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Ein echter James Patterson: Scharf wie ein Skalpell!
Lieutenant Lindsay Boxer steht unter Anklage: Selbst von zwei Kugeln getroffen, hat sie in Notwehr eine jugendliche Mörderin erschossen. Auf der Flucht vor der Hetzkampagne der Presse zieht Lindsay Boxer sich ins idyllische Half Moon Bay zurück. Als dort ein Mord geschieht und alles auf einen Serientäter deutet, setzt sich ein Alptraum nahtlos fort, der Lindsay seit ihrem allerersten Mordfall nie mehr losgelassen hat …
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Seitenzahl: 380
Deutsch von Andreas Jäger
Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »4th of July« bei Little, Brown and Company, New York.
1. Auflage Copyright © der Originalausgabe 2005 by James Patterson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Limes Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN-13: 978-3-89480-404-6
www.limes-verlag.de
Title PageCopyrightErster Teil: Keinen kümmert'sZweiter Teil: Ungeplanter UrlaubDritter Teil: Wieder an BordVierter Teil: Auf der AnklagebankFünfter Teil: Alles bestensEpilogDanksagungAfterword
Es war kurz vor vier Uhr morgens an einem Werktag. Meine Gedanken überschlugen sich, noch ehe Jacobi das Steuer herumriss und unseren Wagen vor dem Lorenzo zum Stehen brachte, einem schmierigen »Touristenhotel«, wo man die Zimmer stundenweise mieten konnte. Es lag in einer der miesesten Ecken des Tenderloin Districts von San Francisco, wo selbst die Sonne sich kaum über die Straße traut.
Drei Streifenwagen parkten schon am Bordstein, und Conk-lin, der erste Polizeibeamte am Tatort, sicherte gerade den Bereich um den Eingang mit Absperrband, assistiert von einem zweiten Officer, Les Arou.
»Was liegt an?«, fragte ich Conklin und Arou.
»Männlicher Weißer, Lieutenant«, antwortete Conklin. »Noch keine zwanzig. Augen wie Tischtennisbälle, gegrillt wie ein Spanferkel. Keine Anzeichen von gewaltsamem Eindringen. Opfer liegt in der Badewanne, genau wie letztes Mal.«
Der Gestank von Urin und Erbrochenem schlug uns entgegen, als ich mit Jacobi das Hotel betrat. Hier gab es keine Pagen. Und auch keine Aufzüge und keinen Zimmerservice. Ein paar Kreaturen der Nacht wichen zurück und verschmolzen mit der Dunkelheit, bis auf eine junge Prostituierte mit aschgrauer Haut, die Jacobi zur Seite zog.
»Geben Sie mir zwanzig Dollar«, hörte ich sie sagen. »Ich hab das Nummernschild gesehen.«
Jacobi blätterte einen Zehner hin und bekam dafür einen Zettel. Dann nahm er sich den Nachtportier vor und fragte ihn über das Opfer aus. Hatte der Gast das Zimmer mit jemandem geteilt? Hatte er eine Kreditkarte? War er süchtig?
Im Treppenhaus umkurvte ich einen Junkie und ging hinauf in den ersten Stock. Die Tür von Zimmer 21 stand offen, bewacht von einem jungen Streifenpolizisten.
»'n Abend, Lieutenant Boxer.«
»Es ist früher Morgen, Keresty.«
»Ja, Ma'am«, sagte er, während er mich in seine Liste eintrug und mir dann das Klemmbrett zum Unterschreiben hinhielt.
In dem gut zwölf Quadratmeter großen Zimmer war es noch dunkler als auf dem Flur. Die Sicherung war rausgeflogen, und im Schein der Straßenlaternen wirkten die zerschlissenen Gardinen vor dem Fenster gespenstisch. In meinem Kopf begann es schon zu arbeiten; ich versuchte herauszufinden, was Beweismittel waren und was nicht, und möglichst nicht auf Erstere zu treten. Es gab einfach zu viel Gerümpel hier und zu wenig Licht.
Ich ließ den Lichtkegel meiner Taschenlampe über die Crack-Röhrchen am Boden gleiten, über die Matratze mit den eingetrockneten Blutflecken, die Haufen von übel riechendem Abfall und die im Zimmer verstreuten Kleidungsstücke. In der Ecke war eine Art Küchenzeile. Die Kochplatte war noch warm, und in der Spüle lagen Drogenutensilien.
Die Luft im Bad war zum Schneiden. Mit dem Lichtstrahl folgte ich dem Verlängerungskabel, das sich von der Steckdose neben dem Waschbecken über die verstopfte Kloschüssel zur Badewanne hin schlängelte.
Mein Magen krampfte sich zusammen, als das Gesicht des toten Jungen im Lichtkegel der Lampe auftauchte. Er war nackt, ein magerer Blondschopf mit haarloser Brust, in halb sitzender Position, die Augen aus den Höhlen getreten, Schaum vor dem Mund und um die Nasenlöcher. Das Elektrokabel endete in einem altmodischen Toaster, der unter der Oberfläche des Badewassers schimmerte.
»Scheiße«, sagte ich, als Jacobi das Bad betrat. »Da haben wir's mal wieder.«
»Na, dem ist der Toast aber nicht gut bekommen«, meinte Jacobi.
Als Leiterin der Mordkommission sollte ich mich eigentlich nicht mehr mit der praktischen Ermittlungsarbeit abgeben. Aber in Momenten wie diesem konnte ich einfach nicht die Finger davon lassen.
Ein weiterer Jugendlicher war durch einen Stromschlag getötet worden – aber warum? War er das zufällige Opfer eines Gewalttäters, oder gab es persönliche Motive? Vor meinem inneren Auge sah ich den Jungen im Todeskampf um sich schlagen, als der Strom durch seinen Körper schoss und sein Herz versagen ließ.
Auf dem gesprungenen Fliesenboden stand das Wasser knöcheltief; schon spürte ich, wie meine Hosenbeine sich damit voll saugten. Ich hob einen Fuß und stieß mit der Schuhspitze die Badezimmertür zu. Ich wusste ganz genau, was ich da zu sehen kriegen würde. Die Tür gab ein hohes, näselndes Quietschen von sich; wahrscheinlich waren die Angeln noch nie geölt worden.
Zwei Worte waren an die Tür gesprayt worden. Und zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen fragte ich mich, was um alles in der Welt sie zu bedeuten hatten.
»KEINEN KÜMMERT'S«
Es sah nach einem ganz besonders grässlichen Selbstmord aus – nur dass von der Sprühdose jede Spur fehlte. Ich hörte, wie Charlie Clapper mit seinem Team von der Spurensicherung ankam und wie sie nebenan im Zimmer ihre Geräte auspackten. Rasch trat ich zur Seite, damit der Fotograf das Opfer ablichten konnte. Dann riss ich die Verlängerungsschnur aus der Steckdose.
Charlie wechselte die Sicherung aus. »Und es ward Licht«, sagte er, als schlagartig ein greller Schein die elende Bude erhellte.
Ich durchwühlte gerade die Kleider des Opfers auf der vergeblichen Suche nach irgendwelchen Ausweispapieren, als Claire Washburn, meine engste Freundin und die Leiterin der Gerichtsmedizin von San Francisco, zur Tür hereinkam.
»Ist 'ne ziemlich scheußliche Geschichte«, erklärte ich ihr, als wir zusammen ins Bad gingen. Claire ist ein unerschöpflicher Quell menschlicher Wärme in meinem Leben, und sie ist wie eine Schwester für mich – mehr als meine leibliche Schwester. »Fast hätte ich mich hinreißen lassen.«
»Wozu?«, fragte Claire mit sanfter Stimme.
Ich schluckte krampfhaft, um zu verhindern, dass mir der Mageninhalt hochkam. Ich hatte mich schon an vieles gewöhnt, aber Morde an Kindern und Jugendlichen – daran würde ich mich niemals gewöhnen.
»Ich hätte am liebsten in die Wanne gegriffen und den Stöpsel rausgezogen.«
In dem hellen Licht sah das Opfer noch erbarmenswerter aus. Claire ging neben der Wanne in die Hocke. Dazu musste sie ihren XXL-Körper fast auf S-Größe zusammenquetschen.
»Lungenödem«, sagte sie mit Blick auf den rosafarbenen Schaum, der aus Nase und Mund des Opfers ausgetreten war.
Sie fuhr mit den Fingerspitzen die leichten Blutergüsse um die Lippen und die Augen nach. »Sie haben ihn ein bisschen in die Mangel genommen, ehe sie den Schalter umgelegt haben.«
Ich deutete auf die senkrechte Schnittwunde in der Wange. »Was sagst du dazu?«
»Willst du meine Vermutung hören? Die Wunde dürfte genau zum Hebel dieses Toasters da passen. Sieht aus, als hätten sie dem Knaben damit eins verpasst, bevor sie ihn in die Wanne geworfen haben.«
Die Hand des Jungen ruhte auf dem Wannenrand. Claire hob sie behutsam an und drehte sie um. »Keine Totenstarre. Der Körper ist noch warm, und die Leichenflecke sind wegdrückbar. Er ist noch keine zwölf Stunden tot, wahrscheinlich sogar weniger als sechs. Keine sichtbaren Einstiche.« Sie fuhr mit der Hand durch das verfilzte Haar des Jungen und hob mit ihren behandschuhten Fingern seine geschwollene Oberlippe an. »War schon länger nicht mehr beim Zahnarzt. Vielleicht ist er irgendwo durchgebrannt.«
»Mmh«, sagte ich. Dann muss ich wohl eine Weile geschwiegen haben.
»Was denkst du, Schätzchen?«
»Dass ich wieder mal ein unidentifiziertes Mordopfer am Hals habe.«
Ich dachte an ein anderes unbekanntes Opfer im Teenageralter, einen obdachlosen Jungen, der in einem ganz ähnlichen Etablissement ermordet worden war, als ich gerade bei der Mordkommission angefangen hatte. Es war einer meiner schlimmsten Fälle überhaupt, und noch heute, nach zehn Jahren, ließ mir dieser Mord keine Ruhe.
»Ich werde mehr sagen können, wenn ich diesen jungen Mann erst auf meinem Autopsietisch habe«, sagte Claire, als Jacobi plötzlich den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Die Zeugin sagt, sie hätte dieses unvollständige Kennzeichen an einem Mercedes gesehen«, sagte er, »einem schwarzen Mercedes.«
Ein schwarzer Mercedes war auch bei dem ersten Stromschlagmord in der Nähe des Tatorts gesehen worden. Ich grinste, und so etwas wie Hoffnung stieg in mir auf. Ja, ich würde das zu meiner ganz persönlichen Angelegenheit machen. Ich würde den Dreckskerl finden, der diese Jugendlichen getötet hatte, und ich würde ihn hinter Gitter bringen, bevor er wieder zuschlagen konnte.
Eine Woche war seit dem Albtraum im Lorenzo Hotel vergangen. Die Spurensicherung sichtete immer noch den ganzen Schrott, den sie in Zimmer 21 aufgelesen hatte. Das aus drei Ziffern bestehende unvollständige Autokennzeichen unserer Informantin war entweder teilweise falsch, oder sie hatte einfach nur geraten. Und ich? Ich wachte jeden Morgen auf und war stinksauer und zugleich auch traurig, weil sich in diesem hässlichen Fall so absolut gar nichts bewegte.
Die toten Jugendlichen spukten in meinen Gedanken herum, als ich an diesem Abend ins Susie's fuhr, um mich mit den Mädels zu treffen. Das Susie's ist ein Bistro in unserem Viertel, ein freundliches und helles Szenelokal mit Wänden in exotischen, in Lasurtechnik aufgetragenen Farben und scharfem, aber sehr leckerem karibischem Essen.
Jill, Claire, Cindy und ich hatten uns dieses Bistro als Zufluchtsort und Clublokal erkoren. Unsere offenen, unverblümten »Weibergespräche«, über alle Grenzen von Dienstgraden und Abteilungen hinweg, hatten uns oft viele Wochen bürokratischen Gewürges erspart. Gemeinsam hatten wir in diesem Lokal so manchen Fall entscheidend weitergebracht.
Ich entdeckte Claire und Cindy an »unserem« Tisch im hinteren Teil des Lokals. Claire lachte gerade über irgendeine Bemerkung von Cindy, was ziemlich oft vorkam, weil Claire ausgesprochen gerne lachte und Cindy nicht nur eine erstklassige investigative Reporterin beim Chronicle war, sondern auch unheimlich komisch sein konnte. Jill war natürlich nicht mehr unter uns.
»Ich will das Gleiche wie ihr«, sagte ich, als ich mich neben Claire auf die Bank setzte. Auf dem Tisch standen eine Karaffe Margarita und vier Gläser, zwei davon leer. Ich schenkte mir ein und sah meine Freundinnen an, spürte die beinahe magischen Bande zwischen uns, geschmiedet durch all das, was wir miteinander durchgemacht hatten.
»Du siehst aus, als ob du eine Infusion brauchst«, witzelte Claire.
»Das kannst du laut sagen. Los, hängt mich an den Tropf.« Ich nahm einen Schluck von dem eiskalten Gebräu, schnappte mir die Zeitung, die neben Cindys Ellbogen lag, und blätterte sie durch, bis ich die Story gefunden hatte – versteckt ganz unten auf Seite 17 des Lokalteils.
SACHDIENLICHE HINWEISE ZU MORDENIM TENDERLOIN DISTRICT ERBETEN.
»In meinem Kopf ist es wohl eine größere Story«, sagte ich.
»Tote Obdachlose kommen nun mal nicht auf die Titelseite«, meinte Cindy mitfühlend.
»Es ist schon komisch«, erklärte ich den Mädels. »Wir haben nämlich eigentlich zu viele Informationen. Siebentausend Fingerabdrücke. Haare, Fasern, eine Tonne nutzlose DNA aus einem Teppich, der zuletzt gesaugt wurde, als Nixon ein Schuljunge war.« Ich hielt kurz in meiner Tirade inne, um mir das Gummiband aus den Haaren zu ziehen und sie auszuschütteln. »Und auf der anderen Seite haben wir bis jetzt nur eine einzige popelige Spur, und das, obwohl es im Tenderloin District doch von Informanten nur so wimmelt.«
»Das ist wirklich blöd, Linds«, sagte Cindy. »Macht dein Boss dir die Hölle heiß?«
»Nee«, sagte ich und tippte mit dem Finger auf den winzigen Artikel über die Tenderloin-District-Morde. »Wie der Mörder sagt: Keinen kümmert's.«
»Sei mal nicht so streng mit dir selbst, Schätzchen«, sagte Claire. »Du wirst den Fall schon noch knacken. Wie immer.«
»Ja, genug davon. Jill würde mir die Ohren lang ziehen, weil ich so jammere.«
»Sie sagt: ›Kein Problem‹«, scherzte Cindy und deutete auf Jills leeren Platz. Wir erhoben unsere Gläser und stießen an.
»Auf Jill«, sagten wir wie aus einem Mund.
Wir füllten Jills Glas und ließen es herumgehen, zur Erinnerung an Jill Bernhardt, eine fantastische Staatsanwältin und ebenso fantastische Freundin, die erst vor wenigen Monaten ermordet worden war. Sie fehlte uns entsetzlich, und das sagten wir auch. Nach einer Weile brachte uns Loretta, unsere Bedienung, eine neue Karaffe Margarita.
»Du siehst ja so vergnügt aus«, sagte ich zu Cindy, die sogleich mit ihrer Geschichte rausrückte. Sie hatte einen neuen Kerl kennen gelernt, einen Eishockeycrack, der bei den San Jose Sharks spielte, und sie war höchst zufrieden mit sich und der Welt. Claire und ich begannen sie nach allen Regeln der Kunst auszufragen, während im Hintergrund die Reggae-Band ihren Soundcheck machte. Bald sangen wir alle bei einem Jimmy-Cliff-Song mit und schlugen mit unseren Löffeln im Takt an die Gläser.
Als ich gerade so richtig in Margaritaville abzutauchen begann, klingelte mein Handy. Es war Jacobi.
»Komm doch mal raus, Boxer. Ich stehe eine Straße weiter. Wir haben den Mercedes gesichtet.«
Was ich hätte sagen sollen, war: »Fahr ohne mich los. Ich bin nicht im Dienst.« Aber das war mein Fall, und ich musste einfach mit. Ich legte ein paar Scheine auf den Tisch, warf den Mädels Kusshände zu und stürmte zur Tür. In einem Punkt irrte der Mörder: Mich kümmerte es sehr wohl.
Ich stieg auf der Beifahrerseite des grauen Ford Crown Victoria ein, der uns als ziviles Einsatzfahrzeug diente.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich Jacobi, als wir um die Ecke bogen.
»In den Tenderloin District«, antwortete er. »Ein schwarzer Mercedes ist gesehen worden, wie er dort herumschlich. Passt irgendwie nicht ins Viertel.«
Inspector Warren Jacobi war früher mein Partner gewesen. Im Großen und Ganzen war er mit meiner Beförderung ganz gut fertig geworden; er war immerhin über zehn Jahre älter als ich und hatte mir sieben Dienstjahre voraus. In besonderen Fällen arbeiteten wir immer noch zusammen, und obwohl er mir eigentlich unterstellt war, musste ich ihm ein Geständnis machen.
»Ich hab im Susie's ein bisschen was getrunken.«
»Bier?«
»Margaritas.«
»Wie viel ist ›ein bisschen was‹?« Er schwenkte seinen massigen Schädel zu mir herum.
»Anderthalb Gläser«, sagte ich, wobei ich das Drittel von Jills Glas ausließ, das ich auf sie getrunken hatte.
»Bist du fit genug, um mitzukommen?«
»Ja, klar doch. Ich bin topfit.«
»Fahren solltest du vielleicht lieber nicht.«
»Hab ich darum gebeten?«
»Hinten liegt 'ne Thermoskanne.«
»Kaffee?«
»Nein, da kannst du reinpinkeln, wenn du musst, weil wir keine Zeit für einen Boxenstopp haben.«
Ich lachte und angelte nach der Kanne. Jacobi war immer für einen geschmacklosen Witz gut. Als wir unmittelbar südlich der Mission Street in die Sixth Street einbogen, entdeckte ich einen Wagen, auf den die Beschreibung passte. Er stand in einer Kurzparkzone.
»Sieh mal, Warren. Da ist ja unser Baby.«
»Gut gemacht, Boxer.«
Bis auf die Spitze in meiner Blutdruckkurve war auf der Sixth Street rein gar nichts los. Wir standen vor einem baufälligen Block mit schäbigen Läden und leer stehenden Wohnungen, deren mit Sperrholz vernagelte Fenster wie blinde Augen wirkten. Ein paar Gestalten latschten quer über die Straße, und Obdachlose schnarchten unter ihren Müllhaufen. Der eine oder andere Penner musterte den glänzenden schwarzen Wagen mit neugierigen Blicken.
»Hoffentlich versucht niemand, das Ding zu klauen«, sagte ich. »Das fällt hier ja auf wie ein Steinway auf einem Schrottplatz.«
Ich meldete der Zentrale unsere Position. Einen halben Block von dem Mercedes entfernt bezogen wir Stellung. Ich tippte das Kennzeichen in unseren Computer ein. Diesmal läuteten sämtliche Glocken, und das Ding spuckte Münzen. Der Wagen war auf einen gewissen Dr. Andrew Cabot gemeldet, wohnhaft in Telegraph Hill.
Ich rief im Präsidium an und bat Cappy, die nationale Verbrechensdatenbank NCIC nach Dr. Cabot zu durchsuchen und mich anschließend zurückzurufen. Und dann machten Jacobi und ich uns auf eine lange Wartezeit gefasst. Wer immer Andrew Cabot war, er hatte offensichtlich beschlossen, sich mal unters gemeine Volk zu mischen. Eine Objektüberwachung war normalerweise ungefähr so spannend wie zwei Tage alte Hafergrütze, aber jetzt trommelte ich mit den Fingern auf dem Armaturenbrett herum. Wo zum Teufel war Andrew Cabot? Was hatte er hier verloren?
Zwanzig Minuten später kam eine Straßenkehrmaschine auf ihrer allabendlichen Tour dahergezockelt – ein knallgelbes Ungetüm von der Größe eines Autos und dem Aussehen eines Gürteltiers. Mit blinkenden Warnleuchten rollte es mitten über den Gehsteig und hupte dabei unentwegt. Obdachlose sprangen auf, um sich vor den rotierenden Bürsten in Sicherheit zu bringen, und Papierfetzen wirbelten im schwachen Schein der Straßenlaternen auf.
Die Kehrmaschine nahm uns für einige Sekunden die Sicht, und als sie vorbei war, sahen Jacobi und ich sofort, was los war. Die Fahrer- und die Beifahrertür des Mercedes wurden gerade zugeschlagen.
Der Wagen setzte sich in Bewegung.
»Jetzt gilt's«, sagte Jacobi.
Wir warteten ein paar Sekunden lang angespannt, während ein rotbrauner Toyota Camry sich zwischen uns und unser Objekt schob. Ich funkte die Zentrale an. »Wir folgen einem schwarzen Mercedes, Kennzeichen Quebec Zulu Whiskey Zwo-Sechs Charlie, fährt die Sixth Street in nördlicher Richtung auf die Mission zu. Fordere Verstärkung – oh, Mist!«
Wir hatten schon gedacht, wir hätten ihn sicher, aber ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund trat der Fahrer urplötzlich das Gaspedal durch und ließ Jacobi und mich im frisch gefegten Staub stehen.
Ich sah ungläubig zu, wie die Rücklichter des Mercedes sich weiter und weiter entfernten, bis sie nur noch als winzige rote Stecknadelköpfe zu erkennen waren, während der Camry vor uns umständlich in eine Parklücke zurücksetzte und uns so den Weg versperrte.
Ich schnappte mir das Mikro und schrie über die Lautsprecheranlage des Wagens: »Machen Sie die Straße frei! Aus dem Weg, aber sofort!«
»Ach, Scheiße«, sagte Jacobi.
Mit ein paar raschen Knopfdrücken schaltete er die Frontblitzer und die Stroboleuchten ein. Unsere Sirene kreischte auf, und wir schossen an dem Camry vorbei, wobei wir sein linkes Rücklicht mitnahmen.
»Saubere Arbeit, Warren.«
An der Howard Street schossen wir über die Kreuzung, und ich gab einen Code 33 durch, um die Frequenz für die Verfolgung frei zu halten.
»Fahren auf der Sixth Richtung Norden, südlich der Market. Verfolgen schwarzen Mercedes und versuchen ihn zu stoppen. Alle verfügbaren Einsatzfahrzeuge bitte diesen Bereich anfahren.«
»Grund für die Verfolgung, Lieutenant?«
»Ermittlungen in einem Mordfall.«
Adrenalin strömte durch meine Adern. Den Kerl würden wir uns kaufen, und ich betete nur, dass wir bei der Aktion keine unschuldigen Passanten umnieten würden. Über Funk meldeten die verschiedenen Einheiten ihre Positionen, während wir mit mindestens neunzig Sachen bei Rot über die Mission Street rasten.
Ich stieg mit aller Kraft auf meine virtuelle Bremse, als Jacobi mit Vollgas über die Market Street bretterte, eine der größten und verkehrsreichsten Straßen der Stadt, um diese Tageszeit brechend voll mit Bussen, Straßenbahnen und dem abendlichen Berufsverkehr.
»Rechts halten!«, schrie ich Jacobi zu.
Die Straße teilte sich, und der Mercedes scherte in die Taylor aus. Wir waren zwei Autolängen dahinter, aber in der zunehmenden Dunkelheit waren wir immer noch zu weit weg, um zu erkennen, wer am Steuer und auf dem Beifahrersitz saß.
Wir folgten dem Wagen zur Ellis, Richtung Westen am Hotel Coronado vorbei, dem Tatort des ersten Stromschlag-Mords. Der Killer bewegte sich hier in vertrautem Gelände, wie es schien. Der Dreckskerl kannte diese Straßen genauso gut wie ich.
Die Autos wichen nach links und rechts an den Straßenrand aus, während wir mit hundertzwanzig und heulender Sirene über Querstraßen hinwegschossen, mit Vollgas den Berg hinaufrasten und für ein paar Herzschlagsekunden abhoben, ehe wir ein Stück hinter der Kuppe wieder aufsetzten – und trotz alledem verloren wir den Mercedes an der Leavenworth aus den Augen, wo Autos und Fußgänger die Kreuzung blockierten.
Wieder brüllte ich ins Mikro, und ich dankte Gott, als eine Funkstreife antwortete: »Wir haben ihn im Blick, Lieutenant. Schwarzer Mercedes, fährt auf der Turk Richtung Westen, mit Tempo hundertzehn.«
An der Hyde schaltete sich ein zweiter Wagen in die Verfolgung ein.
»Schätze mal, er will zur Polk«, sagte ich zu Jacobi.
»Genau das hab ich auch gerade gedacht.«
Wir überließen die Hauptstrecke den Streifenwagen, schossen am Krimskramsladen Palace of Fine Junk an der Ecke Turk und Polk vorbei und bogen nach rechts in die Polk ein. Ungefähr ein Dutzend Einbahnstraßen zweigten von der Polk ab. Ich spähte angestrengt nach links und nach rechts, während wir die Willow, die Ellis, die Olive Street passierten.
»Da ist er – und er lahmt auf dem Hinterfuß«, rief ich Jacobi zu. Der Mercedes eierte mit einem geplatzten Hinterreifen die Straße entlang und bog hinter dem Mitchell-Brothers-Kino in die Larkin ein.
Ich hielt mich mit beiden Händen am Armaturenbrett fest, als Jacobi ihm nachsetzte. Der Fahrer des Mercedes verlor die Kontrolle, und der Wagen prallte gegen einen parkenden Minivan, flog auf den Gehsteig und wurde gegen einen Briefkasten geschleudert. Das Kreischen von zerreißendem Metall ertönte, als der gusseiserne Kasten sich in das Chassis des Wagens bohrte. Als er endlich zum Stillstand kam, ragte die Schnauze in einem Winkel von fünfundvierzig Grad gen Himmel, und die Fahrerseite neigte sich bedenklich in Richtung Rinnstein.
Die Motorhaube sprang auf, und Dampf schoss aus dem demolierten Kühlerschlauch hervor. Der Gestank von verbranntem Gummi, vermischt mit dem süßlichen Bratapfelgeruch des Frostschutzmittels, erfüllte die Luft.
Jacobi hielt unseren Wagen an, und mit gezogenen Waffen rannten wir auf den Mercedes zu.
»Hände über den Kopf!«, schrie ich. »Sofort!«
Dann sah ich, dass beide Insassen von ihren Airbags eingeklemmt waren. Als die Luft aus den Kissen entwich, erblickte ich zum ersten Mal ihre Gesichter. Es waren weiße Jugendliche, vielleicht dreizehn und fünfzehn Jahre alt, und sie hatten panische Angst.
Als Jacobi und ich auf den Mercedes zugingen, die Waffe mit beiden Händen fest gepackt, stimmten die Kids ein jämmerliches Geheul an.
Mein Herz pochte laut und vernehmlich, und inzwischen kochte ich vor Wut. Wenn Dr. Cabot nicht irgendein Wunderkind war, das gleich nach der Grundschule mit dem Medizinstudium begonnen hatte, dann saß er nicht in diesem Wagen. Diese Kids waren Idioten oder Speed-Junkies oder Autoknacker – oder vielleicht alles zusammen.
Ich hielt meine Waffe aufs Fahrerfenster gerichtet.
»Hände über den Kopf. So ist's gut. An die Decke damit. Das gilt für euch beide!«
Tränen strömten über das Gesicht des Fahrers – nein, der Fahrerin, wie ich mit einem kleinen Schock erkannte. Es war ein Mädchen. Sie hatte einen Kurzhaarschnitt mit pink gefärbten Spitzen, ohne Make-up, keine Piercings im Gesicht – eine Version von Punk im Stil der Zeitschrift Seventeen, die sie nicht ganz durchgezogen hatte. Als sie die Hände hob, sah ich, dass ihr schwarzes T-Shirt mit feinen Glassplittern übersät war. Um den Hals trug sie eine Kette mit ihrem Namen.
Ich gebe zu, ich habe sie angebrüllt. Wir hatten gerade eine Verfolgungsjagd hinter uns, bei der wir alle hätten draufgehen können.
»Verdammt, was hast du dir bloß dabei gedacht, Sara?«
»Es tut mir so Leiiiiid!«, heulte sie. »Es ist nur, weil – ich hab doch bloß einen Lernfahrausweis. Was werden Sie mit mir machen?«
Ich konnte es nicht glauben. »Du bist vor der Polizei weggelaufen, weil du keinen Führerschein hast? Bist du wahnsinnig?«
»Er wird uns umbringen«, sagte der Junge neben ihr, ein schlaksiger Bursche, der schief in seinem Sitz hing, nur vom Sicherheitsgurt am Abrutschen gehindert.
Der Junge hatte riesige braune Augen und lange blonde Haare, die ihm in die Stirn fielen. Seine Nase blutete, vermutlich von dem Schlag, den ihm der Airbag versetzt hatte. Tränen sickerten über seine Wangen.
»Bitte, verraten Sie uns nicht. Sagen Sie einfach, das Auto wäre gestohlen worden oder so, und lassen Sie uns nach Hause gehen. Bitte. Unser Dad wird uns umbringen, ehrlich.«
»Wieso denn das?«, fragte Jacobi sarkastisch. »Weil ihm die neue Kühlerfigur an seinem Sechzigtausend-Dollar-Schlitten nicht gefällt? Lass die Hände da, wo wir sie sehen können, und komm ganz langsam raus.«
»Ich kann nicht. Ich stecke fe-he-hest«, schluchzte der Junge. Er wischte sich die Nase mit dem Handrücken und schmierte sich das Blut übers ganz Gesicht. Und dann kotzte er übers Armaturenbrett.
»Ach du Scheiße«, murmelte Jacobi. Der Impuls, Hilfe zu leisten, trug bei uns beiden den Sieg davon. Wir steckten unsere Waffen ein. Nur mit vereinten Kräften gelang es uns, die verbeulte Fahrertür aufzureißen. Ich streckte die Hand aus, um die Zündung auszuschalten, und dann holten wir die beiden vorsichtig aus dem Wrack und stellten sie auf die Füße.
»Lass mich doch mal diesen Lernfahrausweis sehen, Sara«, sagte ich. Ich fragte mich, ob ihr Vater tatsächlich Dr. Cabot war und ob die Kids sich zu Recht so vor ihm fürchteten.
»Er ist hier«, sagte Sara. »In meiner Brieftasche.«
Jacobi rief gerade einen Krankenwagen, als das junge Mädchen in die Innentasche ihrer Jacke griff und einen Gegenstand hervorzog, mit dem ich niemals gerechnet hätte. Bei dem Anblick gefror mir das Blut in den Adern.
»WAFFE!«, schrie ich einen Sekundenbruchteil, bevor sie auf mich schoss.
Die Zeit schien fast stillzustehen, jede Sekunde wie in Stein gemeißelt, doch in Wahrheit passierte alles in weniger als einer Minute.
Ich zuckte zurück und drehte mich zur Seite, und da spürte ich auch schon den harten Einschlag der Kugel in meiner Schulter. Dann bohrte sich ein zweites Geschoss in meinen Oberschenkel. Während ich noch zu begreifen versuchte, was da geschah, knickten meine Beine ein, und ich sank zu Boden. Ich streckte eine Hand nach Jacobi aus und sah seine geschockte Miene.
Ich verlor nicht das Bewusstsein. Ich sah, wie der Junge Jacobi niederschoss – blam, blam, blam. Dann ging er hin und trat meinem Partner in den Kopf. Ich hörte das Mädchen sagen: »Los, komm, Sammy. Hauen wir hier ab.«
Ich spürte keinen Schmerz, nur Zorn. Meine Gedanken waren so klar wie nur irgendwann in meinem Leben. Sie hatten mich völlig vergessen. Ich tastete nach meiner 9-mm-Glock, die noch im Holster an meiner Hüfte steckte, schloss die Finger um den Griff und setzte mich auf.
»Waffe fallen lassen!«, rief ich und zielte auf Sara.
»Verpiss dich, du Schlampe!«, keifte sie zurück. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie ihre .22er hob und drei Schüsse abfeuerte. Ich hörte das helle ping ping der Querschläger auf dem Asphalt um mich herum.
Es ist bekanntermaßen schwer, ein bewegliches Ziel mit einer Pistole zu treffen, doch ich tat das, wozu ich ausgebildet war. Ich zielte auf den Bereich der größten Masse, die Mitte ihrer Brust, und krümmte zweimal kurz hintereinander den Finger: Bum, bum. Saras Züge entgleisten, und sie sackte zusammen. Ich versuchte aufzustehen, schaffte es aber nur, mich auf ein Knie hochzuhieven.
Der Junge mit dem blutverschmierten Gesicht hielt immer noch eine Pistole in der Hand. Er richtete sie auf mich. »Fallen lassen!«, schrie ich.
»Sie haben meine Schwester erschossen!«
Ich zielte, drückte wieder zweimal kurz den Abzug: Bum, bum. Der Junge ließ die Waffe fallen, sein ganzer Körper erschlaffte schlagartig.
Mit einem Schrei brach er zusammen.
Eine schreckliche, erstickte Stille senkte sich auf die Larkin Street. Dann setzten die Geräusche ein. Irgendwo in der Nähe tönte Rap-musik aus einem Radio. Ich hörte das leise Wimmern des Jungen. Ich hörte die Polizeisirenen näher kommen.
Jacobi lag vollkommen reglos da. Ich rief seinen Namen, doch er antwortete nicht. Dann zog ich mein Handy aus dem Gürtel und setzte einen Notruf ab, so gut ich es in meinem Zustand konnte.
»Zwei Beamte außer Gefecht. Zwei Zivilisten verletzt. Brauchen ärztliche Hilfe. Schicken Sie zwei Krankenwagen. Sofort.«
Die Koordinatorin in der Einsatzzentrale stellte mir Fragen: Standort, Dienstnummer, wieder Standort. »Lieutenant, sind Sie okay? Lindsay Antworten Sie mir!«
Die Geräusche schwollen abwechselnd an und ab. Ich ließ das Handy fallen und legte den Kopf auf das weiche, weiche Pflaster. Ich hatte auf Kinder geschossen. Auf Kinder! Ich hatte ihre entsetzten Gesichter gesehen, als sie zusammengebrochen waren. O Gott, was hatte ich getan?
Ich spürte das heiße Blut, das sich unter meinem Hals und um mein Bein herum sammelte. Ich spielte die ganze Sache im Kopf noch einmal durch, aber diesmal warf ich die Jugendlichen gegen den Wagen. Legte ihnen Handschellen an. Durchsuchte sie. Diesmal ging ich klug und besonnen vor. Professionell!
Wir hatten uns sträflich dumm angestellt, und jetzt würden wir alle sterben. Und dann hüllte mich barmherzige Dunkelheit ein, und ich schloss die Augen.
Ein Mann saß still in einem unscheinbaren grauen Wagen, der an der Ocean Colony Road parkte, in einer der schönsten Ecken von Half Moon Bay, Kalifornien. Er war nicht der Typ, der besonders auffällt, auch wenn er hier irgendwie fehl am Platz war. Auch wenn er eigentlich keinen legitimen Grund hatte, die Menschen zu überwachen, die in dem weißen Haus im Kolonialstil mit den teuren Autos in der Einfahrt wohnten.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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