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Dieser Mörder kennt nur ein Prinzip: Die Schwächsten müssen sterben …!
Er hat dem Tod ins Auge geblickt – und seither mordet er selbst. Die Schutzlosesten sind seine Opfer. Seine Rachsucht kennt keine Grenzen …
Eine Juwelendiebin hat in einer Prominentenvilla reiche Beute gemacht und konnte gerade noch unerkannt entkommen. Unmittelbar nach dem Einbruch wird die Bestohlene tot aufgefunden. Detective Lindsay Boxer ermittelt wegen Raubmords. Doch ein anderer Fall geht ihr viel näher: Ein skrupelloser Mörder macht in den Parkhäusern der Shopping Malls Jagd auf junge Familien. Als Lindsay eine erste heiße Spur verfolgt, wird ein Bombenanschlag auf sie verübt. Jetzt geht die Angst um in San Francisco; besorgte Bürger fangen an, sich zu bewaffnen. Und während der Mörder die Stadt in Atem hält, trifft im Polizeirevier ein Paket mit gestohlenen Juwelen ein. Ist die Einbrecherin der Schlüssel zu der unheimlichen Mordserie …?
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Seitenzahl: 330
James Patterson
mit Maxine Paetro
Das9.
Urteil
Thriller
Deutsch von Leo Strohm
LIMES
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel»The 9th Judgement« bei Little, Brown and Company,a division of Hachette Book Group, Inc., New York.
1. Auflage
© der Originalausgabe 2010 by James Patterson
© der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Limes Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-06182-1
www.limes-verlag.de
Für Suzy und John
und Jack und Brendan
Sarah Wells stand auf dem Dach des Carports und schob ihre behandschuhte Hand durch das kleine Loch, das sie in das Glas geschnitten hatte. Ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren, während sie die Verriegelung löste, das Fenster nach oben schob und sich leise in das dunkle Zimmer gleiten ließ. Innen angekommen drückte sie sich mit dem Rücken flach gegen die Wand und lauschte.
Aus dem unteren Stockwerk drangen Stimmen nach oben. Sie hörte das Klirren von Besteck auf Porzellan. Guter Zeitpunkt, dachte Sarah. Um nicht zu sagen, perfekt.
Doch Zeitpunkt und Ausführung waren zwei vollkommen verschiedene Dinge.
Sie knipste ihre Stirnlampe an und ließ den Strahl einmal von links nach rechts durch das Schlafzimmer wandern. Sie registrierte das Wandtischchen zu ihrer Linken, das über und über mit allerhand Krimskrams beladen war. Das musste sie gut im Auge behalten, genau wie die Läufer, die überall auf dem glatten Holzfußboden verteilt lagen.
Mit geschmeidigen Schritten durchquerte die junge Frau den Raum, zog die Tür zum Flur ins Schloss und betrat das Schrankzimmer, das einen kaum wahrnehmbaren Parfümduft verströmte. Die Schranktür nur einen Spaltbreit geöffnet, so ließ Sarah den Strahl ihrer Lampe über die Kleiderregale gleiten. Sie teilte einen Vorhang aus langen, perlenbestickten Nachthemden und sah ihn sofort: ein Safe in der Rückwand.
Genau darauf hatte Sarah gewettet. Wenn Casey Dowling sich nicht großartig von den meisten anderen Damen der Gesellschaft unterschied, dann machte sie sich für eine Dinner-Party sorgfältig zurecht. Dazu gehörte auch, dass sie ihren Schmuck anlegte. Und den Safe ließ sie unter Umständen offen stehen, damit sie den Schmuck später wieder zurücklegen konnte, ohne erneut die Kombination eingeben zu müssen. Sarah zog leicht am Griff der Safetür … und die schwere Tür schwang auf.
Sie hatte freie Bahn!
Aber jetzt musste es schnell gehen. Drei Minuten, mehr nicht.
Sarahs Stirnlampe leuchtete über den Inhalt des Tresors, sodass sie die Hände frei hatte, um sich durch das Durcheinander aus Satin-Täschchen und seidenumhüllten Kästchen zu wühlen. Ganz hinten entdeckte sie eine Brokatschachtel, ungefähr so groß wie ein kleiner Brotlaib. Sie schob den Riegel beiseite und klappte den Deckel auf.
Sarah schnappte nach Luft.
Zwei Monate lang hatte sie alle möglichen Berichte über Casey Dowling gelesen, hatte Dutzende Fotos gesehen, die sie bei irgendwelchen gesellschaftlichen Ereignissen zeigten, beladen mit glitzernden Juwelen. Aber diese Masse an Diamanten und Edelsteinen, diese funkelnden Berge aus pompösen Perlen … damit hatte sie nicht gerechnet.
EIN WAAAHNSINN. Und alles das gehörte Casey Dowling.
Na ja, nicht mehr lange.
Sarah holte Armbänder, Ohrringe und Ringe aus der Schachtel und stopfte sie in einen der beiden kleinen Stoffbeutel, die vor ihrer Brust hingen. Sie verharrte kurz, um einen bestimmten Ring in einem Lederetui etwas eingehender zu bewundern, sich seiner unfassbar fantastischen Wirkung hinzugeben – da ging das Licht im Schlafzimmer an, nur wenige Meter von ihrem Standort im Kleiderschrank entfernt.
Sarah schaltete ihre Stirnlampe aus und kauerte sich zusammen. Ihr Puls schnellte hoch, als Marcus Dowling, Superstar auf der Theaterbühne und der Kinoleinwand gleichermaßen, leibhaftig und mit dröhnender Stimme das Zimmer betrat, während er sich mit seiner Frau zankte.
Sarah rollte sich mit ihren ganzen eins zweiundsiebzig hinter den Nachthemden und Kleiderhüllen zu einer Kugel zusammen.
Gott, war sie dämlich.
Während sie noch die Juwelen angeglotzt hatte, war die Dinner-Party der Dowlings zu Ende gegangen. Jetzt würde sie wegen schweren Diebstahls hinter Gittern landen. Sie. Englischlehrerin an einer Highschool. Das würde einen Skandal geben – und das war noch das geringste der Probleme.
Unter ihrer Strickmütze brach Sarah der Schweiß aus. Dicke Tropfen krochen von ihren Achselhöhlen unter ihrem schwarzen Rollkragenpullover entlang, während sie darauf wartete, dass die Dowlings das Schranklicht anknipsten und sie dort in der Ecke kauern sahen – als Diebin in der Nacht.
Casey Dowling versuchte, ihrem Ehemann ein Geständnis zu entlocken, doch Marcus weigerte sich standhaft.
»Was soll denn der Mist, Casey?«, zischte er. »Ich habe Sheila nicht auf die Titten gestarrt, mein Gott. Jedes Mal, wenn wir uns mit anderen Leuten treffen, fängst du damit an, dass ich angeblich anderen Frauen hinterherschiele, und, um ganz offen zu sein, Liebling, ich finde deinen Verfolgungswahn ausgesprochen unattraktiv.«
»Ohhh, Marcus, nein. Du? Anderen Frauen hinterherschielen? Wie beschämend, dass ich so was auch nur denken konnte.« Casey besaß ein reizendes Lachen, auch wenn es vor Sarkasmus triefte.
»Blöde Kuh«, murmelte Marcus Dowling.
Sarah stellte sich sein attraktives Gesicht vor, das dichte graue Haar, das ihm über die Augenbraue fiel, während er eine mürrische Grimasse zog. Und auch Casey hatte sie genau vor Augen – die gertenschlanke Figur, die weißblonden Haare, die sich wie ein silbernes Tuch über ihre Schulterblätter ergossen.
Casey gurrte: »Da, siehst du. Jetzt hab ich deine Gefühle verletzt.«
»Vergiss es, Liebling. Ich bin jetzt nicht in der Stimmung.«
»Oh, tut mir leid. Mein Fehler.«
Sarah empfand die Zurückweisung genauso intensiv, als hätte sie ihr gegolten.
»Ach, du meine Güte. Jetzt heul doch nicht. Komm her«, sagte Marcus schließlich.
Daraufhin war es ein paar Minuten lang still, dann hörte Sarah zwei Körper in die Betten plumpsen, gemurmelte Worte, die sie nicht verstehen konnte. Irgendwann schlug das Kopfbrett leise gegen die Wand, und Sarah dachte: Ach, du lieber Gott, jetzt treiben sie’s.
Sie hatte Bilder von Marcus Dowling mit Jennifer Lowe in Susan and James und mit Kimberly Kerry in Redboy vor Augen. Sie dachte an Casey, wie sie in Marcus’ Armen lag, ihn mit ihren langen Beinen umschlang. Das Klopfen wurde rhythmischer, das Stöhnen lauter, und endlich drang ein langer, seufzender Laut aus Marcus’ Mund. Es war vorbei … Gott sei Dank.
Irgendjemand ging ins Badezimmer, und danach wurde es dunkel.
Sarah blieb noch mindestens zwanzig Minuten lang lautlos hinter dem Nachthemdvorhang sitzen. Als die Atemgeräusche im Zimmer schließlich in Gurgeln und Schnarchen übergegangen waren, schob sie die Schranktür auf und krabbelte zum Fenster.
Sie war fast da … aber nur fast.
Schnell und lautlos schwang sie sich auf das Fensterbrett, doch als sie das zweite Bein nachzog, stieß sie an die Seite des Wandtischchens – und von da an ging alles schief.
Der Krimskrams kam klirrend ins Rutschen, während der Tisch sich zur Seite neigte und sämtliche Bilderrahmen und Parfümfläschchen zu Boden fielen.
Verdammter Mist.
Sarah erstarrte, innerlich und äußerlich, als Casey Dowling aufschreckte und schrie: »Wer ist da?«
Von panischer Angst getrieben stürzte Sarah zum Fenster hinaus. Sie hing sich mit der gesamten Kraft ihrer Fingerspitzen an das Dach des Carports und ließ sich dann nach unten fallen.
Sie landete auf dem Rasen, ging in die Knie, empfand keinen Schmerz. Und als das Licht im Schlafzimmer der Dowlings aufleuchtete, rannte Sarah los. Sie riss sich die Stirnlampe vom Kopf und stopfte sie in eine der Stofftaschen, während sie durch Nob Hill, ein vornehmes Wohnviertel von San Francisco, stürmte.
Wenige Minuten später war sie bei ihrem alten Saturn auf dem Parkplatz eines Drugstores angelangt. Sie stieg ein, machte die Tür zu und verriegelte den Wagen, als könnte sie dadurch die Angst aussperren. Sie ließ den Motor an und löste die Handbremse, atmete schwer. Auf der ganzen Fahrt nach Hause kämpfte sie mit dem Brechreiz.
Als sie die langgezogene Pine Street erreicht hatte, zog sie die Mütze und die Handschuhe aus, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und musste ununterbrochen an ihre überstürzte Flucht aus dem Schlafzimmer der Dowlings denken.
Sie hatte nichts zurückgelassen: kein Werkzeug, keine Fingerabdrücke, keine DNA. Rein gar nichts.
Im Augenblick zumindest war sie in Sicherheit.
Ganz ehrlich. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Casey riss die Augen auf. Es war dunkel.
Irgendetwas war umgefallen. Der Tisch am Fenster! Sie spürte einen Luftzug im Gesicht. Das Fenster war offen. Weder sie noch Marcus hatten es aufgemacht.
Irgendjemand war im Haus.
Casey richtete sich auf. »Wer ist da?« Sie zog die Bettdecke bis ans Kinn und kreischte. »Marc! Da ist jemand im Zimmer!«
Ihr Mann ächzte: »Du hast schlecht geträumt. Schlaf weiter.«
»Wach auf. Da ist jemand«, zischte sie.
Casey tastete nach der Nachttischlampe, stieß ihre Brille zu Boden, fand den Schalter und knipste das Licht an. Da. Das Wandtischchen war umgestürzt, alles lag auf dem Boden, die Vorhänge blähten sich im Wind.
»Tu doch was, Marc. So tu doch was.«
Marcus Dowling ging jeden Tag ins Fitnessstudio. Er war immer noch in der Lage, neunzig Kilogramm zu stemmen und konnte auch gut mit einer Pistole umgehen. Er sagte seiner Frau, sie solle leise sein, zog seine Nachttischschublade auf und nahm die geladene Vierundvierziger aus dem weichen Lederetui. Er schälte sich aus dem Bett und nahm die Waffe fest in die Hand.
Casey griff nach dem Telefon auf dem Nachttischchen und wählte mit zitternden Fingern die Notrufnummer. Sie verwählte sich und nahm einen erneuten Anlauf, während Marc, immer noch halb betrunken, bellte: »Ist da jemand?« Obwohl er es absolut ernst meinte, hörte es sich an wie ein Satz aus einem Drehbuch. »Zeig dich!«
Marcus sah im Badezimmer und im Flur nach, dann sagte er: »Da ist niemand, Casey. Genau, wie ich gesagt habe.«
Casey legte den Hörer auf die Gabel, schlug die Bettdecke zurück, ging zum Schrank, um sich ihren Morgenmantel zu holen … und schrie auf.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«
Mit bleichem Gesicht und splitterfasernackt drehte Casey sich zu ihrem Ehemann um und sagte: »O mein Gott, Marc, mein Schmuckist weg. Der Safe ist so gut wie leer.«
Da huschte ein Ausdruck über Marcs Gesicht, den Casey nicht entschlüsseln konnte. Als wäre ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, der in Windeseile in seinem Kopf Gestalt annahm. Wusste er, wer sie ausgeraubt hatte?
»Marc? Was ist denn los? Was denkst du gerade?«
»Ähm, ich habe gedacht: Das kannst du nicht mit ins Grab nehmen.«
»Was soll denn der Quatsch? Was soll das denn heißen?«
Dowling streckte den rechten Arm aus und zielte mit der Pistole auf einen Leberfleck zwischen den Brüsten seiner Frau. Dann drückte er ab. Bumm.
»Das soll es heißen«, sagte er.
Casey Dowling machte den Mund auf, holte Luft und stieß sie wieder aus, während sie auf ihre Brust starrte, wo das Blut stoßweise aus der Wunde blubberte. Sie schlug die Hände vor die Brust, blickte ihren Mann an und keuchte: »Hilf mir.«
Er schoss noch einmal.
Dann gaben ihre Knie nach, und sie sackte zu Boden.
Pete Gordon folgte der jungen Mutter zum Ausgang von Macy’s und auf die Straße vor der Stonestown Galleria. Sie war um die dreißig und hatte ihr braunes Haar zu einem ziemlich zerzausten Pferdeschwanz gebunden. Sie trug jede Menge Rot: nicht bloß rote Shorts, sondern auch rote Turnschuhe und eine rote Handtasche. Die Griffe des Buggys mit ihrem Kleinkind waren voll mit Einkaufstüten.
Als die Frau den Winston Drive überquerte, war Pete direkt hinter ihr, und so folgte er ihr bis ins Parkhaus, wobei sie die ganze Zeit auf den kleinen Jungen einredete, als ob der auch nur ein Wort verstehen könnte. Sie fragte ihn, ob er noch wüsste, wo Mommy den Wagen geparkt hatte und was Daddy zum Abendessen machen wollte, und so plapperte sie in einem fort. Dieses ganze, wasserfallartige Baby-Sprech-Gequatsche war wie eine Zündschnur, die im Mund der Frau entzündet wurde und direkt zu der Sprengladung in Petes Gehirn führte.
Aber Pete blieb voll konzentriert. Er hörte zu und beobachtete, ließ den Kopf unten, die Hände in den Taschen und sah zu, wie die Frau den Kofferraumdeckel ihres Toyota RAV4 aufklappte und die Einkaufstüten hineinstopfte. Er war nur wenige Meter entfernt, als sie das Kind aus dem Buggy hob und das zusammengeklappte Gefährt ebenfalls in den Kofferraum legte.
Während die Frau ihren Sohn im Kindersitz festschnallte, trat Pete auf sie zu.
»Entschuldigung? Könnten Sie mir vielleicht kurz helfen, bitte?«
Die Frau zog die Augenbrauen zusammen. Ihre Miene sagte laut und deutlich: Was wollen Sie von mir? Sie setzte sich auf den Fahrersitz, die Autoschlüssel in der Hand.
»Ja?«, erwiderte sie.
Pete Gordon wusste, dass er gesund und gewaschen, unschuldig und vertrauenswürdig aussah. Sein gutes Aussehen war ein großer Vorteil, das wusste er, aber er war nicht eitel. So wenig wie eine Venusfliegenfalle eitel war.
»Ich habe einen Platten«, sagte Pete und streckte beide Arme in die Luft. »Ich frage Sie wirklich nur sehr ungern, aber dürfte ich vielleicht Ihr Handy benutzen, um den Abschleppdienst anzurufen?«
Er lächelte sie an und ließ seine Grübchen wirken, und endlich lächelte sie auch und sagte: »Natürlich – ich vergesse bloß immer, das verdammte Ding aufzuladen.«
Sie wühlte in ihrer Handtasche herum, dann hob sie mit dem Handy in der Hand den Blick. Ihr Lächeln verschwand, als sie Petes Gesichtsausdruck sah – nicht mehr freundlich und einschmeichelnd, sondern hart und entschlossen.
Sie senkte den Blick zu der Waffe, die er in der Hand hielt – vielleicht hatte sie ja etwas missverstanden –, schaute ihm noch einmal ins Gesicht und sah die Kälte in seinen dunklen Augen.
Sie wandte sich ruckartig ab, ließ den Autoschlüssel und das Handy in den Fußraum fallen, versuchte auf die Rückbank zu klettern.
»O mein Gott«, sagte sie. »Tun … tun Sie uns nichts. Ich habe Geld …«
Pete drückte ab. Die Kugel zischte durch den Schalldämpfer, traf die Frau im Nacken. Sie legte die Hand an die Wunde. Blut spritzte zwischen ihren Fingern hervor.
»Mein Baby«, keuchte sie.
»Keine Sorge. Er wird gar nichts spüren. Das verspreche ich«, sagte Pete Gordon.
Er schoss noch ein zweites Mal auf sie, puff, dieses Mal seitlich in die Brust, dann machte er die hintere Tür auf und warf einen Blick auf das dösende Balg, den Mund mit Zuckerwatte verklebt, während blaue Adern sich wie eine Landkarte auf seiner Schläfe ausbreiteten.
Ein Auto fuhr mit quietschenden Reifen die Rampe herunter und raste an Pete vorbei. Er wandte sein Gesicht der Betoninsel in der Mitte zu. Er war sich sicher, dass er nicht gesehen worden war, aber selbst wenn, er hatte alles richtig gemacht. Vorschriftsmäßig.
Die geöffnete Handtasche der Frau lag im Wageninneren. Er steckte die Hand in seine Jackentasche wie in eine Art Handschuh, wühlte in dem ganzen Zeug herum, bis er den Lippenstift gefunden hatte.
Er nahm ihn an sich und schob den knallroten Zylinder heraus.
Er wartete ab, bis ein paar Schwatzbasen in einem Escalade auf der Suche nach einer Parklücke an ihm vorbeigefahren waren, dann nahm er den Lippenstift zwischen Daumen und Zeigefinger und überlegte, was er am besten auf die Windschutzscheibe schreiben sollte.
FÜR KENNY, dachte er zuerst, doch dann entschied er sich dagegen. Er lachte leise vor sich hin, während er PETE WAR HIER erwog und ebenfalls verwarf.
Dann nahm er sich zusammen.
Er schrieb FKZ auf die Scheibe, in roten, zehn Zentimeter großen Blockbuchstaben, unterstrichen mit einer verschmierten, roten Linie. Anschließend setzte er die Kappe auf den Lippenstift und steckte ihn in seine Tasche, wo er mit leisem Klicken neben der Pistole landete.
Zufrieden stieg er aus dem Wagen, machte die Türen zu, wischte die Griffe mit dem weichen Flanell-Innenfutter seiner Baseballjacke ab und ging zum Fahrstuhl. Er stellte sich neben die aufgehende Tür und wartete, während ein alter Mann seine Frau in das Erdgeschoss des Parkhauses schob. Den Kopf gesenkt, so vermied er jeden Blickkontakt mit dem alten Paar, und sie beachteten ihn nicht.
Das war gut, aber er hätte es ihnen so gerne gesagt.
Das war für Kenny. Und zwar genau nach Vorschrift.
Pete Gordon bestieg den Fahrstuhl und fuhr hinauf in den zweiten Stock. Das ist ein richtig guter Tag, dachte er, der erste seit ungefähr einem Jahr. Es hatte alles sehr lange gedauert, aber jetzt endlich hatte er seinen Plan ins Rollen gebracht.
Er war beschwingt und aufgekratzt, weil er sich vollkommen sicher war, dass er aufgehen würde.
FKZ, Leute. FKZ.
Pete Gordon fuhr die spiralförmige Parkhausrampe hinunter. Er passierte das Auto der Toten im Erdgeschoss, trat aber nicht einmal auf die Bremse. Er war sich ganz sicher, dass vor dem Wagen kein Blut zu sehen war, nichts, was darauf hindeuten könnte, dass er dort gewesen war.
Das Parkhaus war im Moment sehr gut gefüllt, da konnte es Stunden dauern, bevor Mutti mit ihrem Balg auf diesem sauberen Platz am Ende einer Reihe entdeckt wurde.
Pete ließ sich Zeit, fuhr gemächlich aus dem Parkhaus und dann auf die Winston, mit Kurs 19th Avenue. An einer Ampel musste er warten und ließ sich das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen. Wie einfach das alles gewesen war – keine Patronen verschwendet, nichts vergessen – und wie die Bullen durchdrehen würden!
Nichts ist schlimmer als ein Verbrechen ohne Motiv, was, Kenny?
Die Bullen würden sich die Zähne daran ausbeißen, ganz klar, und wenn sie dann irgendwann doch dahinterkamen, wohnte er schon längst in einem anderen Land, und dieser Mord war einer von den ungelösten Fällen, über denen irgend so ein alter Sack aus der Mordkommission noch jahrelang vergeblich brütete.
Pete nahm den langen Weg, über den Sloat Boulevard und den Portola Drive, wo er der Straßenbahn mit ihren fein säuberlich aufgereihten Pendlermassen den Vortritt lassen musste, und schließlich die Clipper Street hoch bis zu seinem heruntergekommenen Häuschen im Mission District.
Es war beinahe Abendbrotzeit, und seine eigenen kleinen Blagen machten bestimmt schon dicke Backen und waren kurz davor, Alarm zu schlagen. Dann stand er vor der Haustür, hatte die Schlüssel schon in der Hand, schloss auf und verpasste der Tür einen Tritt.
Sofort konnte er den Gestank der Babywindeln riechen. Der kleine Stinker stand im Laufstall, hielt sich am Geländer fest und fing an zu schreien, sobald er seinen Papa sah.
»Daddy!«, rief Sherry. »Er braucht frische Windeln.«
»Geht klar«, erwiderte Pete Gordon. »Halt die Klappe, Stinkbombe«, wandte er sich dann an den Jungen. »Bin gleich da.« Er nahm seiner Tochter die Fernbedienung aus der Hand und schaltete um – keine Zeichentrickfilme mehr, sondern Nachrichten.
Die Börsenkurse waren gefallen, die Ölpreise gestiegen. Das Neueste aus Hollywood. Aber kein Wort über zwei Leichen im Parkhaus der Stonestown Galleria.
»Ich hab Hunger«, sagte Sherry.
»Was ist zuerst dran? Essen oder Windeln?«
»Windeln«, sagte sie.
»Also gut.«
Pete Gordon nahm das Kleine, das ihm so viel bedeutete wie ein Sack Zement, auf den Arm. Er war sich ja nicht einmal sicher, ob es wirklich von ihm war, und selbst wenn, war es ihm egal. Er legte ihn auf den Wickeltisch und spulte das übliche Programm ab, hielt ihn an den Knöcheln fest, wischte ihn ab, stäubte ihm den Hintern mit Puder ein, wickelte ihn in eine Pampers und packte ihn zurück in den Laufstall.
»Würstchen mit Bohnen?«, fragte er seine Tochter.
»Mein Lieblingsessen«, erwiderte Sherry und steckte sich einen ihrer Rattenschwänze in den Mund.
»Zieh der Stinkbombe noch was über«, sagte Pete Gordon, »damit deine Mutter keine Gasvergiftung kriegt, wenn sie nach Hause kommt.«
Gordon stellte irgendeinen Babyfraß für die Stinkbombe in die Mikrowelle und machte eine Büchse mit Würstchen und Bohnen auf. Er schaltete den Küchenfernseher und den Backofen ein – was eigentlich Aufgabe der treuen Ehefrau gewesen wäre, dieser Schlampe – und kippte den Büchseninhalt in einen Topf.
Die Bohnen waren gerade heiß geworden, da kam die Eilmeldung.
Aha. Sieh mal an, dachte Pete.
Irgendein Knallkopf von ABC stand mit einem Mikro in der Hand vor Borders. In seinem Rücken drängelten sich irgendwelche College-Studenten, während er in die Kamera sagte: »Wir haben soeben erfahren, dass im Stonestown-Parkhaus Schüsse gefallen sind. Angeblich soll es dort zu einem fürchterlichen und unfassbaren Doppelmord gekommen sein. Wir halten Sie auf dem Laufenden, sobald weitere Einzelheiten bekannt gegeben werden. Zurück zu Ihnen, Yolanda.«
Yuki Castellano verließ ihr Büro und rief an der Reihe der Büroabteile entlang nach Nicky Gaines. »Bist du so weit, Wonder Boy? Oder kommst du nach?«
»Bin ja schon da«, erwiderte Gaines. »Wer sagt denn, dass ich nicht mitkommen will?«
»Wie sehe ich aus?«, wollte sie wissen, während sie auf den Fahrstuhl zuging, der sie aus dem Bürotrakt der Staatsanwaltschaft in den Gerichtssaal bringen sollte.
»Absolut furchterregend, Batwoman. Die schärfste Multi-kulti-Braut der USA.«
»Ach, sei still.« Sie lachte ihren Schützling an. »Aber mach dich drauf gefasst, dass du mir das richtige Stichwort gibst, falls ich einen Blackout habe, was Gott verhüten möge.«
»Du hast garantiert keinen Blackout. Du wirst dafür sorgen, dass Jo-Jo hinter Gitter wandert.«
»Meinst du?«
»Ich weiß es. Du nicht?«
»Mm-hmm. Ich muss bloß dafür sorgen, dass die Geschworenen das auch wissen.«
Nicky drückte auf die Fahrstuhltaste, und Yuki versank in Gedanken. In rund zwanzig Minuten würde sie ihr Abschlussplädoyer im Prozess gegen Adam »Jo-Jo« Johnson halten.
In ihrer Zeit bei der Staatsanwaltschaft hatte sie schon mehr als genug undankbare Fälle bearbeiten müssen. Sie hatte Achtzehn-Stunden-Schichten geschoben, hatte viel Lob von ihrem Chef, Leonard »Red Dog« Parisi, eingeheimst und reichlich Punkte bei den Geschworenen gesammelt. Alles das hatte ihr jedes Mal große Hoffnungen gemacht.
Und dann hatte sie verloren.
Langsam, aber sicher wurde Yuki berühmt für ihre Niederlagen – und das stank ihr gewaltig, denn sie war eine Kämpferin und eine Gewinnerin. Es ging ihr unglaublich an die Nieren zu verlieren. Aber in keinem Fall hatte sie damit gerechnet zu verlieren – genau wie in diesem Fall auch.
Der Fall war klar. Sie hatte die Tatsachen wie bei einer Patience aufgedeckt, eine nach der anderen. Den Geschworenen blieb nicht mehr viel zu tun. Der Angeklagte war nicht nur schuldig, er war schuldig wie die Sünde.
Nicky hielt ihr die mit Leder besetzte Tür zum Gerichtssaal auf, und Yuki schritt anmutig den Mittelgang des Saals entlang. Sie registrierte die gefüllten Besucherränge, überwiegend Journalisten und Jurastudenten. Und als sie sich dem Tisch der Anklage näherte, sah sie auch, dass Jo-Jo Johnson und sein Rechtsanwalt, Jeff Asher, bereits auf ihren Plätzen saßen.
Es war alles bereit.
Sie nickte ihrem Gegenspieler zu und registrierte die äußere Aufmachung des Angeklagten. Jo-Jo hatte sich die Haare gekämmt und trug einen guten Anzug, aber er machte einen benommenen und irgendwie verstörten Eindruck. Nur ein Versager, der sich mit Drogen das Hirn weggepustet hatte, konnte so aussehen. Sie hoffte, dass er in Kürze noch schlimmer aussah, wenn sie ihn nämlich wegen schweren Totschlags hinter Gitter gebracht hatte.
»Jo-Jo sieht aus, als hätte er gekifft«, murmelte Nicky Yuki zu, während er ihr den Stuhl zurechtschob.
»Oder er glaubt den Blödsinn, den sein Anwalt verzapft«, sagte Yuki so laut, dass die Gegenseite es hören musste. »Womöglich geht er davon aus, dass er hier als freier Mann rausmarschieren kann, dabei wird man ihn letztendlich in den Bus nach Pelican Bay verfrachten.«
Asher schickte ihr einen Blick und ein schmieriges Grinsen, und seine gesamte Körpersprache signalisierte, wie felsenfest er davon ausging, dass er sie fertigmachen würde.
Aber das war alles nur Show.
Yuki hatte es bisher noch nie mit Asher zu tun gehabt, aber er hatte sich schon nach einem knappen Jahr als Strafverteidiger den Ruf einer »Bombe« erarbeitet – eines glasharten Rechtsanwalts, der die Argumentation der Staatsanwaltschaft in ihre Einzelteile zerlegte und seine Mandanten in schöner Regelmäßigkeit freibekam. Asher war deshalb so gut, weil er alles hatte: Charisma, ein jungenhaftes, gutes Aussehen und einen Abschluss in Harvard. Und dann war da noch sein Vater, ein erstklassiger Prozessanwalt, der seinen Sohn nach Kräften unterstützte.
Aber heute spielte alles das keine Rolle.
Die Indizien, die Zeugen und das Geständnis, alles das war auf ihrer Seite. Jo-Jo Johnson gehörte ihr.
Richter Steven Rabinowitz warf noch einen letzten Blick auf die Bilder von seiner neuen Eigentumswohnung in Aspen, schaltete sein iPhone aus, ließ die Fingerknöchel knacken und sagte: »Ist die Vertretung der Anklage so weit, Miss Castellano?«
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