Das alte Hotel an der Nordseeküste - Johanna Leclaire - E-Book
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Das alte Hotel an der Nordseeküste E-Book

Johanna Leclaire

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Beschreibung

Ein herrlich romantischer Roman um eine Frau, ihre Vergangenheit und einen traumhaften Ballsaal. Für alle Leser*innen von Jenny Colgan und Sontje Beerman »Die Nordsee ist die Landschaft meiner Seele. Nirgendwo lässt sich besser träumen, streiten oder lieben als in ihrer unmittelbaren Nähe.« Eigentlich hat Isabell, 32, geschiedene Mutter von zwei Kindern, fast nur schlechte Erinnerungen an ihre Kindheit an der deutschen Nordseeküste. Und auch mit der Liebe hat sie nach ihrer Scheidung und einer heftigen Enttäuschung abgeschlossen. Doch als ihr Vater stirbt und sie gemeinsam mit ihrer Schwester das alte Familienhotel erbt, zögert Isabell trotz allem keine Sekunde, ihr ruhiges Leben in Bozen gegen zu erwartenden Streit und drohende Feindseligkeiten in der alten Heimat einzutauschen. Schließlich ist es ihr Kindheitstraum, den Ballsaal des Hotels endlich wieder zum Leben zu erwecken. Dumm nur, dass ihre Schwester bereits beschlossen hat, aus dem gemeinsamen Erbe ein Tagungshotel zu machen. Und dass der neue Freund ihrer Schwester ausgerechnet Isabells einstige große Liebe ist. Doch Isabell gibt die Hoffnung nicht auf, dass über verschlungene Wildrosenpfade alles irgendwie noch gut werden kann… Erschien bereits 2018 unter dem Titel »Die Wahrheit über Wildrosen«

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www.piper.de

 

ISBN: 978-3-492-98847-6

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Dieser Roman erschien bereits 2018 unter dem Titel »Die Wahrheit über Wildrosen« von Johanna Leclaire.

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Prolog ERÖFFNUNGSTANZ

CHA-CHA-CHA

BOSSA NOVA

TANGO

WIENER WALZER

Epilog HOCHZEITSMARSCH

Prolog ERÖFFNUNGSTANZ

»Halt still, kleine Maus.«

Isabell traut sich kaum zu atmen, als der Stoff des gestärkten Kleides über ihren Kopf, dann über den ganzen Körper raschelt. Erst als sie spürt, dass Frau Meyer die beiden mit Seide überzogenen Knöpfe in ihrem Nacken geschlossen hat, dreht sie sich langsam um die eigene Achse und landet schließlich vor dem Spiegel.

»Oh, Mädchen, ihr seht wunderschön aus, alle beide.« Gerührt legt Frau Meyer die Hände über ihren Mund und schüttelt sanft den Kopf. »So hübsch.«

Isabells Blick begegnet im Spiegel dem ihrer Schwester. Einen kurzen Moment nur fragt sie sich, warum nicht ihre Mutter hier ist, sondern sie an ihrem großen Tag von Papas Empfangsdame angekleidet werden. Aber dann wendet sie ihre Gedanken wieder ungetrübt dem großen Ereignis zu, das vor ihnen liegt.

Eva hat, wie sie selbst auch, gerötete Wangen und glänzende Augen. Ihr Kleid ist hellgrün, Isabells himmelblau, passend zu ihren Augen. Verschwörerisch lächeln sich die beiden Mädchen an. Heute sind sie – endlich – Prinzessinnen.

Doch etwas fehlt noch. Das erneute Rascheln, diesmal vom Seidenpapier im Schuhkarton, zieht Isabells Blick magisch in die Ecke, aus der es kommt. Frau Meyer packt die weißen Lackschuhe aus, die Krönung von allem. Mit einem schnellen Blick unterscheidet sie die Paare voneinander und reicht Eva das etwas größere, bevor sie Isabell dabei hilft, in das kleinere zu steigen. Sie bindet eine wunderschöne Schleife direkt über der kleinen Aussparung, durch die man so herrlich Isabells elegante Füße sieht. Die Schleife macht die Schuhe, zusammen mit dem edlen Material, zu echten Prinzessinnenschuhen, wie Isabell findet. Voller Glück greift sie nach Evas Hand.

In diesem Moment wird die Tür zu der kleinen Garderobe schwungvoll aufgerissen.

»Na, sind meine Prinzessinnen bereit?«, tönt die tiefe Stimme ihres Vaters laut. »Da draußen warten schon alle auf euch.«

Es ist ein wunderschöner Moment, von dem Isabell schon jetzt weiß, dass sie ihn nie vergessen wird. Wie sie zu der festlichen Walzermusik, die das kleine Orchester drinnen anstimmt, an der Hand ihres Vaters in ihrem rauschenden Kleid und ihren echten Erwachsenenschuhen in den Rosensaal schwebt, um dort, Seite an Seite mit Eva, zum ersten Mal die Ballsaison zu eröffnen.

CHA-CHA-CHA

Der Hochzeitsmarsch ertönt, und ich weiß, ich muss da jetzt raus. Jemand zupft noch schnell an einer der künstlichen Locken, die Brautjungfern ergreifen die Schleppe.

»Los, ihr zwei, auf geht’s!«

Der Mann an meiner Seite nimmt meinen Arm und runzelt die Stirn. »Ist was? Du siehst so merkwürdig aus.«

So fühle ich mich auch, aber das Timing für Wehwehchen ist definitiv schlecht. Zu viele Menschen sitzen da draußen und warten auf uns.

»Vite, vite!«, drängt die überdrehte Stimme des Designers aus dem Hintergrund.

Ich schüttle den Kopf. »Alles okay.« Ich werde da rausgehen, ich werde das schaffen. Ich habe schließlich schon ganz andere Dinge in meinem Leben geschafft, oder etwa nicht?

In dem Augenblick, in dem sich direkt vor uns der Vorhang öffnet, explodiert etwas in meinem Herzen. Nur ein einzelner Stich und ein sehr helles Licht in meinem Kopf. Dann Dunkelheit.

Als ich wach werde, habe ich schon irgendwie das Gefühl, noch am Leben zu sein. Und als ich die Augen öffne, ist das Licht verschwunden. Aber offensichtlich befinde ich mich in einem Notarztwagen. Ein Mann im weißen Poloshirt, der mir gerade eine durchsichtige Maske aufsetzen will, hält in der Bewegung inne. »Hallo, da sind wir ja wieder.«

Ich starre ihn benommen an. »Wo ist mein Brautkleid?«

Der Mann lacht sympathisch. »Sie sind ja süß! Da lerne ich endlich mal ein Fotomodell kennen, und es interessiert sich nur für seine Klamotten!« Dann wird er ernst und tippt an sein Schild. Dr. Gernert steht darauf. »Verzeihen Sie bitte, Spaß muss sein. Ihr Kleid hat die Assistentin von der Firma.«

Paola? Das schwarze Loch in meinem Kopf droht, mich einzusaugen. Wie lange war ich denn bewusstlos?

Dr. Gernert setzt sich neben mich. »Sie waren ohnmächtig«, stellt er ernst fest, was ich leider nur nickend bestätigen kann. »Und zwar ganz schön lange.« Todesurteilernst.

Dann stellt er mir Fragen. Ob ich vor der Modenschau genug getrunken habe. (Ich bejahe.) Ob ich mich vor der Ohnmacht aufgeregt oder etwas Ungewöhnliches gegessen habe. (Ich verneine.) Ob ich unmittelbar vorher etwas Ungewöhnliches bemerkt habe, irgendeinen Schmerz, ein Stechen oder Ziehen. (Ich verneine.)

Am Ende seines Fragenkatalogs lächelt er beruhigend. »Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«

»Zweiunddreißig.«

»Okay, Frau Rothkegel, alles in allem hört sich das für mich so an, als hätten sie einen kleinen Schwächeanfall gehabt. Zu wenig getrunken, vielleicht, oder nicht richtig gegessen?«

Im Krankenhaus wollen sie mich natürlich trotzdem noch dabehalten und alle möglichen Untersuchungen machen. Aber mir geht es blendend, also beschließe ich zu gehen.

Noch ein paar Unterschriften. Ein Anruf der Schwester, um ein Taxi zu bestellen. Ernsthafte Ermahnungen von Dr. Gernert, der gar nicht begeistert darüber ist, dass ich nicht bleiben will. Kein Alkohol, keine Zigaretten, kein Sport. Und wenn ich etwas Ungewöhnliches an mir bemerke …

Händeschütteln, ernstes Lächeln, beste Wünsche zum Abschied.

Ich denke, das mit Alkohol und Zigaretten lässt sich machen.

Im Taxi überprüfe ich mein Handy. Drei Nachrichten von Matteo (Ruf mich sofort an, wenn du etwas weißt. – Ruf mich SOFORT an, wenn du etwas weißt! – Ruf mich an, bitte. Scheiße, ich kann hier nicht weg!) und ein Anruf von einer unbekannten Nummer, den ich ignoriere. Ich will weder etwas kaufen noch habe ich etwas zu verschenken. Matteo schreibe ich: Alles okay, war nichts. Wir reden Montag.

Dann lehne ich mich zufrieden in meinem Sitz zurück und schließe die Augen. Ich habe keine Ahnung, wie die Modenschau nach diesem Zwischenfall abgelaufen ist. Aber wenn Matteo nicht weg kann, scheint es irgendwie weitergegangen zu sein, und auf jeden Fall gibt es jetzt nichts mehr, was ich tun kann. Es ist nichts passiert. Ein kleiner Zwischenfall ohne tiefere Bedeutung, und er wird sich auch nicht wiederholen: Der Arzt hat schließlich gesagt, dass ich gesund bin. Sozusagen.

Da diese ganze wirre Geschichte während meiner Arbeitszeit passiert ist, hat mich zu Hause niemand vermisst. Dr. Gernert hat ungläubig wissen wollen, ob es wirklich niemanden gäbe, der benachrichtigt werden könnte.

»Überhaupt keine Familie?«

»Zwei kleine Kinder.«

Bedauerndes Zungenschnalzen, interessiertes Glitzern in den Augen.

Ich ging.

Drinnen ist alles wie immer – warum auch nicht? Nina und Tom sind bereits geduscht und dürfen vor dem Fernseher noch Apfelringe knabbern. Sie bemerken mich kaum, als ich sie von hinten umarme und küsse. Wie jedes Mal erfüllt mich ihre zufriedene Gleichgültigkeit mit warmer Erleichterung.

Simon, mein blutjunger, großartiger Babysitter, stellt gerade in der blitzsauberen Küche die Spülmaschine an. »Na, wie war die Modenschau?«

Er dreht sich um, aber sein Lächeln erstirbt beim ersten Blick in mein Gesicht, dessen Ausdruck ich eigentlich für völlig normal hielt. »Was ist passiert?«

So kommt es, dass die einzige Person, die an diesem Tag davon erfährt, wie ich bei einer Modenschau für Brautmoden in Ohnmacht gefallen bin und eine Runde im Notarztwagen fahren durfte, mein Babysitter ist. Es ist mein Babysitter, der Bestürzung zeigt, Besorgnis und Erleichterung, alles in der richtigen Abstufung und Reihenfolge, und der wissen will, ob er noch etwas für mich tun kann oder sogar die Nacht über bleiben soll.

Er könnte durchaus, das wäre ganz … nett, denke ich, wimmle ihn aber ab, verabschiede ihn mit der üblichen freundlichen Dankbarkeit und bleibe an der Haustür stehen, bis sein betagtes Auto angesprungen und in der Abenddämmerung verschwunden ist.

Es ist nur mein Babysitter, der sich um mich sorgt und der morgen vielleicht ein bisschen froh sein wird, wenn er mich gesund wiedersieht. Sonst niemand. Aber ich finde, das ist vollkommen in Ordnung so.

Als es am früh am nächsten Morgen an meiner Haustür Sturm klingelt, springe ich trotzdem mit einem Lächeln aus dem Bett und mache mir nicht die Mühe, etwas über meinen Schlafanzug zu ziehen – ich weiß sowieso, wer das ist.

Einen schwulen Mann als besten Freund an seiner Seite zu haben, ist fantastisch, insbesondere, wenn man mit der komplizierten Seite der Männerwelt abgeschlossen hat. Man hat jemand, mit dem man sich familiär verbunden fühlt, auf den man sich bei Alltagsproblemen verlassen, mit dem man Weihnachten und Silvester feiern und auf Festen tanzen kann. Das alles, ohne sich mit den normalerweise damit verbundenen Schwierigkeiten herumzuplagen. Natürlich hat man keinen Sex (deshalb hat man ja keine Schwierigkeiten), aber auf den zu verzichten, fällt mir nicht besonders schwer. Wenn er mir manchmal fehlt, denke ich an alles, was er mir in der Vergangenheit eingebracht hat (natürlich abgesehen von meinen Kindern), und dann geht auch das vorüber.

Wenn man aber krank ist (oder er denkt, dass man krank wäre), ist ein schwuler italienischer Freund schlimmer als die besorgteste Mama. Nicht dass ich als Kind damit Erfahrungen gesammelt hätte, aber immerhin bin ich seit mehr als neun Jahren selbst Mutter. Kaum habe ich die Tür geöffnet, reißt mich Matteo in seine Arme.

»Bella! Was machst du für Sachen! Ich war halb tot vor Angst, aber ich konnte erst weit nach Mitternacht von dieser Show weg. Da war bei dir schon alles dunkel.« Er lässt mich kurz los und zieht mich dann sofort wieder an sich. »Ich bin so froh, dich hier lebendig vor mir stehen zu haben. Geht es dir wirklich gut?«

Bei meiner ersten Begegnung mit Matteo bin ich fast ohnmächtig geworden, einfach weil er so unsagbar gut aussieht. Kantiges Kinn, traumhafte Wangenknochen, braune Haare, die ihm perfekt ins Gesicht fallen, und dazu stahlblaue Augen. Nach so vielen Jahren habe ich mich natürlich an seinen Anblick gewöhnt, aber es gibt immer noch diese Momente, in den ich mich frage, warum gerade Rupert Everett vor meiner Tür steht.

Während ich ihm jetzt möglichst kurz und undramatisch zusammenfasse, was der Arzt zu mir gesagt hat, natürlich unter Auslassung der von mir abgelehnten Zusatzuntersuchungen, beobachtet Matteo mich die ganze Zeit. Ich kann förmlich spüren, wie er meine Hautfarbe, den Glanz oder Nicht-Glanz meiner Augen und meine Atmung kontrolliert, und als er am Ende meiner Ausführungen darauf besteht, dass ich mich auf der Stelle hinsetze und er mir einen Kaffee kocht – »Oder darfst du keinen Kaffee trinken?« –, verdrehe ich zwar die Augen, aber ich bin auch glücklich. Geborgen. Ein Gefühl, mit dem ich in meinem bisherigen Leben nicht gerade verwöhnt wurde.

Während Matteo in meiner offenen Küche Kaffee kocht, kann ich ihn endlich dazu bringen, mir von der Modenschau zu erzählen.

»Was habt ihr denn eigentlich gemacht, als ich umgefallen bin?«

»Ja, schöne Scheiße«, kommentiert er trocken. »Das Model mit dem sensationellsten Brautkleid kippt einfach um und liegt auch noch genau so da, dass alle es sehen können. Außerdem hast du den ganzen Durchgang verstopft, sodass die anderen über dich hätten drübersteigen müssen, um auf den Laufsteg zu kommen. Also blieb uns nichts anderes übrig, als die Show zu unterbrechen, bis der Notarzt kam.«

Der flapsige Vorwurf in seiner Stimme tut mir genauso gut wie seine Besorgnis. Es gibt einfach keine Minenfelder zwischen uns, deshalb können wir scherzen und auch mal derb zueinander sein. Noch so eine Erfahrung, die ich auf diese Weise erst mit Matteo machen durfte. Vor ihm war eigentlich fast alles immer vermintes Gebiet.

Klappende Türen in der oberen Etage zeugen davon, dass die Kinder inzwischen wach sind. Matteo, der Traumtyp, hat sogar Brötchen mitgebracht, die er jetzt aus dem Auto holt. Eigentlich gibt es bei uns die strenge Regel, dass nur am Tisch gegessen werden darf. Aber weil ich es mir auf dem Sofa unter meiner leichten Wolldecke gerade so gemütlich gemacht habe und Nina und Tom gleich mit Begeisterung an meine Seite springen und sich zu mir kuscheln, gestatte ich eine absolute Ausnahme, und wir frühstücken auf dem Sofa.

Die Morgensonne scheint mir ins Gesicht, meine Kinder erzählen Matteo abwechselnd irgendwelche Schulgeschichten, und ich kann mich einfach zurücklehnen und meinen Kaffee genießen. Zumindest, bis es plötzlich erneut an der Haustür klingelt. Nur einmal, dann dreht sich ein Schlüssel im Schloss. Erschrocken setze ich mich auf und verschütte dabei fast meinen Kaffee. Oh Mist, wie konnte das passieren?

Simon, den ich für elf Uhr bestellt habe, um mit uns auf das Schulfest von Nina und Tom zu gehen, bleibt wie angewurzelt in der Tür stehen. »Was ist hier los? Alles okay mit dir, Isa?«

Ich atme tief durch. Männer!

»Natürlich ist alles in Ordnung, Simon, das habe ich dir doch gestern schon gesagt. Matteo ist nur vorbeigekommen und hat uns mit diesem fantastischen Frühstück dazu gebracht, die Zeit zu vergessen.« Ich werfe die Decke ab und schiebe Nina und Tom vom Sofa. »Los jetzt, ihr zwei Hasen, fertig machen im Turbogang!«

Tom stimmt sofort das entsprechende Geräusch an, worauf Nina sich die Ohren zuhält und empört zu mir sagt: »Tom ist so ein Baby, Mama, das nervt einfach.«

Ich schiebe sie in Richtung Treppe. »Er ist ja auch drei Jahre jünger als du.«

»Aber ich …«

»Nina, bitte.« Mein etwas strengerer Tonfall bewirkt immerhin, dass sie die Tirade, die ihr auf der Zunge lag, herunterschluckt, aber sie verdreht verächtlich die Augen. »Natürlich, der süße Kleine darf ja sowieso alles.«

Aufseufzend drehe ich mich zu Simon um. »Gib uns zehn Minuten, okay?«

Simon, der sich gerade von Matteo einen Kaffee einschenken lässt, lächelt nur sein Simon-Lächeln. »Kein Stress. Du bist der Chef.«

Auch auf dem Schulfest ist er die Entspanntheit in Person. Anders als der Vater der Kinder ist er der eher lockere Typ. Obwohl ich gerechterweise zugeben muss, dass ich den Vater der Kinder seit Jahren nicht mehr erlebt habe. Simon steckt seinen Kopf bereitwillig durch irgendwelche Pappöffnungen, damit nicht nur meine, sondern alle juchzenden Kinder mit nassen Schwämmen auf ihn zielen können. Er erbeutet eine hässliche Vase, weil er beim Klingeldraht eine sensationell ruhige Hand beweist, und beim Dreibeinlauf stellt er sich gleich zweimal an: einmal mit Nina und einmal mit Tom.

Ich stehe am Rand und genieße. Das Strahlen meiner Kinder, das Strahlen der Sonne … und dass ich am Rand stehen und mit Leichtigkeit die Blicke der anderen Eltern ignorieren kann.

Ab und zu schiebt sich eine Schattenschablone vor mein Gesichtsfeld. Die Dunkelheit und das Licht. Aber Tom springt an mir hoch. »Mama, da vorn gibt es Eis mit Schokoladensoße. Dürfen wir Schokoladensoße, oder findest du das zu süß?«

Ich beuge mich zu ihm herunter und küsse ihn. »Zu süß gibt es gar nicht«, erwidere ich gegen meine vielfach erklärte Überzeugung. Aber in diesem Moment stimmt es plötzlich.

Als schließlich eine Band die Bühne betritt und die Eltern mit alten Schlagern zum Tanz auffordert, ist es auch wieder Simon, der meinen sehnsüchtigen Blick bemerkt. »Ich bin nicht annähernd so ein guter Tänzer wie Matteo, aber für Walzer und Foxtrott wird es schon reichen. Wenn du magst?«

Ich mag. Anfangs ist es ein wenig schwierig, mich auf ihn einzustellen, aber nach kurzer Zeit drehen wir uns ziemlich beschwingt im Kreis. Beim Tango muss Simon leider passen, aber das ist nicht wirklich schlimm. Ich liebe Tango, aber es hängen auch so viele Erinnerungen an dem Tanz, dass ich ganz zufrieden damit bin, mit meinen glücklichen Kindern und ihrem Babysitter nach Hause zu gehen.

Selbst am Abend hat Simons Fürsorge noch nicht nachgelassen. Er besteht darauf, Nina und Tom beim Duschen zu assistieren – wie jeden Tag, nur ist heute schließlich Wochenende. Hat das Kind eigentlich keine Freunde? Keine Freundin? Angebote bekommt er bestimmt genug. Er hat schokoladenbraune Augen, dunkle Locken und strahlend weiße Zähne, außerdem einen athletischen Körper. Und er ist einer der nettesten Männer der Welt – worauf also warten die Mädels noch?

Heute zumindest scheint er aber kein Date zu haben, denn als ich nach dem Vorlesen und der Gutenachtzeremonie zurück ins Wohnzimmer komme, ist er immer noch da. Er hat meinen eisernen Sektvorrat nicht nur gefunden, sondern auch gleich geplündert, und uns ein Tablett vor das Panoramafenster gerückt.

Uns?

»Ich vertrage keinen Sekt.«

Simon ist bestürzt. »Haben die Ärzte dir Alkohol verboten?«

»Ein einziger Arzt, Simon, und der hat wortwörtlich gesagt: ›Sie sind gesund, Sie können gehen.‹ Aber ich vertrage einfach keinen Sekt. Ich fange an, zu viel zu quatschen, und am nächsten Tag habe ich höllisches Kopfweh.«

»Wunderbar!« Simon drückt mir ein Glas in die Hand. »Ich meine, das mit dem Kopfweh ist natürlich Pech, aber ein Gläschen wird dir schon nicht schaden.«

»Was genau ist dann so wunderbar?«

»Das mit dem Quatschen. Ich will dich nämlich schon lange was fragen.«

»Willst du mehr Geld?« Erleichtert setze ich mein Glas ab und gehe zum Schreibtisch. »Dafür hättest du dir nicht so viel Mühe geben müssen, Simon. Ich meine«, sage ich schnell, als ich die Verletzung in seinem Gesicht bemerke, »das ist total süß von dir, wirklich. Aber mehr Geld ist … kein Thema. Ich verdiene genug von dem Zeug, und du bist jeden einzelnen verdammten Cent wert. Also sag doch einfach, du willst mehr Geld, und du …«

»Ich will nicht mehr Geld!«

Vorsichtig bleibe ich stehen und höre auf zu plappern. Simon ist richtig heftig geworden, und er sieht immer noch so seltsam verletzt aus. Ich bekomme ein ungutes Gefühl.

»Was willst du dann?« Ich versuche, meine Stimme munter und alltäglich klingen zu lassen, aber die Angst greift endgültig nach meiner Kehle, als Simon, jetzt wieder ruhiger, erwidert: »Ich möchte dich etwas fragen. Könntest du dich vielleicht dazu durchringen, Platz zu nehmen?«

Der Blick aus meinem Panoramafenster ist absolut fantastisch. Man sieht nichts als Wiesen und Berge. Berge bei Sonne, Berge im Nebel, Berge bei Regen und Sturm. Berge bei Nacht. Egal, zu welcher Tageszeit und bei welcher Wetterlage, der Blick ist einfach immer atemberaubend und beruhigend gleichzeitig. Das wäre er sicher auch heute. Wenn mich Simon nur nicht so durchdringend ansehen würde. Vor lauter Panik nehme ich einen großen Schluck Sekt.

»Ich verstehe dich nicht«, eröffnet er, und am liebsten würde ich erwidern: »Das macht überhaupt nichts, versuch es einfach gar nicht. Sei einfach weiter der weltbeste Babysitter, sei weiter mein Freund.« Aber ich will ihn nicht verletzen, deshalb schweige ich und warte auf seine Erklärung.

»Ich meine, ich brauche dir nicht zu sagen, was für eine tolle Frau du bist und wie die Männer dich alle ansehen. Warum bist du immer noch allein und begnügst dich damit, mit mir zu Toms Schulfest zu gehen?«

Er sieht so jung und so eifrig aus, dass es mir nur mit Mühe gelingt, nicht zu lächeln. Gleichzeitig spüre ich deutlich, dass ich mein Glas schon fast ausgetrunken habe. Ich nehme jede einzelne Linie seines Körpers wahr, jeden Muskel an seinen Unterarmen.

»Es gefällt mir besser so. Weil es unkompliziert ist, und weil es klar ist. Ich bezahle dich, du kommst mit. Wir mögen uns, wir haben Spaß zusammen, die Kinder lieben dich, aber es ist klar, verstehst du? Kein Stress.«

»Weil du mich bezahlst?«

»Weil ich dich bezahle.«

»Aber die Männer würden sich darum reißen, dich kennenzulernen!«

»Eben.«

Simon sieht mich fragend an. Ich möchte dieses Gespräch nicht fortsetzen, es hat schon viel zu oft in eine ganz falsche Richtung geführt. Aber ich sehe Simon an, dass er sich nicht abspeisen lassen wird.

Also starre ich auf die kleinen Oasenlichter in den Bergen und sage, so nebenbei wie möglich: »Frauen sind schrecklich. Wenn da eine kommt, die geschieden ist und leidlich hübsch – dann Gnade ihr Gott, wenn sie es auch nur wagt, einen der Männer zu grüßen.« Vorsichtig sehe ich zu Simon, aber er wirkt nicht geschockt. Nur interessiert.

»Und die Männer?«

»Den Männern ist es egal, ob du geschieden bist oder nicht.«

Simon lacht leise. Er steht auf, anscheinend, um noch mehr Sekt zu holen. Ich sollte protestieren, das Problem ist nur, ich will es schon nicht mehr.

Simon kommt zurück und gießt unsere Gläser wieder voll. Er trägt enge Jeans und ein T-Shirt mit einem Grizzlibären drauf, er riecht unbestritten gut, und er stellt die längst mit Furcht erwartete Frage: »Und ich?«

»Dich bezahle ich.« Er hört nicht auf, mich so anzusehen, deshalb setze ich noch nach: »Außerdem könnte ich fast deine Mutter sein.«

Simon legt den Kopf in den Nacken und bricht in schallendes Gelächter aus. Bis er sich wieder eingekriegt hat, beobachte ich geduldig das Spiel der Sehnen an seinem Hals.

»Mit acht! «, stößt er schließlich hervor. »Dann hättest du mit acht Mutter werden müssen!«

Er schüttelt noch einmal seine prachtvollen dunklen Locken und steht auf.

»Ich nehme an, das heißt Nein?«, fragt er und sieht plötzlich erschreckend erwachsen aus. Ich kann einfach nicht so tun, als hätte ich ihn nicht verstanden, dazu habe ich ihn zu gern. Und er erinnert mich auf gefährliche Weise an jemand – wenn ich ehrlich zu mir bin. Aber was er will, ist lächerlich und garantiert der Anfang eines qualvollen Endes.

Müde reibe ich mir das Gesicht. »Ich bin besser, wenn ich zahle, Simon. Glaub’s mir einfach.«

Simon beugt sich vor und küsst mich auf den Mund. Relativ freundschaftlich noch, aber mit einem deutlichen Vorgeschmack auf etwas sehr viel Wilderes als Freundschaft.

»Dann bezahl mich halt weiter«, sagt er leise und küsst mich wieder. »Bezahl mich hierfür und hierfür …«

»Simon!«

Selbst ich bin erschrocken über die Heftigkeit, mit der ich ihn von mir gestoßen habe, von ihm ganz zu schweigen. Er starrt mich an, ohne etwas zu sagen, aus riesigen, zutiefst verletzten Augen, und ich bringe es einfach nicht fertig, ihn mit einer Lüge abzuspeisen.

»Ich habe Angst«, sage ich schließlich. »Du bist zu attraktiv und viel zu nett, als dass ich dich mit Leichtigkeit abweisen könnte, besonders, nachdem ich Sekt getrunken habe. Aber es ist besser so, glaub mir doch einfach.«

»Besser für wen?«

»Für uns beide. Besser für mich, weil mein Leben gerade in so einem wunderbaren Gleichmaß ist. Keine Dramen, keine Komplikationen, keine Traurigkeit, keine Feindseligkeit. Du kannst dir das nicht vorstellen, weil du so – heil bist. Du hast eine große Familie, die dich liebt, du hast eine Heimat und … All das habe ich nicht, aber ich habe hier Frieden gefunden, und das ist etwas, was ich nicht mehr zu hoffen gewagt hätte. Oh Gott, ich rede zu viel!«

Simon lächelt sein Simon-Lächeln. So lächelt er auch über die Kinder, wenn sie etwas Drolliges gesagt haben.

»Im Gegenteil. Ich möchte noch sehr viel mehr darüber hören, später. Aber verrate mir erst: Wieso wäre es besser für mich?«

Ich seufze. Er wird mir die Wahrheit sowieso niemals glauben.

»Ich würde dich verletzen. Wenn du Glück hast, nicht sofort, aber es würde nicht lange dauern, glaub mir. Ich bin nicht gut in Gefühlen.«

Simon lacht ungläubig. »Hey, ich erlebe dich jeden Tag mit deinen Kindern. Du bist fantastisch in Gefühlen!«

»Das ist etwas anderes. Sie sind – zum Glück – eine Ausnahme.« Ich bin müde. Diese Situation überfordert mich maßlos. Das Schlimme ist, ich fühle mich zu sehr zu ihm hingezogen, um wirklich bestimmt zu sein. Und Simon, als ob er das spüren würde, kommt wieder näher. »Bei Männern bin ich eine Katastrophe«, sage ich panisch. »Ich verletze jeden, der sich auf mich einlässt. Ich bin oberflächlich und …«

Gerade wollte ich sagen: Auf mir liegt ein Fluch. Doch Simons Lippen berühren meine, und ich verstumme. Willenlos ergebe ich mich und erwidere den Kuss.

Ich sollte wirklich keinen Sekt trinken.

Nein. Es ist nicht zum Äußersten gekommen. Irgendwann siegte die Vernunft über den Rausch, ich beendete unsere schon ziemlich fortgeschrittene Knutscherei und schickte Simon nach Hause. Er ging ohne große Überzeugung, aber er ging. Und sein Abschied war zärtlicher, als mir lieb war. Nun liege ich allein in meinem Bett und versuche vergeblich, nicht zu grübeln. Über das, was gerade hier passiert ist. Wie lange Simon das wohl schon geplant hat. Ob ich es vorher hätte merken können, wenn ich es nur gewollt hätte.

Über den Stich in meinem Herzen, den ich dem Doktor und auch allen anderen verschwiegen habe. Ob er wiederkommen wird und was er zu bedeuten hat?

Über mein Leben, das vor wenigen Tagen noch so perfekt und leicht erschien, und endlich gut. Und das jetzt schon wieder kompliziert geworden ist. Warum habe ich das zugelassen?

Ich grüble und grüble, bis Tom an der Schlafzimmertür erscheint, schlaftrunken und verstrubbelt. »Ich habe schlecht geträumt.«

Noch bereitwilliger als sonst öffne ich die Decke auf der leeren Seite meines Bettes, die extra für solche Fälle immer bereitliegt. Toms warmen kleinen Körper und seinen sorglosen Kinderatem neben mir, kann ich endlich einschlafen.

Am nächsten Tag kehrt wieder Ruhe ein. Ich nehme etliche Kopfschmerztabletten, verbringe einen friedlichen Sonntag mit Nina und Tom am See, jogge abends, während sie ihre tägliche Fernsehration zu sich nehmen, meine Runde durch das Tal, und später erlaube ich ihnen, in meinem Bett einzuschlafen. So ist es gut. So soll es bleiben.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

Ich verdrehe die Augen. Seit ich heute Morgen Matteos Büro betreten habe, hat er nicht aufgehört, mich mit lauernden Blicken zu beobachten. Ich finde, jetzt ist es wirklich genug.

»Matteo, ich war beim Schulfest und joggen, ich habe geschlafen und gegessen, ich bin gesund, okay?«

Doch Matteo hört mir gar nicht zu. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sieht er mich weiter so intensiv an, und plötzlich, als ich gerade wieder auf die Jobs für diese Woche zurückkommen will, schlägt er sich mit der Hand vor die Stirn. »Natürlich! Jetzt weiß ich’s endlich!«

Konsterniert schaue ich ihn an. Könnten wir nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen? Aber anscheinend nicht. Matteos Augen leuchten.

»Du hattest Sex!«

»Wie bitte?«

»Sex. Du. Deshalb dieser andere Ausdruck in deinen Augen.« Seine Hände fuchteln in der Luft irgendeine Körpersilhouette zurecht. »Du hast eine ganz andere Aura.«

Ich starre ihn an, im Moment unfähig zu einer Erwiderung. Nicht dass ich an so einen Quatsch wie Auren glauben würde – im Gegensatz zu Matteo natürlich – aber etwas unheimlich ist es schon, wie nah er der Wahrheit kommt.

Zum Glück redet Matteo einfach weiter, sodass mir eine Antwort vorerst erspart bleibt. Ich möchte ihn nicht anlügen. Aber die Wahrheit möchte ich ihm eigentlich auch nicht sagen.

»Na endlich, Cara, wunderbar. Das wurde aber auch wirklich Zeit, dass du endlich aufhörst, vor den Männern davonzulaufen. Wie hast du es gemacht, warst du aus? Und mit …?«

Seine Augen weiten sich. »Nein, natürlich, wie konnte ich so blöd sein – es ist Simon, nicht wahr?«

Wieder kann ich nur starren. Der Mann macht mir Angst.

Aber natürlich wird er sowieso nicht lockerlassen, bis er alles aus mir herausgequetscht hat, also kann ich es genauso gut gleich hinter mich bringen. Seufzend murmele ich: »Die Antwort ist einmal Ja und einmal Nein. Ja, es war Simon, und nein, wir hatten keinen Sex. Nur eine kleine Knutscherei. Er hat mich mit Sekt abgefüllt.«

Gern möchte ich noch hinzufügen, dass ich mich nicht vor den Männern verstecke, aber seit der Sache mit Laurenz ist dies eins der wenigen Themen, die zwischen Matteo und mir ein bisschen schwierig sind. Ich hatte eine kurze, aber von meiner Seite sehr gefühlsintensive Beziehung mit Laurenz – während meiner Hamburger Zeit. Damals habe ich schon für Matteo gearbeitet, und als ich herausfand, dass Laurenz eigentlich mit einer anderen zusammen war, kam mir Matteos Angebot, mit ihm in seine Heimat Südtirol zu gehen und in seiner neuen Agentur zu arbeiten, nur recht. Und ich denke inzwischen auch kaum noch an ihn. Matteo ist aber seitdem der festen Überzeugung, dieser Mann wäre die Liebe meines Lebens gewesen und ich hätte auf gar keinen Fall weglaufen dürfen.

Ich leugne nicht, dass gewisse Gefühle von meiner Seite im Spiel waren, es ist nur so, dass es keine Liebe meines Lebens mehr geben wird – etwas, was Matteo partout nicht akzeptieren will.

Matteo fuchtelt vor meinem Gesicht herum. »Hallo, noch jemand da? Ich rede mit dir!«

Lachend lasse ich meine Gedanken an Laurenz fallen. Ist sowieso Schnee von gestern.

»Ja, ich höre, großer Meister. Was möchtest du wissen?«

»Alles natürlich.«

Also erzähle ich ihm alles. Matteo unterbricht mich nicht und sagt zum Schluss nur lapidar: »Gut.«

»Nein, gar nicht gut. Du weißt genau, dass ich keine Beziehung will, und du weißt auch, warum. Und schon gar nicht mit Simon, diesem süßen, kleinen Jungen. Der soll sich mal schön ein nettes Mädchen in seinem Alter suchen, das ihn heiraten und Kinder mit ihm haben möchte. Das alles ist nur passiert, weil ich so überrascht war und Sekt getrunken hatte. Wie bist du überhaupt auf ihn gekommen?«

Matteo macht große Augen. »Wie hast du es geschafft, nicht auf ihn zu kommen? Dass er hoffnungslos in dich verknallt ist, kann doch ein Blinder mit Krückstock sehen.«

Als er meinen überraschten Blick bemerkt, lacht er und streichelt meine Wange. »Ach Isa. Du bist so cool und so tough, aber es erstaunt mich wirklich, wie blind du in Gefühlsdingen bist.«

Weil mir darauf mal wieder keine Antwort einfallen will, bin ich im ersten Moment ziemlich erleichtert, als Paola aufgeregt ins Büro platzt. Allerdings nur im allerersten. »Isabell, bei dir zu Hause muss etwas passiert sein.«

»Passiert?« Panisch reiße ich mein Handy aus der Tasche. Warum hat mich denn keiner angerufen? Oh, bitte nicht!

Da sagt Paola: »Deine Schwester hat schon zwei Mal angerufen.«

Mein ganzer Körper erschlafft vor Erleichterung. »Meine Schwester? Hier?«

»Deine Schwester?« Matteos Augenbrauen schnellen hoch. »Was wollte sie?«, fragt er Paola.

Ich wende mich ihr zu und warte auf ihre Antwort, aber nur aus Höflichkeit. Es ist nicht wichtig. Nur das »zu Hause« hat mich kurzfristig irregeführt.

»Sie sagt, dass du nicht an dein Handy gehst. Dann hat sie hat versucht, dich zu Hause zu erreichen, aber da warst du nicht.«

Logisch, schließlich bin ich hier. »Ich rufe sie später an«, lüge ich und weiche Matteos Blick aus.

Zunächst komme ich damit durch. Aber als ich nach der Besprechung sein Büro verlassen will, versperrt er mir mit dem Telefon in der Hand den Weg. War ja klar, dass er nicht lockerlassen würde.

»Du kannst sie gleich von hier aus anrufen.«

»Später«, erwidere ich kühl. Wir sehen uns an.

»Hast du irgendeine Ahnung, was das zu bedeuten hat?«, fragt Matteo schließlich. Er ist der einzige Mensch hier, der über mein früheres Leben Bescheid weiß.

»Nicht die geringste.«

»Aber du wirst sie anrufen?«

Ich zucke die Achseln, was Matteo sehr richtig als Nein interpretiert. »Vielleicht ist es aber wichtig.«

»Vielleicht auch nicht. Hör auf, mich zu bedrängen.«

»Ich bedränge dich nicht, Bella, ich versuche, dir zu helfen. Wir beide haben doch immer gewusst, dass das mit dem Weglaufen nur eine Übergangslösung war. Du kannst dich nicht ewig hier verstecken.«

Seine Worte wecken die alt bekannte Wut in mir. Nicht weil sie wahr sind, sondern weil sie das alte Klischee bedienen. Blut ist dicker als Wasser und so weiter. Ich dachte, Matteo wäre auf meiner Seite.

»Ich verstecke mich hier nicht, sondern ich lebe hier«, schnauze ich. »Und kein Mensch kann mich daran hindern, mein ganzes Leben lang keinen Kontakt mehr zu meiner sogenannten Familie zu haben.«

Wütend schiebe ich Matteo zur Seite und verlasse sein Büro. Es ist lächerlich, so zum Verzweifeln lächerlich: Ein einziger Anruf meiner Schwester genügt, um mich wieder zu der kaltschnäuzigen Isabell werden zu lassen, die ich eigentlich schon so lange nicht mehr bin.

Später bitte ich Matteo, mir zu verzeihen und mir den Nachmittag freizugeben, was er beides tut. Danach fühle ich mich schon sehr viel besser, aber noch nicht gut genug, um Simon unter die Augen treten zu können. Was da gestern passiert ist, beunruhigt mich zutiefst. Simon ist ein wundervoller Mann, auch wenn ich mich bis jetzt davor verschlossen habe, mehr als den Babysitter in ihm zu sehen. Aber gerade deswegen macht mir die Situation ja solche Angst. Die Kombination aus wundervoll und meiner Wenigkeit – das ist leider nie lange gut gegangen.

Endlich fasse ich mir ein Herz und rufe ihn an. Schon als er sich meldet, klingt seine Stimme so zärtlich, dass ich am liebsten sofort wieder auflegen würde. Ich kann das einfach nicht.

»Hi, Simon. Du, ich habe heute früher Schluss gemacht und bin schon auf dem Weg nach Hause und hole dann später auch die Kinder von der Schule ab.«

Hohe Micky-Maus-Stimme, gleich mit der Tür ins Haus, bloß keine Pause zulassen.

»Okay.« Seine Stimme klingt enttäuscht, und er fragt: »Du gibst mir also frei?«

»Nur für heute. Meine Schwester hat eben angerufen, da ist vielleicht zu Hause irgendwas passiert, darum will ich mich jetzt erst mal kümmern und …« Ich verstumme, weil ich eigentlich selbst nicht weiß, wie dieser Satz weitergehen sollte.

»Und du brauchst Zeit zum Nachdenken.« Jetzt klingt seine Stimme konsterniert. Und schon sind wir mittendrin im Schlamassel.

»Lass uns morgen reden, bitte, Simon«, sage ich matt.

Als ich aufgelegt habe, fühle ich mich elend. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass es so weit kommt, aber ich beschließe, mich diesem Problem später zu widmen. Jetzt brauche ich erst mal nur eins: meine Kinder. Eine satte Doppeldosis Nina und Tom ist das Einzige, was mir in diesem Zustand noch helfen kann.

Ich jogge eine schnelle Runde, kaufe dann ein und überrasche die beiden, als sie aus der Schule kommen, mit einer riesigen Pizza. Nina fragt misstrauisch: »Ist was mit Simon?«

»Nein, ich hatte heute auf der Arbeit nichts mehr zu tun, da habe ich ihm freigegeben. Was dagegen einzuwenden?«

Der wachsame Ausdruck ist noch nicht aus ihren Augen verschwunden.

»Ist was mit dir?«, will sie wissen, und wie so oft bin ich gerührt und erschrocken über ihre Hellsichtigkeit. Ich nehme sie in den Arm.

»Es ist nichts mit niemandem«, versichere ich ihr und spüre, wie sie mir glaubt und sich entspannt. Ich wünschte, ich könnte es auch.

Das Telefon beginnt zu klingeln, als ich Nina für ihre Sachkundearbeit abfrage. Tom kugelt sich auf dem Boden vor Lachen, weil Nina die Ameisen als Waldpolizei bezeichnet hat, was zu einer kleinen Handgreiflichkeit zwischen den beiden führt. Ich tue so, als suchte ich nach dem Telefon, und sage, als es aufhört zu klingeln, nur, um glaubwürdig zu sein: »Scheiße.«

»Scheiße sagt man nicht«, johlt Tom.

»Stimmt.«

»Aber du sagst viel schlimmere Sachen«, steigt Nina sofort wieder in die nächste Streitrunde ein. »Gestern Abend, beim Zähneputzen, da hast du …«

Der Anrufbeantworter ist angesprungen, und eine kühle Stimme aus meiner Vergangenheit füllt unseren hellen, behaglichen Wohnraum.

»Isa? Hier ist Eva, lange nicht gehört. Ich versuche, dich die ganze Zeit zu erreichen, was nicht gerade einfach ist. Ich wollte es dir eigentlich persönlich sagen, aber Papa ist gestorben. Wir haben ihn gestern beerdigt, und ich wollte fragen, wie du’s jetzt machen willst – ich meine, wegen des Hotels, das haben wir nämlich geerbt. Zusammen. Melde dich doch bitte mal.«

Endlich erwache ich aus meiner Erstarrung und stürze zu dem Zeitungsstapel, unter dem ich das Telefon vorher sorgfältig versteckt habe. »Eva? Ich …«

Doch die metallische Stimme des Anrufbeantworters verkündet teilnahmslos: »Ende der Nachricht: 17:32 Uhr.«

Nina und Tom starren mich an.

»Papa ist tot?«, würgt Tom hervor, und seine süßen blauen Augen füllen sich mit Tränen.

Es dauert eine Weile, bis sich die erste Aufregung gelegt hat. Die Kinder sind zunächst natürlich erleichtert, als sie begreifen, dass nicht ihr, sondern mein Vater gestorben ist. Doch dann sagt Nina: »Das ist ja Opa«, und beide brechen erneut in erschrockene Tränen aus.

Ich halte die beiden auf meinem Schoß ganz fest und versuche, mich nur auf sie zu konzentrieren. Sie mochten ihren Opa, auch wenn sie ihn höchstens dreimal im Jahr gesehen haben, aber ich weiß aus ihren Erzählungen, dass er viel mit ihnen unternommen hat, wenn ihr Vater in seiner Praxis war. Vor allem aber sind sie entsetzt über den plötzlichen Einbruch des Todes in unser harmloses, trotz aller Spaltungen friedliches Leben.

Also sitze ich da, streichle sie, gebe gurrende Beruhigungslaute von mir, wie ich es seit ihrer Babyzeit tue, und versuche dabei, irgendwie meine eigenen Gedanken zu ordnen. Ich habe in den letzten vier Jahren bis auf eine Ausnahme nicht mehr mit meinem Vater gesprochen, denn er ist Teil dieser seltsamen Familie, zu der ich eigentlich nicht mehr gehöre. In der Anfangszeit war er derjenige, den ich am schmerzlichsten vermisst habe, aber er war auch derjenige, der mich am meisten enttäuscht hat. Weil er der Einzige war, der mich zu diesem Zeitpunkt noch enttäuschen konnte.

Und dann, während ich an ihn denke und besonders an seinen überraschenden Besuch vor einem halben Jahr, beginnt erst ganz allmählich, dann immer stärker, in meinem Kopf die Überschrift von dem aufzuleuchten, was mein neuer Lebensabschnitt sein wird: das HOTEL.

Simon sitzt auf meinem Bett und starrt fassungslos auf die Klamottenberge, die sich in der Mitte des Zimmers türmen. Ich weiß, er hatte sich diesen Abend anders vorgestellt, aber ich habe nach dem entsetzlichen Telefongespräch mit Matteo, der nicht nur mit vollkommenem Unverständnis und sogar Entsetzen, sondern mit einer bisher nie gekannten Härte auf meine Pläne reagiert hat, einfach auf Geschäftsmodus umgeschaltet. Angesichts der neuen Entwicklungen kann es für Simon und mich sowieso keine Zukunft geben, auch wenn nicht schon so vieles anderes dagegen sprechen würde. Er gehört hierher, nach Südtirol, in die Berge – und ich jetzt endlich wieder ans Meer.

»Es geht mich ja nichts an«, sagt er schließlich. (Sehr richtig, Simon.) »Aber findest du nicht, dass du ein bisschen vorschnell bist? Dein Vater ist gerade gestorben, du hast noch nicht mal richtig mit deiner Schwester gesprochen und bist schon dabei, alle Zelte abzubrechen.«

»Nein.«

»Was nein?«

»Nein, ich finde nicht, dass ich vorschnell reagiere.« Ich weiß, dass er auf weitere Erklärungen hofft, aber ich packe verschlossen weiter. Erklärungen würden nur zu Vertraulichkeiten führen, Vertraulichkeiten zu Intimitäten, Intimitäten zu Forderungen und Forderungen unvermeidlich zu Streit. Nein.

Simon hält mich am Arm fest und versucht, meinen Blick einzufangen.

»Isabell, bitte. Ich verliere auf einen Schlag meine Einnahmequelle und meine Ersatzfamilie. Findest du nicht, dass du mir eine Erklärung schuldig bist?«

»Ich bin niemandem etwas schuldig.«

»Sicher. Deshalb wirst du mich ja auch für die Packerei hier bezahlen, stimmt’s? Weil das klarer ist und keinen Stress bedeutet, war es nicht so?«

»Natürlich bezahle ich dich.« Ich ignoriere die Kälte in seinen Worten und die Verletzung in seinen Augen. Er war schließlich gewarnt, auch wenn weder er noch ich vor zwei Tagen ahnen konnten, wie schnell er die bittere Wahrheit hinter meinen Worten würde erfahren müssen.

Doch so einfach lässt sich Simon nicht abspeisen.

»Isabell«, sagt er bittend, und ich sehe ihn an und muss an all die gemeinsamen Jahre denken. Daran, was er alles für Nina und Tom getan hat und wie gern sie ihn mögen. Und an Samstagnacht.

Ich setze mich zu ihm aufs Bett, allerdings mit einem gewissen unmissverständlichen Abstand. »Okay«, sage ich. »Ich erkläre es dir, aber du wirst es nicht verstehen.« Simon will etwas sagen, aber ich schüttle den Kopf. Ich will es jetzt hinter mich bringen. »Die traurige Wahrheit ist: Ich habe keine Ahnung, was ich über den Tod meines Vaters denken soll. Vor vier Jahren, als ich meinen Eltern eröffnet habe, dass Christoph und ich uns scheiden lassen, haben sowohl mein Vater als auch meine Mutter nicht damit gezögert, mir die alleinige Schuld an der Entzweiung zu geben.« Das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Meine Mutter hat gegiftet und mich mit Vorwürfen überhäuft, während mein Vater geschwiegen hat. Aber etwas anderes hat er ja selten getan. Doch das alles braucht Simon nicht zu wissen.

»Mein Vater hatte ein Hotel mit einem gigantischen Ballsaal, in dem bis vor zwanzig Jahren auch tatsächlich noch Bälle veranstaltet wurden. Meine Schwester und ich durften dann immer als Ballprinzessinnen dabei sein.«

Kurz taucht dieses Bild vor meinen Augen auf: Mein Vater, der gerade seine Eröffnungsrede beendet hat. Die Musik, die einsetzt, und Eva und ich, die in ihren Ballkleidchen und den weißen Lackschuhen, die wir nur zu diesem Anlass tragen durften, stolz und glücklich vor ihm herschreiten, bis er schließlich in der Mitte des Raumes auf seine Tanzpartnerin trifft. Es war nie meine Mutter, aus Gründen, über die ich nur spekulieren kann, sondern stets eine uns unbekannte wunderschöne Frau in einem atemberaubenden Kleid, die mit ihm den Tanz eröffnete. Bei dieser Erinnerung kann ich nicht verhindern, dass sich trotz allem ein glückliches Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet. Dann aber reiße ich mich zusammen. Hier geht es nicht um Sentimentalitäten, sondern ums Geschäft.

»Vor zwanzig Jahren hat mein Vater mir den Bällen aufgehört und war niemals wieder bereit, über einen Neuanfang auch nur nachzudenken. Weder als meine Schwester und ich klein waren und ihn immer wieder angebettelt haben, wieder Ballprinzessin sein zu dürfen, noch später, als ich erwachsen war und ihm sogar Konzepte vorgelegt habe, wie man es aufziehen könnte.«

Ich zucke die Achseln. Zeit, die Sache hier zu Ende zu bringen. »Er hat immer gesagt: ›Wenn ich tot bin, könnt ihr machen, was ihr wollt.‹ Und nun ist er tot, und ich gehe zurück und mache endlich, was ich will.«

Simons Augen sind schreckgeweitet. »Und deshalb bist du froh darüber, dass er tot ist?«

Ich erlaube mir ein Lächeln, aus dem ich die Bitterkeit nicht ganz fernhalten kann. »Ich habe ja gesagt, du wirst es nicht verstehen.«

Simon nimmt meine Hand. »Erzähl weiter«, bittet er neutral. Die Wärme seiner Berührung ist so schön, aber ich weiß leider ganz sicher, wie das hier ausgehen wird. Sanft entziehe ich ihm meine Hand.

»Natürlich bin ich nicht froh darüber, dass er tot ist. Und meine Schwester wird vermutlich alles andere als begeistert sein, wenn ich wieder in Huusdorf auftauche und sogar dort bleiben will.« Ganz zu schweigen von meiner Mutter. »Aber ich wollte es, seit ich ein kleines Mädchen war. Und jetzt muss ich es tun. Verstehst du?«

Anders als Matteo scheint Simon wirklich zu verstehen. Seine Augen sind rund und traurig, aber sie haben nichts von ihrer Zärtlichkeit verloren.

»Und dafür allein lohnt es sich, alles hier aufzugeben? Deinen Job, deine Freunde, und sogar den besten Babysitter der Welt? Nur für ein Hotel mit einem Ballsaal?«

»Das mit dem besten Babysitter der Welt ist natürlich hart. Aber ansonsten: ja. Definitiv ja.«

Um Mitternacht ist alles gepackt und alles gesagt. Simon, der spürt, dass ich schon fort bin, hat mir geholfen bis zum Schluss und steht jetzt mit hängenden Armen im Wohnzimmer. Mir liegt auf der Zunge zu sagen, dass es mir leidtut, aber ich habe diesen Satz so oft gesagt, und er kommt immer zu spät und konnte nie etwas an meinen Handlungen ändern. Stattdessen küsse ich ihn, sanft und unmissverständlich, wie ich hoffe, und sage: »Ich hasse Abschiede.«

Das stimmt gar nicht. Eigentlich mag ich das klare, reine Gefühl, alles hinter mir zu lassen – für immer. Aber mich von Simon zu verabschieden, fällt mir erschreckend schwer. Den ganzen Abend hat er einfach versucht, mein Freund zu sein.

Jetzt, als ich mich von ihm losmachen will, hält er mich fest. »Dann nimm mich mit, als Handgepäck.«

Die Traurigkeit in seinen Augen straft seinen lockeren Tonfall Lügen. Trotzdem lachen wir beide.

Simon strafft sich und macht sich von mir los. »Okay.« Er räuspert sich und sagt schließlich: »Sagen wir doch einfach: Bis morgen.«

Wieder lachen wir, leise und traurig. »Bis morgen um eins.«

Ich bleibe an der Haustür stehen, bis Simon an seinem Auto angekommen ist. Dort dreht er sich noch einmal um und ruft mir leise zu: »Du hättest mich umsonst haben können, vom ersten Tag an. Denk mal an das ganze Geld, das du dir hättest sparen können!«

»Und denk du an das ganze Geld, das du dann nicht verdient hättest!«

Zum dritten Mal lachen wir zusammen, und das ist so schön und so traurig, dass ich beschließe, dass es nun das letzte Mal sein muss. Behutsam schließe ich die Tür.

»Verreisen wir?«

Mit riesigen Augen mustert Nina den Gepäckberg in unserem Wohnzimmer. Ich nehme sie in den Arm. »Komm, lass uns mal nach oben gehen und nachschauen, ob Tom auch schon wach ist. Ich muss mit euch reden.«

Ich lasse meinen Arm um ihre Schultern liegen, während wir die Treppen hochgehen, und spüre, wie angespannt ihr Körper ist. Das fängt nicht gut an.

Tom hat sich seine drei Lieblingsautos ins Bett geholt und spielt versonnen mit ihnen mitten in seinem Meer aus Kuscheltieren. So finde ich ihn an den meisten Schultagen vor, wenn ich ihn wecken will.

Jetzt setzt er sich auf. »Habe ich Geburtstag?«

Trotz allem muss ich lachen. Tatsächlich kommt es hauptsächlich an seinem Geburtstag vor, dass Nina und ich morgens gemeinsam in sein Zimmer kommen.

Nina stöhnt. »Siehst du irgendwo eine Torte oder Kerzen? Oder Geschenke?«

»Schsch.« Ich schiebe ein paar der Kuscheltiere vorsichtig zur Seite und wundere mich wieder mal, dass Tom trotz dieser Menge überhaupt noch Platz zum Schlafen findet.

»Also, meine Süßen, Nina hat unten schon unser Gepäck gesehen und richtig geraten: Wir verreisen, und zwar zu Oma und Tante Eva.«

Tom prustet. »Tante Eva.«

»Wir sagen doch nicht Tante Eva«, belehrt mich auch Nina. »Sie hat gesagt, das ist total altmodisch.«

»Dann eben zu Eva.« Ich muss mich anstrengen, nicht gereizt zu klingen. Was weiß denn ich, wie sie wen nennen, wenn sie bei ihrem Vater sind. Ich bin schließlich nie dabei. Und früher haben sie durchaus Tante Eva gesagt.

»Wie auch immer. Weil Opa gestorben ist, gibt es jetzt eine ganze Menge zu besprechen, und deshalb fliegen wir morgen früh nach Huusdorf.«

»Kann man nach Huusdorf fliegen?« Toms Augen leuchten. Er sieht so süß aus, aber im Moment könnte ich schreien. Können wir uns jetzt mal auf das Wesentliche konzentrieren?

»Natürlich nicht, mein Hase. Wir fliegen bis Hamburg, und da holt uns Tan… Eva ab. Und wir bleiben etwas länger.«

»Was heißt das?«

»Drei oder vier Wochen«, lüge ich meine wachsame Tochter an. Es bricht mir fast das Herz, aber ich möchte, dass sie sich in ihrer neuen Heimat erst mal wohlfühlen, bevor sie von unserem Umzug erfahren.

»Aber wir müssen doch zur Schule?«

»Ich habe bereits mit euren Lehrerinnen gesprochen, Nina, das geht in Ordnung. Wenn es in einer Familie wichtige Dinge zu regeln gibt, kann man dafür freibekommen.«

Auch die Direktorin der Schule war wenig begeistert von meinem Plan und insbesondere von meiner Bitte, Nina und Tom in ihren Klassen nicht endgültig zu verabschieden. Ich habe schließlich ihre Zusage erreicht, aber ihr Widerstreben war bis zum Schluss des Telefonates deutlich spürbar. Ich wünschte, irgendjemand würde mich verstehen, aber gleichzeitig weiß ich auch, warum es keiner kann. Es wird einfach Zeit, dass unsere Reise beginnt.

»Wie viele Kuscheltiere darf ich mitnehmen?«

An dieser Stelle muss ich mich mit einer schnellen Bewegung von Tom wegdrehen. Vor jeder Reise gibt es umfangreiche Verhandlungen zwischen uns über dieses Thema. Jetzt schießen mir bei dem Gedanken, dass er alle Kuschis, die er heute nicht einpackt, für ziemlich lange Zeit nicht wiedersehen wird, heiße Tränen in die Augen.

»Wenn du schon nicht an dich denkst, dann denk doch wenigstens daran, was du deinen Kindern antust«, hat Matteo gestern in diesem für ihn so vollkommen untypisch harten Tonfall gesagt. Aber ich denke ja an sie. Sie werden wieder in der unmittelbaren Nähe ihres Vaters leben, sie werden ihre Großeltern um sich haben, sie werden am Meer spielen können, und sie werden den Zauber der Ballnächte erleben.

Ich tue so, als müsste ich meine Socken hochziehen. Als ich mich aufrichte, klingt meine Stimme wieder normal. »Fünf?«

Er legt den Kopf schief und setzt seinen allerniedlichsten Blick auf. »Sieben?«

Wieder muss ich lachen. Das Handeln hat er schon mal gelernt, und seine Technik ist auch nicht schlecht. Wenn er so weitermacht, kann er viel im Leben erreichen.

Dann fällt mir ein, dass ich gerade tatsächlich gedacht habe, dass die Kinder ihre Großeltern sehen würden. Als ob mein Vater noch leben würde. Immer wieder vergesse ich es einfach für eine Weile, und wenn es mir wieder einfällt, fühlt es sich an wie ein heftiger Schlag auf den Kopf: Mein Vater ist tot.

Da meine Mutter mich nie besonders gut leiden konnte und es auch mit meiner Schwester und mir irgendwann nicht mehr zum Besten stand, war mein Vater mein Anker. Er war ein fröhlicher, lebenslustiger Mann und heiterte mich mit seiner Unbekümmertheit auf, wenn es wieder mal einen heftigen Streit zwischen den Lehmann-Frauen gegeben hatte. Dass er jetzt bei meiner Heimkehr nicht mehr da sein wird, einfach nicht mehr da, schmerzt und ängstigt mich. Aber ich muss es jetzt eben ohne ihn schaffen.

Mit einiger Kraftanstrengung dränge ich die Tränen zurück. »Okay, sechs«, sage ich bestimmt zu Tom, der zufrieden grinst.

»Dann los jetzt, fertig machen für die Schule.« Ich verlasse das Zimmer meines Sohnes. Matteo wird uns alles nachschicken, was wir jetzt nicht mitnehmen können. Tom wird seine Kuscheltiere wiedersehen, tröste ich mich. Ich tue das Richtige.

Mein Chef und bester Freund bringt uns schweigend zum Flughafen. Er hat den Kindern zum Abschluss Nintendos geschenkt. Ich hasse das elektronische Gedudel und das Bildschirmgeglotze, aber im Moment überwiegt die Erleichterung darüber, sie auf dem Flug beschäftigt zu wissen.

Matteos wortlose Missbilligung schmerzt mich mehr, als ich wahrhaben möchte. Wir haben uns in den letzten beiden Tagen öfter gestritten als in den vier Jahren zuvor – was nicht weiter überraschend ist, denn ansonsten haben wir uns eigentlich nie gestritten. Die streitsüchtige Isa war wie durch ein Wunder verschwunden, als ich meine Familie verlassen hatte.

Ich weiß, dass er sich Sorgen um mich macht, und das wahrscheinlich sogar zu Recht. Aber ich muss diesen Weg gehen.

Alles ist gesagt, von daher ist sein Schweigen jetzt nur konsequent. Weil ich den Abschied von ihm so nicht ertrage, mache ich noch einen letzten Versuch.

»Viele Leute haben viele Träume, Matteo. Einige verwirklichen sie und andere nicht. Aber ich hatte immer nur diesen einen, und der soll jetzt endlich wahr werden.«

Matteo schüttelt traurig den Kopf. »Ich habe keine Lust mehr zu diskutieren, Isa. Hörst du nicht selbst, wie irre das klingt: Rache als Lebenstraum?«

Er versteht es einfach nicht. »Nicht Rache. Erfüllung.«

Wir sind da. Matteo parkt und stellt den Motor ab. Er lächelt mich zum ersten Mal wieder an. Er berührt mein Gesicht. »Natürlich wünsche ich dir Erfüllung, Bella, du hast sie mehr als jeder andere verdient.«

Bei dem Kosenamen, den Matteo nur in besonderen Momenten benutzt, muss ich blinzeln, aber ich werde nicht weinen. Ich werde nicht weinen!

Matteo seufzt. »Bitte nicht weinen, Süße. Ich bezweifle zwar, dass du deine Erfüllung finden wirst, ausgerechnet so und ausgerechnet dort. Aber ich tröste mich einfach mit dem Gedanken, dass du ja wiederkommen kannst, wenn es nicht funktioniert. Bitte versprich mir nur, dass du dann nicht zu stolz dazu sein wirst.«

Während ich in der Schlange zum Einchecken stehe, rast Matteo mit dem Gepäcktrolley, auf dem ganz oben die Kinder thronen, übermütig durch die Halle, bis er freundlich, aber bestimmt, vom Wachpersonal gestoppt wird. Danach spielen die drei irgendein Improvisationsspiel, das ich nicht genau erkennen kann. Nina und Tom nehmen großäugig und ahnungslos die aufregende Welt des Flughafens in sich auf. Es war richtig, sie noch nicht wissen zu lassen, dass wir nicht zurückkommen werden.

Ich beobachte Matteo, der jetzt Fotos von den Kindern macht. Vor vier Jahren, als ich gerade ganz frisch getrennt mit meiner fünfjährigen Tochter und meinem zweijährigen Sohn nach Hamburg gezogen war, lebte in der Wohnung unter mir ein Mann, von dem ich nur wusste, dass er täglich äußerst gut aussehende Frauen empfing. Eines Tages lernte ich ihn kennen, als ich den Müll nach unten brachte, und erfuhr, dass er Fotograf war und für das Projekt eines Designers all diese Frauen in dem immer gleichen Kleid fotografierte. Er fragte auch mich und ich sagte nach einigem Zögern schließlich zu. Das war der Anfang. Danach engagierte er mich für eine Modenschau. Bis zu diesem Moment hatte mir mein gutes Aussehen nur Probleme und Ablehnung gebracht, wieso sollte ich also zur Abwechslung nicht mal davon profitieren? Zumal ich dringend eine Möglichkeit suchte, um auch finanziell unabhängig vom Vater meiner Kinder zu werden.

Wir stellten fest, dass wir hervorragend harmonieren, sowohl beruflich als auch privat. Die Erkenntnis, dass er schwul war, half mir sehr. Matteo, der italienische Wurzeln hat, beschloss ein Jahr später, in Südtirol eine Agentur zu eröffnen, und für uns beide war es nie eine Frage, dass ich mitgehen würde. Matteo war meine Familie. Er kümmerte sich hinreißend und ausdauernd um Nina und Tom – und um mich. Ich lernte seine Freunde kennen und fühlte mich heimisch bei ihnen. Fast ausschließlich schwule Männer waren genau das, was ich damals brauchte.

Nach fast drei Jahren, in denen ich recht erfolgreich als Model für seine Agentur gearbeitet hatte, war ich es leid, vor der Kamera zu stehen, also wurde ich Matteos Mädchen für alles und machte nur hin und wieder noch eine regionale Modenschau mit. Ich habe gut verdient und zum Glück auch viel gespart – am Geld wird mein Traum zumindest schon mal nicht scheitern.

Der Gedanke, dass Matteo sich nun eine Nachfolgerin suchen muss, tut uns beiden weh. Seine Fröhlichkeit, als er uns zur Sicherheitsschleuse begleitet, ist gespielt, und ich liebe ihn voller Dankbarkeit dafür. Diesen Abschied hasse ich wirklich.

Matteo hebt erst Nina, dann Tom hoch und küsst sie beide. »Tschüss, ihr zwei Schnuckels, macht’s gut, und vergesst in der großen weiten Welt euren Matteo-Boy nicht ganz.«

Tom, den er noch in der Luft hält, kichert. »Wir fahren doch nur in ein ganz kleines Dorf.«

Matteo stellt ihn ab. »Na ja, eine Stadt ist es, glaube ich, schon, zumindest offiziell. Aber ihr werdet neue Freunde finden und in eine andere …«

Ein Blick in Ninas plötzlich wachsames Gesicht bringt ihn zum Schweigen, doch er fängt sich sofort wieder. »So eine Reise ist immer aufregend«, sagt er schnell, »und man erlebt ungeheuer viel Neues. Vergesst bloß nicht, Fotos für mich zu machen. Aber anständige, so, wie ich es euch beigebracht habe.«

Er kommt zu mir und nimmt mich in den Arm. »Ohne Worte«, bitte ich ihn schnell. Bis jetzt sind die Tränen nur in meiner Stimme, und ich möchte unbedingt, dass das so bleibt.

»Ich bin ja nicht aus der Welt«, schiebe ich forsch hinterher. Doch wir beide wissen: So wie jetzt wird es nie wieder sein.

Matteo umarmt mich ein letztes Mal, dann sind wir durch die Sicherheitsschleuse – und weg.

»Warum weinst du, Mama?«, fragt Tom erschrocken.

Und Nina antwortet: »Wegen Opa natürlich, du Dummi. Weshalb denn sonst?«

Ende der Leseprobe