem sauberen Zuhause mit regelmäßigen Mahlzeiten hattest oder dafür, dass ich wissen wollte, welche Version von dir abends zu mir nach Hause kam; ob du begreifst, wie überzogen die professionellen Ansprüche waren, die du an mich gestellt hast, ein Kind, das einfach spielen wollte; obwohl deine Abhängigkeiten über so viele Jahre verheerend für unsere Beziehung waren – ich verstehe es.

Ich hoffe, dass wir, nachdem wir nun endlich wissen, wo Billy seine letzte Ruhe gefunden hat, einen Weg finden, seine sterblichen Überreste zu bergen und die offene Wunde zu schließen, die dich drei Jahrzehnte lang definiert hat.

Ich will tun, was in meiner Macht steht, damit du auch ohne die Medikation mit chemischen Keulen und ungenießbarem Fusel Frieden findest, nicht länger die einsamste Wölfin bist.

Durch dich weiß ich, was Vergebung ist.

Durch dich weiß ich, was Liebe ist.

Für immer, Dein Bud

1     ERBGANG

Sie

1BABYGIRLS KNARRE

13 Third Avenue, New York City, 1982

Sie sagte, er habe ihr die kleine Pistole gegeben, weil sie schick und elegant sei, so wie sie. Ein femininer Touch von Metall und Perlmutt. Tödlich, so wie sie. Sie verwahrte sie unter ihrem Kopfkissen, »nur für den Fall«.

Ihr Bett stand da, wo es immer stehen wird, unter einem offenen Fenster, dieses blickte auf die Third Avenue. 1981 war ihr Kopfkissen die Füllung eines Kopf-Pistole-Sandwichs, heute benutzt sie kein Kopfkissen mehr.

Damals band sie ihre blondgefärbten Sexbombenlocken zu einem Pferdeschwanz zusammen, wenn sie schlief, immer mit ihrem Mann, Billy. Unter einem Berg von Decken im Winter oder schwitzend nackt im Sommer, aber immer mit ihrem Mann.

Das Fenster glotzte mit aufgerissenem Mund wie ein loyaler Trottel, ob von der Sonne geknüppelt oder Regentropfen sabbernd, der Unterkiefer hing, wo er war. Das Fenster blieb offen.

Die Welt meiner Mutter war ein Tohuwabohu der Improvisation, alles war im Fluss und nichts vorhersehbar, bis auf das offene Fenster und das laufende Radio. Rhythmus in der Luft. »Leben! Im Äther«, sagte sie immer. Es blieb an. Sie fixierte den An-Schalter mit Klebeband. Von Babygirls Radio hatte man die Finger zu lassen.

Später würde sie behaupten, niemals eine Waffe in der Wohnung gehabt zu haben. Sie schwor darauf wie eine Mafiabraut, blind vor Leidenschaft oder Loyalität. So oder so nicht die ganze Wahrheit. Es gab die Waffe unter ihrem Kopfkissen. Ob er sie zog oder nicht, bevor sie ihn erschossen, weiß niemand.

Die beiden

2NIEDERKUNFT

Third Street zwischen Second Avenue und der Bowery, Spätsommer 1985

Es war Vollmond in der letzten Augustnacht 1985. Meine Mutter sagte meinem Vater, er solle die Videokamera einschalten, das Baby sei unterwegs.

Draußen war es drückend heiß, die Art von Luft, die man greifen kann. Mutter watet Uptown durch warmen Pudding zu einem Schwimmbad in Hell’s Kitchen. Zwei Wochen vorher, der Bauch so groß wie ein Basketball, hatte sie im Russischen Bad im Bikini für eine junge Fotografin posiert, die ihr gesagt hatte, Schwimmen sei das einzig Wahre, um ihr Becken für die Geburt zu lockern. Von da an war sie jeden Tag schwimmen gegangen.

Geräusche breiten sich im Sommer anders aus. Hupen sind lauter, Schreie durchdringender, Pfiffe machen einen Staffellauf, um arschwackelnden Booty-Shorts mehrere Blöcke weit zu folgen. Mitte der Achtziger flackerten die Straßenlampen der Ninth Avenue über müllübersäten Bürgersteigen, den Karren von Obsthändlern, den ausgespreizten Leibern von Cracksüchtigen, die den Asphalt umarmten, die spitzen Rippen entblößt in der Hitze.

Dreispurig fahrende Autoscheinwerfer durchschneiden die Dunkelheit und machen Dick-Tracy-Comics aus den zahllosen schattenhaften Deals, die in Türeingängen laufen, Pupillen geweitet von Tausenden synthetischen Euphorien, Kids aus den besseren Gegenden in Brooks Brothers und eine Horde Perlenohrringe, aus deren Sicht Hell’s Kitchen »Downtown« war, die Szene, um sich mit Drogen einzudecken. Im Gegenlicht der Scheinwerfer muskelbepackte Transen-Nutten, die auf High Heels zwischen ihren Zwanzig-Dollar-Freiern einherstaksen. Sie haben Teppichmesser in den Strumpfbändern, für den Fall, dass dieser Abend der Abend sein sollte, an dem irgendein dummes Arschloch sich von seinen Rosenkranzkomplexen übermannen lassen würde, nachdem er auf ihren Minirock abgespritzt hat. Rhonda mit ihren fast eins achtzig und breiten Schultern, die Augen chlorgerötet, war perfekt an die hiesige Fauna angepasst.

Für Frauen wie meine Mutter wurde die Bezeichnung Glamazone geprägt. Grace Jones besaß die gleiche Strenge und Statur. Mische einen Teil Einhorn, drei Teile Gewittersturm, zwei Teile verwundeter Kampfstier, dann hast du so ungefähr den Vibe, der meine Mutter umgab. Ein rasender Tiger hätte schlechte Karten gegen sie gehabt. Kinnlanges, blondiertes Haar, kristallblaue Augen. Ihr Kopf ist für den Schulterpolster-Look geschaffen, kantig und akzentuiert, das Gesicht von einer griechisch-römischen Nase dominiert, die sich zu knallroten Lippen hinabschwingt, voll und fein gezeichnet, über einer so eindrucksvollen Kauleiste, dass wir sie ihre Klaviertasten nennen. Ihre Muskeln rollen wie Stahltrossen über ihre schnittigen Knochen, und sie wirft sich in die Brust wie eine Stammeskriegerin, die Hände wie gemacht, um ein Schwert zu führen.

Die Siebziger und Achtziger in New York waren primitive Zeiten, eine Zeit der Raubüberfälle, Drogen und Vergewaltigungen, daher musste ein Profimodel, das auf Miniröcke und hautenge Jeans stand, die Zähne zeigen können. Sie gewöhnte sich einen Killerblick an, bei dem Männer sich einnässten. Einmal schleppte sie eine durchgebrochene Neonröhre durch die Stadt und drohte Straßengangstern damit wie mit einem schartigen Speer.

Aber an jenem Abend war meine Mutter bei allem Temperament gehandicapt und angreifbar. Sie sah aus wie ein Teenager, der seinen Rucksack vorne trägt, denn außer am Bauch hatte sie während ihrer Schwangerschaft kaum zugenommen. Sie trug ihre unbändigen blonden Locken zurückgekämmt, ihre Haut war rein und klar, mit diesem rosigen Strahlen schwangerer Frauen. Ihre knallroten, ultrakurzen Shorts bekam sie schon seit Wochen nicht mehr zu, darum hatte sie immer den Reißverschluss offen und den Bund heruntergerollt. Schwangerschaftskleidung hatte in ihrer Welt nichts verloren.

Als sie Richtung Times Square ging, an dem es vor Fünfundzwanzig-Cent-Peep-Shows und Fünfundzwanzig-Dollar-Nutten nur so wimmelte, trat ein Händler unter seiner Markise hervor und sagte: »Mein Gott, ich hab noch nie so was Schönes gesehen!«

Meine Eltern lebten damals in einem berüchtigten Block: Third Street zwischen Second Avenue und der Bowery, eine heute denkbar harmlose Adresse. Der blutverkrustete Bodensatz von gebrauchten Nadeln und Crack-Pfeifen, der Faulschlamm von Hoffnungslosigkeit, Müll und Mord, die unheimlichen Spuren, die sich in diese miesen Behausungen eingefressen haben, sind längst verblasst und ausgewaschen worden.

Meine Eltern und ihre Szene waren vor dem glänzenden 7-Eleven und den 30-Dollar-Brunch-Specials da, tummelten sich dort in ihren hochgeschnittenen Jeans und aufgeschlagenen Kragen, mit wildtoupierten Haaren und ließen Rap, Jazz und No-Wave aus ihren Ghettoblastern ballern. Bevor das East Village zum »NYU-Viertel« ausgerufen wurde, musste man seinen Dealer vom Münztelefon anrufen und zum Fenster hochbrüllen, um reingelassen zu werden.

Das Bowery Hotel, in dem heute an den Wochenenden Filmsternchen eine glamouröse Bleibe finden, war damals eine rund um die Uhr geöffnete Tanke, die meiner Mutter mitten in der Nacht radioaktives Vindaloo auf Styroportellern servierte. Zwei räudige Köter lungerten zwischen den Zapfsäulen herum, so verdreckt und auspuffgasverseucht, dass der eine ein grünes Fell bekommen hatte, der andere ein blaues.

Die Straße war auch schon an der Schwelle zum vorigen Jahrhundert kein Zuckerschlecken, als man Einwanderer in die Wohnungen gepackt hatte, sechs in jedes Zimmer. Aber selbst 1985, die Stadt ohnehin pleite und im Chaos versunken, in der Schlussphase von Punk und in der Hochphase der Aids- und Crack-Epidemie, stach die Third Street durch ihre besonders raffinierte Gewalttätigkeit heraus, ein Kaleidoskop des Irrsinns.

Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber dem Haus, in dem wir wohnten, befand sich das größte Männerasyl von New York. Damit war der Block die Abladestelle für Obdachlose aus dem ganzen Land gemacht, die eiternde Armbeuge für die Süchtigen des Landes, für die Vagabunden und die Verrückten, das Ellis Island der kriminellen Geisteskranken. Amerika hatte seine Gestörten ein Jahrzehnt lang sich selbst überlassen und unter all diejenigen gemischt, die durch das soziale Netz gefallen waren – die Gescheiterten, Gestrandeten, Vergessenen – und dieses giftige Gebräu, in jedem anderen Winkel des Landes unerwünscht, wurde wie der Müll mit Lastkähnen in unsere Straße verfrachtet und hier gelöscht, was sie für jeden Penner von hier bis Texas zum schwärenden Anlaufpunkt machte. Das Ergebnis war ein permanenter niedrigschwelliger Krawall.

Meine Mutter guckte vom Fenster auf die Leute herunter, die unten wie Ameisen herumquirlten, und sagte: »Guck sie dir an. Amerikas psychisch kranke Randexistenzen, für die sich kein Psychiater interessiert. Um zu überleben, bleibt ihnen bloß die Selbstmedikation, und alles, was sie zur Verfügung haben, sind Hämmer: Heroin, Crack und eine Flasche Night Train.«

Und viele überlebten es nicht. Nachts lagen da so viele Obdachlose schlafend aufgereiht, dass man kaum den Bürgersteig sehen konnte. Hin und wieder kam morgens ein Krankenwagen, um einen »Langschläfer« mitzunehmen, und ließ eine graue Silhouette auf dem Beton zurück, wo die Leiche ausgelaufen war.

Auf der Ecke gegenüber der Tankstelle hatte die Heilsarmee eine Unterkunft für straffällig gewordene Jugendliche eingerichtet, eine Resozialisierungseinrichtung für hoffnungslose Fälle, die praktisch als Vorbereitungsschule für ein Leben auf der anderen Straßenseite fungierte. Im Wochentakt fuhr ein Streifenwagen vor, und zwei Polizisten führten einen Jungen in Handschellen ins Gebäude, den sie wegen Raubes eingelocht hatten oder weil er irgendwo in einem Treppenhaus eine japanische Touristin vergewaltigt hatte.

Um die Mischung perfekt zu machen, unterhielten die Hells Angels ihr Ostküstenhauptquartier und Clubhaus eine Seitenstraße weiter, und gelegentlich heizten sie die Straße lang, dreißig Mann im Pulk, ohne Schalldämpfer an ihren Maschinen, und gaben sich redlich Mühe, irgendwo eine Schlägerei anzuzetteln.

Am 4. Juli jedes Jahres zerlegten sie den ganzen Block. Eine zwei Stockwerke hohe amerikanische Flagge wurde quer über die Straße gespannt und erzitterte unter ohrenbetäubenden Wellen von psychotischem Heavy Metal, der aus stadionrockgroßen Lautsprechern dröhnte, die sie in ihre Clubhaus-Fenster zwängten. In einem Jahr explodierte ein M-80-Böller in einer verschlossenen Mülltonne, und ein dreieckiges Schrapnell aus verzinktem Stahlblech durchschlug den Hals eines puerto-ricanischen Kindes aus der Nachbarschaft und tötete es auf der Stelle.

Die Polizei tat, was sie konnte, um sich außerhalb unseres vier Blocks umfassenden Sperrkreises zu halten, den sie ganz offen als »Arschloch des Universums« bezeichnete. Wir nannten es Zuhause.

Dreieinhalb Monate vor ihrem kurzen Badevergnügen in Hell’s Kitchen, in einer Wohnung, von der aus man dieses ganze Miasma überblickte, war meine Mutter um zwei Uhr morgens auf und kochte sich etwas. Sie hatte die vergangenen zwölf Wochen fieberhaft versucht, ein hartnäckiges Pölsterchen um die Körpermitte abzutrainieren. Mein Vater, der sie im Dunkeln beobachtete, sah ihre linke Hand schützend über dem Bauch liegen und wusste sofort Bescheid. Es war die anmutige, natürliche Pose der Schwangeren, die man auf Tausenden von Fresken und Altarbildern findet.

»Du bist schwanger, Rhonna. Wir bekommen ein Baby.«

Ohne Kontext könnte es als ein rührender Moment erscheinen, als schöne Entwicklung in der Beziehung eines jungen Paares, das sich womöglich darauf freut, Kinder zu bekommen und den Traum vom eigenen Häuschen zu verwirklichen. Dieses Missverständnis will ich gleich ausräumen: Meine Eltern waren in den Achtzigern einfach geil aufeinander. Wenn wir schon jemanden für meine Existenz verantwortlich machen müssen, würde ich es auf die Badewanne schieben. Gott weiß, wie viele Beziehungen und wahrscheinlich auch Babys der Achtziger auf die Mietwohnungswanne zurückzuführen sind.

Dazu muss man wissen: Wenn man in einem alten Mietshaus eine Zweizimmerwohnung mit Durchgangszimmern betrat, stand man direkt in der Küche. Vor sich hatte man Herd und Kühlschrank, und etwa fünf Zentimeter neben dem rechten Ellbogen eine mit weißem Porzellan beschichtete Eisenbadewanne, eine kurze mit kleinen Löwentatzen-Füßen aus der Zeit der Jahrhundertwende, gebaut für einen kleinen Menschen. In unserer Wohnung war links davon ein düsteres Schlafzimmer und rechts ein sonniges Wohnzimmer.

Die Menschen unterschätzen die maßgebliche Rolle einer Wanne in der Küche für die sexuelle Spannkraft einer Boheme-Existenz. Das Leben wird gleich prickelnder, wenn Freunde in der Wanne baden, während man das Abendessen kocht. Ein sinnlicher Ausnahmezustand.

Mit einem Arm voller Schallplatten und einer Whiskyflasche in der Hand, ansonsten nur Beine und ein dünnes Sommerfähnchen, war meine Mutter damals bei meinem Vater aufgekreuzt. Er war ihr schon vorher begegnet, einmal, als sie bei einer Cocktailparty auf der Upper West Side nackt in einem Dreieck aus Sonnenlicht lag, und ein zweites Mal auf der Straße, ihren gesamten Besitz in zwei Plastiktüten, die sie verzweifelt umklammerte. Frisch verwitwet, hilflos ihrem Schmerz und ihren Ängsten ausgeliefert und von zu Freiern mutierten »Freunden« gestalkt – Knackis, die sich an sie gehängt hatten, seit ihr Mann unter mysteriösen Umständen von der Polizei ermordet worden war.

Eine Woche nach ihrer zweiten Begegnung flogen beide aus einem Nachtclub, weil sie selbst mitgebrachte Drinks konsumiert hatten. Ein Rausschmeißer packte sie am Kragen, dätschte ihre Köpfe aneinander und schmiss sie, beide lachend, auf die Straße. Zu dem Zeitpunkt hatte mein Vater bereits genug von ihr gesehen, um sie als verstörte, suizidale Ophelia in einer Avantgarde-Filmversion von Hamlet zu besetzen, an der er seit einigen Wochen drehte.

»Hamlet« pennte in der Wohnung unter einer braunen Decke in einer Ecke des Wohnzimmers, umgeben von seinen selbstgemalten Bildern. Er war ein junger Freund meines Vaters, den ich später als Onkel Crispy kennenlernen sollte – ein sehniges Kerlchen mit einem wilden Lockenschopf und langen Wimpern über großen braunen Rehaugen, der mit seiner heiseren Stricherstimme einen Scheiß laberte, als müsste er ein paar Millionen Sätze durch den Engpass seines Mundes quetschen, bevor ihm das Kleingeld ausgeht. Crispy war komplett damit ausgelastet, seine Pflichten als Hauptdarsteller zu vernachlässigen, mit Rhonna zu flirten und andauernd hektisch aus dem Haus zu rennen.

Sie war derweil jede Nacht auf, heulte alte Schmachtfetzen zurück in dröhnende Lautsprecherboxen und kippte sich Johnnie Walker hinter die Binde, in nichts als einem hautengen chinaroten Pullover. Dieser ewige nackte Tornado von Energie und Schönheit in seiner Küche brachte ordentlichen Wirbel in das Leben meines Vaters. Eins führte zum anderen, und die romantische Verstrickung war nicht aufzuhalten.

Die folgenden stürmischen drei Monate sah mein Vater Rhonna niemals wirklich schlafen. Er kann sich nicht mal erinnern, sie liegen gesehen zu haben. Es war schon ein Kunststück, sie zum Sitzen zu bewegen, denn sie war der aufste, körperlich aktivste Mensch, den er je gekannt hatte. Ihr Fitnessprogramm war besonders radikal und schonungslos, ihre Ernährung ebenso, und sie setzte alles daran, beweglich und unverschämt dünn zu bleiben.

In letzter Zeit hatte sie härter denn je an sich gearbeitet und auf sich aufgepasst, weil sie meinte, um die Mitte herum etwas zugelegt zu haben, was nicht mit dem Auftritt im Nightclub vereinbar war, für den sie jeden Tag in einem Theater in der Nähe probte. Was sie auch tat, sie wurde dieses Pölsterchen nicht los, und so kam es, dass er, als er sie in jener Nacht um zwei Uhr morgens am Herd stehen und schützend die Hand über etwas in ihrem Inneren legen sah, blitzartig begriff, dass sie etwas beschützte: Sie beschützte mich.

»So ein Schwachsinn. Ich kenn doch meinen eigenen Körper. Ich bin nicht schwanger. Glaubst du nicht, dass ich es als Allererste gemerkt hätte, wenn ich schwanger wäre?«

Doch er blieb hartnäckig, wies auf die Beweislage hin, und schließlich marschierte sie zu einer Nacht-Apotheke, um einen dieser Tests zu besorgen. Innerhalb weniger Stunden sahen sie sich mit einer unfassbaren Wahrheit konfrontiert: Sie würden ein Kind bekommen.

Am nächsten Morgen rannte mein Vater schreiend und jammernd zu seinem alten Freund Francesco und dessen Frau Alba, die mehrere Kinder hatten. Als Alba sah, dass er vor Angst außer sich war, zwang sie ihn, sich hinzusetzen, und sagte auf total entspannte italienische Art: »So etwas plant man nicht, Ilya. Kinder kommen mit dem Brot. Jeden Tag wird das Brot geliefert, und eines Tages ist ein Baby mit dabei. Dann bleibt dir nichts weiter übrig, als es zu akzeptieren.«

Als er protestierte, er hätte ja keine Ahnung, wie man ein Kind versorgt, sagte sie: »Keine Angst. Das Kind wird dir alles beibringen, was du wissen musst. Der beste Lehrer der Welt wird dir da geboren. Sie haben ein probates Mittel, das heißt Schreien, das wenden sie an, wenn sie etwas brauchen. Du wirst genau wissen, was du zu tun hast, denn das Baby wird es dir sagen. Du musst nur zuhören. Nicht bestimmen wollen, sondern zuhören.«

Meine Eltern hatten nie vorgehabt, ein Paar zu werden oder einen gemeinsamen Hausstand zu gründen, aber an diesem Tag schlossen sie einen Pakt: Egal, wie es zwischen ihnen weigerging, sie würden für dieses Kind sorgen, und falls sie dabei versagen sollten, würden sie zumindest dafür sorgen, dass es jemand anderes tat. Sie beschlossen: Sie würden ihre unterschiedlichen Lebensstile gegenseitig respektieren, sich niemals vor dem Kind in die Haare kriegen und vor allem niemals die Polizei rufen. Wie schlimm es auch kommen würde, kein Richter sollte ihnen vorschreiben, wie sie mit diesem Kind zu verfahren hatten.

Sie informierten sich eingehend über alle Optionen, um ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, und entschieden sich schließlich für eine Hausgeburt mit Hebamme. Meine Mutter ließ die Finger vom Whisky und konzentrierte ihre beträchtliche Energie darauf, das gesündeste letzte Trimester aller Zeiten hinter sich zu bringen.

Was uns zu dem drückend schwülen Abend Ende August zurückbringt. Mein Vater stand an der Ecke Third Street und Bowery und redete mit seinem Freund Jean-Michel über dessen neues Klappfahrrad. Der junge Maler trug einen kompletten dreiteiligen Tweedanzug und schwitzte sich halbtot, und mein Vater machte ihm Vorhaltungen, wie gefährlich so etwas bei dieser Hitze sei. Jean-Michel ließ sich aber nicht bemuttern, sondern deutete mit dem Kopf über die Schulter meines Vaters und sagte: »Ich glaube, du hast im Moment andere Sorgen.«

Seth drehte sich um und sah Rhonna durch den Verkehr auf ihrer Straße kommen. Mehrere Taschen schleppend, nahm sie noch eine Spur weniger von der Kakophonie um sie herum wahr als sonst, und sie schien Schmerzen zu haben. Er eilte in ihre Richtung, und als er ihr die Treppe hochhalf, erklärte sie ihm, es habe angefangen.

»Ich muss schwimmen gehen.«

Als sie an jenem Abend von Hell’s Kitchen zurückkam, platze der riesige Mond fast am Himmel und unterwarf die Stadt seinen mächtigen Gezeiten. Für sie gab es keinerlei Zweifel daran, dass das Baby nun käme. Die unregelmäßigen Wehen bestätigten das.

Mein Vater griff zum Telefon und rief die Hebamme an, mit der sie geübt hatten. Beide fanden die Vorstellung scheußlich, ein Kind zwischen Kranken und Sterbenden zur Welt zu bringen, und hatten sich darum für die natürlichste Art der Geburt entschieden, eine Hausgeburt. Die betschwesternhafte Frau, die sie angeheuert hatten, war angeblich die beste Hebamme der Stadt.

Sie war steif und kratzbürstig und hatte ihre ehernen Regeln, daher verband sie und meine Eltern sofort eine tiefe Abneigung. Dennoch setzten meine Eltern großes Vertrauen in sie und warteten nun dringend auf ihren Beistand. Doch dann wurden ihre schlimmsten Befürchtungen wahr: Die Hebamme sagte, sie sei leider ausgelastet. Der Vollmond ließ offenbar jede werdende Mutter in der Stadt ihren Nachwuchs werfen. Die Hebamme fragte nach der Häufigkeit der Wehen, und als sie ihr sagten, sie kämen selten und in längeren Abständen, erklärte sie ihnen, am nächsten Morgen eine andere Hebamme vorbeischicken zu wollen.

»Eine andere? Wen?«

Mein Vater verzweifelte bereits, aber meine Mutter blieb cool. Sie aalte sich splitternackt auf dem Hartholzboden, schwitzend ihre Dehnübungen absolvierend, und lachte bloß. Sie hievte sich in die Badewanne und sagte: »Ist mir doch scheißegal. Ich hab die verklemmte Kuh eh nie leiden können.«

Die Knie gegen die eindrucksvollen Zähne gerammt, sah sie meinem Vater in dessen verängstigte Augen und sagte: »Also ich bin froh, dass sie nicht kann.«

Sie überstanden die Nacht ohne Niederkunft, und am Morgen ging mein Vater nach unten und suchte sich in dem allgemeinen Gewusel ein ruhiges Plätzchen, wo er auf »eine andere« wartete. Er war halbverrückt vor Sorge, dass man sie mit irgendjemand Unerfahrenem aus der zweiten Reihe abspeisen würde, irgendeiner Flasche, die von Geburten noch weniger Ahnung hatte als er selbst. Es konnte nur in der Katastrophe enden.

Dann tauchte inmitten der Treibhaushitze und den Massen menschlichen Abfalls eine strahlende Erscheinung auf. Eine winzige, elegante Frau mit einem silbernen Haarschopf in einen Sari aus lila Seide gewandet, bahnte sich mit den eleganten Schritten einer Prinzessin den Weg durch den räudigen Pöbel. Sie hielt einen Zettel in der Hand und verglich ihn mit den Adressen in den Hauseingängen.

Bei ihrem Anblick ging sein Atem sofort ruhiger. Er setzte sich auf und beobachtete, wie sie durch das Chaos navigierte. Mit absoluter Autorität kam sie geradewegs auf ihn zu, sagte: »Sie müssen Ilya sein. Ich bin Asoka, Ihre Hebamme«, und schob ihn ins Haus. Sie folgte ihm in flottem Tempo die Treppen hinauf und feuerte in einem indo-britischen Hybridakzent Fragen auf ihn ab.

»Wo ist die Mutter? Wie oft kommen die Wehen? Welcher Art sind die Wehen? Los, los, los.«

Sie platzte in die Wohnung und erklärte: »Ja, ich bin ein Ersatz. Wir sind uns nie zuvor begegnet, und Sie machen sich wahrscheinlich Sorgen über meine Qualifikation. Ich darf Ihnen sagen, dass ich mit bloßen Händen fünftausend Babys zur Welt gebracht haben, viele von ihnen am Fuß des Himalaya. Ich weiß, was ich tue. Ich will Sie untersuchen. Stehen Sie auf! Warum liegen Sie?«

Das ist Amerika, ein Land, in dem Immigranten, die in ihren Heimatländern Ärzte oder Chirurgen sind, Straßen aus Gold zu finden hoffen, und dann als Taxifahrer enden. Durch irgendein bürokratisches Versehen waren meine verdutzten Eltern an diese Zauberkünstlerin geraten, die nicht nur allererste Wahl war, sondern eine der hervorragendsten Hebammen der Welt. Eine Frau, die schon Kinder unter den extremsten Bedingungen auf die Welt geholt hatte – in Aufzügen und in Lehmhütten, in Bombay wie in Liverpool – und die von den Vereinigten Staaten nicht als vollwertige Geburtshelferin anerkannt wurde. Sie hätten sich nicht in besseren Händen fühlen können. Sie waren glücklich, tief beeindruckt und sofort in sie verknallt.

Asoka Roy legte mit nüchternem Blick ihre Hände auf den unförmigen Bauch meiner Mutter. Beim Tasten stellte sie fest, dass ich verkehrt herum lag, Rückgrat an Rückgrat mit meiner Mutter.

»Stehen Sie auf, kommen Sie aus dem Bett, nehmen Sie einen Lappen und putzen Sie den Fußboden! So wie ich.«

Asoka ließ sich auf die Knie fallen und machte vor, was sie »die Schaukel« nannte, eine wischende Bewegung mit den Armen, bei der sie einen Lappen vor und zurück über den Boden schob, eine Tätigkeit, die Bewegung in die Hüften brachte und mich so wieder in die richtige Lage im Geburtskanal bringen sollte.

Ihre Philosophie lautete: Mütter sind nicht krank, sondern gesünder denn je. Sie tun das, wozu sie geschaffen sind, und ihr Körper leistet, was er zu leisten hat, und auf gar keinen Fall müssen sie die Kranke spielen. Das Beste ist so viel Aktivität wie möglich. Das war Musik in den Ohren meiner Mutter.

Nachdem sie ihre Vorstellungen vom Geburtsvorgang revolutioniert und ihnen versichert hatte, dass in dieser Nacht kein Baby kommen würde, ging Asoka zum Schlafen nach Hause. Als sie am nächsten Morgen wiederkam, hatte sich Rhonnas Zustand verändert. Sie hatte unerträgliche Schmerzen von den immer häufigeren Kontraktionen, und als Asoka meine nackt auf dem Holzboden liegende Mutter untersuchte, stellte sie fest, dass ich mich nicht gedreht hatte. Obendrein weitete sich der Geburtskanal sehr langsam, darum stand eine langwierige Prozedur bevor.

Nach dreißig Stunden waren alle dem Delirium nahe. Rhonnas Bauch war so unerträglich gespannt, wie sie es nie für möglich gehalten hätte, und ihre sonst so kraftvolle Stimme war vom Schreien völlig verschlissen.

Nach längerer Zeit mit solchen Schmerzen kommt ein Punkt, an dem der Verstand sich verabschiedet und der Körper einfach übernimmt. Irgendein vorzeitlicher Mechanismus springt an und schaltet dich auf Autopilot. Du gibst die Kontrolle ab, und dein Körper macht ohne dich weiter.

Nach 35 Stunden verdrehte meine Mutter die Augen und wurde das erste Mal ohnmächtig.

Asoka war klar, dass sie Hilfe brauchten, wenn selbst eine Powerfrau wie meine Mutter schlappmachte. Sie blickte in Ilyas geplagtes Gesicht und sagte: »Wir bringen sie ins Krankenhaus.«

Die kleine Frau und der magere Junge trugen die wie am Spieß schreiende Rhonna drei Etagen die Treppen hinunter. Als sie die zerbrochene Glasscheibe der Haustür erreichten, traute mein Vater seinen Augen nicht: Die Männerunterkunft veranstaltete eine Feuerübung. Siebenhundert schwitzende Leiber wimmelten auf der Straße herum und fluteten auf seine Schwelle. Siebenhundert Newport qualmende Penner mit nacktem Oberkörper, die brüllten und mit irgendwas um sich warfen, ihre Stimmen wie Donnergrollen, Häuser bebten.

Asoka kreischte erschrocken, da riss er sich zusammen und zog die Tür auf. Meine Mutter, die Beine in den Händen meines Vaters, die Fingernägel in die Arme der Hebamme gekrallt, stieß im selben Moment einen gellenden Schrei aus.

Ein Meer von Männern, die Sorte mit Messern zwischen den Zähnen, verstummte. Siebenhundert Gesichter wandten sich dem bedrängten Trio zu. Aus Ehrfurcht vor dem größten Wunder der Natur teilte sich das Meer. Helfende Hände streckten sich ihnen entgegen, und sie wurde langsam und behutsam die fünf Betonstufen hinuntergetragen, aus einer Tiefe schreiend, von der sie nicht geahnt hatte, dass es sie gab. Jemand holte von der Ecke ein Taxi herbei, dann legte man sie auf den Rücksitz, Asoka stieg hinten bei Rhonna ein, Ilya vorne. Sie fuhren durch die ehrfürchtige Menge, und als sie auf die Bowery einbogen, schloss sich die Bresche hinter ihnen und das Gebrüll brandete wieder auf.

Im Kreißsaal war dann alles auf die Bedürfnisse meiner Mutter ausgerichtet: Gedämpftes Licht und Musik – Jazz, Reggae und Blues. Asoka platzierte meinen erschöpften, überwältigten Vater zu Füßen meiner Mutter und befahl ihm, ihre Füße zu halten. Sie wies ihn an, sie zu beruhigen und beim Atmen zu unterstützen. Sie drängte Ärzte und Schwestern beiseite, damit mein Vater bei der Geburt eine zentrale Rolle spielen konnte. Fünftausend Geburten auf dem Buckel, da lässt man sich nicht mehr blöd kommen.

Es ging nicht ohne ungeheure Schmerzen und Geschrei ab. Ich steckte die Schädeldecke raus, aber mehr auch nicht. Asoka machte bei Mutter einen kleinen Einschnitt, und plötzlich war ich da. Ich kam falsch herum raus, mit Schleim und Blut bedeckt, aber als lebendes, atmendes kleines Wesen.

Sie legten mich an die Brust meiner Mutter. Meine Eltern hatten darauf bestanden, mein Geschlecht nicht vorab zu erfahren, denn sie hatten keine spezielle Vorliebe, ihnen war beides recht und sie wollten überrascht werden.

In Decken gewickelt, die Brüste so voll Milch, dass sie sich wie Beton anfühlten, blickte meine Mutter auf das Gesicht eines winzigen Mädchens hinunter. Für sie sah ich aus wie eine Mango. Für meinen Vater wie Winston Churchill, gekreuzt mit einem vertrockneten Apfel.

In diesem Moment, in dem die Gesichter meiner Eltern über mir schwebten, sprangen plötzlich meine turmalinblauen Augen auf. Bang. Hallo. Wahrscheinlich wusste ich intuitiv, dass mich ein seltener Anblick erwartete: beide Eltern auf einmal.

Mein Vater hatte schon seit Wochen potentielle Namen auf Servietten gekritzelt. Er tendierte zu etwas mit hohem und tiefem Ton, einem Strich und einem Kreis, zu einem An und Aus, einem Mond und einer Halbgöttin: dem Jupitermond iO (das vulkanisch aktivste Objekt im ganzen Sonnensystem). Jetzt war es entschieden.

Ein paar Stunden später war meine Mutter bereit, das Krankenhaus zu verlassen. Die Ärzte wollten sie überreden, über Nacht dazubleiben, aber Asoka hatte deren Autorität gründlich untergraben, bevor sie zum Schlafen nach Hause ging, und Ma wollte bloß raus da.

Wir fuhren zum Haus meiner Großeltern, die mit mir, fest in Decken gewickelt wie ein Indianerbaby, in dieser ersten Nacht meines Lebens draußen spazieren gingen.

Im Lauf der nächsten Wochen nahmen mich meine Eltern mit in Jazz-Clubs, ins Theater und mit in Discos wie das Limelight oder die Danceteria. Sie setzten mich mitten auf den Tisch und ließen die Gratulanten in Scharen antreten. Rhonna wollte sichergehen, dass sie kein schüchternes Kind großzog.

Wir

3FERNANDO

Lower East Side, Sommer 1989

Ma erzählt immer, der Tag meiner Geburt wäre der heißeste Tag gewesen, den New York je erlebt hätte. Heute hat sie das zurückgenommen.

»Heute«, sagt sie mit zusammengebissenen Zähnen und vor Zorn lodernden Augen, »ist der scheißheißeste Tag, den diese Stadt je zu durchschwitzen hatte.«

Von meiner Warte aus kann ich die Straße dampfen sehen. Überall um mich herum fast nackte Körper, glitzernd vor Schweiß und Glitter, die sich zu lärmender Samba-Musik wiegen. Ich sitze an der vorderen Ecke eines Festwagens des jährlichen Brazilian Day Festival, einer Parade, die sich in einer Kakophonie aus Schiedsrichterpfeifen, Kuhglocken und donnernden Beats die Avenue C hinunterschiebt. Soweit ich gucken kann, Frauen in Stringtangas und mit Kopfschmuck, Männer mit nackten Oberkörpern und knappsten Shorts, und das alles in sämtlichen Variationen von Gelb und Grün.

Die Sonne brät herunter auf Hunderte strahlende Gesichter, darunter die meiner Freunde Little Sean und Badu, die sich wie ich an den Festwagen klammern. Alle tanzen, singen oder spielen ein Instrument, schwitzend und dehydriert. Mehrere Leute haben sich auf unseren Festwagen gerettet, ehe sie vor Erschöpfung umkippten.

Meine Freunde und unser Wagen schwimmen in einem Meer von Mitgliedern einer Sambaschule, die ganz in Weiß gekleidet sind und riesige Trommeln schlagen, die an ihren Hüften hängen. Es ist wie eine Marschkapelle, nur mit einem sexy südamerikanischen Rhythmus. Man kann das Dröhnen zehn Blocks weit hören.

Ich bin so dick mit Sonnencreme Faktor 70 eingeschmiert, dass mir ständig mein Stirnband ins Gesicht rutscht. Ich kann mich nur mit Mühe an der Kante des Wagens festhalten, weil meine Hände so glitschig sind. Der Freund von Seans Mom hat dieses monströse rollende Unikum aus einem echten Boot gebaut. Er hat es auf Räder gesetzt, den Motor eines ausgeschlachteten Autos eingebaut, das ganze Ding mit Laken und Verzierungen verkleidet, und nun bewegt es sich irgendwie Richtung Houston Street. Ich bin sicher, dass es jeden Moment auseinanderfallen wird, darum halte ich mich so fest ich kann am Rand fest, wiege meine Hüften zur Musik und schiebe mich vor und zurück.

Ma ist auf der Straße vor uns, die Arme in der Luft, und bahnt uns mit knappen, hyperaktiven Samba-Schritten einen Weg. Sie trägt einen glänzenden Badeanzug mit glitzernden Quasten, die mit ihrer Hüfte hin- und herwippen. Sie tanzt neben einer Flotte von Baianas, Frauen mit farbenfrohen Kopftüchern und voluminösen Kleidern. Sie tanzen choreographierte Partnernummern mit Männern in engen Hosen und Hemden mit großem, offenem Kragen. Die Männer schwingen die Frauen herum, sodass die Kleider sich drehen wie Räder. Einmal ganz rum und wieder zurück.

Ich liebe diesen Umzug. Ich liebe die Brasilianer. Sie sind so lebendig. Sie lieben das Tanzen, sie lieben das Schwitzen, sie lieben die Musik und sie lieben es laut. Ma ist ekstatisch, wenn sie so hemmungslos tanzen kann wie mit diesen Menschen hier. Ich beobachte ihren schweißgebadeten Körper, der sich bewegt wie ein Tier, das ganz seinen Instinkten folgt.

Zwischen den trommelnden Musikern tut sich eine Lücke auf, und ein Mann in einem lila Paillettenanzug erscheint auf der anderen Seite der Menge. Er scheint seine Aufmerksamkeit auf Ma zu konzentrieren und tanzt, die Beine hochwerfend und mit den Unterarmen flatternd, auf sie zu. Ein verdammt guter Tänzer, dieser Kerl. Ma wird auf ihn aufmerksam und setzt das kleine Lächeln auf, mit dem sie Typen zeigt, dass sie nicht abgeneigt ist, und er ergreift seine Chance.

Poppa ist ausgezogen, als ich gerade meinen ersten Zahn bekam. Sie vertrugen sich nicht. Sie passten einfach nicht zusammen. Ein Leben konnten sie nicht teilen und schon gar nicht eine beengte Wohnung, also suchte er sich so nahebei wie möglich ein Loft und zog aus. Jetzt bin ich nachmittags bei ihm und seiner neuen Freundin Rita. Sie ist ebenfalls Brasilianerin – und schwanger.

Ma und dieser Tänzer umkreisen einander, bewegen sich, als sei es ihr letzter Tag auf Erden, schleudern wild die Arme und die Beine, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass der Hitzerekord wahrscheinlich schon vor einer Stunde gebrochen wurde und selbst die Sonne gern dem Mond Platz machen würde.

Seine muskulösen Schultern sprengen fast die Nähte am Rücken seiner Paillettenjacke. Ich mag mir nicht vorstellen, wie heiß ihm darin sein muss, aber er zieht sie nicht aus, er tanzt einfach weiter.

Er lächelt meine Ma an und zeigt dabei strahlend weiße Zähne, die von seiner dunklen Haut und dem tiefschwarzen Haar abstechen. Ein Goldkettchen glitzert auf seiner breiten Brust, und jedes Mal wenn er einen Schersprung hinlegt, fällt mir auf, mit welcher Heftigkeit die Beine wieder unter ihm zusammenschnappen.

Während wir uns weiter Richtung Downtown bewegen, wird es heißer und heißer und die Menge zeigt in der brütenden Hitze erste Auflösungserscheinungen, doch Ma entwickelt immer mehr Energie. Der Typ in den Purpurpailletten wie durch ein Wunder ebenfalls; sie umkreisen einander, rotieren immer schneller, springen immer höher, gehen immer tiefer in die Knie.

Die ersten Mitglieder der Kapelle schälen sich ihre Hemden vom Leib und leeren Wasserflaschen über die kochenden Schädel. Und wenn man gerade denkt, jetzt geht nichts mehr, springt der Bandleader wieder an die Spitze seiner Truppe und beginnt, an eine Kuhglocke zu schlagen, zu seinem eigenen Beat zu tanzen und wild in seine Trillerpfeife zu stoßen. Das weiße T-Shirt um den Kopf gebunden, während ihm der Schweiß über das dunkle Gesicht strömt, springt er vor den Trommlern vor und zurück und peitscht ihnen wieder Leben ein. An der First Avenue kommen wir an eine rote Ampel, und er nutzt die Pause, um alles noch mal auf Anfang zu setzen. Ma und der andere tanzen immer noch und schauen dabei zu, wie die Trommler in einen gemeinsamen Rhythmus fallen. Sie sind die Zündschnur, die die Parade zum Explodieren bringt.

Alle finden sich am Schluss auf dem Parkplatz der Cuando ein, alle noch in Fahrt, johlend und musizierend, aufgeputscht von der Energie der vielen Menschen.

Die Cuando ist eine klotzige, leerstehende Public School, die sich über den größten Teil der Second Street erstreckt, zwischen Second Avenue und Bowery. Der Strom ist zwar abgestellt, aber es haben sich dort jede Menge Künstler und Junkies einquartiert.

Nilda und Virginia, zwei puerto-ricanische Ladys in den Vierzigern, die Matriarchinnen dieses Ladens, sorgen dafür, dass das wirklich üble Gesindel draußen bleibt, und halten auf dem Dach ein Lagerfeuer in Gang. Sie kochen Reis, Bohnen und hausgemachte Sofrito in einem kleinen Beton-Penthouse, Mörser und Stößel in der einen, eine Dose Budweiser in der anderen Hand.

Wir gehen da hoch, schlagen unsere Trommeln, spielen Fußball und werfen unbekümmert Bälle, weil das Flachdach mit einem hohen, schwarzen Metallzaun gesichert ist, der sich über unseren Köpfen nach innen spannt, sodass uns nie der Ball über die Kante springen kann.

Ohne Strom wird es nachts auf den Korridoren ziemlich krass. Wer mal pissen muss, geht einfach in eins der Zimmer, sucht sich eine Ecke und lässt es laufen. Der Versuch, ein Badezimmer zu finden, kann lebensgefährlich werden, wenn man über einen schlafenden Punk oder Betrunkenen stolpert oder die pechschwarze Treppe runtersegelt.

Der Parkplatz draußen ist eine große, fiese Schlammsuhle, in der ein paar Sperrholzplanken als Stege dienen, über die man laufen kann. Jetzt ist er überschwemmt von den Menschenmassen des Festumzugs, Bergen von Trommeln, dem Barbecue, für das gerade jemand Feuer in einer Mülltonne entfacht, und dem allgegenwärtigen Ploppen von Flaschenverschlüssen, das das Ende eines langen Tages markiert.

Die Straße ist verstopft von den selbstgebauten Festwagen, die kreuz und quer auf dem Gehsteig parken, im Trockendock, um nach Sonnenuntergang demontiert zu werden, wenn alle zu betrunken sind, um einen Scheiß drauf zu geben.

Ich habe ein dick mit Barbecuesoße beschmiertes Stück Hühnchen in der Hand, das mir Virginia gegeben hat. Die Hälfte der Soße ist über mein Gesicht geschmiert, aber das kümmert mich nicht im Geringsten. Ma diskutiert irgendwas mit den Baiana-Ladys. Alle hatten sich schon seit Wochen auf den Umzug vorbereitet, die Festwagen gebaut und Kostüme geschneidert, daher kennt jeder jeden und es ist keine Überraschung, dass der lila Pailletten-Mann wieder an Mas Seite auftaucht.

Er hat einen starken, wohlgeformten Unterkiefer, wie ein Jaguar, ein Puma oder so, und einen kräftig karamellfarbenen Teint. Über seine Stirn läuft eine Narbe, die er sich, wie ich später erfahren werde, geholt hat, als er in Brasilien Stacheldrahtzäune hochgeklettert ist, um Mangos direkt vom Baum zu klauen.

Er zeigt seine blendend weißen Zähne, lächelt und sagt: »Ey…«

Die Baiana schaut ihn an und sagt in ihrem wunderschönen rollenden Tonfall: »Oh, Fernando. Honna, das hier ist Fernando. Fernando, Honna.« Dann verschwindet sie in der Menge und lässt dem Schicksal seinen Lauf. Fernando, geschmeidig wie Schokolade, sagt mit ausgeprägtem Akzent: »Ey, Honna. Wir gehen noch zu einem Umzug in Wash, D.C. Warum kommst du nicht mit?«

Sie sieht ihm direkt in die Augen, weist mit einem müden Finger auf mich und sagt: »He, Fernando, guck mal das kleine Kind, das da steht. Von uns beiden fährt keiner nach Washington, D.C.«

Wie sie einander ansehen, sagt alles, und beide sind noch so außer Atem von ihrem Tanz-Marathon, dass sie heftig keuchen, aber sie wechseln nur noch ein paar höfliche Floskeln, dann schickt er sich in ihre Unerreichbarkeit und schlendert davon.

Es vergeht ein Jahr, bevor sie sich wiedersehen. Wir sind auf dem Weg den Broadway hoch Richtung Fourteenth Street, und da steht er plötzlich und klebt mit einem jungen brasilianischen Freund Werbezettel für einen Anstreicher-Service an Laternenpfähle. Sie entdecken einander, und das war’s. Sie nimmt ihn mit nach Hause und dann bleibt er einfach da.

Im Laufe der Zeit erfuhr ich dann: Fernando stammt aus Belo Horizonte. Er ist im futbol-Camp aufgewachsen, wo sie Jungs in einem eingezäunten Lager festhalten und unerbittlich trainieren und trainieren, um aus ihnen Profifußballer zu machen. Schließlich hat er für Teams in Brasilien, Portugal und Frankreich gespielt, bis die Franzosen ihn um fünfundzwanzig Riesen beschissen und er nach New York ging, weil es ihn zu seinen Brüdern zog. Seine Beine gelten immer noch als tödliche Waffen.

Er erzählte uns, dass sein Onkel seine Ehefrau in aller Öffentlichkeit erschossen hat, in einem Café in Brasilien, und dass die Polizei dort bei Verbrechen aus Leidenschaft wegschaut. Ich konnte beobachten, wie meine Ma diese Geschichte aufnahm, und später an jenem Abend sagte sie mir: »Oh, Scheiße, nach Brah-sil kriegen mich keine zehn Pferde!«

In dem Moment wussten wir, dass er das Eifersuchtsgen in sich trug. Ma erzählte mir, Billy hätte es ebenfalls gehabt. Diese Sache, die Menschen plötzlich in die Augen tritt und sie in wilde Tiere verwandelt. Drüben auf der Twelfth Street in seiner neuen Wohnung hatte auch mein Vater bereits mit Ritas lodernder Eifersucht zu kämpfen und ihren Radar-Augen, die tausend Dinge sahen, die gar nicht da waren.

Fernando lebt jetzt bei uns. Ich mag ihn sehr. Er arbeitet in einer Restaurantküche und bringt von dort Pasta in Tomatenöl mit nach Hause. Er nimmt mich auf seinen Schultern mit, wenn er rausgeht, um irgendwelchen Plunder zu verkaufen, und er bringt mir alle Tricks der Branche bei – wie man Leute dazu bringt, für Sachen, die sie gar nicht brauchen, mehr auszugeben, als sie wollten. Außerdem bildet er mich zum Superfußballer aus. Wir verstehen uns bombig, und von seinen Schultern bekomme ich einen guten Überblick über das merkantile Chaos der Straßen von Midtown.

Wir gehen alle zusammen an den Strand, und die beiden machen rum, während ich Sandburgen baue und mich mit den älteren Leuten anfreunde. Wir essen zusammen Mangos und schürfen im Salzwasser. Sie sind schwer verliebt, und mir gefällt das.

Fernando und meine Ma haben eine gemeinsame Samba-Nummer einstudiert. Zu Anfang eine Paarnummer, haben sie sie nach und nach erweitert, noch andere Mädchen mit Kostümen und Kopfschmuck hinzugenommen, dann schlossen sich auch noch die Musiker von der Samba-Schule an und schließlich sogar die Capoeiristas. Das komplette Cachaça-Kränzchen von Cariocas. Ziemlich beeindruckend und kommt für eine Weile sensationell gut an. Tagsüber treten sie damit in Schulen und abends in Clubs auf.

Fernandos Eifersucht war allerdings schlimmer geworden. Nach einer ihrer Partys kamen sie zusammen im Taxi nach Hause, und offenbar hatte er ein anderes Mädchen dort grundlos total zur Sau gemacht. Das fand seine Fortsetzung in einem Schreiduell auf der Straße, bei dem er meiner Ma widerliche Dinge an den Kopf warf. Als sie zeternd ins Haus platzten, stellte ich mich schlafend, aber ich hörte zu, wie sie sich angifteten und er ihr alle möglichen Dinge vorwarf, von denen ich wusste, dass sie sie niemals tun würde. Mein Freund Badu übernachtete bei mir, und irgendwann standen wir auf und beobachteten, wie sie sich in der Küche anschrien, bis Fernando aufsprang und Ma mit voller Wucht ins Gesicht schlug.

Ich schrie laut auf, war aber wie gelähmt. Ich stand da wie festgenagelt, aber Badu rannte geradewegs zu ihm und fing an, gegen seinen Bauch zu boxen. Fernando trat meinem kleinen Freund in der Hitze des Gefechts vors Schienbein, und er brach zu einem wimmernden Knäuel auf dem Küchenfußboden zusammen. Das war eine Katastrophe, er und ein kleines Kind treten, und Fernando rannte aus der Wohnung.

Die Lage änderte sich über Nacht, als ich gerade nicht da war. Ich übernachtete bei meinem Poppa, und als ich zurückkam, war irgendetwas anders. Fernando war nicht mehr herzlich.

Er fängt an, meine Ma auf der Straße anzuschnauzen, gemeine Sachen zu ihr zu sagen, um ihr Selbstvertrauen auszuhöhlen. Er verliert völlig den Halt und wirft ihr neuerdings die absurdesten Dinge vor. Sie nimmt mich dann einfach fest bei der Hand und geht weiter, aber ich kann sehen, dass sie die Tränen unterdrücken muss.

Ma hat mit mir ein Zeichen vereinbart, das sie mit der Hand hinter ihrem Rücken macht. Auf dieses Zeichen hin solle ich schnell rauslaufen und die Polizei holen.

Als wir an einem Abend vom Strand zurück nach Hause kommen, sehen wir einen Polizeiwagen direkt vor unserer Tür parken und zwei Uniformierte, die im Schein der Armaturenbeleuchtung ihren Papierkram erledigen. Die Nacht ist heiß und die Atmosphäre zwischen Fernando und meiner Ma vor Wut und Anspannung zum Schneiden dick. Als wir oben sind, macht meine Ma sich ans Kochen, aber Fernando brennt aus irgendeinem Grund die Sicherung durch. Er fängt an rumzuschreien, die Augen wie schwarze Glut, und als er mit Schmackes gegen ein Schränkchen tritt und dabei die hölzerne Tür kaputtmacht, gibt Ma mir das Signal.

Ich nehme zwei Stufen auf einmal, fast die Treppe hinunterpurzelnd, reiße die schwere Haustür auf und winke die Cops herbei.

»He! He! Meine Ma braucht Hilfe! Schnell!«

Eine Cop-Lady und ihr fetter Kollege kommen rein und schätzen die Situation ab: ein kräftiger Mann, den es vor Aggression schüttelt, und eine Frau, die sich schützend vor ihr kleines Kind stellt.

Die Cop-Lady fragt meine Ma: »Was sollen wir mit ihm machen?«

Schweren Herzens, aber Fernando offen ins Gesicht blickend, sagt Ma: »Schaffen Sie ihn einfach hier raus. Gewalt gegen mich oder meine kleine Tochter lasse ich nicht zu.«

Also zerren ihn die Cops raus, und wir packen einen Koffer mit seinem ganzen Krempel einschließlich seines Passes und deponieren ihn bei den Nachbarn unten, damit er erst gar keinen Grund hat, herzukommen und die Tür einzutreten.

Ein paar Wochen später kommen wir spätabends heim, nur Ma und ich. Wir waren in einer Bar, und sie hat zum ersten Mal seit sehr langer Zeit zwei Gläser Wein getrunken. Als wir kurz vor unserem Haus sind, beginnt sie zu weinen. Sie hält meine Hand, und wimmernde, wehe Schluchzer entringen sich ihr. Es ist verstörend, meinen Fels in der Brandung bröckeln zu sehen. Ich fühle mich hilflos.

Wir steigen die Eingangsstufen hoch, da holt sie abrupt aus und rammt ihre Faust durch ein kleines Fensterviereck in der massiven Metalltür. Das Glas zerspringt sofort. Das macht mir Angst. Ich habe meine Ma nie gewalttätig erlebt. Als ich ihr in die Augen sehe, ist meine Ma verschwunden, und wo sie war, ist nun ein unbekanntes Wesen, in dessen Augen schwarzes Feuer brennt.

Diese unheilvolle Macht wird letztlich in jede Fuge unseres Daseins dringen. Sie wird das kostbare Band zwischen uns zerreißen, meine Zuversicht zerstören und meine Mutter zum Krüppel machen. Sie ist der große Gleichmacher, willkürlich, brutal und schnell und rekrutiert so effizient, dass ich hilflos zusehen werde, wie sie sich geschickt meine glühendsten Verteidiger einverleibt und einen bleibenden Schatten auf unser aller Leben hinterlässt.

4ICH WERDE FÜNF

Die Bowery, 2.September 1990

Unsere Wohnung ist wie ein Ausflugsdampfer. Große Fenster gehen auf die johlende Straße vier Stockwerke tiefer hinaus, und Sonnenlicht weht mit dem stetigen Luftzug hinein. Der wechselhafte Himmel verwandelt unser Haus in ein Pantone-Kaleidoskop, das die Räume in dramatische Stimmungen und Farben taucht und sich mit dem Wetter und der Uhrzeit dreht. Hellblau, Tieforange, Rostrot, Purpurrot und Kräuselbänder von Gold. Sonnenstrahlen prallen von der lakritzschwarzen Feuertreppe ab, die noch frisch vom Regen glänzt. Sie verharren schwebend hoch oben und stürzen sich dann hinab in die chaotische Straße, die unter der drückenden Armut ächzt und knarrt, als hätte sie ihren fetten Arsch in einem alten Stuhl geparkt.

Der goldene Glanz ergießt sich über das Männerasyl und den galoppierenden Wahnsinn, der um seinen Eingang herumspült; ein Schwarm von Widerlingen in Lederwesten, zerlumpten Mänteln, Daunenjacken und leuchtenden Do-rags; ein Hickhack grauer Gefängnisbusse, herbstgelber Bäume und mit bis zum Filter heruntergerauchten Zigarettenstummeln übersäte Bürgersteige.

An warmen Wochenenden kommen die schönen Transen aus der Bronx her, um die Jungs aus dem Asyl zu unterhalten, sich irgendwas reinzuballern und die Penner um ihr Klimpergeld zu schröpfen. Jetzt gerade steigt auf der Straße die Lautstärke, weil sie eingetroffen sind. Sandy, eine Sexbombe mit den hohen Wangenknochen eines Mannequins, rekelt sich auf einem Picknick-Tisch in dem abgezäunten Vorhof, fächelt sich Luft zu, sonnt sich und produziert sich in dem aufwendigen Outfit, das sie sich nach Modellen aus der Vogue selbst genäht hat. Sie trägt die Haare in einem hohen Pferdeschwanz und ähnelt ein bisschen meiner Ma.

Autohupen, entfernte Sirenen, Sandys Lachen und das Zischen eines Busses vermischen sich mit dem schwermütig-süßen Jaulen eines Saxofons gleich neben meinem Ohr. Ich habe meinen Körper um meinen Patenonkel James geschlungen, der im Schneidersitz auf unserem lackierten Holzfußboden sitzt und mit seinem Instrument übt. Ich trage ein taubenblaues Spitzenkleid und lippenstiftrote Cowboystiefel. Mein langer Zopf liegt neben mir auf dem Fußboden wie eine schlafende Katze.

James ist quasi ein Bruder für meine Ma. Er passt auf sie auf. Als sie fix und fertig von Johnnie Walker und Trauer über den Mord an ihrer einzig wahren Liebe hier aufschlug, gab James ihr Trost, Schutz und Sicherheit. Er hüllte sie in seine Detektiv-Pelerine und sorgte dafür, dass jeder wusste, dass sie unter seinem hochoffiziellen Schutz steht.

Die beiden sind von der schlanken, hochgewachsenen Sorte, sie haben majestätische Profile, sehen wie Bruder und Schwester aus. James schliddert auf die Bühnen örtlicher Hot Spots und zieht das Publikum in seinen Bann, wenn er als Leader seiner legendären Band in Hausschuhen Saxofon spielt. Mädchen fallen reihenweise in Ohnmacht beim Anblick seiner vollen Lippen und seines schicken Anzugs. Selbst wenn er nur zu Hause übt, sieht er aus wie ein klassischer Hollywood-Detektiv mit einem Faible für Jazz. Er hat ein Büschel Haare auf der Brust, das so eben aus seinem weißen Unterhemd herausschaut und für Ekstase sorgt.

Heute steigt im Community Garden an der Sixth Street eine Party zur Feier meines fünften Geburtstags, und James muss mit organisieren.

Auf dem Weg dahin, die Arme voller Deko-Artikel und Essbarem, weichen wir Rissen im Asphalt aus, vorbeihuschenden Ratten und kleinen Jungs, die auf dem Bürgersteig Stickball spielen. Der pinkfarbene Ball knallt gegen eine Mauer, dann gegen ein Auto und dann in ein Schaufenster, und alles stiebt auseinander.

Ein Hydrant spritzt Wasser über die Avenue B, und kreischende Kinder schubsen sich gegenseitig in die Gischt. Spanische Frauen, deren Hintern über ihre billigen Plastikliegestühle quellen, geben gurrende Laute von sich: »Que linda! Que linda!« Das macht mich verlegen. Ich senke den Kopf und nehme mir vor, dieses blöde Kleid nie wieder anzuziehen.

Ma und James bereiten die Party vor, während ich auf einem großen weißen Metallstuhl meine Stiefel hin und her schlenkern lasse. Sie spannen die Chilischoten-Lichterkette, die wir im 99-Cent-Laden entdeckt haben, von ein paar hohen Ästen zu einem baufälligen Schuppen, der mit Konzertplakaten zugekleistert ist. Eine Cowgirl-Piñata hängt von einem Ast, die Fesseln baumeln nur wenige Zentimeter über einem an den Stamm gelehnten Besenstiel, mit dem sie später zerschlagen werden soll.

Auf einem staubigen Streifen Beton führe ich unseren Freunden meine Stepptanz-Schritte vor: dem großen, gutaussehenden Franzosen Chris, der laut Ma »Alain Delon wie aus dem Gesicht geschnitten« ist. Er hat ein Päckchen Camel im aufgerollten Ärmel seines T-Shirts stecken. Dann Hammerhead, dem riesigen Freund meines Vaters, der sich seinen Namen dadurch erworben hat, dass er säumigen Schuldnern unter Einsatz von schwerem Werkzeug auf die Sprünge hilft. Trixie mit ihren karottenroten Haaren und überkandidelten Texas-Outfits, die früher auf dem Empire State Building aus Pennys Touristen-Souvenirs gepresst hat. Sie hat jetzt einen Laden Ecke Ninth und A, der sich LSD nennt – »Live, Shop, Die«. Und meine beiden geliebten Tanten Alice und Olivia.

Alice ist Mas jüngere Schwester. Sie ist vor ein paar Jahren hergezogen, davor lebte sie in China, wohin sie nach dem Jurastudium ausgewandert war. Sie ist knallhart und spricht fließend Mandarin. Gleichzeitig ist sie so nett und beruhigend. Wenn Alice zu Besuch kommt, hat man das Gefühl, sich komplett entspannen zu können, denn jemand anderer kümmert sich um alles. Ma verbringt Stunden am Telefon mit ihr. Sie nennen einander »Baby«. Alice bringt mir ständig Gläser mit eingemachten Gurken und anderes leckeres Zeug mit, das sie in ihrem kleinen Haus in Brooklyn fabriziert.

Alice ist so mit Olivia, der Schwester meines Pops. Wenn man sie nebeneinander sieht, erkennt man, dass sie zum gleichen zierlichen, dunkelhaarigen Macherinnen-Schlag gehören. Olivia raucht Kette und arbeitet gerade an ihrem x-ten Master-Abschluss. Im Grunde ist sie ein wandelndes Gehirn mit mächtig großen Augen und noch größerem Lächeln. Manchmal schließt sie ihre großen Augenlider, wenn sie mit dir spricht, damit sie dahinter ihre klugen Gedanken besser sammeln kann. Eines Tages wird ihr ein Konzern gehören, und draußen am Gebäude wird eine Bronzetafel mit ihrem Namen hängen.

Olivia will Alice gerade Rosé nachschenken, als es Unruhe am Garteneingang gibt, die unsere Aufmerksamkeit weckt. Meine Patentante ist da. Sie eilt durchs Tor, der Busen vorweg, zwei Kameras am Hals baumelnd, und bellt dem Taxifahrer etwas über die Schulter zu. Ich quieke auf und renne zu ihr, um mich an ihren üppigen Busen quetschen zu lassen.

Meine Patentante Nan ist eine tolle, kurvenreiche Frau, die ausschließlich mit dem Taxi fährt. Ihre Haare wippen in dicken, roten Locken, und ihr einziges Make-up ist ein fettiger Schmier roten Lippenstifts.

Ma sagt, Nan sei nicht ganz von dieser Welt. Denn alles, was sie anfasse, verwandle sich in Gold. Momentan hält diese Theorie, denn ich zergehe in ihrer Umarmung zu geschmolzenem Edelmetall.

Nan ist ein Nachtmensch, darum ist sie knochenbleich. Als ich eins war, haben wir sie auf Sizilien besucht, und da war sie, die man nie am Strand vermutet hätte, ihre Fülle in einen schwarzen Badeanzug gequetscht, und machte Fotos von ihren verrückten Freunden, die sich auf dem vulkanischem Felsgestein rekelten.

Nan und Ma lernten sich kennen, als Ma in einem Film mitspielte, bei dem Nan als Set-Fotografin arbeitete. Nan war hin und weg von ihr, und sie kamen ins Gespräch. Sie fragte meine Ma, ob sie nicht Unterwäsche-Aufnahmen für die allererste vierfarbige Ausgabe der Village Voice machen wollte, und so endete Ma, im achten Monat schwanger, in Badeklamotten über die steinernen Bänke im Russischen Bad drapiert, und hörte wohlmeinende Warnungen, ihr Baby nicht abzukochen.

Es war Nan, die Ma riet, mit dem Schwimmen anzufangen. Und Ma bat Nan, meine Patentante zu werden.

Ich liebe Nan, die hereinrauscht, mich drückt, sich einen Drink holt und meinem Vater Hallo sagen geht, der mein neugeborenes Brüderchen auf dem Schoß hat.

Pop sitzt mit seiner Frau Rita zusammen, die meinem Bruder irgendeinen Papp in den Mund schaufelt. Vor Rita muss man sich höllisch in Acht nehmen. Sie beäugt Nan und ihre riesigen Titten, als die sich vorbeugt und meinen Pop auf die Wange küsst, weil Rita psychomäßig eifersüchtig ist. Sie stammt aus bitterarmen Verhältnissen, dementsprechend ist sie blitzgescheit, hat rasiermesserscharfe Augen, beschützt, was sie einmal hat, und ich weiß, wie bösartig sie sein kann. Rita würde einer Frau das Herz aus dem Leib schneiden, wenn sie zu weit geht, die Frage ist immer nur, wo in ihrem verquasten Gehirn die Grenze dafür verläuft.

Rita ist eine Schönheit mit dickem, rabenschwarzem Haar, vollen Augenbrauen und einem strahlenden, irreführenden Lächeln. Sie hat extreme Stimmungsschwankungen, und sie hat dieses gewisse Katholische, als würde irgendetwas hinter ihren Augen herumspuken, wenn in ihrem Bewusstsein Stille herrscht.

Onkel Crispy, der den Hamlet gespielt hat, hat Pops Ohr in Beschlag genommen. Crispy ist ein Nahsprecher. Bei ihm ist das so, dass ihn irgendwas beißt, und dann nagelt er dich fest und sagt dir, wie es wirklich ist, weil er die oberste Autorität dafür ist. Und zwar für alles.

Crispy hat Ma und Pop einander vorgestellt, mitten auf der Ninth Street, als sie gerade zum Ballettunterricht rannte. Sie in ultrakurzen Shorts und mein Vater im Trenchcoat. Crispy stellte sie als »die unlöschbare Flamme« vor, obwohl eigentlich er derjenige ist, dessen flammende Reden selbst der geballte Strahl von einer Million Menschen, die ihn ständig bitten, die Klappe zu halten, nicht gelöscht bekommt. Die Venen an seinem Hals schwellen an, weil er sich so in Rage reden kann, wenn er dir Storys erzählt und die Weltgeschichte korrigiert.

Nan küsst im Vorbeiwehen Crispys Locken, und der schnappt meinen Pop beim Ellbogen, beugt sich zu ihm und sagt: »Hör mal zu, Mann, das ist die wahre Geschichte, so war es nämlich wirklich, klar?«

Auf der anderen Seite des Gartens stehen Poppas bester Freund Yanik und seine Frau Esther, die jugoslawischen John und Yoko in einem Stamm von Expats, die mit nichts als ihren Kleidern am Leib aus dem kommunistischen Budapest geflohen sind. Sie verließen das Land tatsächlich zu Fuß. Sie schafften es mit ihren schwarzen Mänteln und langen Bärten bis nach Paris und wagten dann den Sprung nach New York, wo ein Fan ihnen ein Gebäude auf der Twenty-third Street schenkte, in dem sie ihre Theatertruppe aufbauen konnten. Sie strichen die Decken in Gold, und der gesamte Stamm lebt und arbeitet dort kreativ, direkt neben dem Chelsea Hotel, und alle Kinder baden in der einen Wanne im Wohnzimmer, während die kolumbianischen Koksdealer sich rein- und rausschleichen, um Geschäfte mit Yanik zu machen.

Yanik ist groß, kantig und dünn, hat dicke schwarze Brauen und tief in den Höhlen liegende Augen, die düster und zugleich funkelnd sind. Er spricht mit einem satten ungarischen Akzent, mit einer Stimme, von der man Rotkäppchen vorgelesen bekommen möchte. Er hat ein kerniges Kinn und seine Nase ist eine breite Landebahn. Sein kreisrunder Kopf sieht aus, als sei er von Natur aus haarlos, damit seine Gedanken barrierefrei das Publikum erreichen können. Wenn die Worte seine vollen Lippen und starken Zähne passieren, sitzen die Menschen sofort auf der Stuhlkante und hören zu.

Yanik und Esther haben eine Tochter, Mira, die ich als Schwester betrachte. Sie ist der Babyvampir ihres Clans. Als Ma irgendwann mal in ihr Familienzimmer kam, schliefen Yanik und Esther in getrennten schmalen Betten wie in Särgen, und Yanik redete und lachte im Schlaf.

Im Moment hockt Yanik auf der Kante eines Kinderstuhls, dessen blaue Plastikfüße im Gras versinken. Er hat eine Fliegenklatsche und eine Zigarette mit zwei Zentimeter langer Asche in der Hand und unterhält sich in gedehntem Ungarisch mit einem befreundeten Filmemacher. Ihre Sprache klingt wie rollende Diamanten am Fuß eines Kratersees, singend und hart zugleich. Die beiden Männer stecken die Köpfe zusammen, die Beine über die Schenkel geschlagen, die Handgelenke schlenkernd. Den gelegentlichen Salven auf Englisch ist zu entnehmen, dass sie eine Szene diskutieren, die der Freund während des Winters aufgenommen hat.