Das Amt und die Vergangenheit - Eckart Conze - E-Book

Das Amt und die Vergangenheit E-Book

Eckart Conze

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Beschreibung

Ein Mythos bröckelt: Das nach dem Krieg vom Auswärtigen Amt verbreitete Geschichtsbild erweist sich als Legende

Der Mythos, das Auswärtige Amt sei von 1933 bis 1945 ein Hort des Widerstands gewesen, gehört zu den langlebigsten Legenden über das Dritte Reich. Wie aber verhielten sich die Angehörigen des Auswärtigen Dienstes nach Hitlers Machtübernahme wirklich? Und wie stellten sie sich dann in der Bundesrepublik zu ihrer Vergangenheit? Vom ersten Tag an war das Auswärtige Amt unmittelbar in die Gewaltpolitik des NS-Regimes eingebunden. Es schirmte die »Judenpolitik« des Dritten Reichs nicht nur nach außen ab, sondern war in allen Phasen aktiv an ihr beteiligt. Überall in Europa fungierten deutsche Diplomaten als Wegbereiter der »Endlösung«, sie wirkten mit an der »Erfassung« der Juden und an ihrer Deportation. Opposition aus dem Auswärtigen Dienst heraus blieb individuell und die Ausnahme. Nach Kriegsende wurden nur wenige Beamte für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen, viele konnten auf ihre Wiederverwendung hoffen und setzten ihre Karriere fort.

Noch auf Jahrzehnte lagen über den außenpolitischen Entscheidungen der Bundesrepublik die Schatten der Vergangenheit. Gestützt auf zahlreiche bis heute unter Verschluss gehaltene Akten, räumt das Buch mit alten Legenden auf und korrigiert das Geschichtsbild einer der wichtigsten politischen Funktionseliten des Landes.

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Inhaltsverzeichnis
Titel
Wissenschaftliche Mitarbeiter der Kommission
Einleitung
Erster Teil - Die Vergangenheit des Amts
Das Auswärtige Amt und die Errichtung der Diktatur
Traditionen und Strukturen
»Unvereinbar mit einer gesunden Außenpolitik«
Copyright
Wissenschaftliche Mitarbeiter der Kommission
Dr. Jochen Böhler Dr. Irith Dublon-Knebel Prof. Dr. Astrid M. Eckert Prof. Dr. Norman Goda Prof. Dr. William Gray Lars Lüdicke M.A. Prof. Dr. Thomas Maulucci Prof. Dr. Katrin Paehler Dr. Jan-Erik Schulte Daniel Stahl M.A. Dr. Annette Weinke Andrea Wiegeshoff M.A. Endredaktion: Thomas Karlauf
Einleitung
Franz Krapf wurde 1911 geboren. 1938 trat er in den Auswärtigen Dienst ein. Bereits seit 1933 gehörte er der SS an, 1936 wurde er Mitglied der NSDAP, seit 1938 war er Untersturmführer im Stab des SS-Hauptamts. Von 1940 an verbrachte er die Kriegsjahre an der deutschen Botschaft in Tokio und wirkte dort auch als Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes (SD) der SS. Über Krapfs Tätigkeit ist wenig bekannt, aber klar ist: Selbst im fernen Ostasien waren deutsche Diplomaten mit der »Endlösung« der Judenfrage befasst. Im Herbst 1947 kehrte Krapf nach Deutschland zurück, hielt sich dann aber für einige Jahre in der Heimat seiner schwedischen Frau auf. Bestens vernetzt, übernahm er 1950 zunächst eine Stelle im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, bevor er ein Jahr später in den soeben gegründeten Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland berufen wurde. Als Diplomat diente er in der Bonner Zentrale, in Paris und Washington. Er war Botschafter in Tokio und leitete zuletzt die Ständige Vertretung der Bundesrepublik bei der NATO. 1976 trat er in den Ruhestand. Hochbetagt und geehrt starb Krapf im Herbst 2004.
Fritz Kolbe wurde 1900 geboren. In den Auswärtigen Dienst trat er 1925 ein und diente als Konsulatssekretär an der deutschen Botschaft in Madrid, später auch in Kapstadt. Bei Kriegsbeginn in die Berliner AA-Zentrale zurückgekehrt, wirkte er dort als Persönlicher Referent von Botschafter Karl Ritter. Der NSDAP beizutreten, weigerte sich Kolbe. Schockiert angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen und überzeugt, dass der NS-Terror nur von außen zu überwinden sei, lieferte er seit 1943 geheime Nachrichten und Dokumente an den amerikanischen Geheimdienst. Nach Kriegsende unterstützte er die Vereinigten Staaten bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses. Nach einigen Jahren in der Schweiz und in den USA, wo er nicht Fuß fassen konnte, kehrte er 1949 nach Deutschland zurück. Der angestrebte Wiedereinstieg in den öffentlichen Dienst gelang ihm nicht, man stigmatisierte ihn als Verräter und verwehrte ihm einen Eintritt in das Auswärtige Amt der Bundesrepublik. Dort wird die Widerstandstätigkeit Kolbes erst seit 2004 offiziell gewürdigt.
Franz Nüßlein, Jahrgang 1909, trat nach seinem Jura-Studium 1937 der NSDAP bei und wurde im Oktober 1939 als Erster Staatsanwalt zur »Gruppe Justiz« bei der Behörde des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren abgeordnet. 1942 wurde er, protegiert von Reinhard Heydrich, im Alter von nur 32 Jahren zum Oberstaatsanwalt befördert. Seit 1943 Generalreferent für Angelegenheiten der deutschen Strafjustiz beim Deutschen Staatsministerium für Böhmen und Mähren, gehörten vor allem Gnadensachen zu seinem Aufgabengebiet; insbesondere in diesem Zusammenhang war Nüßlein für die Bestätigung zahlreicher Todesurteile gegen tschechische Bürger verantwortlich. Bei Kriegsende floh er nach Bayern, wurde von den Amerikanern verhaftet und an die Tschechoslowakei ausgeliefert. Dort verurteilte man ihn 1948 zu 20 Jahren Zuchthaus. Als »nicht amnestierter Kriegsverbrecher« wurde er 1955 in die Bundesrepublik abgeschoben. Nicht zuletzt aufgrund persönlicher Beziehungen gelang ihm noch im gleichen Jahr der Eintritt in den Auswärtigen Dienst, wo er unter anderem als Referent in der Personalabteilung wirkte. Von 1962 bis zu seiner Pensionierung 1974 war Nüßlein deutscher Generalkonsul in Barcelona.
Bei seinem Tod 2003 widmete ihm das Auswärtige Amt in seiner Mitarbeiterzeitschrift einen ehrenden Nachruf, so wie ihn bis dahin jeder verstorbene Angehörige des Auswärtigen Dienstes erhielt. Als Kritik an der postumen Ehrung des verurteilten Kriegsverbrechers Nüßlein laut wurde, änderte Bundesaußenminister Joschka Fischer die Nachrufpraxis: Ehemalige NSDAP-Mitglieder, so verfügte er, sollten in der AA-Zeitschrift keinen Nachruf mehr erhalten. Einer der Ersten, die von dieser Regelung betroffen waren, war Franz Krapf.
Drei verschiedene Biographien, drei verschiedene Perspektiven. Die Geschichte, die dieses Buch zum Gegenstand hat, ist unabgeschlossen. Das Buch selbst, sein Zustandekommen und seine Rezeption sind unauflöslich verbunden mit der Thematik, die es behandelt: Es geht um die Geschichte des Auswärtigen Dienstes in der Zeit des Nationalsozialismus, um den Umgang mit dieser Geschichte nach 1945 und um die Wirkungen der NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes auf seine Entwicklung nach der Wiedergründung 1951.
Schon 1948/49 gelangte der amerikanische Militärgerichtshof im so genannten Wilhelmstraßenprozess, bei dem AA-Staatssekretär Ernst von Weizsäcker und andere hohe Diplomaten auf der Anklagebank saßen, zu dem Urteil, das Amt sei an den Verbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere an der Ermordung der europäischen Juden beteiligt gewesen.
Das AA selbst war in den Nachkriegsjahrzehnten wieder und wieder mit seiner Geschichte in der Zeit zwischen 1933 und 1945 konfrontiert und stand vor allem wegen der hohen personellen Kontinuität in der Kritik. Immer wieder boten sich in dieser Zeit Anlässe, die eigene Geschichte aufzuarbeiten oder für eine unabhängige Aufarbeitung zu sorgen, doch das Amt fand dazu nicht die Kraft. Im Geleitwort zu einer Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Auswärtigen Amts im Jahr 1970 kündigte der damalige Bundesaußenminister Walter Scheel eine solche umfassende Darstellung zwar an, geschrieben indes wurde sie nicht.
Dennoch kam seit den siebziger Jahren die historische Erforschung der NS-Vergangenheit des Amtes und damit auch seiner Beteiligung am Holocaust langsam in Gang. Den Anfang bildete dabei die Untersuchung des amerikanischen Historikers Christopher Browning über das »Judenreferat« des Auswärtigen Amtes in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Deutsche Historiker folgten ihm, allen voran Hans-Jürgen Döscher, der 1987 seine viel beachtete Studie über die »Diplomatie im Schatten der Endlösung« vorlegte und in den folgenden Jahren der Thematik weitere Untersuchungen widmete. Über Döscher und Browning hinaus, dessen Buch von 1978 mit 32-jähriger Verspätung soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist, sind in den letzten Jahren verschiedene Arbeiten zu Einzelaspekten der Geschichte des Auswärtigen Amts im Dritten Reich, zu einzelnen Protagonisten, zur Beteiligung deutscher Diplomaten an Besatzungsherrschaft und Holocaust, aber auch zur Gründungs- und Frühgeschichte des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik erschienen; nicht nur deutsche Historiker, sondern die internationale Forschung hat sich dieser Themen zunehmend angenommen. Nach wie vor fehlt jedoch eine aus den Quellen und der verstreuten Forschungsliteratur gearbeitete systematische und integrierende Gesamtdarstellung.
Das vorliegende Buch versucht, dieses Defizit zu beheben. Der Auftrag, den Bundesaußenminister Joschka Fischer im Jahr 2005 der von ihm berufenen Unabhängigen Historikerkommission erteilte, schuf dafür die Möglichkeit und den Rahmen. Die Kommission, so heißt es in dem im Sommer 2006 unterzeichneten Vertrag, sollte die »Geschichte des Auswärtigen Dienstes in der Zeit des Nationalsozialismus, den Umgang mit dieser Vergangenheit nach der Wiedergründung des Auswärtigen Amtes 1951 und die Frage personeller Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität nach 1945« aufarbeiten. Dieser Auftrag bestimmt auch die Gliederung des Buches, das entsprechend aus zwei Teilen besteht.
In einer Broschüre über »Auswärtige Politik heute«, die das Amt 1979 herausgab - ein Jahr nach Erscheinen der unmissverständlichen Studie von Browning -, wird die Geschichte des Ministeriums zwischen 1933 und 1945 in wenigen Sätzen zusammengefasst: »Das AA leistete den Plänen der NS-Machthaber zähen, hinhaltenden Widerstand, ohne jedoch das Schlimmste verhüten zu können. Das Amt blieb lange eine ›unpolitische‹ Behörde und galt den Nationalsozialisten als eine Stätte der Opposition. In der Eingangshalle des neuen Amtes in Bonn befindet sich eine Gedenktafel, die an diejenigen Mitarbeiter des AA erinnert, die im Kampf gegen das Hitler-Regime ihr Leben gaben.« Das war bestenfalls die halbe damals bekannte Wahrheit. Denn die Geschichte des Auswärtigen Dienstes in der Zeit des Nationalsozialismus bestand nicht vorwiegend aus Widerstand und Opposition. Das über Jahrzehnte gepflegte Selbst- und Geschichtsbild des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik ist ein Mythos.
Auch die gerne zitierte These von der Verdrängung und Marginalisierung der traditionellen diplomatischen Elite durch nationalsozialistische Karrieristen und SS-Angehörige greift viel zu kurz. Diese Deutung, die sogar in der wissenschaftlichen Literatur ihre Spuren hinterlassen hat, wurde schon unmittelbar nach Kriegsende im Kreise ehemaliger deutscher Diplomaten entwickelt. Sie war ein Ablenkungsmanöver und ein wichtiges Mittel, Angehörigen der alten Wilhelmstraßen-Diplomatie den Weg in einen wieder entstehenden Auswärtigen Dienst der Nachkriegszeit zu bahnen. Denn dass es früher oder später wieder einen deutschen Auswärtigen Dienst geben würde, darüber war man sich einig. Wilhelm Melchers, vor 1945 Leiter des Orientreferats im AA und seit Ende 1949 im entstehenden Außenamt der Bundesrepublik für Personalfragen zuständig, lieferte in einer Aufzeichnung über den 20. Juli 1944 im Auswärtigen Amt die zentralen Elemente des NS-bezogenen Selbstbilds des Auswärtigen Amtes und seiner höheren Diplomaten. Als Kronzeuge diente dabei der nach dem 20. Juli hingerichtete Adam von Trott zu Solz, von dem Melchers unmittelbar vor dem missglückten Attentat auf Hitler gehört haben will, die alte Beamtenschaft habe sich den »Nazifizierungsversuchen« Ribbentrops entzogen und könne daher nach einem erfolgreichen Coup übernommen werden. Der Kern des Amtes, so angeblich Trott, sei »gesund«.
Doch wie verhielten sich die Angehörigen des Auswärtigen Amtes nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 tatsächlich? Welche Rolle spielte der Auswärtige Dienst im nationalsozialistischen Herrschaftssystem und Terrorapparat? Wie war das Auswärtige Amt an der deutschen Herrschaft über weite Teile Europas im Zweiten Weltkrieg beteiligt? Welchen Anteil hatten deutsche Diplomaten seit 1933 an der Verfolgung und Ermordung der deutschen und europäischen Juden? Diese Fragen leiten die Darstellung im ersten Teil des vorliegenden Buches.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, führten die deutschen Diplomaten auch im Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich ihre Tätigkeit bruchlos fort. Die Motive dafür waren vielgestaltig. Sie reichten von einer patriotisch bestimmten Mentalität des Dienstes - »Man lässt sein Land nicht im Stich, weil es eine schlechte Regierung hat« - über Hoffnungen auf einen autoritär gestützten machtpolitischen Wiederaufstieg Deutschlands bis hin zur Übereinstimmung mit den Prämissen der nationalsozialistischen Politik: von der Demokratiefeindschaft bis zum Antisemitismus. Es gab eine weitreichende Teilidentität der Ziele; sie hilft, das Weiterfunktionieren gerade der Spitzendiplomaten zu erklären. Deswegen schirmten deutsche Diplomaten die systematische und gewaltsame Entrechtungs- und Diskriminierungspolitik des Dritten Reiches gegenüber den Juden nicht nur nach außen ab, sondern sie waren von 1933 an aktiv an ihr beteiligt.
Seit dem 30. Januar 1933 war das Auswärtige Amt das Auswärtige Amt des Dritten Reiches, und als solches funktionierte es bis 1945. Es gestaltete zentrale Politikbereiche und verkörperte in diesem Sinne das Dritte Reich nicht nur im Ausland. Das Amt repräsentierte, dachte und handelte im Namen des Regimes. Der diplomatische Apparat, den die Nationalsozialisten 1933 übernahmen, war routiniert und erfahren, die deutsche Diplomatie war hoch professionalisiert. Auch deshalb wurde sie zu einer wichtigen Stütze der nationalsozialistischen Herrschaft. Zugleich jedoch wähnten sich viele Diplomaten angesichts der Ansprüche rivalisierender Institutionen - von der NSDAP-Auslandsorganisation bis zur »Dienststelle Ribbentrop« - mit einem schleichenden Funktionsverlust konfrontiert. Dagegen setzte sich das Amt zur Wehr, indem es wieder und wieder seine eigene Unentbehrlichkeit zu demonstrieren versuchte und dabei auch seine Handlungsfelder beträchtlich erweiterte. Nicht erst in den Kriegsjahren kooperierte das Amt mit der Gestapo: Die deutschen Auslandsmissionen wirkten mit an der Erfassung und Überwachung von Emigranten; bei der Ausbürgerung von Deutschen - Albert Einstein, Thomas Mann, Willy Brandt und vielen anderen - spielte die Zentrale in Berlin ebenso eine aktive Rolle wie beim Raub des Vermögens der Ausgebürgerten, darunter vieler Juden.
Ziel unserer Darstellung musste es sein, sowohl individuelles Verhalten zu erklären als auch die strukturellen Rahmenbedingungen und ihre Dynamik zu berücksichtigen. Die Herausforderung liegt dabei in der Verknüpfung beider Ebenen. Welche individuellen Überzeugungen oder Dispositionen waren notwendig, um für den einzelnen Diplomaten die Politik und die Verbrechen des Dritten Reiches akzeptabel zu machen, sie geschehen zu lassen, sie in vielen Fällen aber auch aktiv mitzugestalten, ja zu forcieren? Und wie wirkten umgekehrt strukturelle Entwicklungen - die institutionelle Konkurrenz, die Dynamik des militärischen Erfolges oder die Handlungszwänge in einer Diktatur - auf das Verhalten Einzelner ein? Solche Fragen unterstreichen, dass es diesem Buch nicht, wie gelegentlich gemutmaßt wurde, um eine »zweite Entnazifizierung« geht, sondern um die allerdings eminente Frage, warum und in welcher Weise das Auswärtige Amt und seine Angehörigen an der nationalsozialistischen Gewaltpolitik und an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt gewesen sind. Die Antwort auf diese Frage erschöpft sich indes nicht im Verweis auf institutionelle Bedingungen und strukturelle Faktoren, sondern sie muss zwingend auch individuelles Verhalten, individuelle Handlungsspielräume und Handlungsmöglichkeiten mit in den Blick nehmen.
Für die »neue« Diplomatie des Auswärtigen Amtes, wie sie sich sukzessive in den Jahren nach 1933 herausbildete - keineswegs nur durch den Wechsel von Neurath zu Ribbentrop im Amt des Außenministers 1938 -, standen nicht nur neue Diplomaten, sondern auch sehr viele alte. Gerade auf der Führungsebene war das Ausmaß der Personalveränderungen, die Ribbentrop nach seiner Amtsübernahme vornahm, denkbar gering. Stattdessen kam es 1937 und 1940 bei den deutschen Spitzendiplomaten zu regelrechten Eintrittswellen in die NSDAP. Zugleich - und nicht nur mit Blick auf das Auswärtige Amt - lösten sich seit den späten dreißiger Jahren zunehmend die Grenzen zwischen allgemeiner Verwaltung, Parteistellen und dem von der SS kontrollierten Sicherheitsapparat auf. Auch wenn sich keine integrierte »SS-Weltanschauungsbürokratie« (Michael Wildt) herausbildete, so waren doch die in den Kriegsjahren zunehmende Kompetenzverflechtung und Instanzenrivalität eine entscheidende Voraussetzung für die sich unter Beteiligung auch des Auswärtigen Amtes radikalisierende Dynamik der Judenvernichtung und ihren Vollzug.
Im Oktober 1941 entsandte das Auswärtige Amt seinen »Judenreferenten« Franz Rademacher - den Mann, der ein Jahr zuvor maßgeblich an den Planungen beteiligt gewesen war, alle europäischen Juden nach Madagaskar zu vertreiben, nach Belgrad, um dort mit Vertretern anderer deutscher Behörden, darunter dem Reichssicherheitshauptamt, die Behandlung der serbischen Juden zu koordinieren. Worum es ging, verrät nicht ein Geheimdokument, sondern die Reisekostenabrechnung, die Rademacher nach seiner Rückkehr in Berlin einreichte. Jeder Buchhalter in der Reisekostenstelle des AA konnte es lesen: Reisezweck war die »Liquidation von Juden in Belgrad«.
Von Anfang an war das Auswärtige Amt über die deutschen Verbrechen in dem 1939 begonnenen Eroberungs- und Vernichtungskrieg umfassend informiert. Diplomatische Beobachter dokumentierten die verbrecherischen Methoden der deutschen Kriegführung ebenso wie die brutale Besatzungsherrschaft. Ein enger Informationsaustausch mit dem Reichssicherheitshauptamt, der Zentrale von Terror und Völkermord, versorgte das Amt auch mit Kenntnissen über die »Endlösung« der Judenfrage, die Deportation und Vernichtung von sechs Millionen europäischen Juden. Mit Unterstaatssekretär Martin Luther war das Amt im Januar 1942 bei der Wannsee-Konferenz vertreten, die das Schicksal der Juden in Europa besiegelte und ihre Vernichtung koordinierte. Das einzige Exemplar des Protokolls dieser Konferenz fand sich nach 1945 in den Akten des Auswärtigen Amtes.
Die Mitwisser im Amt waren auch Mittäter. Nicht nur beschäftigten sich eigene Abteilungen im AA mit der Organisation moderner Sklavenarbeit und mit Kunstraub. Die deutsche auswärtige Politik machte sich die »Lösung der Judenfrage« in Deutschland, dann die »Endlösung«, zu ihrer Aufgabe, die Mitwirkung daran wurde zu einem Tätigkeitsfeld deutscher Diplomaten überall in Europa. In vielen Fällen waren Angehörige des Auswärtigen Dienstes - und nicht nur Seiteneinsteiger aus der Zeit nach 1933 - an der Deportation von Juden unmittelbar beteiligt, mitunter ergriffen sie sogar die Initiative. Je größer der Herrschaftsbereich des Dritten Reiches wurde, desto mehr war auch das Auswärtige Amt mit der Politik der »Endlösung« befasst. Neue, ja präzedenzlose Aufgabenfelder, der überkommenen Außenpolitik und Diplomatie ganz fremd, wuchsen den deutschen Diplomaten zu: Plünderung, Raub, Verfolgung und Massenmord. Zugleich umgab das Amt sein Handeln mit dem Schein bürokratischer Kontinuität, Professionalität und damit Legitimität - und trug so dazu bei, moralische Bedenken angesichts ungeheurer Verbrechen zu relativieren. Einzelne Fälle von Kritik können darüber nicht hinwegtäuschen.
Grundlegende Debatten über den Holocaust, an deren Ende der Entschluss zum Widerstand hätte stehen können, hat es auf der Leitungsebene des Auswärtigen Amtes so wenig gegeben wie in anderen deutschen Behörden. Debatten und Dissens gab es mit Blick auf außenpolitische Zielsetzungen und Vorgehensweisen, auf die Besatzungspolitik und die Rolle des Amtes dabei, nicht jedoch mit Blick auf die Verbrechen des Regimes. Individuell abweichendes und oppositionelles Verhalten war dennoch möglich und konnte auch aus der verbrecherischen Politik des Dritten Reiches resultieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Gerhart Feine, Gesandtschaftsrat an der deutschen Gesandtschaft in Budapest, half 1944 mit, zahlreiche ungarische Juden vor dem Abtransport in die deutschen Vernichtungslager zu bewahren.
Gewiss, es gab Widerstand aus dem Auswärtigen Amt heraus und Widerstand von Diplomaten. Doch dieser Widerstand blieb individuell und die Ausnahme. Ulrich von Hassell, der den diplomatischen Dienst schon 1938 quittiert hatte, Adam von Trott zu Solz, der als Quereinsteiger und Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in den Kriegsjahren ins Auswärtige Amt gekommen war, oder Hans Bernd von Haeften, Vertrauensmann von Claus Graf Stauffenberg im Auswärtigen Amt, waren Außenseiter, nicht die führenden Köpfe einer breiten Oppositionsbewegung in der Wilhelmstraße. Albrecht Graf Bernstorff, den die SS im April 1945 ermordete, hatte den Auswärtigen Dienst als einer von ganz wenigen schon 1933 verlassen. Dass Hassell, Trott, Haeften und Bernstorff und wenige andere nach 1945 für die Traditionsbildung des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik in Anspruch genommen wurden, ist legitim und nachvollziehbar. Viele Diplomaten, mit denen eine solch positive Identifikation möglich war, gab es indes nicht.
Überdies waren es im Zweifelsfall die Nationalkonservativen aus der Wilhelmstraße, die in den traditionsbildenden Kreisen des Auswärtigen Dienstes der jungen Bundesrepublik den Ton angaben. Fritz Kolbe galt ihnen als Landesverräter, der 1942 hingerichtete Rudolf von Scheliha wurde mit dem kommunistischen Widerstand in Verbindung gebracht. Was blieb, war der Kreis um den ehemaligen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, der sich 1939 zwar bemüht hatte, den Krieg zu verhindern, der aber bis 1945 mit der deutschen Gewaltpolitik eng verbunden war. Weizsäcker konnte für all jene stehen, die den Dienst nicht quittiert und bis zum Ende des Krieges auf ihren Posten ausgeharrt hatten, vorgeblich in dem Bemühen, von innen, aus dem Amt heraus, Sand ins Getriebe der nationalsozialistischen Kriegs- und Mordpolitik streuen zu können.
Auch darum richteten sich nach 1945 die konzertierten Bemühungen vieler Ehemaliger darauf, einen Freispruch Weizsäckers zu erreichen, der 1948/49 im Nürnberger Wilhelmstraßenprozess auf der Anklagebank saß. Konnte man den ehemaligen Staatssekretär entlasten, der 1942 mit seiner Paraphe die Deportation französischer Juden in den Osten abgezeichnet hatte, dann war man selbst entlastet und durfte auf eine Verwendung im Auswärtigen Dienst des 1949 gegründeten westdeutschen Staates hoffen. Doch die Anstrengungen hatten nicht den gewünschten Erfolg. Weizsäcker wurde 1949 als Kriegsverbrecher zu sieben Jahren Haft verurteilt. Selbst ein Militärtribunal, das der Anklage überaus skeptisch gegenüberstand, zweifelte nicht an seiner Mitschuld an Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Das Nürnberger Verfahren wird am Beginn des zweiten Teils des Buches ausführlich analysiert. Dahinter steht die Erkenntnis, dass der Wilhelmstraßenprozess für die Entstehung und frühe Entwicklung des Selbstbildes des AA und die Deutung seiner NS-Vergangenheit von konstitutiver Bedeutung gewesen ist. In Nürnberg - und das gilt auch für andere Kriegsverbrecherprozesse - waren hochrangige Vertreter des NS-Regimes oftmals über Monate auf engstem Raum zusammen, standen Angeklagte in intensiver Kommunikation mit Zeugen und Verteidigern. Das waren geradezu ideale Bedingungen für die Konstruktion und die Abstimmung von Geschichtsdeutungen und Schuldzuschreibungen. Was wir in den Selbstdarstellungen des Auswärtigen Amtes bis in die siebziger, achtziger Jahre über seine Geschichte nach 1933 lesen können und was seine Traditionsbildung über Jahrzehnte bestimmte, mag zwar schon im Kontext der Entnazifizierung zur individuellen Rechtfertigung artikuliert worden sein. Doch in Nürnberg hat es sich zum Topos verdichtet - um fortan auf das Amt im Ganzen und auf so gut wie alle seine Angehörigen bezogen zu werden.
Welche Rolle spielte die NS-Vergangenheit des Amtes und seiner Diplomaten nach 1945? Seine Vergangenheit hat das Auswärtige Amt der Bundesrepublik seit 1951 immer wieder eingeholt. Ein ums andere Mal rückte vor allem die hohe personelle Kontinuität zwischen der Wilhelmstraße in Berlin und der Koblenzer Straße in Bonn in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse befassten sich mit dieser Kontinuität und ihren Folgen ebenso wie die westdeutschen Medien. In den vergangenheitspolitischen Entwicklungen der jungen Bundesrepublik war der Auswärtige Dienst keine Ausnahme. Doch wie kam es, dass Adenauers Wunsch von 1949 nicht in Erfüllung ging: ein neues Amt aufzubauen, »das mit den alten Leuten möglichst wenig zu tun hat«?
Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts standen die Außenpolitik der Bundesrepublik und mit ihr das Auswärtige Amt unter Dauerbeschuss aus dem Osten, vor allem aus der DDR. Nicht nur deren »Braunbuch« von 1965 verwies auf die hohe personelle Kontinuität zwischen dem alten und dem neuen Amt und auf die NS-Belastung führender westdeutscher Diplomaten. Die Angaben in dem Buch trafen zum allergrößten Teil zu; aber weil die Vorwürfe aus der DDR kamen, halfen sie, wie auch der Fall Franz Nüßlein zeigt, im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges den Beschuldigten eher, als dass sie ihnen schadeten. Und sie trugen dazu bei, dass die in den späten vierziger und fünfziger Jahren entstandenen Geschichtsbilder und Geschichtslegenden erhalten blieben und fortwirkten.
Zwar war der institutionelle Wiederbeginn des Auswärtigen Amtes nach Gründung der Bundesrepublik insofern ein Neuanfang, als sich das Amt in das demokratische Gefüge des jungen westdeutschen Staates einpassen musste. Doch gerade die Personalpolitik des in Bonn wiedergegründeten Amtes stand von Anfang an in einem Spannungsverhältnis von Kontinuität und Neubeginn. Das führte immer wieder zu amtsinternen Konflikten, aber auch zu öffentlichen Kontroversen und Skandalen, in deren Zentrum stets aufs Neue die NS-Vergangenheit des Amtes und vieler seiner Diplomaten stand. Ernst Kutscher, in der Berliner Zentrale des AA 1944 mit »antijüdischer Auslandsaktion« befasst, wirkte noch in den sechziger Jahren als Botschaftsrat in Paris, später bei der EWG in Brüssel. Werner von Bargen, als Vertreter des Auswärtigen Amtes an der Deportation von Juden in Belgien beteiligt, beendete seine diplomatische Karriere als Botschafter der Bundesrepublik in Bagdad. Außerhalb des Auswärtigen Amtes stieg Ernst Achenbach, seit 1940 Leiter der politischen Abteilung der deutschen Botschaft in Paris, mitverantwortlich für die Deportation französischer Juden, nach 1945 Verteidiger im Wilhelmstraßenprozess, als Bundestagsabgeordneter zu einem der führenden Außenpolitiker der FDP auf - und 1970 beinahe zum deutschen EWG-Kommissar.
Weil das Auswärtige Amt für die Außenpolitik des westdeutschen Staates zuständig war, stand es unter besonderer Beobachtung. Hochsensibel verfolgte man im Ausland den Wiederaufbau des deutschen diplomatischen Dienstes. Man suchte zu prüfen, wen die Bundesrepublik an ihre konsularischen und diplomatischen Missionen entsandte. Kein außenpolitisches Thema, kein Thema der bilateralen Beziehungen der Bundesrepublik zu anderen Staaten war ohne Bezüge zur nationalsozialistischen Vergangenheit - weit über das deutsch-israelische Verhältnis hinaus, mit dem deutsche Diplomaten allerdings auch schon vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen befasst waren. Das erforderte permanente Selbstverständigungsprozesse innerhalb des diplomatischen Personals, deren Veränderung und Wirkmächtigkeit in unterschiedlichen Politikbereichen zu den Themen dieses Buches gehören. Die deutsche Außenpolitik hatte - und hat - eine vergangenheitspolitische Dimension, und insofern ist die Geschichte des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik auch ein Beitrag zur Geschichte ihrer auswärtigen Politik.
Wo aber lagen die außenpolitischen Zielsetzungen und Überzeugungen jener Wilhelmstraßen-Beamten, die in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik übernommen wurden? Für welche Politik traten sie ein, welche lehnten sie ab? Wie verhielten sie sich zu Adenauers Kurs der Westintegration? Aus solchen Fragen die These einer von Diplomaten getragenen Kontinuität nationalsozialistischer Außenpolitik zu konstruieren, läuft ins Leere. Natürlich gab es keine Kontinuität nationalsozialistischer Außenpolitik. Wohl aber waren außenpolitische und diplomatische Denktraditionen, die nicht nur um die Idee und Realität der Nation kreisten, sondern auch um die Denkfigur des autonomen nationalen Machtstaats, von der die deutsche Außenpolitik seit 1870 bestimmt war, nach 1945 noch lange nicht abgerissen. Gerade die deutsche Teilung und das Ziel der Wiedervereinigung trugen zum Erhalt solcher außenpolitischen Grundüberzeugungen bei.
Doch Einstellungen können sich verändern, und trotz schwerer Belastungen hat der Auswärtige Dienst der Bundesrepublik Deutschland im Laufe der Jahrzehnte seinen Platz im liberal-demokratischen Institutionengefüge der Bundesrepublik gefunden. Auch diese Entwicklung versucht das Buch nachzuzeichnen, nicht zuletzt mit Blick auf Veränderungen der Rekrutierungspraxis und der Diplomatenausbildung. Für die diplomatischen Eliten im Übergang vom Dritten Reich zur Nachkriegszeit gilt wohl, was bereits für andere Eliten und Personengruppen herausgearbeitet worden ist: Je erfolgreicher die Politik und hier vor allem die Außenpolitik der Bundesrepublik war, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass gerade die Angehörigen belasteter Eliten von einem anfänglichen Opportunismus voller Vorbehalte zu einer wirklichen Zustimmung gelangen konnten. Gewiss spielte in diesen Wandlungsprozessen auch der Kalte Krieg eine wichtige Rolle, der die Kontinuität antikommunistischer Überzeugungen erlaubte, ja geradezu einforderte, und zugleich den Hintergrund bildete für eine zunächst (außen-)politische, später auch ideelle Westorientierung.
Man mag bestreiten, dass es je ein Monopol des Auswärtigen Dienstes für auswärtige Beziehungen gegeben hat, und gerade der Nationalsozialismus hat, wie dieses Buch zeigt, den Alleinstellungs- und Dominanzanspruch des Auswärtigen Amtes bei der Vertretung der auswärtigen Politik gebrochen. In der Bundesrepublik trug der Verlust dieser Vorrangstellung in Verbindung mit dem Aufstieg neuer Kräfte und Institutionen auf diesem Gebiet einerseits dazu bei, dass sich der Auswärtige Dienst für seinen führenden Anspruch in der Pflege der internationalen Beziehungen eines demokratischen Staates mit einer pluralistischen Gesellschaft immer wieder aufs Neue rechtfertigen musste. So gelangten überkommene Überzeugungen auf den Prüfstand und begannen sich zu wandeln. Andererseits führten der - tatsächliche oder vermeintliche - Bedeutungsverlust des Auswärtigen Dienstes und die Angst vor einer Marginalisierung intern auch zu einem Festhalten am traditionellen Selbstverständnis. Zu diesem Selbstverständnis gehörte ein homogenes und positives Geschichtsbild eindeutig dazu.
Franz Krapf, Fritz Kolbe und Franz Nüßlein - ihre Biographien stehen in gewisser Weise exemplarisch für die Geschichte, die dieses Buch schreibt. In ihren Lebenswegen spiegelt sich die Geschichte einer Institution, die in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts tiefe Spuren hinterlassen hat. Das Buch will diese Spuren identifizieren, und es will sie lesen. Eine Erfolgsgeschichte schreibt es nicht. Es schreibt eine typische deutsche, eine paradigmatische Geschichte sowohl mit Blick auf den Nationalsozialismus als auch mit Blick auf die Nachwirkungen des Dritten Reiches und den Umgang mit der NS-Vergangenheit nach 1945.
Erster Teil
Die Vergangenheit des Amts
Das Auswärtige Amt und die Errichtung der Diktatur
Als sich am »Tag von Potsdam« der neue Reichskanzler Adolf Hitler vor der Garnisonkirche vor Reichspräsident Paul von Hindenburg verbeugte, traf in Washington ein Telegramm aus Berlin ein. An diesem 21. März 1933, genau 50 Tage nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, drahtete der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Bernhard von Bülow, an die Deutsche Botschaft in den USA: »Teil der ausländischen Presse veröffentlicht unsinnigste von angeblichen Flüchtlingen stammende Gerüchte aus Deutschland. Danach sollen u. a. Verhaftete in grausamer Weise misshandelt und insbesondere Ausländer vielfach täglich angegriffen werden. Es liegt auf der Hand, dass diese Gerüchte von den Feinden der nationalen Regierung in böswilliger Absicht verbreitet werden, um in Ermangelung anderer Mittel durch eine wohl organisierte Greuelpropaganda das Ansehen und die Autorität der nationalen Regierung zu untergraben. Mit allem Nachdruck muss festgestellt werden, dass alle solchen Gerüchte in das Reich der Fabel gehören. Im übrigen ist der Reichskanzler, wie er in seinen öffentlichen Erklärung betont hat, fest entschlossen, die bisherige Disziplin der nationalen Revolution mit aller Energie auch weiterhin aufrechtzuerhalten. Die Übergriffe Einzelner, die vorwiegend auf Provokateure zurückzuführen sind, sind für die Zukunft durch scharfe Kontrollmaßnahmen unterbunden. Bitte in jeder Weise verwerten.«1
Bülows Telegramm war ein beredtes Zeugnis für das Verhalten der deutschen Diplomaten in der Anfangsphase der nationalsozialistischen Machteroberung. Mit technokratischer Selbstverständlichkeit trugen sie der neuen Regierung ihre Dienste an und ließen keinerlei Skrupel erkennen, den unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 einsetzenden Terror gegenüber dem Ausland zu bagatellisieren und zu rechtfertigen. Bülows Anweisung war eine direkte Reaktion auf vor allem aus den USA eintreffende Nachrichten, wonach die jüngsten Entwicklungen in Deutschland international auf viel Kritik stießen.
Acht Tage zuvor hatte der deutsche Generalkonsul in Chicago an die Botschaft in Washington telegrafiert, dass die »Stimmung in der hiesigen Bevölkerung und der Presse … neuerdings unter dem Eindruck der aus Deutschland kommenden Pressemeldungen von Terrorakten gegen Angehörige jüdischen Glaubens immer unfreundlicher« werde. Das Generalkonsulat werde »täglich von Personen, insbesondere jüdischen Glaubens, mit Anfragen überlaufen, die für die Sicherheit ihrer Angehörigen in Deutschland besorgt sind«; es sei zu befürchten, »dass dem Ansehen Deutschlands durch die Vorgänge ein Schaden entsteht, der in Jahren nicht wieder gutzumachen ist«.
Vier Tage später berichtete der Generalkonsul aus New York, eine »akute deutschfeindliche Stimmung« beherrsche die »stark jüdischdurchsetzte Presse und Bevölkerung«. Da die Meldungen »über erfolgte Judenmisshandlungen« sowie über »Masseninternierungen politischer Gefangener in Konzentrationslagern« nicht abrissen, sehe sich das Konsulat »von Beschwerden und Empörungsäußerungen einflussreicher Persönlichkeiten und Organisationen, wie von besorgten Warnungen und Mahnungen aus deutschfreundlichen und deutschinteressierten Kreisen überschwemmt«.2
Aus allen deutschen Konsulaten in den USA trafen seit Mitte März 1933 beinahe täglich ähnlich lautende Meldungen in der Botschaft Washington ein, der Botschafter Friedrich von Prittwitz und Gaffron unterrichtete seinerseits fortlaufend das Auswärtige Amt in Berlin. Aufgrund seiner Berichte war die Zentrale genau darüber im Bilde, wie die amerikanische Öffentlichkeit, aber auch wie Politik und Wirtschaft in den USA auf die Nachrichten über die Gewaltaktionen in Deutschland reagierten. Aus den großen europäischen Hauptstädten berichteten die Botschafter Ähnliches. Leopold von Hoesch, der deutsche Botschafter in Großbritannien, rief aus London an, um mitzuteilen, dass sich immer mehr Personen an ihn wendeten, »um Auskunft über die Vorgänge in Deutschland« und »die Behandlung gewisser Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens« zu erhalten.3 Aus Paris telegrafierte Botschafter Roland Köster, bei ihm würden Erkundigungen über Personen eingeholt, »über deren Schicksal … alarmierende Gerüchte in Paris umliefen«. Jüdische Emigranten, die »nach Paris und Elsass-Lothringen ziehen«, würden »ihren dort ansässigen Glaubensgenossen die unglaublichsten Fabeln erzählen von der Terror- und Greuelwirtschaft in Berlin und Deutschland sowie insbesondere von antisemitischen Ausschreitungen«. 4
Schwerpunkt der Proteste aber blieben die USA. Außenminister Constantin von Neurath wandte sich daher über die Presse direkt an den Bostoner Kardinal William Henry O’Connell, der zu den Mitorganisatoren einer geplanten Protestkundgebung im Madison Square Garden zählte. »Die angeblichen Pogrome an deutschen Juden«, so Neurath, würden »jeder Grundlage entbehren. Die nationale Revolution in Deutschland, die die Ausrottung der kommunistischen Gefahr und die Säuberung des öffentlichen Lebens von marxistischen Elementen zum Ziele hat, hat sich mit vorbildlicher Ordnung vollzogen. Fälle ordnungswidrigen Verhaltens waren bemerkenswert selten und unbedeutend. Hunderttausende von Juden gehen in ganz Deutschland ihrer Beschäftigung wie bisher nach, Tausende von jüdischen Geschäften sind jeden Tag geöffnet, große jüdische Zeitungen … erscheinen täglich, die Synagogen und jüdischen Friedhöfe bleiben unbehelligt.«5 Der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press gab er ein Interview, in dem er die Gewalt als »Übergriffe Einzelner« bagatellisierte und die erpresserisch klingende Drohung aussprach, die jüdische Propaganda im Ausland erweise ihren Glaubensgenossen in Deutschland keinen Dienst, »wenn sie durch entstellte und falsche Nachrichten über Judenverfolgungen, Folter etc. der deutschen Öffentlichkeit den Eindruck« gebe, »dass sie tatsächlich vor keinem Mittel, selbst vor Lüge und Verleumdung«, zurückschrecke, um die neue deutsche Regierung zu bekämpfen. 6
In der Tat hatte die Auslandspresse auch Meldungen verbreitet, welche die schreckliche Realität noch überboten. Daraufhin veröffentlichte der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, mit mehr als 500 000 Mitgliedern die bedeutendste Organisation assimilierter Juden in Deutschland, am 24. März 1933 eine Erklärung, in der die »unverantwortlichen Entstellungen« in der ausländischen Berichterstattung »aufs schwerste« verurteilt wurden. Zwar sei es »zu politischen Racheakten und Ausschreitungen auch gegen Juden gekommen«, aber »vor allem der Befehl des Reichskanzlers, Einzelaktionen zu unterlassen, hat seine Wirkung getan«.7 Die Presseerklärung wurde vom Auswärtigen Amt eilends nach Washington übermittelt, wo sie Botschafter Prittwitz dazu diente, davor zu warnen, »jedem Verbreiter übertriebener und falscher Meldungen Glauben zu schenken«.8
Eine Absage der New Yorker Protestveranstaltung zu erreichen, gelang allerdings weder dem Auswärtigen Amt noch dem Central-Verein, dem das AA die Verantwortung für diese Aktion zuzuschieben suchte. Am 26. März 1933 versammelten sich 250 000 Menschen in New York und mehr als eine Million überall in den USA zu einer großen Demonstration gegen die Verfolgung und Diskriminierung der Juden in Deutschland. Das Auswärtige Amt hatte alle Hände voll damit zu tun, für Schadensbegrenzung zu sorgen. »Im Sinne einer objektiven Berichterstattung über die Vorgänge in Deutschland« habe man auf die Korrespondenten der ansässigen Zeitungen »einzuwirken« versucht. In Einzelfällen sei es sogar gelungen, mit Chefredakteuren persönlich zu sprechen und Informationen »zu lancieren«. Unter dem Strich, so Prittwitz, sei es der Botschaft und den Konsularbehörden, auch dank der Mithilfe jüdischer Organisationen in Deutschland, gelungen, die »Greuelpropaganda« merklich einzudämmen.9
Sich ein realistisches Bild von den Zuständen in Deutschland zu machen, war für Prittwitz kaum möglich. Angewiesen auf die amtliche Berichterstattung und Pressemeldungen aus Berlin, hielt er die Berichte der Auslandspresse für »gehässige Meldungen«. Dennoch schien ihm manches nicht völlig aus der Luft gegriffen. Das Auswärtige Amt, mahnte er in einem bemerkenswerten Telegramm, müsse dafür sorgen, dass Deutschlands Ruf als Ordnungsstaat gewahrt bleibe, denn die ausländischen »Hetzer werden sich keine Gelegenheit entgehen lassen, wirkliche Geschehnisse … aufzugreifen, zu entstellen, aufzubauschen«. Hitler müsse der antisemitischen Agitation Einhalt gebieten und das Ausland davon überzeugen, dass Recht und Gerechtigkeit immer noch oberstes Gesetz im Deutschen Reich seien.10
Als die Meldungen aus Deutschland nicht abrissen, erneuerte er seine Mahnung zur Mäßigung. Längst hätten in den USA die Protestaktionen gegen »die angeblichen Judenverfolgungen in Deutschland« den Charakter einer gefährlichen »Deutschhetze« angenommen und würden inzwischen sogar »von dem politisch und wirtschaftlich sehr einflussreichen amerikanischen Judentum unter Führung des American Jewish Congress« organisiert. Auch auf Präsident Roosevelt werde starker Druck ausgeübt. Anlass zur Sorge gebe vor allem die »Boykottbewegung gegen deutsche Waren und deutsche Schiffe«, die sich bereits bemerkbar mache.11
Die Berichterstattung von Prittwitz bewirkte in Berlin das Gegenteil dessen, was der Botschafter beabsichtigt hatte. Indem er explizit auf die amerikanischen Juden als Träger der Proteste verwies und andeutete, dass in den USA der Eindruck herrsche, die Regierung in Berlin sei nicht mehr Herr der Lage, lieferte er Hitler den entscheidenden Vorwand für einen »Gegenboykott«. In einer reichsweiten Aktion gegen jüdische Geschäfte sollten nicht nur die deutschen Juden für die Auslandsproteste gewissermaßen in Geiselhaft genommen, sondern auch die Gewalttätigkeit der SA auf ein definiertes Ziel gelenkt und damit dem Eindruck von Führungsschwäche entgegengewirkt werden. Die Berichterstattung der Deutschen Botschaft in Washington wurde damit indirekt zum Auslöser für den Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933.
Die Durchführung der Aktion übernahm ein »Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze« unter der Regie des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels. Obwohl die Maßnahmen als Vergeltung für jüdische Provokationen aus dem Ausland dargestellt wurden, zeigte der Boykott keineswegs die Wirkung, die sich Goebbels erhofft hatte. Das Ausland aber reagierte mit tiefer Empörung. Vier Tage nachdem in Deutschland die Fensterscheiben jüdischer Geschäfte zerschlagen, die Auslagen demoliert und Kunden am Betreten jüdischer Geschäfte gehindert worden waren, berichtete Prittwitz von einem erneuten »Aufleben der Protestbewegung«. Weil der Boykott auf einen Tag beschränkt gewesen und offenbar maßvoll durchgeführt worden sei, könne inzwischen allerdings ein »Abflauen der Erregung« festgestellt werden.12 In Paris seien »große Mengen deutschen Porzellans inzwischen zerschlagen«, meldete Köster, und es werde viel Aufklärungsarbeit nötig sein, um die Beunruhigung zu beseitigen. Hoesch mahnte, dass Deutschland in den letzten Wochen außerordentlich viel Terrain in England verloren habe.13
Was dem Propagandaminister als »ein großer moralischer Sieg« erschien, markierte - für jeden erkennbar - den Übergang zur staatlich legitimierten Ausgrenzung und Unterdrückung der Juden in Deutschland. 14 War der Antisemitismus das eigentlich Spezifische des neuen Regimes, so stieß er jedenfalls bei den Diplomaten auf keinen grundsätzlichen Widerspruch. Sie sorgten sich lediglich um den guten Ruf Deutschlands. »Die anti-jüdische Aktion zu begreifen, fällt dem Ausland besonders schwer, denn es hat diese Judenüberschwemmung eben nicht am eigenen Leibe verspürt«, notierte der aufstrebende Gesandte Ernst von Weizsäcker mit Blick auf den Boykott. »Das Faktum besteht, dass unsere Position in der Welt darunter gelitten hat und dass die Folgen sich schon zeigen und in politische und andere Münze umsetzen.« Weizsäcker gehörte zu jenen Beamten, die sich über die weitere Entwicklung Sorgen machten, weil sie fürchteten, das Ganze könne aus dem Ruder laufen, wenn die radikalen Kräfte innerhalb der NS-Bewegung jetzt Oberhand bekämen. Man müsse dem Regime deshalb »alle Hilfe und Erfahrung angedeihen lassen und mit dafür sorgen, dass die jetzt einsetzende zweite Etappe der neuen Revolution eine ernsthaft konstruktive wird«.15
Mit seiner Ansicht, »der Fachmann dürfe das Feld nicht einfach räumen«, sei er »in guter Gesellschaft gewesen«, schrieb Weizsäcker rückblickend. 16 Wie Weizsäcker führten die meisten Laufbahndiplomaten, die mehrheitlich bereits im Kaiserreich in den Auswärtigen Dienst eingetreten waren, ihre Arbeit bruchlos auch unter dem neuen Regime fort. Noch über jeden Regierungswechsel hinweg hatte das Amt seine Aufgaben erledigt, und in der 63-jährigen Geschichte hatte es einige gegeben. Zweifellos war die Regierung am 30. Januar 1933 auf verfassungsmäßigem Wege ernannt worden, aber von Anfang an hat sie den Terror legitimiert. Als der gewalttätige Charakter des Regimes immer deutlicher hervortrat, quittierten die Mitglieder der alten AA-Garde indes mitnichten den Dienst, und viele von ihnen gehörten auch im Krieg noch dem Auswärtigen Amt an. Es war die gleiche Elite, die unter dem Kaiser gedient und die Weimarer Republik - aus ihrer Sicht - überstanden hatte, die 1941 zum Träger der nationalsozialistischen Eroberungs-und Vernichtungspolitik werden sollte.

Traditionen und Strukturen

Reichsminister des Auswärtigen in dem am 30. Januar 1933 ernannten Kabinett der »nationalen Konzentration« wurde Constantin Freiherr von Neurath, der bereits seit Juni 1932 das Auswärtige Amt leitete, in das er 1901 eingetreten war. Im Vertrauen darauf, dass personelle Kontinuität außenpolitische Stetigkeit verbürge, hatte Hindenburg auf Neuraths Übernahme besonderen Wert gelegt. Auch sonst blieb im Amt alles beim Alten.
Seit seiner Gründung im Jahr 1871 bestand das Auswärtige Amt als Reichsbehörde. Hervorgegangen war es aus dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten des Königreichs Preußen, das 1870 zum Auswärtigen Amt des Norddeutschen Bundes und im Folgejahr zum Auswärtigen Amt des Deutschen Reiches umgewandelt worden war. Es war neben dem Kanzleramt das älteste Reichsamt und galt als »vornehmste« Behörde. In der Tat hatte das Auswärtige Amt eine homogene Sozialstruktur aufzuweisen, in keiner anderen Behörde wurde ein so exklusives und korporatives Selbstverständnis gepflegt. Der Korpsgeist der Wilhelmstraße, wie das Amt nach seiner Adresse im Zentrum Berlins direkt neben dem Reichskanzleramt genannt wurde, war geradezu sprichwörtlich, und entsprechend ausgeprägt war auch der Dünkel.
Die Vertreter des höheren Auswärtigen Dienstes, Botschafter, Gesandte und Ministerresidenten, genossen eine Reihe ungewöhnlicher Privilegien. Sie waren die persönlichen Abgesandten des Kaisers und beim Staatsoberhaupt des Landes, in dem sie Seine Majestät vertraten, persönlich akkreditiert. Sie genossen diplomatische Immunität, nahmen hoheitliche Aufgaben wahr und hatten Anspruch auf die gleichen Ehrenbezeigungen wie der Souverän. Ihr Status, als ständige Vertreter in einem fremden Land die Interessen des eigenen Staates wahrzunehmen und zugleich über die Entwicklung dort regelmäßig nach Hause zu berichten, war im Grunde so alt wie Staatengeschichte selbst und reichte bis in das 15. Jahrhundert zurück.
Vor diesem Hintergrund war die Diplomatie ein Betätigungsfeld, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dem Adel vorbehalten blieb. Vor allem für die Ernennung zum Botschafter, die höchste Klasse unter den Gesandten, die nur von den Großmächten entsandt und empfangen wurden, galt die Formel: Je feiner der Stammbaum, desto größer die Chancen. Da die prestigeträchtigen Botschafterposten im Regelfall nur beim Ausscheiden eines Diplomaten aus dem Dienst für Nachrückende frei wurden, umfasste der Kreis der Personen, die zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg als Botschafter tätig waren, weniger als 50 Diplomaten. Ausschließlich Adelige fanden zwischen 1871 und 1914 als Botschafter Verwendung; auf den europäischen Gesandtenposten dienten immerhin 93 Prozent, auf den außereuropäischen 71 Prozent Adlige als Missionschefs. Wie adelige Abstammung unerlässliche Voraussetzung war, um auf bestimmten Auslandsposten akzeptiert zu werden, so verliehen Adelige dem Berufsstand des Diplomaten das besondere Flair der Exklusivität.
Aber auch die Zusammensetzung des Auswärtigen Amts insgesamt blieb während des Kaiserreichs stärker vom Adel geprägt als die jedes anderen Reichsamtes. Während Adelige mit einem Anteil von etwa 0,15 Prozent an der Gesamtbevölkerung eine kleine Minderheit stellten, dominierten sie den Auswärtigen Dienst. Der Adel hatte sich hier eine nach außen wirkungsvoll abgeschirmte Bastion geschaffen, die seinen Niedergang im Zuge der Industrialisierung und Modernisierung aufhielt. Auch wenn im Amt die Normen und Kriterien des Adels wie ein anachronistisches Herrschaftssystem tradiert wurden, war adelige Abstammung allerdings kein formelles Zulassungskriterium, sondern gehörte lediglich zu den informellen »Kompetenzen«. Zu den informellen Rekrutierungs- und Beförderungskriterien zählte auch die Mitgliedschaft in einer der angesehenen Studentenverbindungen, möglichst einer schlagenden; zudem galt der Besitz des Reserveoffizierspatents als selbstverständliche Zugangsvoraussetzung.
Offiziell wurde von einem Bewerber für den höheren Dienst zunächst ein mit dem Referendarexamen abgeschlossenes Jurastudium verlangt. Je nach Laufbahn mussten Erfahrungen im Justiz- oder Verwaltungsdienst belegt sowie englische und französische Sprachkenntnisse nachgewiesen werden. Darüber hinaus musste der Militärdienst abgeleistet sein. Weil ein Anwärter während seiner Ausbildungszeit keine oder nur eine unzureichende Vergütung erhielt, hatte er zuletzt ein nicht unbeträchtliches Vermögen nachzuweisen, das eine »standesgemäße« Lebensführung während der Ausbildung und auch später sicherstellte. Nach Art selbstreferenzieller Systeme stellten diese Auslesemechanismen zusammen mit den informellen Kriterien jene soziale Homogenität und gesinnungsethische Loyalität sicher, die den höheren Dienst des Auswärtigen Amts vom Kaiserreich über den Untergang der Monarchie und das Ende des Weimarer Demokratieversuchs hinaus bis ins Dritte Reich kennzeichnete.
Im Januar 1933 war noch gut die Hälfte der Spitzendiplomaten adeliger Abstammung. Der älteste Angehörige des höheren Dienstes war zu diesem Zeitpunkt 70 Jahre alt, der jüngste 48, das Durchschnittsalter lag bei 56 Jahren. Die Gruppe der Spitzendiplomaten vom Gesandten I. Klasse aufwärts - Besoldungsgruppe B5, Generalmajor aufwärts - bestand zum Stichtag 30. Januar 1933 aus 40 Personen inklusive Minister. Drei Viertel von ihnen waren in das kaiserliche Auswärtige Amt eingetreten, nämlich 14 der 22 Gesandten I. Klasse, alle neun Botschafter sowie die gesamte Führungsebene in der Zentrale, zu der neben dem Minister und dem Staatsekretär die sechs Abteilungsleiter im Rang eines Ministerialdirektors gezählt werden (der Leiter der Wirtschaftsabteilung war nicht in das Auswärtige Amt, sondern in das Reichskolonialamt eingetreten).
Sowohl die leitenden Beamten in der Zentrale als auch die neun Botschafter waren während der Weimarer Republik in die Spitzenpositionen aufgestiegen, und maßgeblichen Anteil daran hatte Hindenburg, der seit seiner Wahl zum Reichspräsidenten im April 1925 zielgerichtet die Karrieren betont national gesinnter Diplomaten förderte. In extensiver Auslegung der ihm nach Artikel 46 der Reichsverfassung zukommenden Rechte hatte er sich nicht nur die Entscheidung über die Beförderung oder Versetzung eines Diplomaten vorbehalten, sondern auch das Vorschlagsrecht beansprucht. Die Folge war, dass sich antidemokratisches und revisionistisches Denken in der Wilhelmstraße unter besonders günstigen Bedingungen entfalten und verbreiten konnte.
Als Hindenburg von 1925 an die nationalkonservative Umstrukturierung des Auswärtigen Dienstes einleitete, hatte das Amt allerdings bereits selbst einige personalpolitische Weichen umgestellt. Mit Gründung der Republik war das Auswärtige Amt nicht nur zu einem Reichsministerium geworden, das ein dem Reichstag verantwortlicher Reichsminister leitete, sondern auch in einer großen Reform demokratisiert worden. Die grundlegenden Veränderungen des Jahres 1920, die nach Edmund Schüler, dem Leiter der Personal- und Verwaltungsabteilung, benannt wurden, hatten das bis dahin gültige Real- zugunsten des Regionalsystems beseitigt und die Geschäftsverteilung nach Sachgebieten zu einem nach Länderabteilungen gegliederten System umorganisiert. Nur die Sachabteilungen für Personal und Verwaltung, Außenhandel und Recht waren erhalten geblieben; neue Referate, etwa das für innere Angelegenheiten zuständige Deutschlandreferat oder das Sonderreferat Völkerbund, waren hinzugekommen. Die vormals bestehenden, strikt getrennten Laufbahnen - entweder in der prestigeträchtigen Abteilung I für politische Angelegenheiten oder in der für Handels-, Rechts- und Konsularsachen zuständigen Abteilung II - waren zu einer diplomatisch-konsularischen Laufbahn im höheren Auswärtigen Dienst zusammengelegt und vereinheitlicht worden. Es wurden Quereinsteiger einberufen, außerdem verbreiterte man die Rekrutierungsbasis für den Nachwuchs, indem Attachés fortan zu besolden waren.
Strukturell änderte sich mit der Schüler’schen Reform allerdings sehr viel weniger, als es den Anschein hatte. In einer hoch industrialisierten, arbeitsteilig organisierten Gesellschaft bedurfte es der Kontinuität einer spezialisierten und effizienten Funktionselite, um den Übergang von der Monarchie zur Republik ohne größere Reibungsverluste zu gewährleisten. Zwar wurden Spitzenposten in der Berliner Zentrale sowie auf den Auslandsmissionen mit Mitarbeitern besetzt, die gegenüber der neuen Republik Loyalität an den Tag legten und bei denen es sich meist um sogenannte Quereinsteiger handelte. Das hohe Maß an personeller Kontinuität wurde damit aber nur überdeckt, der eigentliche Apparat blieb »völlig intakt«. Auch wenn man »ab und zu, um der republikanischen Form in der Heimat Rechnung zu tragen, an die Spitze der Mission einen bürgerlichen Funktionär gestellt« habe, sei nach wie vor »eine exklusive Garde … beinahe unverändert an der Macht«, urteilte die republiknahe Presse kritisch.17
Der Kern des alten Beamtenkörpers, mit dem zugleich ein konservativ-reaktionärer Geist erhalten wurde, der dem Obrigkeitsstaat nachtrauerte, wurde zu Beginn der zwanziger Jahre kontinuierlich ausgebaut. Bereits 1921 war Neurath, zu diesem Zeitpunkt deutscher Gesandter in Kopenhagen, mit der Reorganisation der Schüler’schen Reform beauftragt worden. Seine Aufgabe hatte er dahingehend interpretiert, »das Auswärtiges Amt von unliebsamen Neulingen ohne geeignete Vorbildung, darunter diverse Juden, zu reinigen«.18 Es war dieser traditionelle Antisemitismus der konservativen Eliten, der sie, neben der gemeinsamen Frontstellung gegen Republik, Demokratie, Parteienstaat und Parlamentarismus und der von Hitler in Aussicht gestellten Revision des Versailler Vertrages, im Januar 1933 so anfällig machte. Dabei verschwammen zunehmend die Grenzen zwischen dem spezifischen Oberklassen-Antisemitismus des Kaiserreichs, der sich gegen die vermeintliche Überrepräsentation von Juden in Schlüsselbereichen des öffentlichen Lebens richtete, und dem Rassismus auf völkischer Grundlage.
Trotz formaler Gleichstellung waren die Juden im Kaiserreich vom Auswärtigen Dienst weitgehend ausgeschlossen gewesen. Die wenigen Juden im Amt, deren Aufnahme sich zumeist unmittelbarer Protektion verdankte und die vornehmlich auf nachgeordneten Posten unterkamen, bestätigten die Regel, dass im politischen Klima des wilhelminischen Deutschland Juden nur in Ausnahmefällen reüssierten. Weil unter allen Konfessionen die Juden den höchsten Anteil an Hochschulabsolventen aufwiesen, hätten sie theoretisch in viel höherem Maße Zugang zu öffentlichen Ämtern haben müssen. In den Bewerberakten des Auswärtigen Amtes fand die Diskriminierung zwar keinen Niederschlag, aber die Denkmuster waren allgemein internalisiert. Noch auf der Nürnberger Anklagebank behauptete Neurath, »niemals Antisemit gewesen« zu sein. Eine Zurückdrängung des übermäßigen Einflusses der Juden auf allen Gebieten des öffentlichen und kulturellen Lebens habe er aber durchaus »als erwünscht« betrachtet.19

»Unvereinbar mit einer gesunden Außenpolitik«

An der Spitze des Auswärtigen Amts stand mit Constantin Freiherr von Neurath ein Karrierediplomat, der sich das Vertrauen und die Fürsprache Hindenburgs erworben hatte. Ein ausgeprägter Antiintellektualismus und eine politische Haltung, die vom Primat des Militärischen bestimmt war, bildeten die Schnittmenge zwischen beiden Männern. Eine freundschaftliche Sympathie gründete darüber hinaus in der gemeinsamen Leidenschaft für die Jagd. Von 1922 bis 1930 war Neurath als Botschafter in Rom tätig gewesen, im Juni des gleichen Jahres hatte er auf Hindenburgs Wunsch den Posten in London übernommen, den wichtigsten Botschafterposten des Auswärtigen Amts. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre dank Hindenburgs Protektion zum Primus inter pares unter den Spitzendiplomaten aufgestiegen, galt Neurath bereits 1929 als Wunschkandidat des Reichspräsidenten für die Nachfolge Stresemanns im Ministeramt, war zu diesem Zeitpunkt politisch aber noch nicht durchsetzbar. Im Juni 1932 musste Hindenburg ihn dann regelrecht zum Eintritt in das Kabinett Papen überreden; Neurath tauschte den sicheren Londoner Posten nur ungern gegen ein Ministeramt in einer Regierung, der er keine lange Lebensdauer zutraute. Ein gutes halbes Jahr später hieß der neue Reichskanzler Adolf Hitler.
Mit Neurath war ein Mann an die Spitze des Auswärtigen Amts getreten, der nach seiner ganzen Biographie die Gewähr dafür bot, dass die forcierte Pressionspolitik des Präsidialkabinetts Brüning fortgesetzt wurde. Als Botschafter am Quirinal hatte er aus nächster Nähe mitverfolgen können, wie Mussolini das krisengeschüttelte Italien in die »Stabilität« einer Diktatur überführte. Seither galt ihm das faschistische Italien als Vorbild für das Reich. Eines Tages müsse »doch auch bei uns ein Mussolini kommen«, hatte er sich 1923, im ersten Krisenjahr der Weimarer Republik, gewünscht, und zehn Jahre später war er bereit, alles dafür zu tun, um aus Hitler einen zweiten Mussolini zu machen.20 Neurath, der im Nationalsozialismus nur die deutsche Variante des Faschismus sah, vertraute wie andere im Kabinett der »nationalen Konzentration« auf die Tragfähigkeit des »Einrahmungskonzeptes« und erhoffte sich von der Einigung der nationalen Rechten einen Staatsumbau, der den Weg zu einer autoritären, vom Parlament weitgehend unabhängigen, militärgestützten Revisionspolitik ebnen sollte. Deshalb setzte er sich dafür ein, die neue Regierung zu stabilisieren und international zu etablieren.
Diese Einstellung teilten viele unter den Spitzendiplomaten, besonders prononciert Ulrich von Hassell, Neuraths Nachfolger als Botschafter in Rom. Bereits seinen Eintritt in den Auswärtigen Dienst im April 1909 hatte er vor allem der Patronage seines Corpsbruders Neurath zu verdanken. Im September 1914 schwer verwundet, hatte er eine Zeit lang seinem Schwiegervater, Großadmiral Tirpitz, als Privatsekretär gedient. Im Auswärtigen Amt zählte er zu den beredtesten Befürwortern einer Wirtschafts- und Handelspolitik, deren erklärtes Ziel eine deutsche Hegemonie in Südosteuropa war. Deutschlands Wiederaufstieg zu einer Großmacht mit Weltgeltung sollte durch eine Annäherung an das faschistische Italien flankiert werden. Beide Länder müssten schon deshalb zusammenarbeiten, weil sie ihre territorialen Ziele nur durchsetzen könnten, wenn sie gemeinsam gegen Frankreich vorgingen, das wie kein anderes Land an der Aufrechterhaltung des Status quo festhalte. Wie Neurath knüpfte Hassell an die Machtübernahme der Nationalsozialisten die Hoffnung auf »Stabilität nicht nur für unsere Innen-, sondern auch für unsere Außenpolitik«. Von starkem Ehrgeiz getrieben, wollte er unter der neuen Regierung eine führende Rolle spielen, oder, wie er an seine Frau schrieb, »aktiver Kämpfer sein, d.h. mitbestimmen«. 1944 endete diese Karriere vor dem Volksgerichtshof, wo Hassell wegen seiner Beteiligung am Attentat vom 20. Juli anklagt war; den sicheren Tod vor Augen, erklärte er, er sei »nicht mit dem Weimarer System einverstanden gewesen und habe deshalb auch 1933 den Nationalsozialismus begrüßt«.21
Den Gegenpol zu Neurath und Hassell bildete Friedrich von Prittwitz und Gaffron. Er war der einzige Spitzendiplomat, der im Frühjahr 1933 den Dienst quittierte. Bevor er den Botschafterposten in Washington angetreten hatte, war er sechs Jahre als Botschaftsrat in Rom der Stellvertreter Neuraths gewesen. Schon in dieser Zeit war die unterschiedliche politische Einstellung der beiden immer wieder hervorgetreten. Während Prittwitz die »konsequente Einhaltung der Verständigungslinie« beschwor, setzte Neurath auf Konfrontation.22 Es war von hoher Symbolkraft, dass Prittwitz sein Demissionsgesuch im März 1933 ausgerechnet an Neurath richtete. Er habe nie einen Hehl aus seiner politischen Einstellung gemacht, die in einer freiheitlichen Staatsauffassung und republikanischen Grundsätzen wurzele, schrieb Prittwitz; da diese Prinzipien nach Ansicht führender Mitglieder der neuen Reichsregierung aber zu verurteilen seien, könne er »sowohl aus Gründen des persönlichen Anstandes wie solchen der sachlichen Aufgaben« nicht weiter seinen Dienst ausüben, ohne sich »selbst zu verleugnen«. Er habe, so trug Prittwitz später noch nach, auf die Amerikaner einzuwirken versucht, nicht »allen Sensationsmeldungen aus Europa Glauben zu schenken« - der Loyalitätskonflikt, den verantwortungsbewusste Diplomaten in diesen ersten Monaten der Regierung Hitler auszuhalten hatten, lässt sich an diesem Dokument eindrucksvoll ablesen.23
Der entschlossene Schritt des erst 49-jährigen Prittwitz, dessen steile Karriere damit vom einen auf den anderen Tag beendet war, fand gegen seine Erwartung keine Nachahmer. Charakteristisch für die vorherrschende Haltung innerhalb der Spitzendiplomatie war das Beispiel Bernhard von Bülows, des seit 1930 amtierenden Staatssekretärs. Bülow, ein Neffe des ehemaligen Reichskanzlers und Patensohn Wilhelms II., stand dem Nationalsozialismus unverkennbar ablehnend gegenüber. Kurioserweise waren es gerade die in der Endphase der Weimarer Republik erzielten Revisionserfolge, die ihn gegen den Nationalsozialismus Stellung beziehen ließen, weil er die Fortschritte durch die Politik Hitlers gefährdet sah. Andererseits war er der Überzeugung, dass das Auswärtige Amt »selbst eine Nazi-Regierung ohne sehr wesentlichen direkten Schaden für die Außenpolitik durchhalten« werde, wie er ein Jahr vor der nationalsozialistischen Machtübernahme an seinen Duzfreund Prittwitz schrieb.24 In dieser Formulierung deutete sich an, was Bülows Haltung nach dem 30. Januar auszeichnete: die Gewissheit, dass es sich um eine Übergangsperiode handeln und Hitler im Amt scheitern werde. Durch das fehlgeschlagene »Experiment«25 würden die Nationalsozialisten ihre Bedeutung als zentraler politischer Faktor verlieren und die Kräfteverhältnisse neu verteilt werden; dann ließe sich ein gesellschaftlicher Rückhalt für einen Staatsumbau nach konservativ-autoritärem Ideal organisieren. Wunsch und Wirklichkeit hätten kaum deutlicher auseinanderfallen können. Dafür, dass er trotz unüberwindbarer Vorbehalte gegen den Nationalsozialismus im Amt verblieb, lieferte Bülow kurz vor seinem Tod 1936 eine Begründung, die von der Mehrheit der Diplomaten mit Sicherheit geteilt worden wäre und die nach dem Krieg dann auch in mehr oder weniger allen Rechtfertigungsversuchen auftauchte: »Man lässt sein Land nicht im Stich, weil es eine schlechte Regierung hat.«26
Die Herrschaftsstruktur des NS-Regimes ließ eine derartige Unterscheidung zwischen Staat und Regierung allerdings gar nicht zu. Bülow, nach Einschätzung des französischen Botschafters in Berlin von einem »fast religiösen Vaterlandsgefühl« durchdrungen, muss sich dieses Dilemmas sehr wohl bewusst gewesen sein.27 Jedenfalls entwarf er im Mai 1933 handschriftlich ein Rücktrittsgesuch, das er jedoch nicht einreichte. Der Entwurf lässt darauf schließen, dass Bülow eine Reihe von Spitzendiplomaten zur Abgabe gleichlautender Demissionen bewegen wollte, um auf diese Weise verlorenen Einfluss zurückzugewinnen. In einer - später wieder gestrichenen - Passage hieß es, er, Bülow, gebe sein Entlassungsgesuch zugleich im Namen der Botschafter in Paris, London und Moskau ab.28
Mit Roland Köster in Paris, Leopold von Hoesch in London und Herbert von Dirksen in Moskau wollte Bülow die Botschafter der wichtigsten Missionen zum kollektiven Rücktritt bewegen. Die drei verkörperten die Spitzendiplomatie der Weimarer Republik. Nahezu gleich alt und untereinander freundschaftlich verbunden, waren sie noch in den Auswärtigen Dienst des Kaiserreiches eingetreten und nach 1918/19 in höchste Positionen aufgestiegen. Sie entstammten privilegierten und vermögenden Familien, waren evangelischer Konfession, promovierte Juristen, Einjährig-Freiwilligeninhaber und Inhaber des Reserveoffizierspatents. Der pöbelhaften Massenbewegung des Nationalsozialismus standen sie kritisch distanziert gegenüber. Aber anders als der entschlossene Prittwitz, der zögernde Bülow oder der hyperaktive Hassell, mit denen sie nicht nur viele politische Überzeugungen teilten, sondern auch die Grundauffassung der Diplomaten, die politische Entwicklung beeinflussen zu können, waren sie keineswegs bereit, dem Rad der Geschichte in die Speichen zu greifen.
Offenbar war Köster am ehesten entschlossen, gemeinsam mit Bülow Konsequenzen aus der Entwicklung nach dem 30. Januar zu ziehen. Zu dem Zeitpunkt, an dem Bülow sein Rücktrittsgesuch aufsetzte, reiste er zwei Mal mit Wissen, vielleicht auch im Auftrag des Staatssekretärs zu Gesprächen mit Hoesch nach London. Was auch immer besprochen wurde, für eine kollektive Rücktrittsdrohung fehlte letztlich die Grundlage. Im Ergebnis blieben alle vier im Dienst des Regimes, das sie ablehnten, und halfen mit, eine Brücke zu schlagen von der nationalistischen Großmachtpolitik, die sie mit Überzeugung vertraten, zu der rassistischweltanschaulich fundierten Außenpolitik des Dritten Reichs. Die nach 1933 zunehmende Isolierung des Reiches schien ihren Handlungsspielraum zwar einzuschränken, bot ihnen andererseits aber eine willkommene Begründung für das Verbleiben im Amt. Ihre Ablehnung der Weimarer Demokratie machte sie empfänglich für die Versprechungen eines autoritären Machtstaats, der die Politik gegen Versailles zunehmend forcierte. Die mit Hitlers Machtübernahme verbundenen Gewaltexzesse hielten sie »für Revolutionserscheinungen«, die sich mit der Zeit »allmählich abschleifen« würden.29 Die Neugestaltung Deutschlands habe »Erscheinungen und Vorgänge gezeitigt, die mit der Würde und Sicherheit des Reiches und mit der Fortführung einer gesunden Außenpolitik unvereinbar sind«, hieß es in Bülows Entwurf seines Rücktrittsgesuchs.30
Bereits Mitte März hatte Köster vor dem Anstieg der »Fieberkurve« in Paris gewarnt: Der »Gedanke einer gewaltsamen rechtzeitigen Verhinderung der vermeintlich drohenden Gefahr« gewinne in Frankreich zunehmend an Bedeutung.31 Nahezu zeitgleich telegrafierte Dirksen aus Moskau, es sei »eine sehr ernste Lage« entstanden und er müsse vor der »Gefahr eines tiefgreifenden, dauernden, auf alle Teile der Beziehungen sich ausdehnenden Konflikts« warnen. »Die neuen Zwischenfälle der letzten Tage« hätten »den Becher zum Überlaufen gebracht«.32 Moskau war über die brutale Verfolgung deutscher Kommunisten und die gesteigerte antibolschewistische Propaganda ebenso irritiert wie über die sich häufenden Übergriffe auf Sowjetbürger, Haussuchungen in sowjetischen Handelsinstitutionen oder die Boykott- und Requirierungsmaßnahmen bei der Benzingesellschaft Derop, dem wichtigsten sowjetischen Unternehmen in Deutschland.
Noch bedrohlicher klangen die Signale aus Polen, das wegen der Territorialregelungen des Versailler Vertrages zum Hauptziel des deutschen Revisionismus geworden war und mit demonstrativen Gesten auf die Ereignisse im Nachbarland reagierte. Bereits im Sommer 1932 hatte Polen einen Zerstörer in den Hafen der Freien Stadt Danzig einlaufen lassen und damit auf Papens Vorstoß zu einer Lösung der Frage des Korridors reagiert, der Ostpreußen vom Reich trennte. In Berlin rechnete man damit, dass Polen deutsche Gebiete als Faustpfand besetzen könnte; die Äußerung des polnischen Gesandten bei einem Besuch im Auswärtigen Amt am 17. Februar, er sehe beide Länder »am Vorabend eines Krieges«, bot Anlass zu erheblicher Sorge.33
Angesichts dieser durchaus krisenhaften Zuspitzung waren die Diplomaten bemüht, jede weitere Eskalation abzuwenden. Oberste Priorität hatte die Verhinderung eines militärischen Konflikts, der nur mit einer Niederlage und Besetzung Deutschlands enden konnte. Allein die Tatsache, dass angesehene Diplomaten wie Bülow, Dirksen oder Hoesch auf ihrem Posten verblieben, wirkte im Ausland beruhigend, schienen sie doch die Kontinuität und Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik zu verbürgen. Doch mehr noch: Wo immer die deutschen Diplomaten in diesen Wochen mit Auslandsvertretern zusammenkamen, ob in Berlin oder in den Repräsentanten draußen, stets vertraten sie mit Routine und Geschick eine Politik der Deeskalation. Während etwa Neurath dem sowjetischen Botschafter in Berlin ein ums andere Mal versicherte, eine
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