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Weil Gesundheit auch Darm-Sache ist – Die renommierte Ärztin und Mikrobiom-Forscherin Dr. Anne Katharina Zschocke zeigt, wie Bakterien uns dienen können. Die Mikrobiom-Forschung hat sich im Tempo eines wissenschaftlichen Senkrechtstarters entwickelt und lässt bislang ungeahnte Zusammenhänge erkennen. Der Einfluss von Bakterien auf unsere Gesundheit, unser Immunsystem und unsere Stimmung ist immens. Bisher hielten die meisten Menschen Bakterien für Krankheitserreger, doch seit Kurzem gibt es in der Forschung revolutionäre Erkenntnisse: Bakterien haben eine große Bedeutung für den gesunden Organismus – ohne sie werden wir tatsächlich krank. Immer mehr Erkrankungen werden mit der Zusammensetzung der Darmbakterien in Verbindung gebracht. Antibiotika haben eine verheerende Wirkung auf die Darmflora, ebenso wie falsche Hygienemaßnahmen und Ernährung. Ist das Ökosystem Darm im Gleichgewicht, können Probleme wie Allergien, Diabetes, Reizdarm, Übergewicht, ja sogar psychische Störungen wie Depressionen oder ADHS verschwinden. Damit ändert sich das bisherige Verständnis für die Zusammenhänge im menschlichen Körper völlig. In zahlreichen Studien wurde wissenschaftlich exakt nachgewiesen, was zuvor höchstens praktisch erfahrbar war: Darmbakterien sind der Schlüssel zur Gesundheit. Dr. Zschocke zeigt anhand der neuesten Forschung auf, wie weitreichend das Mikrobiom Darm und ein guter Gesundheitszustand miteinander verbunden sind und, wie man seinen Darm optimal mit Mikroben versorgt. Ein informativer Ratgeber, das jeden angeht, weil unsere Darm-Gesundheit nicht zu unterschätzen ist. Auch Fachleuten erhalten hier wertvolle neue Impulse.
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Seitenzahl: 410
Dr. Anne Katharina Zschocke
Darmbakterien als Schlüssel zur Gesundheit
Neueste Erkenntnisse aus der Mikrobiom-Forschung
Knaur e-books
Die Bedeutung der Bakterienbesiedlung des Darmes ist umfangreicher, als man noch bis vor kurzem glaubte. Die aktuellste Mikrobiom-Forschung zeigt, dass nicht nur unsere Fähigkeit, Nahrung zu verwerten, das Immunsystem, Vitaminproduktion und Stoffwechsel von diesem Miteinander abhängen, sondern auch unsere gesamte persönliche Entwicklung, Befindlichkeit und Verhalten, Gesundheit und Krankheit. Immer mehr Erkrankungen werden mit der Zusammensetzung der Darmbakterien in Zusammenhang gebracht: Asthma, Heuschnupfen und Neurodermitis, Allergien und Diabetes, Hauterkrankungen, Leistungsdefizite, Übergewicht, soziale oder psychische Störungen wie Autismus oder ADHS.
Während der fast fünfzehn Jahre, in denen ich die praktische Anwendung der Effektiven Mikroorganismen (EM) unterrichte, erlebte ich, dass die meisten Teilnehmer von Vorträgen und Seminaren sich notgedrungen deshalb für Bakterien interessieren, weil ein schwieriges Problem mit ihrer Gesundheit sie plagt. Die am häufigsten gestellten Fragen galten dem Darm und den von ihm ausgehenden Krankheiten.
Gleichzeitig gab es in diesen Jahren eine überraschende Entwicklung: Die große Bedeutung der Bakterien für den gesunden Organismus wurde entdeckt. Dies ändert das bislang bestehende Menschenbild völlig. In zahlreichen Studien wurde wissenschaftlich exakt nachgewiesen, was zuvor höchstens praktisch erfahrbar war. Dass nämlich die Darmbakterien der Schlüssel zur Gesundheit sind.
In den Büchern, die ich bereits über die Effektiven Mikroorganismen geschrieben habe, war für dieses Wissen jeweils kaum Raum. Damit diese Neuigkeiten jedoch möglichst vielen Menschen zugänglich werden, wurde jetzt dieses Buch geschrieben. Es ist wie eine Momentaufnahme in all den spannenden Erkenntnissen, die sich rund um das »Mikrobiom«, wie man die Darmbakterien als Ganzes inzwischen nennt, ranken.
Mögen viele Menschen Hilfe, Heilung und Lebensfreude daraus gewinnen!
Dr. Anne Katharina Zschocke
Juni 2014
Wir stehen als westlich geprägte Menschen mitten in einer Revolution, einer Revolution, die für die meisten unbemerkt verläuft, die aber unsere Sicht auf die Welt und uns Menschen völlig verändern und unser Bild von Krankheit und Medizin vollkommen umwandeln wird – nämlich die wissenschaftlich nachgewiesene Einsicht: Bakterien sind die Grundlage unseres Lebens und unserer Gesundheit.
Was bislang nur von wenigen Menschen gelebt und oft genug belächelt oder abgelehnt wurde, was bloß in »alternativ« genannten Therapieformen, Ernährungsratschlägen und Naturheilverfahren eine Nische fand, erlangt auf einmal den Rang von Zukunftsmedizin: Unsere Bakterienbesiedelung ist der Schlüssel zur Heilung, und zwar von Krankheiten, die man bis vor kurzem als unheilbar betrachtete, als »Zivilisationskrankheiten« bezeichnete oder als »ungeklärt« und deren Auftreten oft genug für die Betroffenen ein lebenslanges Leiden bedeutete. Lebensmittelunverträglichkeiten und Diabetes, Übergewicht, Reizdarm und Hauterkrankungen, Autismus, Alzheimer und Bluthochdruck – die Liste der Erkrankungen, die jetzt mit unserer Bakterienflora in Zusammenhang gebracht werden, wird länger, je länger ihre Bezüge zu Mikroorganismen erforscht werden. Und dies geschieht schnell.
Weltweit werden die Bakterien des Menschen in immer mehr Forschungsinstituten in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. Von Entzündungen über Stoffwechselstörungen bis zu psychischen Erkrankungen: Auf einmal eröffnen sich völlig ungeahnte Therapieansätze in der akademischen Medizin mit großer Hoffnung auf Heilung. Und erfreulich ist: Diese Heilung entspringt keinen menschengemachten Konzepten synthetischer Art, sie ist in Wirklichkeit eine Rückkehr zur Natur. Sie ist ein staunendes Erkennen von Beziehungen innerhalb unseres Organismus und eine Korrektur unseres bisherigen Denkens und Handelns.
Revolutionen treten auf, wenn die Not unerträglich groß wird. Dann wird es Zeit, grundlegend etwas zu ändern. Meist wächst sie auf dem Nährboden der Ungerechtigkeit. Das Wort »Revolution«, das übersetzt »Umwälzung, Zurückrollen« heißt, bezog sich einst auf den ständigen Umlauf der Sterne. Später stand es allgemeinen für »Veränderung«. Jetzt gibt es eine umwälzende Veränderung, die wir »mikrobiologische Revolution« nennen können. Davon handelt dieses Buch. Wenn sie klug fortgeführt wird, wird sie zu einer Sternstunde der Menschheit werden mit einem respektvollen Blick auf die bereits Millionen Jahre andauernde Verbindung von Mikrobe und Mensch, und sie wird einen anmaßenden Griff der Menschen nach den Sternen beenden. Anders als politische Revolutionen bringt sie nicht Unruhe aus friedlichen Zeiten, sondern führt aus wachsendem Konflikt zu friedlicher Koexistenz, Frieden und Heilung. Sie verläuft ohne Gewalt, aber mit großer Verwunderung und beendet Mord und Totschlag, die seit dem vorletzten Jahrhundert medizinisches Programm gewesen sind: die systematische Tötung von Bakterien, auch in unserem eigenen Körper.
Mit den aufsehenerregenden neuen Erkenntnissen, die wir in den vergangenen Jahren zur menschlichen Bakterienbesiedelung erlangt haben, kehren wir um: von einer Feindschaft gegen Einzeller zu einem neuen Miteinander, in dem wir sie als diejenigen Lebewesen anerkennen, die uns ein gesundes Leben überhaupt erst ermöglichen. Gerechtigkeit wird wiederhergestellt.
Und das Schöne daran ist: Wir können alle dabei gewinnen – mehr Gesundheit, mehr Wohlbefinden, Geldersparnis, ein grundlegend besseres Leben.
Mit den neuen Erkenntnissen zu unseren Darmbakterien wandelt sich das Bild, das wir von Bakterien haben, grundlegend, und rückblickend müssen wir uns eingestehen, dass wir über hundert Jahre lang dem Fehlurteil aufgesessen sind, Bakterien seien für uns in erster Linie Krankheitserreger, sie seien gefährlich und der Körper müsse sich davor schützen. Die damals aus wenigen beobachteten Fakten gezogenen Schlüsse entpuppen sich jetzt, vier Generationen später, als einseitig und nötigen uns, einen ganzen Zweig der Medizin umzustellen. Denn die im 19. Jahrhundert entwickelten Antibiotika führten statt zu mehr Gesundheit zu mehr Krankheiten und resistente Bakterienstämme zu den größten Problemen, die nicht nur Krankenhäuser heute haben. Man kann gesund für einen kleinen Eingriff in die Klinik gehen und darin mit resistent gewordenen Bakterien so schwer erkranken, dass langwierige Therapien notwendig und schweres Leid bis hin zum Tode die Folgen sind.
Dass dies in größerem Rahmen aufgedeckt und dadurch allmählich auch in der akademischen Welt anerkannt wird, ist einem Projekt zu verdanken, dessen Sinn und Zweck sich durchaus kritisch hinterfragen ließe: dem Humangenomprojekt (HGP). Das HGP wurde im Jahre 1990 in den USA ins Leben gerufen und hatte zum Ziel, das gesamte menschliche Erbgut digital zu kartieren. Man hatte ja als eine der großen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts herausgefunden, dass Chromosomen, die in jeder Zelle das Erbgut tragen, aus spiralförmig gewundener Desoxyribonukleinsäure, englisch DNA, bestehen, in einer Abfolge von Basenpaaren. Deren Anordnung trägt Informationen für die Bildung von Molekülverbindungen, und die Reihenfolge für eine bestimmte Einheit nennt man ein Gen. Werden diese Gene in der Zelle abgelesen, bilden sich Eiweiße: Hormone, Enzyme, Struktureiweiße und vieles mehr. Um die Abfolge der Basen zu ermitteln, entwickelte man Gentechnologien.
Während sich die Vererbungslehre bis dahin mit der Betrachtung äußerer Erscheinungen beschäftigt hatte, traten dann die Gene als Träger der Erbinformationen in den Vordergrund. Die Genetik wurde als Schlüssel zum Verständnis des Lebens angesehen, und man glaubte, an den Genen alle Eigenschaften des Menschen, auch seine Krankheiten, ablesen zu können wie Informationen aus den Buchstaben eines Buches. Wenn man nur sämtliche Gene und ihre Funktionen im Körper kenne, so stellte man sich vor, ließen sie sich bei Bedarf durch gezielte Eingriffe verändern, so dass man über genetische Eingriffe Störungen beseitigen könne.
Folglich wurden die entsprechenden Technologien gesucht und im Jahre 1975 tatsächlich die »DNA-Sequenzierung« als Methode zur Bestimmung der Basenpaarabfolge in einer DNA gefunden. Sie wird bis heute zur Analyse von genetischen Informationen genutzt. Dazu wird die DNA in kleinere Stücke zerschnitten und durch Herstellung einer Art Blaupause kopiert, also die Reihenfolge der Basenpaare bestimmt. Mit ihrer Hilfe lassen sich alle Basenabfolgen auf einem Chromosom analysieren, was man »sequenzieren« nennt, und anschließend lässt sich feststellen, für welche Information eine solche Abfolge, also ein Gen, ein Stück des Chromosoms, steht. Parallel dazu entwickelte man Techniken, um bestimmte Basenfolgen aus Genen auszuschneiden und nach Gutdünken an anderer Stelle wieder in lebende Zellen einzusetzen. Damit war die Gentechnik geschaffen.
Ende der 1970er Jahre war man so weit, fremde Gene in Pflanzenzellen einschleusen zu können, um deren Aktivität zu verändern. Man konnte auch menschliche Gene in Bakterien einsetzen, damit diese menschliche Eiweiße produzieren, beispielsweise Insulin.
Heute werden diese Techniken in großem Stil industriell genutzt, auch wenn viele Menschen den Eingriff in die Erbsubstanz von Lebewesen und deren Manipulation als anmaßenden Übergriff in die geschaffene Welt erleben.
Bakterien spielten in dieser Genforschung von Anfang an eine große Rolle. Da sie für die Forscher bequem zu handhabende Gene besitzen, konnte man an ihnen leicht experimentieren. Neben einem Chromosom, auf dem die gängigen Informationen liegen, besitzen Bakterien zusätzliche genetische Einheiten. Diese bestehen meist aus einem kleinen Ring, »Plasmid« genannt, und können unabhängig in der Bakterienzelle vervielfältigt werden. Bakterien können Plasmide nach Belieben in die Umgebung, in andere Einzeller oder in Körperzellen abgeben. Mit solchen Plasmiden ließ sich gentechnologisch relativ leicht basteln.
Die berühmteste unter den Forschungsbakterien wurde Escherichia coli (E. coli). Durch ihre kurze Verdoppelungszeit von etwa 20 Minuten unter Laborbedingungen und ihre bescheidenen Nährstoffansprüche gilt sie als leicht zu züchten. Aus ihr isolierte man 1969 das erste Gen, es war im Jahre 1973 auch das erste gentechnisch umgebaute Bakterium.
E. coli erhielt seinen Namen nach dem Kinderarzt Theodor Escherich, der es 1885 erstmalig beschrieb, und nach der lateinischen Bezeichnung seines Hauptvorkommens, nämlich dem Colon, einem Teil des Dickdarms. Es ist ein gängiger Mitbewohner im Darm von Mensch und Tier und erfüllt dort wichtige Aufgaben.
Für die gentechnische Verwendung wurde E. coli zu einem »Modellorganismus« standardisiert, der sowohl in der Forschung als auch zur industriellen Nutzung in der Biotechnologie umfangreich Verwendung findet.
Mitte der 1980er Jahre wurden die ersten genetisch manipulierten Bakterien in die Umwelt freigesetzt. Nachdem der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1981 geurteilt hatte, dass Mikroorganismen zwar lebendig seien, dies aber für die Belange des Patentrechts irrelevant sei, können gentechnisch veränderte Lebewesen auch patentiert werden. Wie wir noch sehen werden, sind Bakterien imstande, Raum und Zeit beliebig zu überbrücken, und können mit Wind, Wasser und Wolken überallhin getragen werden. Die Versuche, sie zu kontrollieren und zu patentieren, stehen also in krassem Widerspruch zu ihren natürlichen Eigenschaften.
Nachdem man die DNA als Informationsträger ermittelt und Abschnitte daraus als Gene identifiziert hatte und nachdem auch die Technik, um diese Gene darzustellen, funktionierte, wollte man natürlich wissen, welche Gene denn nun der Mensch trägt. Dafür wurde besagtes Humangenomprojekt ins Leben gerufen. Ziel des Projektes war, alle Gene der menschlichen DNA zu identifizieren, die Abfolge sämtlicher Basenpaare zu bestimmen und diese Informationen digital zu speichern.
Man schätzte, dass der Mensch circa drei Milliarden Basenpaare hat, und ging davon aus, dass man nach Erstellung einer vollständigen Genkartierung das menschliche Genom, also die Gesamtheit aller Gene des Menschen, wie ein Buch ablesen könne. Dann wären Krankheiten einzelnen Genen zuzuordnen und durch Eingriffe ins Erbgut zu korrigieren. Der Mensch wurde als schlichte Blaupause seiner Gene, gewissermaßen als Bastelsatz der Natur angesehen und Krankheit als eine Art individuelle Fehlprogrammierung.
Um die tausend Wissenschaftler in etwa vierzig Ländern machten sich also an die Arbeit. Ab September 1995 war auch Deutschland mit dem aus Geldern des Bundesministeriums für Bildung und Forschung finanzierten Deutschen Humangenomprojekt (DHGP) dabei. Dreizehn Jahre und über eine Milliarde Dollar (etwa 733352889 Euro) Kosten später besaß man eine gigantische digitale Datenmenge zur menschlichen DNA. Man war aber in Wahrheit kaum schlauer als zuvor.
Bis heute brachten diese Analysen keinen Fortschritt für die menschliche oder sonstige Gesundheit. Als im Jahre 2001 verkündet wurde, man habe das Genom des Menschen dechiffriert, und dies auf den Titelseiten großer Zeitungen weltweit als Sensation verkündet wurde, war man geneigt, mit den Schultern zu zucken und zu fragen: Na und?
Dennoch hatte das Projekt einige nützliche Nebeneffekte, deren eine zur mikrobiellen Revolution führte. Zum Beispiel wurde die Sequenzierungstechnik verbessert – und es damit schneller und billiger möglich, Gene zu identifizieren. Dauerte die Analyse einer einzigen Gensequenz anfangs noch tagelang, kann man heute sein persönliches Erbgut binnen weniger Tage sequenzieren lassen. Auch die Gene aller anderen Lebewesen ließen sich nun leichter untersuchen, darunter die von Bakterien. Auf einmal tat sich den Wissenschaftlern ein vielversprechendes Forschungsfeld auf, und sie stürzten sich geradezu auf die Neuerforschung der Bakteriengene.
Es ist nicht verwunderlich, dass das erste Lebewesen, dessen Gene im Jahre 1995 vollständig sequenziert wurden, ein Bakterium war. Schließlich sind Bakterien die Lebewesen mit dem kleinsten Gengut. Man kannte nun die Basenabfolge in seinem genetischen Material, jedenfalls in dieser Mikrobe im Moment der Bestimmung. Nur: Eine wirklich relevante Aussage war das nicht. Bakterien können untereinander jederzeit beliebig Gene austauschen, E. coli enthält beispielsweise regelmäßig etwa 15 Prozent Gene von anderen Bakterien, da konnten die Gene in einem anderen Bakterium derselben Art oder desselben Bakteriums zu einem anderen Zeitpunkt auch anders aussehen. Bakterien zu benennen ist, wie in einen Bach zu greifen, um eine Welle zu untersuchen.
Mikroorganismen, also Wesen, die wir mit bloßem Auge nicht sehen, präzise zu benennen ist bereits, seit man sie kennt, eine große Schwierigkeit. Man benötigt eine angemessene Vergrößerung, um sie überhaupt zu erkennen. Dabei lassen sie sich beispielsweise nach ihrer Form unterscheiden. Außerdem unterscheidet man verschiedene biochemische Merkmale oder unterschiedliche Stoffwechselleistungen, eine unterschiedliche Zusammensetzung der Zellwand oder verschiedene Oberflächenstrukturen. Dies alles sagt aber noch nichts über ihre Aktivitäten aus.
Als man schließlich genetische Techniken entwickelt hatte, versuchte man Bakterien anhand ihrer Gene zu klassifizieren. Doch auch dies blieb zunächst unbefriedigend, weil ganz verschieden klassifizierte Bakterien sich auf einmal als genetisch ähnlich entpuppten. E. coli als harmloser Darmbewohner und Shigella, die an der bakteriellen Ruhr beteiligt ist, haben zu 100 Prozent die gleiche DNA, obwohl sie völlig verschiedene Wirkungen im Darm zeigen. Bei Einzellern handelte es sich also eher um einen Genpool, um viele Gene, verteilt auf lauter Einzeller, unter denen sie je nach den Umständen austauschbar sind. Man wurde geradezu genötigt, von Bakterien anders zu denken als von Individuen wie Katz und Maus, Zebrafink und Regenbogenforelle. Dies gestaltete sich naturgemäß schwierig.
Als das Humangenomprojekt begann, erwartete man aufgrund der komplexen Erscheinung des menschlichen Körpers, weit über hunderttausend verschiedene menschliche Gene zu finden. Nachdem das Projekt abgeschlossen war, wurde man jedoch mit der ernüchternden Tatsache konfrontiert, dass sich die Zahl der Gene in menschlichen Chromosomen gerade einmal auf gut 20000 belief, unwesentlich mehr als beim Genom einer Maus. Wie konnte dies möglich sein? Der Mensch: so komplex wie eine Maus? Der Mensch hatte sich in seiner grenzenlosen Selbstüberschätzung weit übernommen. Wie konnte es sein, dass ein so hoch entwickeltes Lebewesen mit derart komplexen Abläufen bloß so wenig Gene besitzt? Ist der Homo sapiens gar nicht die Krone der Schöpfung?
Die Antwort fand sich im Unerwarteten und lautete: Wir verdanken unsere Komplexität den Genen der in uns lebenden Bakterien. Sie enthalten die fehlende Anzahl, etwa hundertmal so viele wie die auf unseren menschlichen Chromosomen. Wir sind ein Team. Neben seinen zelleigenen Genen besitzt der Mensch die Gene von den Billionen Bakterien, die in und auf seinem Körper leben. Sie sind es, die Organentwicklungen bewirken und Verdauung und Verhalten steuern, die das Immunsystem bewegen und vieles mehr. Sie sind an allen wichtigen Körperfunktionen beteiligt: an Stoffwechsel und an Muskelaktivitäten, Hormonhaushalt, Gehirnfunktion und Nervensystem. Noch längst hat man nicht alle ihre Wirkungen erkannt.
Wir Menschen sind nicht in erster Linie, wie wir dachten, Zelle mit Zellkern, von denen das Leben ausgeht, wir sind ein lebendiges Miteinander von Mikroben und Körperzellen, und ohne diese Bakterien ist der Mensch: nichts. Man dachte, wir seien das Ergebnis unserer ureigenen Gene, des Genoms, und die revolutionäre Entdeckung ist: Wir stehen durch die Bakterien in uns im großen Zusammenhang aller Mikroben der Erde und tragen in uns eine Art Organ, das wir bislang als solches nicht erkannt hatten: die Gesamtheit aller Bakterien mitsamt ihrem genetischen Gut, mit ihren Stoffwechselaktivitäten, ihrer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Mit ihrer Fähigkeit, sich untereinander über alles Mögliche auszutauschen, und mit allem, was wir noch nicht kennen.
Diese Gesamtheit aller unserer Mikrobengene taufte man das »Mikrobiom«. Infolge dieser Entdeckung fokussiert sich die Forschung auf die Frage, welche Aufgaben Einzeller in uns erfüllen, und nun entdeckt man in unerwarteter Geschwindigkeit neue Zusammenhänge, die das gesamte menschliche Leben in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen.
Man kann sich natürlich fragen, warum um alles in der Welt derart viel Geld für ein Forschungsprojekt ausgegeben wird, das nach jahrelanger Arbeit unzähliger Wissenschaftler weltweit scheinbar sein Ziel verfehlt.
Nichtsdestotrotz gewann die Menschheit dabei: nämlich die akademisch wissenschaftliche Bestätigung dafür, dass wir Menschen Beziehungswesen sind. Dass wir untrennbar mit den Kleinstlebewesen dieser Welt verbunden und aufeinander angewiesen sind, uns gemeinsam entwickeln, und dass nur in einem gesunden Miteinander gesundes Leben gedeihen kann. Diese zu Bescheidenheit anregende Gewissheit muss die Gesellschaft jetzt erst mal verdauen.
In den USA sieht dieser Verdauungsprozess so aus, dass Anschlussprojekte ins Leben gerufen wurden: zum Beispiel das »Genomic Science Program«, auf Deutsch: Genom-Wissenschaftsprogramm, das mit Hilfe der Kenntnis genetischer Eigenschaften biologische Systeme so gut verstehen möchte, dass »Prinzipien, die pflanzliche und mikrobiologische Systeme kontrollieren, enthüllt werden« und »die Grundlage für neue Generationen industrieller Biotechnologie gelegt« wird.[1] Die dahinterliegende Vorstellung ist, dass es grundlegende genetische Prinzipien gebe, die Einzeller- und Pflanzensysteme kontrollieren. Die Kontrolle des Menschen über diese Kontrollprinzipien soll es ermöglichen, sie zu beherrschen und nach eigenen Vorstellungen einzusetzen.
Ein weiteres Programm ist das »Human Microbiome Project« von 2008 bis 2012, in dem aus fünfzehn Körperstellen von 300 Personen 690 Mikrobenproben genommen und genetisch untersucht wurden, um das Mikrobiom besser zu verstehen.
Aus allen Projekten wissen wir jetzt, dass erst das Bakteriengengut in und auf unserem Körper mit dem Erbgut unserer Zellen zusammen uns als ganzen Menschen ausmacht und unsere Gesundheit begründet. Wenn wir Bakterien außerhalb unseres Körpers manipulieren, gelangen sie über Luft, Wasser und Nahrung auch wieder in unseren Körper. Dort üben sie die Funktionen aus, die wir ihnen gentechnologisch beigebracht haben. Wie im Außen, so im Inneren – alles, was wir Bakterien im Labor antun, kehrt zu uns selbst zurück, zum Beispiel in unseren Darm.
Die Erwartung, man könne das Leben über die Beherrschung von Genen kontrollieren, wurde in dem Maße enttäuscht, in dem man feststellte, dass nicht das Gen an sich, sondern erst seine Aktivierung für die Ausprägung im Leben verantwortlich ist. Höherentwickelte Lebewesen tragen als Mehrzeller im Kern jeder Zelle dieselben Gene, aber aktivieren nur ausgewählte davon je Zelle, damit aus einer einzigen befruchteten Eizelle überhaupt ein differenziertes Wesen mit ganz unterschiedlichen Zellen entstehen kann, mit verschiedenen Leber-, Knochen- oder Nervenzellen. Auch bei Bakterien sagt die genetische Information noch lange nichts über ihre Ablesung aus. Der Besitz eines Gens führt also nicht unbedingt dazu, dass etwas daraus synthetisiert wird. Dies ist wichtig zu wissen, wenn in späteren Kapiteln von der Bakterienbesiedelung des Darms die Rede ist. Man kann beispielsweise Bakterien im Darm haben, die Gene für ein Zellgift, ein Toxin haben, aber ob es ein Toxin synthetisiert oder nicht, hängt dann von der Umgebung ab. Das gleiche Bakterium kann in einem Menschen Toxine bilden, so dass er krank wird, beim anderen nicht. Entscheidend ist nicht, ob jemand das Bakterium besitzt, sondern ob dieses Bakterium in ihm diese Eigenschaft auslebt. Für unsere Gesundheit ist nicht nur wichtig, dass wir mit Bakterien in und auf unserem Körper zusammenleben und welche es sind, sondern auch, was diese Bakterien, unsere Körperzellen und beide im Kontakt miteinander gerade tun.
Wir brauchen uns vor unseren Genen, auch unseren bakteriellen Genen, im Körper also nicht zu fürchten. Es liegt in unserer Freiheit, was wir aus ihnen machen – und damit natürlich auch in unserer Verantwortung. Wir sind keine Opfer unserer Gene, vielmehr sind Gene die Instrumente, mit denen wir die Musik unseres Lebens dirigieren können. Wie das möglich ist, werden wir in den folgenden Kapiteln sehen. Die Realität in unserem Körper ist komplex. Unentwegt werden Gene abgelesen oder nicht abgelesen. Dabei geschieht das An- und Abschalten von Genen durch verschiedene Mechanismen, bei Bakterien beispielsweise durch An- oder Abwesenheit bestimmter Substrate in der Umgebung. Jede Art der Ernährung lässt bestimmte Bakterienarten in unserem Darm besser gedeihen als andere, so dass mehr Gene dieser als anderer Bakterien in uns wirken. Jedes Antibiotikum lässt Bakterien in uns sterben, mitsamt ihren Genen, und andere treten an ihre Stelle, vielleicht auch solche mit neugebildeten Resistenzgenen. So greifen wir ständig aktiv in die Zusammensetzung unseres Mikrobioms ein. Und es darf uns sehr nachdenklich stimmen, wie wir bislang damit umgehen.
Eine besondere Weise der Genregulation ist die sogenannte epigenetische Regulierung. Damit meint man alle Vorgänge, die unabhängig von der Basenabfolge auf den Genen bei der Vererbung eine Rolle spielen. Daher das Präfix »epi-«, das aus dem Griechischen übersetzt so viel wie »um … herum« oder »zusätzlich« heißt. Mit der Epigenetik betrachtet man, in welcher räumlichen Ordnung die Gene weitergegeben werden. Die DNA ist im Chromosom mehrfach verdrillt zu einer Raumgestalt aufgewickelt. Man kann es sich wie ein Haushaltsgummi vorstellen, das man an zwei Enden hält und so lange gegeneinanderdreht, bis es zu einem Knäuel geworden ist. Mit demselben Gummiband lassen sich viele verschiedene Knäuel wickeln. So ähnlich ist es mit der DNA, mit weitreichenden Folgen: Durch die Art und Weise der Knäuelform können Gene so dicht untereinander verschlossen werden, dass sie sich nicht mehr ablesen lassen. Diese Art der »Knäuelung« kann verschieden sein und ist vererbbar; das bedeutet, dass dieselbe Abfolge von Genen je nach ihrer dreidimensionalen Gestalt mal in die äußere Erscheinung umgesetzt wird und mal nicht.
Es gibt also beim Vorhandensein derselben Gene verschiedene Ausprägungen, und es existiert eine Veränderung in der Vererbung ohne Änderung der Gene. Wo die Auslöser für solche Veränderungen liegen, wird noch erforscht und diskutiert, man weiß jedoch bereits, dass sie sich sogar spontan ändern können, beispielsweise durch plötzlich veränderte Umweltbedingungen. Im Klartext heißt dies: Wie wir die Bedingungen in unserer Umwelt schaffen, prägen sich vorhandene genetische Informationen aus oder nicht. Auch unser Darminneres ist eine Art Umwelt, in der wir Bedingungen schaffen können, die bestimmte Phänomene zur Erscheinung bringen oder nicht.
Damit solche Regulationsmechanismen überhaupt eine Bedeutung haben und eine Änderung durch Ablesen oder Ausschalten eines Gens wirksam ist, braucht es kurzlebige Vermittler der jeweiligen Information. Dies sind Botenmoleküle, sogenannte RNA[2]. Es gibt verschiedene Klassen von RNA, und da ihre Basenabfolge wie eine Abschrift von der DNA ist, nutzt man eine Unterform, die 16S rRNA[3], als Marker für die Sequenzierung von Bakteriengenen. Man geht davon aus, dass es sich um dieselbe Bakterienart handelt, wenn 98 Prozent ihrer 16S rRNA identisch sind.
Mit einer anderen Klasse von RNA, mRNA[4], die als Boten fungieren, welche rasch wieder zerfallen, zum Teil innerhalb weniger als einer Minute, können Bakterien kurzfristig auf Veränderungen reagieren und ihre Stoffwechselwege jederzeit anpassen. Dies tun sie unentwegt als Einzelzelle wie als ganze Gemeinschaft, auch in unserem Darm. Ein kleiner Reiz, eine kleine Änderung bei nur einem Teil der Körperbakterien kann bei einer großen Zahl von Körperbakterien Veränderungen herbeiführen.
Wächst beispielsweise E. coli auf, ohne dass sich Milchzucker, also Lactose, in der Umgebung befindet, ist seine Fähigkeit, Lactose zu seiner Vermehrung zu nutzen, nicht ausgebildet. Tritt plötzlich Lactose hinzu, werden die nötigen zuckerspaltenden Enzyme von zuvor ruhenden Genen abgelesen und produziert, sie spalten Lactose in Glucose und Galactose, zwei Zucker, die E. coli dann nutzt.
Solche Flexibilität ermöglicht es den Darmbakterien, mit der ständig wechselnden Zusammensetzung unserer Nahrung zurechtzukommen. Morgens kommen Brot und Butter, vormittags vielleicht Joghurt und Apfel, mittags Kartoffeln und Gemüse, nachmittags Kuchen und abends Spiegelei und Speck. Dazu allerlei Getränke. Jedes Mal können die Darmbakterien, indem sie sich auf die jeweiligen Zutaten einstellen, für eine optimale Verdauung sorgen. Wobei auch deutlich wird, dass es strapaziös für sie wird, wenn Karneval ist und alles durcheinander gegessen wird, dass hingegen eine Darmschonkost mit gleichmäßiger Nahrung die Bakterien wenig fordert.
Die Regulation der Bakteriengene geschieht im Zusammenwirken mit der Umwelt und ist durch verschiedenste Wirkstoffe auslösbar. Das zeigt, warum das Humangenomprojekt nicht erfolgreich sein konnte: Die lebendige Wirklichkeit ist erheblich vielschichtiger als die lineare Aufreihung von Basenpaaren zu einer DNA.
Welche Tragweite die molekulargenetische Regulation ganz praktisch in unserem alltäglichen Leben und für unsere Gesundheit haben kann, ließ sich an der EHEC-Erkrankung[5] im Jahre 2011 in Norddeutschland beobachten. Mehrere tausend Menschen erkrankten an schweren Durchfällen, die durch ein bakterielles Shiga-Toxin ausgelöst wurden. Etliche starben. Das Shiga-Toxin ist ein Eiweiß, das ursprünglich auf Genen von Shigellen zu finden ist, aber aus unbekannten Gründen in den eigentlich harmlosen E. coli übertragen worden war. Es hieß, dass Antibiotika es ausgelöst hätten. Diese E. coli, die nun das Shigellentoxin ausbildeten, konnten beim Menschen nicht nur blutige Durchfälle, sondern eine schwere Nierenerkrankung auslösen. Aus E. coli wurde EHEC. Es ist gegenüber vielen Antibiotika resistent. Nach mühsamem Suchen fand man heraus, dass alle Betroffenen frische Sprossen verzehrt hatten, die auf einem Bauernhof in Niedersachsen aufgezogen worden waren. Das Interessante war, dass dieser Hof, deren Besitzer mit viel Hingabe die in Afrika gekauften Saaten in biologischer Wirtschaftsweise zu Sprossen keimen ließen, frei von EHEC war. In keiner einzigen von etwa 3000 dort gezogenen Proben gelang es, EHEC zu kultivieren. Es gab das zugekaufte Saatgut, auf dem tatsächlich EHEC nachgewiesen wurde, und es gab erkrankte Menschen, in denen EHEC nachgewiesen wurde, aber dazwischen, auf dem Hof, war EHEC nicht zu finden. Warum?
Offensichtlich war das Toxin-Gen dort ausgeschaltet. Es ist davon auszugehen, dass die biologische Wirtschaftsweise, die ja besonderen Wert auf eine vielfältige und gesunde Mikrobengemeinschaft legt, dazu geführt hat, dass der »Schalter«, der zur Erscheinung der Bakterien als toxinbildende E. coli führt, ausgeschaltet worden ist. Offensichtlich gab es für die Bakterien dort keine Notwendigkeit, eine Toxinaktivität zu entwickeln, und so lebten sie da unauffällig mit allen anderen. Auch in Tieren, in deren Darm EHEC lebt, nämlich Wiederkäuern wie Rindern, Schafen und Ziegen, und die als Zwischenwirte dieser Bakterien gelten, treten die heftigen Durchfallerkrankungen nicht auf. Interessant wäre daher damals gewesen, sich bei den erkrankten Menschen zu fragen: Was hat zum »Anschalten« des Toxingens geführt? In welchem Zustand befand sich die Darmbakterienbesiedelung der erkrankten Menschen, als sie EHEC schluckten? Schließlich war die Krankheit ja bei verschiedenen Personen ganz unterschiedlich in Erscheinung getreten, und die Zahl der Menschen, die die Sprossen verspeist hatten, ohne daran zu erkranken, war nicht bekannt.
Menschen, die ihren Angehörigen bei den ersten Anzeichen der Erkrankung damals konsequent eine probiotische Mikrobenmischung zu schlucken gaben, dazu eine Vollversorgung mit Vitaminen als Konzentrat aus frischem biologischen Obst, Kräutern und Gemüsen, konnten dadurch eine rasche Heilung herbeiführen.
Die Zusammensetzung unserer Darmflora und ihre innere Aktivität kann also über Leben und Tod entscheiden. Das Beispiel EHEC macht deutlich: Es geht um Beziehung. Nicht Bakterien allein, nicht der menschliche Körper allein, vielmehr die Gesamtheit macht Gesundheit aus. Genauer gesagt: Der Kontakt von außen kommender Bakterien mit den uns innewohnenden Bakterien und beider Kontakt zu unseren Körperzellen sind die physische Grundlage unseres Seins.
Wieso hat man das so lange nicht erkannt? Wieso hat man bisher den Darmbakterien so viel weniger Bedeutung beigemessen, als sie in Wirklichkeit haben? Warum haben wir Bakterien bekämpft, um gesund zu werden, und jetzt stellen wir fest: Wir sollten sie fördern, um gesund zu sein?
Das hat, wie wir im Kapitel 8 sehen werden, historische Gründe, und es liegt vielleicht auch daran, dass wir Menschen dazu neigen, uns auf diesem Planeten ziemlich wichtig zu nehmen. Indem wir bekanntlich nicht in erster Linie mit demütiger Hingabe pflegen, was uns anvertraut wurde, sondern indem wir uns offenbar hemmungslos vergnüglich auf der Erde austoben. Nicht alle Menschen natürlich, auch nicht alle Kulturen, aber doch, was wir die westlich zivilisierte Welt nennen, jedenfalls zunehmend in den letzten Jahrhunderten. Es scheint, als hätten wir die Erde, wie sie uns von Natur aus gegeben wurde, weitestgehend aus den Augen verloren. Sonst hätte uns bereits besseres Hinschauen auf die richtige Spur gebracht. Schon die Tatsache, dass Bakterien die größte Biomasse – das ist die Masse, die eigenständig lebt – auf der Erde darstellen, hätte uns darauf hinweisen können, wie bedeutend sie sind. Allein in einem Quadratmeter Wiesenboden gibt es dreimal so viel Lebendgewicht an Mikroorganismen wie an Lebendgewicht von sichtbaren Kleintieren, Pflanzenwurzeln nicht einmal mitgerechnet. Und die Biomasse der Mikroorganismen auf der Erde ist größer als die aller Tiere und Pflanzen zusammengenommen. Ganz abgesehen davon, dass Einzeller ja die ersten Lebewesen waren, die überhaupt auf der Erde existierten. Wir sind, wie alle komplex entwickelten Lebewesen, erdgeschichtlich betrachtet einst aus Einzellern hervorgegangen. Seither kann ohne Mikroorganismen kein Mensch, auch keine Pflanze, kein Tier existieren. Die Entdeckung, dass wir zu uns gehörig das Mikrobiom als Bakterienorgan haben, kommt also gerade rechtzeitig, um uns vor drastischeren Erkrankungen in der Zukunft zu bewahren und um bisher schwer zu behandelnde Krankheiten zu kurieren.
Doch wie wird in unserem Körper aus lauter Einzellern ein Organ? Warum ist ein Mikrobiom mehr als nur die Summe bakterieller Teile?
Weil Bakterien wie alle Einzeller und wie natürlicherweise alle höheren Lebewesen ständig kommunizieren und kooperieren und überall und immer im Zusammenwirken, in ständiger Wahrnehmung und Mitteilung leben.
Wohin immer Einzeller gelangen, beispielweise auf ein zuvor sterilisiertes Stück Kunststoff, ordnen sie sich sofort als kommunizierende Gemeinschaft an. Sie bilden Schleimbrücken oder andere Möglichkeiten aus, sich untereinander über die Gegebenheiten zu verständigen und sich gemeinsam nach diesen Verhältnissen zu arrangieren. Das ist vergleichbar mit Menschen, die auf eine Party gehen. Man bleibt nicht allein auf seinem Platz stehen, sondern redet mit diesem oder jenem, lernt das Haus kennen, wenn eine Rede gehalten wird, hören alle zu, und wenn die Musik spielt, beginnt der gemeinsame Tanz. Für die Zeit der Party werden alle Individuen dort eine Gemeinschaft. Der Vergleich hinkt natürlich, da Bakterien keine Freiheit besitzen. Sie können nicht, wenn es ihnen nicht mehr passt, nach Hause gehen. Sie müssen bleiben. Dafür haben sie Anpassungsmechanismen entwickelt. Aber auch sie können untereinander kommunizieren und dadurch eine größere Einheit bilden.
Dies tun sie mit vielen verschiedenen Sprachen: durch Signalbotenstoffe beispielsweise, durch Lichtquanten, durch Elektronenaustausch und, wie wir schon gesehen haben, durch den Austausch genetischer Informationen. Dafür tragen sie Empfangsstrukturen, auch Rezeptoren oder Sensoren genannt, in ihrer Außenhülle, der Zellmembran, die eine Verbindung ins Zellinnere haben, über die Informationen über das Geschehen um die Bakterie herum in ihr Inneres übertragen werden können. Für verschiedenste Bedingungen der Umgebung gibt es unterschiedliche Rezeptoren, und auf einer einzelnen Bakterie hat man bereits über einhundert verschiedene Sensoren festgestellt. Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr. Als Signale von außen können der pH-Wert oder die Temperatur, die Menge eines Stoffes oder Gaskonzentrationen in der Umgebungslösung, die Phase des Wachstums, in der sich Bakterien befinden, aber auch ein Mangel an Nährstoffen, also Hungerstress und vieles mehr dienen.
Dies alles kann über die verschiedenen Sensoren vermittelt werden und in der Bakterie passende Reaktionen auslösen. Die Rezeptoren werden berührt, der Impuls wird ins Zellinnere übersetzt, dort wird über Eiweiße Einfluss auf die genetische Aktivität genommen, und es werden Gene abgelesen oder ihre Ablesung gestoppt oder verändert. Damit kann sich die Aktivität eines Bakteriums durch die Bedingungen in der Umgebung bestimmen. Dies vollzieht sich ständig im Darm.
Um die Bestandsdichte von Bakterien in einem Lebensraum zu regulieren, beispielsweise im Mikrobiom, bedienen sie sich kleinerer Moleküle als Signalbotenstoffe, sogenannter Autoinducer (AI). Diese können leicht durch die Hülle der Bakterienzelle hineinwandern. Es gibt einerseits Botenstoffe für die Verständigung der Bakterien einer Art, beispielsweise E. coli untereinander, und andere, die der Verständigung verschiedener Arten dienen, zum Beispiel E. coli mit Bifidus und Enterokokkus. Dies funktioniert, indem jede Bakterienzelle den Botenstoff ständig abgibt und gleichzeitig die Menge dieser Botenstoffe in der Umgebung wahrnimmt. Gibt es wenige Signalbotenstoffe, gibt es wenige Bakterien dieser Art. Sie verflüchtigen sich rasch, bevor sie von anderen Zellen wahrgenommen werden. Gibt es viele Botenstoffe, gibt es auch viele Bakterien dieser Art. Die Feststellung dieser Menge nennt man das »Quorum«. Das ist ein lateinisches Wort und bezeichnete in der römischen Politik die Anzahl von Mitgliedern, die mindestens anwesend sein mussten, damit ein Beschluss gefasst werden konnte. Die Dichte wird also ständig wahrgenommen. Wird sie zu groß und steigt die Dichte der Botenstoffe über einen Grenzwert hinaus an, nehmen dies alle Bakterien dieser Art wahr und stoppen gleichzeitig ihr Verdoppeln, so dass die Bakteriendichte daraufhin konstant bleibt. Nimmt die Menge an Bakterien plötzlich ab, zum Beispiel durch Abtötung, führt dies zu weniger Botenstoffen, dies wird von den übrigen Bakterien wahrgenommen, woraufhin sie ihre Verdopplung verstärken.
Diese gleichzeitige Reaktion von Bakterien auf einen Reiz bezeichnet man als Quorum sensing. Entdeckt hat man dieses Phänomen an Bakterien, die, wenn sie in Organen von Fischen in großer Zahl dicht beieinanderleben, alle zugleich zu leuchten beginnen.
Neben der Bestandsdichte gehören auch die Produktion von Antibiotika, die Bildung von Gemeinschaften, das Anordnen in einem Biofilm[6] oder die Verwandlung in einen Dauer- oder Ruhezustand, eine sogenannte Spore, zu den botenstoffvermittelten Eigenschaften. Durch Quorum sensing sind Bakterien imstande, obwohl sie Einzeller sind, auf Impulse alle gleichzeitig zu reagieren, sich also wie ein Mehrzeller zu verhalten. Und dies nicht nur innerhalb ihrer Art, sondern auch artübergreifend, als gemischte Gesellschaft. Indem sie gemeinsam agieren, können sie Wirkungen erzielen, die ein oder wenige Einzeller niemals erreichen könnten. Wo immer Bakterien leben, bilden sie solche Gemeinschaften aus.
Die Substanzen, die als Signalmoleküle dienen, können ganz unterschiedlichen Stoffklassen angehören: Aminosäuren, kurze Eiweiße oder Fettsäureabkömmlinge. Durch sie »unterhalten« sich Bakterien. Sie tauschen sich aus, sind übereinander informiert und regeln untereinander, wie viele von welcher Art gerade an einem Ort leben und was sie tun.
Gäbe es diese Selbstregulation der Bakterien auf der Erde nicht und würden sie sich ohne Abstimmung vermehren, wie sie es gerade wollten, wäre die Erde längst unter einer dicken Schicht von Einzellern versunken. Eine Bakterie von einem Gewicht von einem billionstel Gramm (10–12), die sich, wie es E. coli unter Laborbedingungen tut, alle 20 Minuten teilt, hätte nach 48 Stunden eine Bakterienmasse vom viertausendfachen Gewicht der Erde produziert.
Worüber sich unsere Bakterien unterhalten, als Gemeinschaft in unserem Darm und natürlich in unserem gesamten Körper, auf Haut und Schleimhäuten und im Blut, wissen wir noch nicht im Detail. Dass sie sich koordinieren, steht fest, und womit sie dies tun, hat man zum Teil schon entdeckt.
Da gibt es zum Beispiel den Botenstoff N-Acyl-Homoserin-Lacton (AHL). Er kommt nicht nur bei der Bakterienkommunikation untereinander vor, sondern spielt auch bei der Verständigung von Bakterien mit den Wurzelzellen von Pflanzen eine Rolle, auch von Nahrungspflanzen wie Tomaten und Getreide. Ob sie auch bei Wurzelgemüsen zu finden sind? Essen wir bei Pastinaken und Möhren vielleicht Botenstoffe mit, die unseren Darmbakterien etwas »erzählen«?
Eine Substanzgruppe von Signalbotenstoffen, die ganz sicher in unserem Essen vorkommen, sind die sogenannten Furanone. Sie dienen der Kommunikation über verschiedene Arten von Bakterien hinweg, also als relativ allgemeine Bakterien»sprache«. Furanone werden aber auch von einer Vielzahl weiterer Lebewesen produziert. Unter anderem finden sie sich in Pflanzen. Man hat sie in Erdbeeren, Tomaten, Himbeeren und Pampelmusen entdeckt und auch in fermentierten Lebensmitteln wie Bier, Käse, Sojasoße und Wein, wo sie im Laufe der Fermentation gebildet werden. Auch bei gründlichem Kochen entstehen Aromastoffe, die Furanone sind. Man braucht sich also nicht auf Rohkost zu beschränken, um bakterielle Gespräche zu führen. Unsere Nahrung stellt unweigerlich eine Botschaft an unsere Darmbakterien dar. Was immer wir zu uns nehmen, kann Signalmoleküle enthalten, die das Leben in und auf uns verändert. Wie genau, weiß man noch nicht, gewiss ist jedoch, dass sie großen Einfluss haben. Es ist Teil der Wirkung unserer Ernährung. Traditionell nutzen wir dies bereits, ohne es zu ahnen. Sollte es zu einem Ungleichgewicht in unserem Körper gekommen und wir krank geworden sein, schlucken wir vielleicht eine Vitamin-C-Tablette. Vitamin C ist Ascorbinsäure und ein Furanon, und wer weiß, ob ihre Wirkung nicht in Wahrheit der Kommunikation mit den Bakterien geschuldet ist.
Brisanterweise kommen Furanone auch in anderen Bereichen unseres Lebens vor: Sie werden in Sprays zum Vergraulen von Hunden und Katzen verwendet, als Wirkstoff in Insektenvertreibungsstreifen eingefügt oder als Granulat ins Wasser gegeben, um Mückenlarven abzutöten. Es gibt sogar Tischdecken, die insektenvertreibende Eigenschaften haben, indem sie mit Furanonen imprägniert wurden. Auch diese Furanone senden eine Botschaft an Bakterien aus.
Die Kommunikationsmöglichkeiten und Zusammenarbeit der Mikroorganismen sind so vielfältig wie sie selbst. So können sie ständig Elektronen untereinander austauschen. Man beobachtete, wie von zwei verschiedenen Bakteriengattungen in einem Versuch eine ihre fadenförmigen Zellanhänge so mit elektronentragenden Eiweißen spickte, dass Bakterien einer anderen Gattung sich elektrisch dicht daran lagern konnten. Indem die eine Elektronen auf die andere übertrug, konnten die in der Umgebung vorhandenen Nährstoffe von beiden Gattungen optimal genutzt werden. Dies war nicht von Anfang an so. Die Bakterien verständigten sich darüber im Verlaufe des Versuchs, so dass ihre gemeinsame Fähigkeit, die Nahrung zu nutzen, ständig zunahm. Was unsere elektronischen Geräte in Kommunikation mit Mikroben tun, wissen wir noch nicht. Allerdings ist naheliegend, dass sie auch darauf reagieren.
Bakterien sind lernfähig und finden sich bei ständigem Austausch zu optimalen Lebensgemeinschaften zusammen. Und da dies so ist, können wir von allen Bakterien in unserem Körper als einem Gemeinschaftsorgan sprechen.
Diese Verständigung findet nicht nur untereinander, sondern auch in Beziehung zu unseren Körperzellen statt. Unsere Darmepithel- wie auch andere Zellen stehen in lebhaftem Kontakt mit den Bakterien und nehmen ihre Signale wahr. Menschliche Hormone wie Adrenalin, Insulin oder der Neurotransmitter Norepinephrin (früher Noradrenalin genannt) gelten als Botenstoffe dieser Kommunikation. Einzeller und Einzelzellen unseres Körpers leben also in beständigem Dialog miteinander.
Was bedeutet dies alles für uns? Ziemlich Gewaltiges: Es stellt unser bisher gültiges Menschenbild gänzlich auf den Kopf. Wir hielten uns für eigenständige Wesen, die weitgehend unabhängig von der Umwelt in unserer weltlichen Umgebung leben, und stellen jetzt fest, dass wir in Wirklichkeit lebendiger Teil eines großen Ganzen sind: nämlich innig verwoben mit der universellen mikrobiellen Welt.
Sind wir überhaupt Herr unser selbst? Bestimmt unser Geist über die Bakterienbesiedelung? Oder diese über unseren Geist? Oder bestimmen beide gemeinsam über unser Leben in dem Maße, wie sie gesund zusammenwirken?
Jedenfalls dürfen wir unser bisheriges Urteil über die Mikroben in unserem Leib revidieren und uns als gleichberechtigte Partner betrachten. So wie wir ohne Herz und Nieren nicht leben können, weil sie zu uns gehören, so ist auch das Gemeinschaftsorgan, das alle Einzeller unseres Körpers darstellen, existenziell für uns. Je gesünder es ist, desto gesünder sind wir. Nachdem uns dafür die Augen geöffnet sind, können wir für viele bislang unlösbar scheinende Probleme Heilung finden.
Wie bei allem Neuen im Leben fragte man sich: Wie soll man dieses neuentdeckte Gemeinschaftsorgan in uns nennen? Wir können ja schlecht sagen: »der mikrobielle Strom des Lebens, der durch den Menschen zieht, der in seinen verschiedenen Teilen unterschiedlich lange in seinem Leib verweilt und dort partnerschaftlich mit den Körperzellen zusammenlebt und -wirkt«. Das ist zwar richtig, aber viel zu lang. Auch »Gemeinschaftsorgan« klingt etwas sperrig. Im amerikanischen Sprachgebrauch verwendet man übersetzt den Begriff »Superorganismus«, was übertrieben klingt. Bisher haben wir im Darm von Bakterien»flora« gesprochen. Aber dieser Begriff wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Das Wort flora stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet das Pflanzenwachstum auf einem Fleckchen Erde, also etwas Statisches. Pflanzen bleiben ja immer am selben Ort. Der Begriff »Bakterienflora« stammt aus der Zeit, als man die Vorstellung hatte, Bakterien wüchsen auf der Schleimhaut wie das Gras auf der Erde und das Körperinnere bliebe davon unberührt. Daher hat man auch von »Bakterienrasen« gesprochen. Heute wissen wir: Wir sind ein dynamisches Miteinander, Bakterien dringen durch uns hindurch. Sie bewachsen nicht bloß Grenzflächen. Überall auf und in unserem Körper werden die Oberflächen, die Übergänge zwischen dem Innen und dem Außen von Biofilmen aus Bakterien gestaltet, die von bleibenden, kommenden und gehenden Mikroben gestaltet werden, und zwar als dynamischer Prozess.
Dass sich schließlich der Begriff »Mikrobiom« durchsetzte, versteht sich aus der Entdeckungsgeschichte. Erstmals im Jahre 2001 in Amerika verwendet, meinte er in Anlehnung an das »Genom« die Summe körperzelleigener Gene, ursprünglich nur die Gesamtheit der Bakteriengene im Menschen. Für die Gesamtheit aller Mikroorganismen eines Lebensraumes schlug man den Begriff »die Mikrobiota« vor. Diese Unterscheidung wird auch in der wissenschaftlichen Fachliteratur genutzt. Dass Mikrobiota den Sibirischen Zwerg-Lebensbaum bezeichnet, wusste man wahrscheinlich nicht, Russland ist ja von Amerika ziemlich weit weg und die Pflanze dort so selten, dass es wohl niemanden störte. In der populärwissenschaftlichen Aufnahme hat man zwischen der »Gesamtheit bakterieller Gene« und »der Gesamtheit der Bakterienarten« des menschlichen Körpers aber gar nicht erst differenziert. Daher haben wir derzeit genau genommen zwei unterschiedliche Verwendungen der Begriffe. In medizinischen und mikrobiologischen Fachzeitschriften meint »Mikrobiom« die Gene und »Mikrobiota« die verschiedenen Mikrobenarten. Im Volksmund redet man hingegen vom »Mikrobiom« und meint das Ganze. Es steht in unseren Ohren eher für ein Gemeinschaftsorgan als »Mikrobiota«, was so struppig klingt wie der immergrüne Bodendecker, den es bezeichnet. »Mikrobiom« klingt irgendwie rund und schön.
Derweil haben Wissenschaftler anscheinend geradezu Spaß daran, lauter weitere »-om«-Begriffe zu finden. »Globales Mikrobiom« meint alle kernlosen Zellen der Biosphäre Erde. »Pangenom« sind alle Gene in allen Genomen aller kernlosen Zellen der Erde, »Panproteom« sind alle Eiweiße, die von Mikroorganismen auf der Erde gebildet werden, »Mobilom« sind alle Elemente, die Bakterien untereinander austauschen können, samt ihrer Gene. »Metabolom« meint alle Stoffwechselprodukte (Metaboliten) und »Resistom« alle Gene, die zu Resistenzen gegen Antibiotika beitragen. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen.
Die Endung »-om« tönt ja auch so wohl und erinnert an die heilige indische Silbe OM, die als Mantra der Verehrung gesungen wird. Es symbolisiert die Fülle und Ganzheit Gottes. Im Griechischen bedeutet -õma so viel wie »Bedingung« oder »die Natur von etwas«. In Begriffen aus der Botanik, zum Beispiel bei »Rhizom« als der Gesamtheit eines unterirdischen Sprosses, kommt die Endung »-om« als Ausdruck vor, der die Gemeinschaft aller Einheiten eines gemeinsamen Ursprungs bezeichnet.
Ein ganzes Wissenschaftssystem befasst sich mit zu den »-oms« gehörenden Fachbereichen, die dazu alle mit der Endung »-omik« versehen werden. Mikrobiomik beschäftigt sich mit dem Mikrobiom, Pangenomik mit dem Pangenom, Metabolomik mit dem Metabolom und so fort. Ob den Forschern bewusst ist, dass sie mit »-omik« immer etwas »Weibliches« ausdrücken?
Der Begriff »Biom« stammt ursprünglich aus der Erdökologie und wurde im Jahre 1916 geprägt. Er meinte damals eine »grundlegende Gemeinschaft in einer Pflanzen-Tier-Formation«. Würden wir daraus den Begriff »Mikrobiom« als Kurzwort für »mikrobiologisches Biom« ableiten, wäre dies eine grundlegende Gemeinschaft der uns unsichtbaren Kleinstlebewesen.
Wenn im Folgenden von »Mikrobiom« die Rede ist, ist damit die Lebensgemeinschaft der Mikroorganismen in unserem Körper oder in einem Ausschnitt davon, zum Beispiel unserem Darm, gemeint und nicht nur ihre Gene. Als »Mikrobiota« wird eine Mikrobenzusammensetzung bezeichnet.
Nachdem man sich über die Existenz des Mikrobioms im Körper klar geworden war, begann man, mit den neuen molekulargenetischen Methoden seine Zusammensetzung, seine Bedeutung, Eigenschaften und Einzelheiten und seine Rolle für Gesundheit und Krankheit zu erforschen. Die Ergebnisse, die dabei zum Vorschein kamen, revolutionieren das Verständnis, das wir für uns selbst haben, schneller, als die meisten Menschen es erfassen können. Ein Gutteil der Medizin, die wir derzeit praktizieren, ist bereits Anachronismus, und die wenigsten haben das bislang bemerkt.
Um zu begreifen, warum wir so lange brauchten, um das Mikrobiom zu entdecken, müssten wir einen Exkurs in die Geistesgeschichte der Menschheit machen: Warum neigt der moderne Mensch dazu, alles eher zu analysieren, zu zerkleinern, zu zerstückeln und zu Einzelnem zu trennen, als Einzelnes in einer Gesamtheit zusammenzuschauen? Das führte hier zu weit. Vielleicht haben wir das Vertrauen in unsere eigene Wahrnehmung verloren, als es üblich wurde, die Natur wissenschaftlich zu untersuchen. Dann ist es tröstlich, dass diese Phase jetzt überwunden wird.
Da ist es also, unser neu entdecktes Organ: Es ist unsichtbar, aber wiegt etwa zwei Kilogramm. Wir fühlen es nicht, aber ohne es hätten wir kein Gefühl. Es bewegt sich ständig, doch das bekommen wir nicht mit. Jedenfalls wissen wir noch nicht genau, woran wir es merken sollen. Ist es gesund, fühlen wir uns wohl. Wenn wir uns nicht wohl fühlen, mag dies an seinem Zustand liegen. Den allerdings erkennen wir noch nicht.
Das Mikrobiom gibt uns noch Rätsel auf. Es ist Neuland, auf dem sich Altbekanntes erst langsam zu einem anderen Bild zusammenfügt.
Bis vor wenigen Jahren war man der festen Überzeugung, ein Baby sei im Mutterleib steril und wir erhielten die Bakterienbesiedelung mit der Geburt. Wir erhalten mit der Geburt tatsächlich Bakterien, dies sind jedoch nicht die ersten. Die bekommen wir nämlich im Mutterleib: aus dem mütterlichen Blut. Im Jahre 2005 untersuchte eine Forschergruppe der Universität Madrid das Nabelschnurblut gesunder Babys, die mit Kaiserschnitt auf die Welt gebracht worden waren. Und sie fanden in diesem Blut Bakterien. Sie mussten von der Mutter stammen. Also untersuchten die Forscher das Mekonium, das sogenannte Kindspech, den Stuhl eines Neugeborenen, den es im Darm trägt, wenn es auf die Welt kommt. Auch darin fanden sich Bakterien, und zwar überwiegend gewöhnliche Darm- und Hautbewohner. Das widersprach völlig der bisher herrschenden Meinung, ein Baby hätte so etwas wie einen bakterienfreien Raum im Mutterleib. Um zu überprüfen, woher diese Bakterien stammten, fütterten die Forscher eine Gruppe schwangerer Mäuse mit markierten Mikroben. Und tatsächlich fanden sich genau die Mikroben aus dem Mutterfutter im Mekonium der Mäusebabys wieder. Um ganz sicherzugehen, dass sich keine Bakterien aus der Umwelt daruntermischen konnten, wurden sie per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht. In einer Mäusebaby-Kontrollgruppe ließen sie sich nicht nachweisen.
Bei diesen Versuchen halfen den Wissenschaftlern die neuen molekulargenetischen Techniken, mit denen sie vom Vorhandensein der Gene auf das Vorkommen der Bakterien schließen.
Man kann den Forschern, die im Jahre 1900 in die Lehrbücher schrieben, Babys im Mutterleib lebten steril, und auch dem berühmten Kinderarzt Theodor Escherich, der sie in Neugeborenenstühlen erst ab drei bis 24 Stunden nach der Geburt nachweisen konnte, nicht verdenken, dass sie irrten. Bisher kultivierte man Bakterien auf Nährstoffplatten, um sie nachzuweisen, und da wuchsen, wie man jetzt weiß, nur manche. In der Bakteriologie ist die Erkenntnis der Wahrheit erst in dem Maße möglich, wie wir Menschen uns mit »verlängerten« Sinnen dem Mikrokosmos zu nähern vermögen. Es wäre jedoch damals ehrlicher gewesen, anstatt »Da sind keine« zu sagen: »Wir finden mit unseren Methoden keine.«
Jetzt wissen wir also, dass unser Erbe nicht nur aus den Genen stammt, die wir von Samen- und Eizelle unserer Eltern übernehmen, sondern auch in bisher unbekanntem Ausmaß von den Genen der Einzeller, die zuvor in unseren leiblichen Eltern lebten. Auch vom Vater sind naturgemäß welche dabei. Da beim Küssen nicht nur Zärtlichkeiten, sondern auch Bakterien ausgetauscht werden, diese geschluckt und in den Darm aufgenommen werden, aus dem Darm ins Blut und mit diesem ebenfalls zum Baby gelangen können, werden auch väterliche Bakterien in ihm sein.
Jedenfalls gibt die Mutter von ihren Bakterien dem Kinde mit, und in welchem Zustand das Mikrobiom der schwangeren Mutter ist, kann folglich erheblich über das Befinden des Babys im Mutterleib entscheiden.