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Mitten in San Francisco geht ein Wohnhaus in Flammen auf. Menschen sterben, ein Baby wird vermisst. Es ist der Anfang einer schrecklichen Terrorserie.
Detective Lindsay Boxer und der Club der Ermittlerinnen nehmen die Spur des wahnsinnigen Killers auf - und ahnen nicht, dass sie direkt in ihre Mitte führt … Der dritte Fall für Lindsay Boxer, den einzigen weiblichen Detective bei der Mordkommission von San Francisco, und ihre Freundinnen vom Club der Ermittlerinnen: raffiniert, unvorhersehbar und so spannend wie nie zuvor.
Es hätte ein ruhiger Tag werden sollen. Lieutenant Lindsay Boxer und Staatsanwältin Jill Bernhardt joggen gemeinsam in der Bucht von San Francisco, als Lindsay an der Schulter ihrer Freundin dunkle Blutergüsse bemerkt. Doch bevor sie der Sache auf den Grund gehen kann, explodiert ganz in ihrer Nähe ein Stadthaus. Lindsay stürmt in das Flammeninferno, um ein Baby, das noch im Haus schläft, zu retten. Doch das Kind ist verschwunden.
Die Brandbombe ist nur der Anfang. Wenige Stunden später wird ein Geschäftsmann unter bizarren Umständen ermordet. Zusammen mit ihren Freundinnen, der Pathologin Claire Washburn, der Reporterin Cindy Thomas und natürlich Jill Bernhardt, versucht Lindsay fieberhaft herauszufinden, wer hinter diesen Morden steckt – und warum alle drei Tage ein weiterer Anschlag erfolgt.
Bald schaltet sich das Ministerium für Innere Sicherheit in die Ermittlungen ein, und Lindsay findet in Joe Molinari einen in vielerlei Hinsicht sehr faszinierenden Mitstreiter. Dann kommt ihr eine böse Ahnung: Verbirgt eine ihrer Freundinnen ein tödliches Geheimnis, das einen Killer auf den Plan gerufen hat?
Doch es ist schon fast zu spät: Der nächste Anschlag trifft den Club der Ermittlerinnen mitten ins Herz - und Lindsay verliert eine ihrer besten Freundinnen. Von nun an ist die Jagd nach dem Mörder nicht mehr nur eine Frage der Gerechtigkeit: Es geht um Rache …
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Seitenzahl: 341
Deutsch von Andreas Jäger
LIMES
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »3rd Degree« bei Little, Brown and Company, New York.
Der Limes Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House.
1. Auflage © der Originalausgabe 2004 by James Patterson © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Limes Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Uhl+Massopust, Aalen
ISBN 978-3-89480-401-5www.limes-verlag.de
Title PageCopyrightErster Teil Zweiter Teil Dritter Teil Vierter Teil Fünfter Teil Danksagung
Es begann als wolkenloser, windstiller, träger Aprilmorgen – und wurde der erste Tag der schlimmsten Woche meines Lebens.
Ich joggte unten an der Bucht mit meiner Border-Collie-Hündin Martha. Das ist mein Sonntagmorgen-Ritual: in aller Herrgottsfrühe aus den Federn, und dann meinen vierbeinigen Lebensabschnittspartner auf den Beifahrersitz des Ford Explorer gepackt. Ich versuche gewissenhaft, mindestens drei Meilen zu absolvieren, ehe mir die Puste ausgeht, von Fort Mason bis runter zur Brücke und zurück. Gerade genug, um mich davon zu überzeugen, dass ich mit meinen sechsunddreißig Jahren immer noch annähernd fit bin.
An diesem Morgen leistete mir meine gute Freundin Jill Gesellschaft. Otis, ihr junger Labrador, brauchte Auslauf. Das hatte sie jedenfalls behauptet, aber wahrscheinlich wollte sie sich nur ein bisschen aufwärmen für ihren Radsprint auf den Mount Tamalpais, oder was immer Jill für den Rest des Tages an ernsthaften sportlichen Aktivitäten geplant hatte.
Es war schwer zu glauben, dass erst fünf Monate vergangen waren, seit Jill ihr Baby verloren hatte. Jetzt stand sie vor mir, schlank und durchtrainiert wie eh und je.
»Na, wie war's gestern Abend?«, fragte sie, während sie seitwärts neben mir hertrabte. »Es geht das Gerücht, Lindsay hätte ein Date gehabt.«
»Man könnte es schon ein Date nennen...«, sagte ich, den Blick voraus auf die Anhöhen von Fort Mason gerichtet, die für meinen Geschmack viel zu langsam näher rückten. »Man könnte Bagdad auch ein Urlaubsparadies nennen.«
Sie zuckte zusammen. »Tut mir Leid, dass ich es erwähnt habe.«
Die ganze Zeit hatte ich vergeblich versucht, vor der unerfreulichen Erinnerung an Franklin Fratelli davonzulaufen, den »Asset-Remarketing«-Guru – was nur ein schicker Name dafür war, dass er Dotcom-Pleitiers, die mit den Ratenzahlungen für ihre BMWs und Rolex-Uhren nicht mehr nachkamen, finstere Gestalten auf den Hals hetzte. Zwei Monate lang hatte Fratelli mich jedes Mal, wenn er im Justizpalast war, in meinem Büro heimgesucht, bis er mich endlich so weit zermürbt hatte, dass ich ihn für den Samstagabend zu mir zum Essen eingeladen hatte (zu den Schmorrippchen in Portwein, die ich wieder in den Kühlschrank verfrachten musste, nachdem er sich in letzter Minute abgeseilt hatte).
»Ich bin versetzt worden«, sagte ich, ohne aus dem Tritt zu kommen. »Die Fragen kannst du dir sparen, ich rücke keine Details raus.«
Am Ende von Marina Green liefen wir aus und blieben schließlich stehen. Während ich mir die Lungen aus dem Leib japste, hopste unsere Mary Decker-Slaney auf und ab, als könnte sie locker noch mal eine Runde laufen.
»Ich weiß nicht, wie du das machst«, sagte ich, die Hände auf die Knie gestützt und nach Luft ringend.
»Meine Oma«, meinte sie und dehnte dabei ihre Kniesehnen. »Als sie sechzig war, hat sie angefangen, jeden Tag fünf Meilen zu gehen. Jetzt ist sie neunzig, und wir haben keine Ahnung, wo sie inzwischen steckt.«
Wir mussten beide lachen. Es tat gut, zu sehen, wie die alte Jill allmählich wieder zum Vorschein kam. Es tat gut, zu hören, dass sie das Lachen nicht verlernt hatte.
»Wie wär's mit einem Mochaccino?«, fragte ich. »Martha lädt uns ein.«
»Geht nicht. Steve kommt jeden Moment aus Chicago zurück. Er will nur rasch seinen Koffer abstellen und sich umziehen und dann mit mir zur Dean-Friedrich-Ausstellung im Legion-of-Honor-Museum radeln. Du weißt ja, wie der kleine Racker ist, wenn er nicht regelmäßig seinen Auslauf kriegt.«
Ich runzelte die Stirn. »Irgendwie fällt es mir schwer, mir Steve als kleinen Racker vorzustellen.«
Jill nickte. Sie zog ihr Sweatshirt aus und reckte die Arme in die Luft.
»Jill«, stieß ich hervor, »was ist das?«
Unter dem Träger ihres Sport-BHs lugten mehrere kleine, dunkle Blutergüsse hervor. Sie sahen aus wie Fingerabdrücke.
Sie warf sich das Sweatshirt über die Schulter. »Hab mir die Schulter angehauen, als ich aus der Dusche gestiegen bin«, sagte sie abwehrend. »Aber du solltest erst mal die Dusche sehen«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.
Ich nickte, aber irgendetwas an den blauen Flecken behagte mir ganz und gar nicht. »Bist du sicher, dass du keine Lust auf einen Kaffee hast?«, fragte ich.
»Tut mir Leid... Aber du kennst ja den gestrengen Herrn. Wenn ich ein Mal fünf Minuten zu spät komme, ist das für ihn schon eine schlechte Angewohnheit.« Jill pfiff nach Otis und begann zu ihrem Wagen zurückzutrotten. Sie winkte mir zu. »Wir sehen uns in der Arbeit.«
»Und wie ist es mit dir?« Ich kniete mich vor Martha. »Du siehst mir so aus, als wäre ein Mochaccino jetzt genau das Richtige.« Ich nahm sie an die Leine und trabte auf das Starbucks-Café an der Chestnut Street zu.
Die Marina war immer schon eine meiner Lieblingsecken von San Francisco. Gewundene Sträßchen mit bunten, restaurierten Wohnhäusern. Familien, das Geschrei der Möwen, die Seeluft, die von der Bucht hereinweht.
Ich überquerte die Alhambra Avenue, und mein Blick fiel auf ein wunderschönes dreistöckiges Wohnhaus, das ich jedes Mal bewundern musste, wenn ich hier vorbeikam. Handgeschnitzte Fensterläden, das Dach mit Terrakottaziegeln gedeckt – man kam sich vor wie am Canale Grande. Ich hielt Martha fest, um ein Auto vorbeizulassen.
Das sind meine Erinnerungen an diesen Moment. Das Viertel, das sich noch den Schlaf aus den Augen rieb. Ein rothaariger Bursche mit einem FUBU-Sweatshirt, der mit seinem Kickboard Tricks übte. Eine Frau mit Latzhose, die mit einem Bündel Kleider im Arm um eine Ecke gehastet kam.
»Auf geht's, Martha.« Ich zog an ihrer Leine. »Komm, ich kann den Mochaccino schon riechen.«
Und dann verschwand das dreistöckige Haus mit dem Terrakottadach plötzlich in einem Feuerball. Ich schwör's – es war, als hätte San Francisco sich urplötzlich in Beirut verwandelt.
»O mein Gott!«, stieß ich hervor, als der heiße Luftstoß und umherfliegende Trümmerteile mich fast zu Boden rissen.
Ich drehte mich weg und ließ mich auf die Knie fallen, um Martha vor den Druckwellen der Explosion zu schützen, die uns wie aus einem gewaltigen Backofen entgegenschlugen. Ein paar Sekunden später drehte ich mich wieder um und rappelte mich auf. Gütiger Himmel – ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Das Haus, das ich gerade noch bewundert hatte, war jetzt eine Ruine. Das gesamte Obergeschoss war in einem Flammenmeer verschwunden.
In diesem Augenblick wurde mir klar, dass vielleicht noch Menschen im Haus waren.
Ich band Martha an einem Laternenpfahl an. Nur fünfzehn Meter von uns entfernt loderten die Flammen. Ich rannte über die Straße auf das brennende Wohnhaus zu. Das Obergeschoss war komplett zerstört – wer sich dort aufhielt, hatte keine Chance gehabt.
Hektisch kramte ich in meiner Gürteltasche nach dem Handy und wählte 911, die Notrufnummer. »Hier spricht Lieutenant Lindsay Boxer vom San Francisco Police Department, Dienstnummer zwei-sieben-zwei-eins. An der Ecke Alhambra/ Pierce hat es eine Explosion gegeben. Ein Wohnhaus. Wahrscheinlich mit Toten oder Verletzten. Brauche sofort Notarzt und Feuerwehr. Schicken Sie die Jungs los!«
Ich wartete die Antwort nicht ab, obwohl die Vorschriften es verlangten – aber wenn da drin noch irgendjemand am Leben war, durfte ich keine Zeit verlieren. Ich riss mir das Sweatshirt vom Leib und band es mir locker vors Gesicht. »Um Gottes willen, Lindsay«, stieß ich hervor, dann hielt ich die Luft an und stürmte in das brennende Haus.
»Ist hier irgendjemand?«, schrie ich und musste sofort würgen, als der dichte graue Rauch mich im Hals kratzte. Ich spürte die enorme Hitze in den Augen und auf dem Gesicht, und wenn ich den schützenden Stoff auch nur ein Stück herunterzog, tat es gleich höllisch weh. Über mir hing eine Wand aus brennenden Rigipsplatten.
»Polizei!«, schrie ich erneut. »Ist hier irgendjemand?«
Der Rauch schien meine Lungen wie mit Rasierklingen zu zerfetzen. Das Prasseln der Flammen verschluckte jedes andere Geräusch. Plötzlich verstand ich, wieso Menschen, die bei einem Brand in einem oberen Stockwerk gefangen sind, lieber in den Tod springen, als noch länger in der unerträglichen Hitze auszuharren.
Ich schirmte meine Augen ab und kämpfte mich durch die wallenden Rauchwolken vor. Ein letztes Mal brüllte ich: »Ist hier noch jemand am Leben?«
Ich konnte nicht weitergehen. Meine Augenbrauen waren versengt. Ich begriff, dass ich hier drin sterben könnte.
Ich machte kehrt und steuerte den Ausgang an, wo Licht und kühle Luft auf mich warteten. Plötzlich erblickte ich zwei liegende Gestalten – einen Mann und eine Frau. Sie waren offensichtlich tot; ihre Kleider standen in Flammen.
Mir drehte sich der Magen um, und ich blieb stehen. Aber ich konnte nichts mehr für sie tun.
Und dann vernahm ich plötzlich einen erstickten Laut. Ich wusste nicht, ob ich richtig gehört hatte. Ich hielt inne und versuchte angestrengt, in dem Getöse der Flammen etwas zu hören. Die brennenden Schmerzen in meinem Gesicht waren kaum auszuhalten.
Da war es wieder. Kein Zweifel, ich hatte richtig gehört.
Da weinte jemand.
Ich sog die heiße Luft in meine Lungen und drang tiefer in das Haus ein, das jeden Moment über mir zusammenbrechen konnte. »Wo sind Sie?«, rief ich, während ich über brennende Trümmer stolperte. Ich hatte jetzt echte Angst, nicht nur um den Menschen, dessen Weinen ich gehört hatte, sondern auch um mich.
Ich hörte es wieder – ein leises Wimmern, das aus dem hinteren Teil des Hauses zu kommen schien. Ich ging darauf zu. »Ich komme!«, rief ich. Links von mir krachte ein hölzerner Träger zu Boden. Je weiter ich ging, desto schwieriger wurde es. Ich erblickte einen Flur, von dessen Ende die Laute zu kommen schienen. Von der Decke zwischen dem Erdgeschoss und dem zerstörten ersten Stock waren nur noch ein paar bedenklich schwankende Fetzen übrig.
»Polizei!«, schrie ich. »Wo sind Sie?«
Nichts.
Und dann hörte ich das Weinen erneut. Näher als zuvor. Ich hielt mir das Sweatshirt vors Gesicht und taumelte den Flur entlang. Komm schon, Lindsay... Nur noch ein paar Schritte.
Ich trat durch eine Tür, aus der Rauchwolken schlugen. Mein Gott, es ist ein Kinderzimmer! Oder vielmehr das, was davon übrig war.
An einer Seite stand ein umgekipptes Bett mit der Oberseite zur Wand, bedeckt mit einer dicken Staubschicht. Ich rief, und da hörte ich den Laut wieder. Ein gedämpftes Geräusch, wie ein leises Husten.
Das Bettgestell war glühend heiß, doch es gelang mir, es ein Stück von der Wand wegzurücken. O mein Gott... Ich erkannte die schemenhaften Konturen eines Kindergesichts.
Es war ein kleiner Junge. Vielleicht zehn Jahre alt.
Das Kind hustete und weinte. Es konnte kaum sprechen. Sein Zimmer war unter einer Schuttlawine begraben. Ich konnte nicht länger warten. Wenn ich zögerte, würden die Brandgase allein uns schon töten.
»Ich hol dich hier raus«, versprach ich dem Kleinen. Dann schob ich meinen Körper zwischen Bett und Wand und stemmte mich mit aller Kraft dagegen, bis die Lücke groß genug war. Ich fasste den Jungen an den Schultern und betete, dass ich ihn dabei nicht verletzen würde.
Mit dem Jungen im Arm stolperte ich durch die brennenden Trümmer. Alles war voller Rauch, beißend und giftig. Ich sah einen Lichtschein an der Stelle, wo ich hereingekommen zu sein glaubte, aber ich war mir nicht sicher.
Ich hustete. Der Junge klammerte sich mit eisernem Griff an mir fest. »Mommy, Mommy«, schluchzte er. Ich drückte ihn, um ihm zu versichern, dass ich ihn nicht sterben lassen würde.
Dann schrie ich in Richtung Ausgang und betete nur, dass jemand mich hören würde: »Bitte, ist da draußen irgendwer?«
»Hier!«, hörte ich eine Stimme aus der Schwärze, die uns einhüllte.
Ich stolperte über Trümmerteile, wich aufflackernden neuen Brandherden aus. Jetzt sah ich den Ausgang. Sirenen, Stimmen. Die Gestalt eines Mannes. Ein Feuerwehrmann. Behutsam nahm er den Jungen aus meinen Armen. Ein zweiter Feuerwehrmann legte mir den Arm um die Schultern. Wir traten ins Freie.
Und dann war ich draußen. Ich fiel auf die Knie und saugte gierig die kostbare Luft ein. Ein Sanitäter hüllte mich vorsichtig in eine Decke. Alle waren so gut, so professionell. Ich ließ mich gegen ein am Straßenrand parkendes Löschfahrzeug sinken. Beinahe hätte ich mich übergeben. Und dann übergab ich mich tatsächlich.
Irgendjemand legte mir eine Sauerstoffmaske auf den Mund, und ich atmete mehrmals tief ein. Ein Feuerwehrmann beugte sich über mich. »Waren Sie drin, als es explodierte?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin reingegangen, um zu helfen.« Ich konnte kaum sprechen oder einen klaren Gedanken fassen. Ich öffnete meine Gürteltasche und zeigte ihm meine Dienstmarke. »Lieutenant Boxer«, sagte ich hustend. »Mordkommission.«
»Mir fehlt nichts«, sagte ich und löste mich aus den Armen des Sanitäters, um auf den Jungen zuzugehen, der bereits auf eine fahrbare Trage geschnallt worden war. Sie schoben ihn gerade in einen Rettungswagen. Die einzige Regung in seinem Gesicht war ein leises Flackern der Augen. Aber er lebte. Mein Gott – ich hatte ihm das Leben gerettet.
Auf der Straße hatten Polizisten einen Kordon gebildet, um die Schaulustigen zurückzudrängen. Ich erkannte den rothaarigen Jungen mit dem Kickboard, umringt von anderen entsetzten Gesichtern.
Plötzlich registrierte ich, dass da irgendwo ein Hund bellte. Meine Güte – es war Martha; sie war immer noch an den Laternenpfahl gebunden. Ich lief auf sie zu und schloss sie in die Arme, und sie leckte dankbar mein Gesicht.
Ein Feuerwehrmann kam auf mich zu. Das Wappen auf seinem Helm wies ihn als Hauptmann aus. »Mein Name ist Captain Ed Noroski. Alles okay mit Ihnen?«
»Ich glaube schon«, antwortete ich unsicher.
»Ihr vom Justizpalast kriegt im Dienst wohl nicht genug Gelegenheit zu Heldentaten, wie, Lieutenant?«, sagte Captain Noroski.
»Ich bin zufällig beim Joggen vorbeigekommen. Ich habe gesehen, wie es in die Luft geflogen ist. Sah aus wie eine Gasexplosion. Ich habe nur getan, was ich für richtig hielt.«
»Nun, Sie können stolz auf sich sein, Lieutenant.« Der Feuerwehrhauptmann wandte sich zu dem ausgebrannten Haus um. »Aber das war keine Gasexplosion.«
»Ich habe da drin zwei Leichen gesehen.«
»Ja.« Noroski nickte. »Ein Mann und eine Frau. Und noch eine Erwachsene in einem der hinteren Zimmer im ersten Stock. Dieser Junge kann von Glück sagen, dass Sie ihn rausgeholt haben.«
»Ja«, pflichtete ich ihm bei. Eine plötzliche Angst schnürte mir die Brust zusammen. Wenn es keine Gasexplosion war...
Und dann erblickte ich Warren Jacobi, meinen leitenden Inspector. Mit seiner Dienstmarke bahnte er sich einen Weg durch die Menschenmenge und kam auf mich zu. Warren hatte die »erste Halbzeit« erwischt – so nennen wir die Sonntagmorgen-Schicht, wenn es draußen allmählich warm wird.
Jacobi hatte ein feistes, rosiges Gesicht, das niemals zu lächeln schien – auch nicht, wenn er einen Witz erzählte – und tief liegende Augen mit schweren Lidern, in denen nie so etwas wie Überraschung aufblitzte. Doch als er die Lücke betrachtete, wo einmal das Haus Alhambra Street Nr. 210 gestanden hatte, und mich davor sitzen sah, verdreckt, rußverschmiert und außer Atem – da musste Jacobi doch zweimal hingucken.
»Lindsay? Alles okay mit dir?«
»Ich glaube schon.« Ich versuchte mich hochzuziehen.
Er starrte zuerst die Ruine an und dann mich. »Sieht doch arg renovierungsbedürftig aus, auch wenn es ein Schnäppchen war. Aber du wirst bestimmt was draus machen.« Das Grinsen gefror ihm auf den Lippen. »Haben wir vielleicht eine palästinensische Delegation in der Stadt, von der ich nichts weiß?«
Ich berichtete ihm, was ich gesehen hatte. Kein Rauch, kein Feuer – der erste Stock war einfach urplötzlich in die Luft geflogen.
»Meine siebenundzwanzig Jahre bei der Truppe flüstern mir ins Ohr, dass wir es hier wohl kaum mit einem defekten Boiler zu tun haben«, meinte Jacobi.
»Kennst du irgendwen, der in einem Haus wie diesem wohnt und einen Boiler im ersten Stock hat?«
»Ich kenne überhaupt niemanden, der in so einem Haus wohnt. Bist du sicher, dass du nicht ins Krankenhaus willst?« Jacobi beugte sich über mich. Seit ich bei dem Coombs-Fall eine Kugel abgekriegt hatte, war Jacobi zu mir wie ein rührend besorgter Onkel. Er hielt sich sogar mit seinen blöden sexistischen Witzen zurück.
»Nein, Warren, mir geht's gut.«
Ich weiß selbst nicht genau, wie ich zuerst darauf aufmerksam geworden bin. Ich saß lediglich da auf dem Gehsteig, an ein parkendes Auto gelehnt, und ich dachte mir: Verdammt, Lindsay, was hat das Ding denn da verloren?
Gar nichts – nach allem, was hier passiert war.
Eine rote Schultasche. Wie sie Millionen von Schülern tragen. Stand einfach so herum.
Wieder stieg Panik in mir auf.
Ich hatte von Folgeexplosionen im Nahen Osten gehört. Wenn es eine Bombe gewesen war, die in dem Haus explodiert war, dann – wer weiß?... Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ich konnte den Blick nicht von der roten Tasche wenden.
Ich packte Jacobis Arm. »Warren, ich will, dass die Straße sofort geräumt wird. Schaff die Leute weg von hier, aber schnell!«
Aus dem hintersten Winkel des großen Kellerschranks zog Claire Washburn einen vertrauten alten Kasten hervor, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
»O mein Gott...« Sie lachte.
Sie war früh aufgewacht an diesem Morgen, und nach einer Tasse Kaffee auf der Veranda, wo sie zum ersten Mal in diesem Jahr die Eichelhäher gehört hatte, war sie in ein altes Hemd und Jeans geschlüpft und hatte sich an die unangenehme Aufgabe gemacht, den Keller aufzuräumen.
Als Erstes flogen die alten Brettspiele raus, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr gespielt hatten. Danach die alten Baseballhandschuhe und Football-Monturen. Eine Patchworkdecke, einst liebevoll bestickt, jetzt nur noch ein Staubfänger.
Und dann stieß sie auf den alten Aluminiumkasten, versteckt unter einer muffigen Decke. Mein Gott.
Ihr altes Cello. Claire lächelte, als sie an damals zurückdachte. Du liebe Zeit – es war zehn Jahre her, dass sie es zuletzt in Händen gehalten hatte.
Sie zog es mit einem Ruck heraus. Allein der Anblick ließ sie in Erinnerungen schwelgen: die vielen Stunden des Übens, all die Griffe und Tonleitern. Ihre Mutter, die stets gesagt hatte: »Ein Haus ohne Musik ist ein Haus ohne Leben.« Der vierzigste Geburtstag ihres Mannes Edmund, als sie sich durch den ersten Satz von Haydns Cellokonzert in D-Dur gekämpft hatte. An diesem Tag hatte sie zum letzten Mal gespielt.
Claire ließ die Verschlüsse aufschnappen und betrachtete das gemaserte Holz des Korpus. Es war immer noch ein wunderschönes Instrument; ein Geschenk des Fachbereichs Musik in Hampton anlässlich ihres Stipendiums. Bevor sie erkannt hatte, dass sie nie eine Yo-Yo Ma sein würde, und ihr Medizinstudium aufgenommen hatte, war es ihr kostbarster Besitz gewesen.
Eine Melodie kam ihr in den Sinn. Just diese eine schwierige Passage, die sie nie so recht gemeistert hatte. Aus dem ersten Satz des Haydn-Konzerts. Claire lugte um sich, es war ihr irgendwie peinlich. Ach, was soll's, dachte sie. Edmund schlief noch. Niemand würde sie hören.
Claire hob ihr Cello aus dem mit Filz ausgeschlagenen Kasten. Sie griff nach dem Bogen, hielt ihn andächtig in den Händen. Wow...
Eine gute Minute ging fürs Stimmen drauf; knarzend spannten sich die alten Saiten bis auf ihre gewohnten Tonhöhen. Ein einziger Strich mit dem Bogen über die leeren Saiten ließ un zählige Empfindungen in ihr aufsteigen. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie die ersten Takte des Konzerts spielte. Es klang ein wenig schief, aber allmählich bekam sie wieder ein Gefühl für das Instrument. »Ha, das alte Mädchen hat's immer noch drauf«, murmelte sie lachend. Sie schloss die Augen und spielte weiter.
Und dann bemerkte sie Edmund, der im Pyjama am Fuß der Treppe stand und sie staunend ansah. »Ich weiß, dass ich nicht mehr im Bett liege« – er kratzte sich am Kopf –, »ich erinnere mich daran, dass ich meine Brille aufgesetzt und mir sogar schon die Zähne geputzt habe. Aber es kann einfach nicht sein, weil ich ganz offensichtlich träume.«
Edmund summte die Eröffnungstakte, die Claire gerade gespielt hatte. »Und, denkst du, dass du die nächste Passage hinkriegst? Das ist nämlich der knifflige Teil.«
»Ist das eine Herausforderung, Maestro Washburn?« Edmund lächelte verschmitzt.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Edmund hob das schnurlose Telefon im Treppenhaus ab. »Da bist du gerade noch mal davongekommen«, grummelte er. »Es ist das Institut. Am Sonntagmorgen, Claire. Können die dich denn nie in Ruhe lassen?«
Claire nahm das Telefon. Es war Freddie Rodriguez, ein Mitarbeiter der Gerichtsmedizin. Claire hörte eine Weile zu und legte dann auf.
»Mein Gott, Edmund... in der Stadt hat es eine Explosion gegeben. Lindsay ist verletzt.«
Ich weiß nicht, was da plötzlich in mich gefahren ist. Vielleicht war es der Gedanke an die drei getöteten Menschen im Haus oder die Scharen von Cops und Feuerwehrleuten am Ort der Unglücks. Ich starrte den Ranzen an, und mein Instinkt sagte mir laut und deutlich, dass etwas daran faul war – oberfaul. »Alles zurücktreten!«, schrie ich noch einmal.
Ich ging auf die Tasche zu. Noch wusste ich nicht, was ich tun würde, aber die Umgebung musste unbedingt geräumt werden.
»Nix da, Lindsay.« Jacobi packte meinen Arm. »Das ist nicht dein Job.«
Ich riss mich von ihm los. »Schaff sie alle weg von hier, Warren.«
»Ich stehe zwar im Dienstgrad unter dir, Lindsay«, sagte Jacobi, jetzt schon leicht erregt, »aber ich habe vierzehn Jahre mehr Diensterfahrung. Ich sage dir, lass die Finger von der Tasche.«
Der Feuerwehrhauptmann kam auf uns zugelaufen. »Verdächtiges Objekt, möglicherweise Sprengsatz«, bellte er in sein Funkgerät. »Schaffen Sie die Leute aus der Gefahrenzone und schicken Sie Magitakos vom Sprengkommando her.«
Keine Minute später drängte sich Niko Magitakos, der Leiter des städtischen Sprengkommandos, zusammen mit zweien seiner Profis an mir vorbei. Mit ihrer schweren Schutzkleidung näherten sie sich der roten Schultasche. Niko holte ein kastenförmiges Gerät hervor, einen Röntgenscanner. Ein klobiges Panzerfahrzeug, das aussah wie ein riesiger Kühlschrank, kam herangerollt. Ein Anblick, der nichts Gutes verhieß.
Der Spezialist mit dem Röntgenscanner richtete das Gerät aus einem Meter Abstand auf den Schulranzen. Ich war mir sicher, dass die Tasche einen scharfen Sprengsatz enthielt – oder dass der Täter sie zumindest absichtlich zurückgelassen hatte. Bitte, lass sie nicht losgehen, flehte ich.
»Holt sie in den Lkw.« Niko wandte sich mit ernster Miene um. »Das Ding sieht scharf aus.«
In den nächsten Minuten wurden Abdeckschürzen aus verstärktem Stahl vom Lastwagen geladen und als Schutzwall um die Tasche herum aufgestellt. Einer der Spezialisten näherte sich der Tasche mit einem fahrbaren Greifer. Falls wirklich eine Bombe darin war, konnte sie jede Sekunde losgehen.
Ich saß im Niemandsland fest und wagte nicht, mich zu rühren. Eine Schweißperle rann mir über die Wange.
Der Mann erfasste die Tasche mit dem Greifer und transportierte sie zu dem Panzerfahrzeug.
Nichts passierte.
»Ich habe keinen Messwert«, sagte der Mann mit dem Elektrosensor. »Wir müssen sie wohl von Hand aufmachen.«
Sie hoben den Ranzen in das Panzerfahrzeug, wo Niko ihn in Empfang nahm. Er kniete sich davor und öffnete mit ruhigen, sicheren Bewegungen den Reißverschluss.
»Da ist keine Sprengladung drin«, sagte Niko. »Es ist bloß ein verdammtes Radio.«
Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung war zu vernehmen. Ich löste mich von den Umstehenden und lief hin. Am Riemen der Tasche hing ein Namensschild – einer dieser Plastikanhänger. Ich hob es an und las.
RUMMS! IHR SCHWEINE.
Ich hatte Recht gehabt. Der Täter hatte die Tasche absichtlich zurückgelassen. Im Inneren fand sich neben einem gewöhnlichen Radiowecker noch ein gerahmtes Foto. Es war ein Computerausdruck einer Digitalaufnahme. Das Gesicht eines gut aussehenden Mannes um die vierzig.
Eine der verkohlten Leichen im Haus, da war ich mir sicher.
MORTON LIGHTOWER, lautete die Aufschrift, EIN FEIND DES VOLKES.
»DIE STIMME DES VOLKES SOLL GEHÖRT WERDEN.«
Darunter ein gedruckter Name. AUGUST SPIES.
Gütiger Himmel, das war eine Hinrichtung!
Mein Magen verkrampfte sich.
Wir hatten ziemlich schnell alles über das Haus herausgefunden. Es gehörte tatsächlich dem Mann auf dem Bild, Morton Lightower, und seiner Familie. Der Name kam Jacobi bekannt vor. »Hat der nicht diese Firma gehabt – X/LSystems?«
»Keine Ahnung.« Ich schüttelte den Kopf.
»Na, du weißt schon – dieser Internet-Zampano. Hat sich mit rund sechshundert Millionen aus dem Staub gemacht, während die Firma den Bach runtergegangen ist. Die Aktien haben mal sechzig Dollar gekostet, jetzt stehen sie bei so was wie sechzig Cent.«
Plötzlich fiel mir ein, dass ich davon in den Nachrichten gehört hatte. »Der König des Raubtier-Kapitalismus.« Er hatte versucht, Baseballteams aufzukaufen, hatte feudale Villen gesammelt wie andere Leute Briefmarken und seine Residenz in Aspen mit einem 50000-Dollar-Sicherheitstor ausgestattet, während er zugleich seine eigenen Anteile verschleudert und die Hälfte seiner Belegschaft auf die Straße gesetzt hatte.
»Ich habe ja schon von erzürnten Reaktionen enttäuschter Investoren gehört«, meinte Jacobi kopfschüttelnd, »aber das geht doch ein bisschen zu weit.«
Hinter mir hörte ich eine Frau rufen, man solle sie durchlassen. Ich drehte mich um und sah, wie Inspector Paul Chin ihr einen Weg durch das Labyrinth von Übertragungswagen und Fernsehteams bahnte. Dann stand sie vor dem zerbombten Haus.
»O Gott!«, stöhnte sie und schlug die Hand vor den Mund.
Chin führte sie zu mir. »Lightowers Schwester«, sagte er.
Sie hatte die Haare straff zurückgebunden und trug einen Kaschmirpullover, Jeans und genau die gleichen Slipper von Manolo Blahnik, die ich schon mal zehn Minuten lang im Schaufenster von Neiman's angeschmachtet hatte.
»Kommen Sie«, sagte ich und geleitete die schwankende Frau zu einem offenen Streifenwagen. »Ich bin Lieutenant Boxer von der Mordkommission.«
»Dianne Aronoff«, murmelte sie abwesend. »Ich hab es in den Nachrichten gehört. Mort? Charlotte? Die Kinder... Ist überhaupt jemand lebend da rausgekommen?«
»Wir haben einen Jungen gerettet, ungefähr elf Jahre alt.«
»Eric«, sagte sie. »Geht es ihm gut?«
»Er liegt auf der Verbrennungsstation im Cal Pacific. Ich glaube, er wird bald wieder auf den Beinen sein.« »Gott sei Dank!«, rief sie. Doch dann vergrub sie ihr Gesicht wieder in den Händen. »Wie kann denn so was passieren?«
Ich kniete mich vor Dianne Aronoff auf den Boden und nahm ihre Hand. Ich drückte sie sanft. »Ms Aronoff, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Das hier war kein Unfall. Haben Sie irgendeine Idee, wer Ihrem Bruder das angetan haben könnte?«
»Kein Unfall«, wiederholte sie. »›Die Medien springen mit mir um, als ob ich bin Laden wäre‹, hat Mortie oft gesagt. ›Niemand versteht mich. In meinem Geschäft geht es doch nun einmal darum, Geld zu machen.‹«
Jacobi legte einen Gang zu. »Ms Aronoff, es sieht so aus, als habe das Zentrum der Explosion im Obergeschoss gelegen. Wissen Sie vielleicht, wer alles Zugang zum Haus hatte?«
»Sie hatten eine Haushälterin«, antwortete sie und trocknete sich das Gesicht. »Viola.«
Jacob seufzte. »Ich fürchte, bei ihr dürfte es sich um die dritte Leiche handeln, die wir gefunden haben. Unter den Trümmern vergraben.«
»Oh...« Dianne Aronoff schluchzte erstickt auf.
Ich drückte ihre Hand. »Hören Sie, Ms Aronoff, ich habe die Explosion beobachtet. Diese Bombe hat irgendjemand im Haus gelegt. Entweder wurde der Täter hineingelassen, oder er hatte einen Schlüssel. Denken Sie bitte scharf nach.«
»Sie hatten auch ein Kindermädchen«, murmelte sie. »Ich glaube, sie hat manchmal bei ihnen übernachtet.«
»Dann hat sie verdammt viel Glück gehabt.« Jacobi verdrehte die Augen. »Wenn sie da drin bei Ihrem Neffen gewesen wäre...«
»Nicht für Eric.« Dianne Aronoff schüttelte den Kopf. »Für Caitlin.«
Jacobi und ich wechselten einen Blick. »Für wen?«
»Caitlin, Lieutenant. Meine Nichte.«
Als sie unsere verständnislosen Mienen sah, erstarrte sie.
»Sie haben doch gesagt, Sie hätten nur Eric gerettet, und da habe ich angenommen...« Wir starrten uns immer noch an. Im Haus war sonst niemand gefunden worden.
»O mein Gott – sie ist doch erst sechs Monate alt!«
Es war noch nicht ausgestanden.
Ich rannte zu Captain Noroski, dem Feuerwehrhauptmann. Er stand vor dem Haus und rief seinen Männern, die noch in den Trümmern suchten, Anweisungen zu. »Lightowers Schwester sagt, es sei noch ein sechs Monate altes Baby drin gewesen.«
»Da ist niemand mehr drin, Lieutenant. Meine Leute sind gerade mit dem Obergeschoss fertig. Oder wollen Sie vielleicht selbst noch mal reingehen und sich umsehen?«
Plötzlich fiel mir wieder ein, wie die Zimmer im Erdgeschoss verteilt waren. Ich konnte es direkt vor mir sehen. Den Flur, an dessen Ende ich den Jungen gefunden hatte. Mein Herz machte einen Satz. »Nicht im Obergeschoss, Captain – im Erdgeschoss.« Es war möglich, dass da noch ein Kinderzimmer war.
Noroski rief über Funk einen der Männer, die noch im Haus waren. Er dirigierte ihn in den Flur im Erdgeschoss.
Wir standen vor der rauchenden Ruine, und ich hatte plötzlich ein ganz flaues Gefühl im Magen. Der Gedanke, dass da noch ein Baby drin sein könnte – ein Kind, das ich hätte retten können. Wir warteten voller Ungeduld, während Captain Noroskis Männer die Trümmer durchkämmten.
Endlich kam ein Feuerwehrmann aus dem zerstörten Erdgeschoss nach draußen geklettert. »Nichts«, rief er uns zu. »Wir haben das Kinderzimmer gefunden. Ein Bettchen und ein Babykorb, alles unter einem Haufen Schutt vergraben. Aber kein Baby.«
Dianne Aronoff stieß einen Freudenschrei aus. Ihre Nichte war nicht im Haus. Aber dann trat Panik in ihre Augen, und ihre Miene verriet einen völlig neuen, furchtbaren Gedanken: Wenn Caitlin nicht im Haus war, wo war sie dann?
Charles Danko stand am Rand der Menschenmenge und verfolgte das Geschehen. Er war wie ein Radprofi gekleidet, und ein älteres Rennrad lehnte an seiner Seite. Der Helm und die Schutzbrille würden ihn auf jeden Fall hinreichend tarnen, falls die Polizei die Schaulustigen filmen sollte, was durchaus vorkam.
Es hätte kaum besser laufen können, dachte Danko, während er den Tatort beobachtete. Die Lightowers waren tot, in Stücke gerissen. Er hoffte, dass sie sehr gelitten hatten, bevor sie in den Flammen umgekommen waren – selbst die Kinder. Das war ein Traum von ihm gewesen; ein Albtraum vielleicht, aber jetzt war er Wirklichkeit geworden. Eine Wirklichkeit, die die braven Bürger von San Francisco in Angst und Schrecken versetzen würde. Er hatte all seinen Mut zusammennehmen müssen, um dieses Inferno zu inszenieren, aber jetzt hatte er endlich einmal etwas getan. Dort, die Feuerwehrleute, die Sanitäter, die städtische Polizei – alle waren sie gekommen, um sein Werk zu bewundern. Oder vielmehr seine bescheidenen Anfänge.
ENDE DER LESEPROBE