Das Amulett aus der Tiefe - Jessy Summer - E-Book
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Das Amulett aus der Tiefe E-Book

Jessy Summer

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Beschreibung

Wenn alle Träume geträumt sind, bleiben nur noch die Albträume. Caspars Leben könnte nicht besser sein! Seine Probleme lösen sich von alleine und nach einem ausgedehnten Urlaub in der Werft seiner Eltern kehrt er nach Entwerdar zurück. Als schließlich Kapitän von Werften persönlich bei ihm erscheint und ihn bittet, offizielles Mitglied der Crew zu werden, scheint sich Caspars Leben endlich zum Guten zu wenden. Doch am alles entscheidenden Tag brauen sich dunkle Wolken am Himmel zusammen, und das Seemonster, das ihm erscheint, ist nur ein Vorbote von dem neuen Leben, das er unwissentlich betreten hat. Plötzlich macht das Geschrei, das all seine Gedanken lahmlegt, Sinn und seine schlimmsten Albträume scheinen mit jedem Tag realer zu werden. Folge der Crew in ihr zweites Abenteuer voller Freundschaft, Magie und Rätsel! Bücher der Trunker Crew - Reihe: Band 1: Das Buch aus der Tiefe Band 2: Das Amulett aus der Tiefe

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Inhaltshinweis

Dieses Buch enthält folgende Themen:

Genretypische Gewaltszenen, wie unter anderem Schwert- und Faustkämpfe, Erwähnung von Body Dismorphia & schweren Albträumen, sowie die Nutzung von Alkohol

Eine Karte der Delfbucht und ihrer Inseln findest du am Ende des Buches.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Balter & Sohn Werft

Kapitel 2: Zurück auf Entwerdar

Kapitel 3: Jyrgens Segen

Kapitel 4: Aufbruchsstimmung

Kapitel 5: Traue niemanden!

Kapitel 6: In den Hinterhöfen

Kapitel 7: Schiffswrack voraus!

Kapitel 8: Am Strand von Ahrtaringen

Kapitel 9: Die Trunker Crew

Kapitel 10: Vogelgesang und Flirtversuch

Kapitel 11: Das magische Herz

Kapitel 12: Magie und ihre Folgen

Kapitel 13: Gebrochene Herzen heilen nicht

Kapitel 14: Das fehlende Stück

Kapitel 15: magischer Bund

Danksagung

Über die Autorin

Kapitel 1Balter & Sohn Werft

Seine Lungen brennen und der Atem stockt ihm im Hals, während er sich seinen Weg durch die Feldwege bahnt. Er hat fluchtartig das Gasthaus in Fässtett verlassen. Wie um alles in der Welt hat man ihn gefunden? Während sich seine Gedanken um diese eine Frage drehen, übersieht er ein Schlagloch, knickt um und rollt durch die Büsche, bis er schlussendlich auf einer Wiese zum Liegen kommt. Das hier ist schlimmer als jeder Seegang, den er jemals erlebt hat. Sein Blick fällt auf die Flasche in seiner Hand und er stellt bedauernd fest, dass ihn die Flucht um sein Bier gebracht hat. Er dreht die Flasche um, schüttelt sie, doch nur die armseligen Überreste des Biers tropfen heraus. Caspar grummelt verärgert. Scheiß Kopfgeldjäger! Wie würde er je wieder ein normales Leben führen können, wenn diese Leute überall auf ihn lauern? Das letzte Mal ist er gerade so durch ein Fenster des Gasthauses entwischt.

Seufzend wirft er die Bierflasche neben sich und setzt sich auf. Die Felder sind in weite Ferne gerückt und werden von der dunklen Nacht verschlungen. Ein lautes Rauschen erreicht ihn und nur wenige Meter von ihm entfernt tut sich ein Abgrund auf. Mit zittrigen Beinen steht er auf und geht der Klippe entgegen. Steine rieseln hinab, als er über den Rand späht und sein Magen zieht sich zusammen, als er auf das Meer blickt. Kein Gold der Welt würde ihn in das trübe, dunkle Wasser bekommen. Das Rauschen wird zu einem Kreischen, einem, das er lieber vergessen würde, und er fühlt den festen Griff der Sirene wieder um seine Wade, die versucht, ihn in den Teich im Keller der Götterbibliothek zu ziehen.

Voller Angst zieht er die Luft ein und weicht zurück. Ein Blick über seine Schulter verrät ihm, dass er alleine ist. Wenn er so darüber nachdenkt, sollte er vielleicht doch wieder zurück nach Fässtett gehen und den Faustkampf mit den Kopfgeldjägern fortführen. Er ist sich nicht sicher, wer sie geschickt hat. Mittlerweile trachten so viele verschiedene Leute nach seinem Leben, dass Caspar den Überblick verloren hat. Als er mit Joel darüber gesprochen hat, hat dieser nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass man sich irgendwann an diese Lebensweise gewöhnen würde. Aber er hat leicht reden. Immerhin ist er im Gegensatz zu Caspar mit der ganzen Piratengeschichte aufgewachsen, während er vollkommen unvorbereitet hineingeworfen wurde.

Er fährt sich mit der Hand durch sein wirres, rotbraunes Haar. Aber vermutlich hat Joel recht. Und wenn Caspar ehrlich ist, genießt er sogar die Freiheit, die mit dem Piratendasein einhergeht. Die Kehrseite jedoch ist, dass es ihm unfassbar schwerfällt, einen Fuß auf Derestahren zu setzen, wie diese Nacht wieder einmal bewiesen hat.

Er trottet zurück und sammelt die leere Flasche auf, um möglichst keine Spuren zu hinterlassen. Anderenfalls könnten die Kopfgeldjäger seinen Rückweg zur Werft erahnen. Und das will Caspar um jeden Preis vermeiden. Die Werft ist sein einziger Rückzugsort auf Derestahren.

Die Nacht hat die Werft noch fest im Griff, als Caspar durch den großen Torbogen auf den gepflasterten Platz tritt. Ohne die Werftarbeiter, die umher hasten oder Masten zurechtsägen, wirkt er verwaist. Während er sich seinen Weg über das Grundstück bahnt, wirft er einen kontrollierenden Blick auf das lange Lagerhaus, um sicherzugehen, dass die Rolltore ordentlich verschlossen sind. Auf den Hellingen an der Küste sammeln sich die unfertigen Schiffe, die zurzeit bearbeitet werden. Das Letzte in der Reihe steht kurz vor der Fertigstellung. Hätte er nichts getrunken, hätte Caspar den genauen Auftrag sofort wiedergeben können. Doch im Moment kann er keinen klaren Gedanken fassen und will nur noch ins Bett.

Er bemüht sich, keinen Laut zu machen, während er sich in das zweite Haus auf dem Gelände schleicht. Caspar stellt die leere Flasche auf dem nächstbesten Schrank ab, bevor er sich die Treppen bis zu seinem Zimmer unter der Dachschräge empor kämpft und schlussendlich entkräftet ins Bett fällt.

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fallen in einem perfekten Winkel durch das Dachfenster und erhellen seinen von Notizen übersäten Schreibtisch, statt ihm direkt in das Gesicht zu leuchten. Der Versuch, wieder einzuschlafen, scheitert, als die Zimmertür aufgeht und seine Mutter in den Raum späht. Die feinen grauen Haarsträhnen in ihrem sonst rotbraunen Haar glänzen wie die Seide auf den Wagen der reichen Händler.

Caspar blinzelt den Schlafsand weg und setzt sich auf.

»Morgen«, murmelt er.

Margarete lächelt, schiebt die Tür ganz auf und wirft sich das Geschirrtuch über die Schulter. »Du hast nicht zufällig jemanden gestern Nacht auf dem Hof gesehen?«

Die Müdigkeit lichtet sich und Panik macht sich in ihm breit.

»Wieso? Was ist passiert?« Vielleicht ist ihm der Kopfgeldjäger gefolgt und er hat es nicht bemerkt? Das Letzte, woran er glaubt, sich zu erinnern, ist die Sichtung einer Sirene, kurz nach Fässtett. Caspar schüttelt den Kopf und wischt so den Gedanken an dieses Wesen weg. Nicht am frühen Morgen.

»Dein Vater meinte, das Lager wäre nicht abgeschlossen gewesen. Es ist ja nicht unüblich, dass du dir die Pläne mitten in der Nacht noch einmal ansiehst.« Sie deutet auf den Schreibtisch und sammelt ein paar Blätter vom Boden auf.

Er überlegt für einen Moment. Hat er etwa das Tor aufgeschlossen, statt es zu kontrollieren?

»Fehlt etwas?«

Margarete schüttelt den Kopf. »Bis jetzt scheint alles da zu sein. Am besten sprichst du mit ihm selber darüber.« Sie nickt in Richtung des dunklen Flurs und Caspar schwingt sich aus dem Bett.

In dem Kessel über der Feuerstelle köchelt ein süßlich riechender Früchtetee und auf dem Schrank steht eine eiserne Backform mit Brot. Es muss gerade frisch gebacken worden sein, denn der einzigartige Duft von frischem Gebäck hängt noch im Raum. Auf dem rechteckigen Tisch gegenüber der Treppe ist ein großer Plan ausgebreitet. Drumherum stehen zwei Bänke. Früher hatten sie zusätzlich noch Stühle, aber die sind alle nach und nach zerbrochen und als Feuerholz verarbeitet worden. Sie bekommen nur selten Besuch und die Geschäftspartner empfangen Caspar und Theobald ohnehin in der Werkstatt, dem dritten und letzten Gebäude auf dem Gelände der Werft.

Margarete stürzt das Brot und stellt es zusammen mit einem Krug frischen Tee direkt vor Caspars Nase, der gegenüber von seinem Vater Platz nimmt.

»Mutter sagt, das Lager wäre nicht abgeschlossen gewesen?«

Theobald nickt stumm, reibt sich über die Bartstoppeln und studiert den Plan vor sich. »Das ist richtig. Du kannst dich aber beruhigen, ich habe persönlich alles nachgezählt.«

Er seufzt erleichtert und legt die Hände um seinen Becher. Wenigstens eine gute Neuigkeit.

»Aber habt ihr gehört? In Goltahnder hat man schon wieder mehrere Häuser von ehemaligen Nachtjacken durchsucht.«

Caspar verdreht genervt die Augen. Und da hören die guten Neuigkeiten auch schon auf. Niemand auf Derestahren hat sich Avinos plötzliches Verschwinden erklären können und so hat die Gilde sich selbst zerrissen. Immer mehr Händler, Krieger und Boten haben die Gilde verlassen, trotz Ingmars Versprechen, für das Fortbestehen des Zusammenschlusses zu kämpfen. Schlussendlich hat ihn aber einer der reichsten Händler im Tausch gegen die eigene Freiheit verraten und so der Gilde den letzten Rückhalt genommen, den sie noch hatte. Nach diesem Verrat soll es keine zwei Monate gedauert haben, bis alle Gildenmitglieder sich gegenseitig beschuldigt und für vollendetes Chaos gesorgt haben. Caspar kennt keine genaueren Fakten. Er hat sich über den Herbst und Teile des Winters auf Entwerdar versteckt gehalten und nur durch Hörensagen davon erfahren. Wer hätte gedacht, dass ihm einmal Küstenklatsch so hilfreich sein würde?

»Nicht nur, dass Häuser durchsucht werden, man hat auch Rat Lysander angeklagt«, sagt Margarete, während sie Gemüse für das Mittagessen schneidet. »In der Stadt sagt man, der Rat würde sich für jeden Hinweis dankbar zeigen.«

Sein Vater sieht ihn mit einem besorgten Blick an. »Du bist sicher, dass du nicht weißt, was da vor sich geht?«

»Ich war mir nie sicherer, mit etwas in meinem Leben.« Caspar dreht den Tee in seiner Hand. »Alles Wertvolle und Verwertbare über Avinos Verschwinden ist auf Entwerdar. Bevor die Gilde die Insel angreift, lernen Schweine fliegen. Außerdem, selbst wenn ich dem Rat irgendetwas mitzuteilen hätte, nochmals, was ich nicht habe, dann würde ich das mit Sicherheit nicht jetzt tun.« Er bereut seine Aussage sogleich, als er den fragenden Blick seiner Eltern sieht. Als er im frühen Winter das erste Mal wieder Fuß in die Werft gesetzt hat, hat er schwören müssen, dass er sie in Zukunft in wichtige Ereignisse einweihen würde.

»Als ich letzte Nacht ausgegangen bin, habe ich die Bekanntschaft mit einem Kopfgeldjäger machen müssen.«

»Weißt du, wer ihn auf dich angesetzt haben könnte?« Margarete legt das Geschirrtuch beiseite und kommt zum Tisch rüber. Caspar schüttelt langsam den Kopf.

»Nein. Da gibt es zu viele Möglichkeiten. Selbst Oscar schließe ich nicht aus.«

»Du hattest nichts über ihn in deinem Brief erwähnt. Ist etwas zwischen euch vorgefallen?«

Er lacht leicht. »Man könnte sagen, ich habe ihm seine Arbeitsstelle gestohlen.«

Was auch immer Oscar geglaubt hat, was das Leben als Dierisenes Diener für in bereithält, hätte ferner der Realität nicht sein können. Caspar vermutet, dass er noch nie in seinem Leben einer Sirene begegnet ist. Graue Augen, in denen ein Nebelschleier tanzt, erscheinen vor seinem inneren Auge und sein Atem beschleunigt sich. Die Dunkelheit scheint sich im Raum auszubreiten und die Feuerstelle rückt in weite Ferne. Er hält sich an der Tischkante fest, um überhaupt einen Anhaltspunkt zu haben.

»Caspar, Schatz, alles in Ordnung?« Margaretes Stimme bringt ihn in die Realität zurück. Es ist, als versuche Dierisene ständig Kontakt mit ihm aufzunehmen. Hat er nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht, dass er sich besonders ihr nicht unterwerfen würde?

»Alles in Ordnung«, antwortet er schwach.

»Wenn dir das ganze Thema zu viel wird, musst du das sagen«, sagt sie und setzt sich neben ihn auf die Bank. »Es muss alles furchtbar anstrengend für dich sein.« Vorsichtig zieht sie ihn in eine Umarmung.

Anstrengend, ja. Das trifft es ganz gut. Nachdem die Crew von Derestahren zurückgekehrt ist, hat er tagelang durchgeschlafen. Dem Rest der Crew ist es ähnlich ergangen. Überhaupt hat er seit einigen Wochen nichts mehr von ihnen gehört. Andererseits ist es auch nicht einfach, Post von oder nach Derestahren zu schmuggeln. Joel hat in einem Brief erwähnt, dass er dafür extra Kontakte bemühen muss.

»Sieh mal hier.« Theobalds kräftige Stimme durchbricht die Stille. Er deutet auf den großen Plan auf dem Tisch und zeigt Caspar eine eingekreiste Stelle.

Dieser löst sich aus der Umarmung seiner Mutter und beugt sich vor. »Was ist das?«

»Ein Plan, den einer der anderen mir heute Morgen gegeben hat. Jemand von Larongard war hier und hat dieses Schiff in Auftrag gegeben.«

Caspar dreht den Kopf und sieht sich den Bauplan des dreimastigen Schiffes an.

»Wenn wir das Schiff nach Plan bauen, dann läuft es vom Helling und sinkt oder läuft unweit der Küste auf Grund.« Er deutet auf den Rumpf des Schiffes. »Die Beplankung hält niemals. Und falls doch, bekommt man das nicht dicht.«

»Wenn man die Maße ändert«, sagt Theobald, nimmt ein Stift und schreibt die richtigen Maße an das Schiff, »dann funktioniert das.«

Caspar sieht von dem Bauplan zu seinem Vater. »Warum zeigst du mir das? Du brauchst meinen Rat dafür nicht.«

»Weil es um einen der Hellinge geht, die du betreust.«

Caspar leert den Krug mit dem Tee, geht um den Tisch herum und sieht seinem Vater über die Schulter. Ja, mit Änderungen der Maße stehen die Chancen besser als vorher. Aber ein geschultes Auge erkennt den Plan eines Laien.

»Gibt es andere Informationen? Dokumente? Irgendetwas zu beachten?«

»Es sollte möglichst in den nächsten Tagen fertiggestellt werden.« Theobald verdreht die Augen. »Du kennst das.«

Egal, wie schnell die Fertigstellung gewünscht ist, in ein paar Tagen würde er kein Schiff zusammenzimmern können. Ein gutes Schiff braucht seine Zeit in der Herstellung. Caspar grinst vor sich hin. Er klingt schon fast wie Olivia.

»Lass mich mit den Arbeitern sprechen und dem Auftraggeber schreiben. Mit diesen Unstimmigkeiten läuft kein Schiff von meinem Helling.«

Caspar schnappt sich ein Stück Brot und verschwindet auf den Hof.

Sein erster Weg geht in die Werkstatt, die an den zweiten, steinernen Torbogen grenzt, der das Grundstück einzäunt. Caspar lässt das Tor zur Werkstatt offen und der Wind weht den salzigen Geruch des Meeres herein. Trotz des Sonnenscheins ist es ein kühler Morgen.

Er zündet eine Kerze an, stellt sie in eine Laterne und wischt ein paar Holzspäne von seiner Werkbank. Dann nimmt er sich verschiedene Maßbänder aus den Körben und versichert sich, dass er sich bei den Maßen auf dem Bauplan nicht verlesen hat. Doch leider muss er feststellen, dass es in der Tat nicht stimmt. Caspar ruft den Werftarbeiter zu sich, der den Plan entgegengenommen hat, um anschließend ein passendes Schreiben zu verfassen. Wenn seine Mutter das nächste Mal in die Stadt geht, könnte sie den Brief gleich mitnehmen.

Caspar tritt nach draußen. Auf dem gepflasterten Platz vor dem Lagerhaus sägt ein Werftarbeiter die Planken zu, die an ein fast fertiges Schiff an einem der vorderen Hellinge angebracht werden sollen. Drei Werftarbeiter tragen abwechselnd die gesägten Bretter zum Schiff.

Insgesamt hat die Balter & Sohn Werft acht Hellinge, die flachen Stellen, an denen die Boote gebaut und von wo sie zum nächsten Hafen gefahren werden, um dort feierlich eingeweiht zu werden. Ob das jeder Auftraggeber so macht, weiß Caspar nicht. Aber er hat schon genug Einweihungen gesehen, um zu wissen, dass es eine gängige Feierlichkeit ist.

Meistens sind aber nur fünf der acht Hellinge in Gebrauch. Drei von ihnen stehen in Caspars Verantwortung. Um die restlichen zwei und den anfallenden Papierkram kümmert sich sein Vater.

Caspar grüßt die Männer mit den Planken und spaziert mit prüfendem Blick an den unfertigen Schiffen vorbei, bis er die erreicht hat, die in seiner Verantwortung stehen. An einem Schwarzen Brett ist die Kopie eines Bauplans festgemacht. Die Originale verwahrt Theobald in seinem Arbeitszimmer. Caspar hat zwar als einziger außer seinem Vater Zugang zu den Originalen, doch er sieht sie sich nur bei Beendigung des Baus noch einmal an. Er zieht aus seiner Jackentasche ein Maßband und prüft die Zahlen auf dem Bauplan. Anschließend hält er seinen Daumen in die Höhe und schätzt die Maße des fertigen Grundgerüsts des Schiffes. Als alles den Vorgaben entspricht, setzt er seinen Rundgang fort. Die Abläufe zu regeln, ist eine völlig andere Aufgabe, als er gewohnt ist. Aber sein Vater hat ihn vom einfachen Werftarbeiter zu sich in die Führungsebene geholt, um ihm dort die wichtigsten Abläufe zu zeigen, sodass er irgendwann selbst die Werft leiten könnte.

Allerdings ertappt sich Caspar zu oft dabei, wie er sich wünscht, zurück, in dem alten Lagerhaus am Rande von Entarnitz zu sein, statt die Werft zu leiten. Über den letzten Sommer hat er das Lagerhaus zu einer Werkstatt umgebaut. Keine Frage, er mag es sehr, zu Besuch zu sein. Doch wenn er nur eine Sache benennen soll, die er im vergangenen Jahr gelernt hat, dann dass er am glücklichsten ist, wenn er seine Freunde um sich und den Zimmermannshammer in seiner Hand hat. Er seufzt. Irgendwie vermisst er diesen chaotischen Haufen an Piraten. Caspar bleibt zwischen den Hellingen stehen und sieht auf das Wasser. Im selben Augenblick, als sein Blick auf das Wasser fällt, weht ihm der Wind durch das Haar. Für ein paar Sekunden fühlt es sich so an, als würde er mit der Trunker durch die Delfbucht segeln.

Die aufgeregte Unterhaltung hinter ihm reißt ihn aus seinem Tagtraum. Eine Gruppe von Werftarbeitern hat sich um jemanden herum gesammelt, der wild mit einem Zettel in der Hand wedelt. Caspar zwängt sich zu dem Arbeiter mit dem Zettel durch und nimmt ihm das Papier aus der Hand. In dicken Buchstaben steht Gesucht über dem Porträt einer Frau. Sie hat langes Haar, dessen Farbe Caspar von der Kohlezeichnung nicht bestimmen kann, und ein rundliches, aber freundliches Gesicht. Die Zeichnung hätte schöner nicht sein können, trotz dass es ihr an Farbe fehlt. Wer auch immer diese Plakate erstellt hat, hat sich Mühe gegeben und sicherstellen wollen, dass eine Verwechslung ausgeschlossen ist. Caspar beneidet ihn um das Handwerk. Er selbst hat sich einige Male an Landschaften und Porträts versucht. Während die Natur wirklich gut zur Geltung kommt, sind seine Zeichnungen von Personen eher mittelmäßig. Viel schockierender jedoch ist, dass er die abgebildete Person kennt.

»Gesucht? Wahrscheinlich von ihrem Mann«, scherzt einer der Arbeiter und die Gruppe um ihn herum lacht.

»Wo hast du das her?«, fragt Caspar den Mann in der Mitte.

»Vom Eingangstor. So ein Kerl im schicken Mantel hat mir einen ganzen Stapel gegeben und gemeint, ich soll es verteilen. Wenn er auch so gekünstelt mit seiner Frau spricht, dann wundert es mich nicht, dass sie weggelaufen ist.« Er deutet auf das Plakat in Caspars Hand und erneut macht ein allgemeines Lachen die Runde.

»Wo ist dieser Stapel?«, fragt Caspar energisch, was den Arbeiter verwirrt. Unsicher deutet er mit dem Daumen hinter sich auf die Schwelle des Wohnhauses.

»Wie wäre es, wenn ihr wieder zurück an die Arbeit geht? Ihr werdet nicht fürs Herumstehen bezahlt!« Er scheucht die Männer mit einer Handbewegung weg und wartet, bis alle wieder ihre Arbeit aufgenommen haben, ehe er in Richtung Wohnhaus eilt. Caspar sammelt den Stapel Papier ein und trägt ihn nach drinnen auf den Esstisch. Erst nimmt er nur ein paar Blätter von dem Stapel und schließlich hebt er die Hälfte der Plakate an, um seine Vermutung zu bestätigen. Es ist alles dasselbe Bild. Alle zeigen Olivia. Caspar flucht. Er hat am vergangenen Abend bereits allerhand Flugblätter von Iris und Veit vom Schwarzen Brett in Fässtett abgenommen und im Feuer des Gasthauses verbrannt. Für jedes Plakat, das er abnimmt, scheinen fünf neue Stapel angefertigt zu werden. Eine Hand legt sich auf seine Schulter und Caspar fährt erschrocken zusammen. Dabei stößt er den Stapel um und die Flugblätter landen zerstreut auf dem Boden. Als er sich umdreht und in das überraschte Gesicht seines Vaters blickt, atmet Caspar erleichtert auf.

»Ich wollte nur einen Plan holen, den ich vergessen habe«, sagt Theobald entschuldigend und nimmt die Schriftrolle vom Tisch. »Ist alles in Ordnung, Junge?«

Caspar sammelt die Flugblätter vom Boden auf. »Ja, es ist nichts«, antwortet er schnell und blättert durch den neuen Stapel vor ihm. »Es ist nur … Ich schlafe einfach seit Monaten sehr schlecht. Ich weiß auch nicht. Vielleicht ist es dieser ständige Kopfschmerz.«

Theobald nimmt einen Zettel vom Stapel. »Vielleicht solltest du dir noch mal überlegen, zur Piraterie zurückzukehren.«

»Auf gar keinen Fall! Ich fahre zurück nach Entwerdar.«

Sein Vater macht eine beschwichtigende Geste. »Ja, die Piraterie in der Delfbucht hat Vorteile für die Werft. Das heißt aber noch lange nicht, dass du daran beteiligt sein musst. Sieh, wie es an deinen Kräften zehrt, Junge.«

Caspar schüttelt eifrig den Kopf. Die Piraterie ist definitiv nicht schuld daran. In all den Monaten, die er auf Entwerdar verbracht hat, hat er sich nie so elendig gefühlt wie in den letzten Wochen. Vielleicht brütete er auch nur eine Grippe aus? Oder es waren Nebenwirkungen von irgendwelchen Zaubern oder einem Zaubertrank.

»Ich werde zurückfahren«, sagt er dann bestimmt.

Theobald deutet auf das Flugblatt in seiner Hand. »Eine Freundin von dir?«

»Ja, Olivia. Meine beste Freundin.« Er nimmt seinem Vater das Papier aus der Hand und wirft es in das Feuer unter dem Teekessel. »Falls noch mehr von solchen Dingern auftauchen, lass es mich bitte wissen.«

Caspar nimmt den Stapel und packt ihn in die Kiste mit dem Feuerholz. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann seine Eltern ihm ein Flugblatt mit seinem eigenen Gesicht zeigen würden. Immerhin hat er monatelang den Alchemisten nicht bezahlt. Und das ist nur der Anfang der Liste an Leuten, die sich mit der Summe des Kopfgelds überbieten könnten. Als sich Caspar abwendet, um seine Arbeit wieder aufzunehmen, hält Theobald ihn erneut auf.

»Vielleicht solltest du dich etwas ausruhen, bevor du zurück an die Arbeit gehst.«

Caspar lächelt ihm ermutigend zu. »Mach dir keine Sorgen, ich schaffe das schon!«

Der Abend legt sich über die Werft und die Arbeiter räumen ihre Werkzeuge und übrigen Materialien in das Lagerhaus, so wie es Caspar ihnen heute Morgen gesagt hat. Er hat seinen Kollegen versichert, dass er die restlichen Bretter selber anbringen würde und dass es in Ordnung sei, wenn sie bereits gehen. Somit würde nur noch das warme Licht der untergehenden Sonne und das Rauschen des Meeres übrig bleiben. Caspar wird etwas unwohl zumute. Jedes Mal, wenn er alleine mit dem Meer ist, scheint sein Gehirn automatisch zu den Sirenen zu schalten. Er versucht, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und diesen Wesen keinen Platz in seinen Gedanken zu geben, ansonsten würde er sich womöglich auf der Stelle übergeben.

Während die anderen Werftarbeiter langsam vom Gelände der Werft strömen, kommt einer von ihnen Caspar entgegengerannt. Er mustert den Mann mit den von Spänen übersäten Klamotten, lässt aber den Hammer sinken.

»Etwas vergessen?«

Der Mann schüttelt den Kopf und holt tief Luft, um zu sprechen. »Ich entschuldige die Störung, aber da gibt es jemanden, der mit ihnen sprechen möchte, Herr Balter.«

Die Aussage verwirrt Caspar. Wer sollte zu so später Stunde noch etwas von ihm wollen? Es ist nicht ungewöhnlich, dass Auftraggeber viel zu früh vor den Toren der Werft warten. Meistens sind es die, die es besonders eilig haben. Caspar verdreht jedes Mal die Augen, denn er hat aufgehört, ihnen beibringen zu wollen, dass die Schiffe sich davon auch nicht schneller bauen. Es wäre nur verschwendete Luft. Doch noch niemals ist jemand nach Schließung der Werft aufgetaucht.

Caspar umklammert den Griff des Hammers. Vielleicht ist es kein Auftraggeber, sondern die Kopfgeldjäger, die ihn schlussendlich doch ausfindig gemacht haben.

»Dann bringt ihn zu mir.«

Als der Mann sich abwendet, nimmt Caspar einen tiefen Atemzug. Er will auf keinen Fall, dass jemand von seiner Anspannung etwas mitbekommt. Niemand soll von den Kopfgeldjägern wissen. Ganz zu schweigen von seiner tierischen Angst vor Sirenen, die jeden Moment aus dem Wasser kriechen könnten. Er schüttelt unmerklich den Kopf, um sich wieder auf das Wesentliche zu fokussieren. Wenigstens ist außer ihm und dem ungebetenen Gast niemand mehr auf dem gepflasterten Platz der Werft.

Der Besuch zieht einen langen Schatten hinter sich her und überquert mit lässigen Schritten den Platz. Caspar erkennt sofort die heroische Körperhaltung und die Arroganz in seinem Gang. Die Anspannung weicht aus seinem Körper so, dass der Hammer ihm zu entgleiten droht und er widersteht dem Drang, sich ihm in die Arme zu werfen.

»Guten Abend, Caspar.« Die warme, geschmeidige, tiefe Stimme macht der Sonne klare Konkurrenz.

Caspar beißt sich auf die Lippe, um nicht zu grinsen, schafft es aber nicht, seine Freude zu unterdrücken.

»Was machst du denn hier? Wie bist du – weißt du, wie scheiße gefährlich es auf Derestahren ist?«

Joel zuckt mit den Schultern und hält dann Caspar die Hand hin, welcher sie annimmt und sich vom Kapitän in eine kurze, aber feste Umarmung ziehen lässt.

»Eins solltest du mittlerweile wissen: Dieser Mann scheut keine Gefahr.«

Nein, das tut er wirklich nicht. Das kann selbst Caspar nicht abstreiten.

»Sind die anderen auch hier?« Der Zimmermann spät über seine Schulter, doch Joel schüttelt den Kopf. »Du hast außerdem noch nicht meine erste Frage beantwortet.«

Joel grinst und macht eine beschwichtigende Geste. Caspar ist gar nicht aufgefallen, wie schnell er spricht, bis ihn sein Freund darauf aufmerksam macht. Er holt tief Luft, um seine Fassung wieder zu erhalten. Dann steckt er den Hammer weg und deutet dem Kapitän, ihm zu folgen.

Caspar wirft im Vorbeigehen den Werkzeuggürtel auf seine Werkbank und führt Joel anschließend in das Wohnhaus. Auf dem Feuer kocht ein Eintopf und füllt den Raum mit einem herzhaften Geruch. Die Wärme im Ess- und Eingangsbereich steht im starken Kontrast zu der kühlen Luft von draußen. Caspar bietet seinem Freund und Kapitän einen Platz an und setzt sich ihm gegenüber. Joel durchbricht die Stille als Erstes.

»Die Nachtjacken haben wir richtig auseinandergenommen, was?« Er scheint zufrieden mit dem Chaos zu sein, das sie angerichtet haben. »Es gibt die wildesten Spekulationen darüber, wie Avino verschwunden ist.«

»Bitte sag mir, dass in keiner der Ausführungen der Name von Werften oder Trunker drin vorkommt?«

Joel gibt einen verächtlichen Laut von sich. »Du glaubst, ich würde unseren Namen mit solchen Arschlöchern in Verbindung bringen? Ich bitte dich. Als ob ich meinen Namen mit dem Avinos in einem Satz genannt haben will.«

Caspar lacht leicht und lehnt sich zurück. Seine Körperhaltung ist entspannt. Viel entspannter, als sie die gesamte letzte Woche gewesen ist.

»Wenn die Leute wüssten, wie recht sie mit der Aussage haben, die Götter hätten ihn geholt … Sie würden einen für blöd erklären«, sagt Caspar.

»Je weniger die Wahrheit kennen, desto besser. Erinnere dich daran, wie schwierig es war, dich nah Derestahren zu schmuggeln.«

Wie hat Caspar das nur vergessen können! Eigentlich ist der Plan gewesen, ihn an Fässtett und Goltahnder vorbeizuschleusen und durch Feldwege in die Werft zu bringen. Doch die Küstenwache des Rates hat, nachdem Dierisene das Zimmer im Ratshaus zerlegt hat, die Crew noch stärker ins Auge gefasst und somit die Suche nach ihnen verstärkt. Vor der Küste haben so viele Schiffe patrouilliert, dass Aaron die Trunker nicht nahe genug heran steuern konnte. Schlussendlich haben sie ihn in einem Fischerboot verstecken müssen, was für Caspar die reinste Qual gewesen ist. Als er das erste Mal wieder Land unter den Füßen gespürt hat, hat er sich ordentlich übergeben. Tagelang hat der Fischgeruch noch an ihm gehangen. Vermutlich hat das die Erinnerung an die Sirenen wieder in sein Gedächtnis gerufen, welche er geglaubt hat, verarbeitet zu haben.

Caspar öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch seine Worte werden abgeschnitten, als die Haustür aufgeht und seine Eltern eintreten. Seine Mutter trägt eine Stiege mit Kartoffeln, hinter ihr steht sein Vater, ebenso mit einem überraschten Gesichtsausdruck wie der von Margarete.

Aus Reflex springt Caspar auf, als er aber realisiert, dass es nur seine Eltern sind, beruhigt er sich wieder.

»Wir wussten nicht, dass du Besuch erwartest«, sagt Margarete, während Theobald hinter ihnen die Tür schließt.

»Ich wusste es bis vor wenigen Minuten auch nicht.« Caspar macht eine Geste zu Joel, der von alleine aus Höflichkeit aufsteht und nickt.

»Verzeiht mir meine Unhöflichkeit. Joel von Werften.« Er begrüßt Theobald mit einem festen Händedruck und hält dann die Hände auf in Richtung Margarete. »Darf ich?«

Sie lächelt und deutet ihm den Weg zur Küche, die sich nahtlos dem Essbereich anfügt. »Wie zuvorkommend.«

Caspar hält sich die Stirn und bemüht sich nicht hinzusehen.

»Das ist also der Kapitän, von dem du uns erzählt hast, Junge. Scheint ein anständiger Mann zu sein.«

Die Stimme seines Vaters zwingt Caspar, aufzusehen. Nein, das ist mit Sicherheit nicht der Kapitän, für den er sonst arbeitet.

»Ja«, antwortet er nur knapp.

»Wenn du möchtest, kannst du gerne zum Essen bleiben. Ich habe Kartoffeleintopf gemacht«, sagt Margarete, als sich Joel abwendet.

»Vielen Dank, die Einladung würde ich gerne annehmen«, antworte er mit einem Lächeln, eher sich wieder neben Caspar setzt.

Aaron hätte er jederzeit diese Freundlichkeit abgekauft, Joel hingegen keine Sekunde. Das ist mit Sicherheit ein Streich. Er hat sich bestimmt mit Hugo verbündet, um ihn eins auszuwischen.

Auch wenn Theobald versucht, das Gespräch mit Joel möglichst neutral zu halten, liegt immer ein gewisser Argwohn in seiner Stimme und ein prüfender Blick auf seinem Gesicht. Caspar allerdings brennt nur eine Frage auf der Zunge und er wartet ungeduldig auf die Gelegenheit, sie zu stellen.

Doch er erhält bis nach dem Abendessen keine Antwort. Als sein Vater seiner Mutter mit dem Abwasch hilft, wittert Caspar seine Chance.

»Okay, raus mit der Sprache!« Er lehnt sich vor. »Warum bist du hier? Wir hatten ausgemacht, dass ich über den Winter und Teile des Frühlings in der Werft bleibe. Das wären noch zwei Wochen. Also, warum bist du hier?«

Joel Miene wird ernst. »Ich habe etwas für dich.«

»Oh?«, sagt Caspar leise.

Der Kapitän zieht einen Brief aus seiner Hosentasche und überreicht ihn Caspar.

Unsicher, was er davon halten soll, dreht er ihn in der Hand. »Du bist extra über die Delfbucht gesegelt und hast dich an der Küstenwache vorbeigeschlichen, nur um mir diesen Brief zu geben? An der Sache muss doch mehr dran sein.«

Als Caspar den Brief aus dem braunen Packpapier entfernt, das Boten zum Schutz um die Briefe wickeln, wirkt Joel zunehmend nervöser. Der Brief ist in Joels Handschrift geschrieben, was das Ganze noch eigenartiger macht.

Caspar,

ich weiß nicht, wie viel du vor deiner Abreise mitbekommen hast, aber im späten Frühjahr wird immer eine Feier abgehalten, an deren Ende die neu ausgebildeten Seeleute Jyrgens Segen erhalten.

Letztes Jahr wäre das erste Mal gewesen, dass ich als Kapitän diesen Segen hätte verteilen dürfen. Wir wissen aber beide, dass ich zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis des Ratshauses gesessen habe, mit dem Wissen, Aaron hätte unsere Flucht nicht überlebt. Somit kann ich dieses Jahr zum ersten Mal diese Feierlichkeiten ausüben. Ich würde mich freuen, wenn du dabei wärst.

Außerdem:

Dieser Brief ist eine offizielle Einladung für dich. Bitte lass dir von mir Jyrgens Segen übermitteln und werde damit offiziell Teil der Trunker Crew.

-Joel

Caspar starrt auf den Brief in seiner Hand. Er hat vor seiner Abreise Aaron sicherlich ein paar Mal darüber sprechen hören, aber ihm ist nicht bewusst gewesen, was für eine große Sache das für Joel ist. Sein Schweigen zieht sich in die Länge und er weiß, wie sehr Joel es hasst, wenn er das tut. Meistens setzt Caspar es bewusst ein, um Informationen zu bekommen, aber dieses Mal weiß er wirklich nicht, was er sagen soll und es tut ihm leid zu schweigen. Sein Kopf dreht sich vor Emotionen. Erst die Freude über das Wiedersehen und dann legt er mit diesem Brief nach. Aber jetzt ist Caspar klar, warum er die Nachricht persönlich, trotz aller Hindernisse, zugestellt hat. Das ist ein riesengroßes Ding für ihn. Und wenn Caspar in sich hinein hört, für ihn selbst auch. Offiziell ein Teil der Crew zu sein, klingt nach einem Traum, nach all dem, was sie gemeinsam durchgestanden haben. Und obendrein würde den Segen nicht Vilma oder Ansgar verteilen. Nein. Es wäre Joel selbst.

»Oh«, flüstert Caspar. Das ist das Einzige, was ihm in den Sinn kommt. »Danke«, fügt er dann hinzu.

»Das ist alles, was du sagst? Oh danke?«

Er gibt einen bestätigenden Laut von sich und lässt den Brief sinken. Joels Gesicht verzieht sich, sieht wütend aus, verletzt. Er holt Luft, um etwas zu sagen, doch Caspar schneidet ihm das Wort ab, in dem er aufsteht und sich vor ihm verbeugt. Dann salutiert er.

»Es wäre mir eine Ehre, Kapitän.«

Diesmal ist es Joels Gesicht, das komplette Überforderung zeigt. Damit hat er scheinbar nicht mehr gerechnet. Er klopft Caspar während der Umarmung freundschaftlich auf den Rücken.

»Du mieser kleiner Arsch!«

Kapitel 2Zurück auf Entwerdar

Caspar schließt seine Zimmertür hinter sich. »Das ist alles, was ich finden konnte. Ich hoffe, das ist in Ordnung.« Er deutet auf das provisorische Bett, das er inmitten des Zimmers aus Decken und sämtlichen Kissen, die er im Haus gefunden hat, zusammen gebastelt hat. Joel kickt seine Stiefel bei Seite und wendet sich von den Zeichnungen auf Caspars Schreibtisch ab.

»Ich habe schon auf Schlimmeren geschlafen«, antwortet er. »Du hast mir beim Abendessen einen Schrecken eingejagt.«

»Irgendwer muss dich ja auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Sonst steigt dir irgendwann der Titel zu Kopf.« Caspar versetzt ihm einen Schlag mit dem Kissen.

Joel schnappt sich das andere Ende und entwaffnet ihn somit. »Du hättest auch wie jede andere Person normal reagieren können.« Er setzt zu einem Gegenschlag an.

»Hätte ich, habe ich aber nicht.« Caspar grinst und hebt eilig ein weiteres Kissen vom Boden auf.

»Und auch noch einen Aufstand anzetteln.« Joel weicht einem Kissenschlag aus. »Du weißt, wie man so was nennt.«

»Meuterei!«, ruft Caspar und haut ihm das Kissen gegen den Arm. Joel lässt diesen Angriff nicht auf sich sitzen und kontert. Was mit einem Scherz begonnen hat, entwickelt sich zu einer Kissenschlacht. Federn fliegen und Joel stolpert zurück. Dabei erwischt er Caspars Arm ein letztes Mal, bevor er rückwärts auf dem Boden, neben dem provisorischen Bett landet. Er lacht lauthals. Caspar erinnert sich nicht daran, ihn jemals so lachen gehört zu haben. Zwischen der Person, die er im Kerker getroffen hat und der, mit dem ihm eine enge Freundschaft verbindet, liegen Welten. Sein Lachen ist voll, herzlich und ansteckend. Es ist das Lachen eines Mannes, der all das erreicht hat, was er sich immer gewünscht hat und nun seinen Traum lebt. Caspar kann nicht anders, als in sein Lachen einzustimmen. Doch seine Heiterkeit ist nur von kurzer Dauer.

Der Luftzug von Joels Fall löscht die Kerze auf seinem Schreibtisch und das Zimmer unter dem Dach hüllt sich in Dunkelheit. Caspar sinkt auf das Bett und starrt an die Wand gegenüber. Die Schatten scheinen irgendetwas zu flüstern und er schüttelt den Kopf, so schnell, dass ihm schwindelig wird.

»Hey … hey! Matey!«

Sein Herz rast. »Hörst du das auch?«

In der Dunkelheit kann er Joels Gesichtszüge kaum erkennen und das, obwohl er sich neben ihn gesetzt hat.

Es scheint, als wäre er verwundet über die Frage. »Ich höre nichts. Nur das Rauschen des Meeres durch das geschlossene Fenster. Aber ansonsten, nichts.«

Bei Jyrgens Flosse! Das Meer! Warum muss er ausgerechnet das ansprechen? Warum genau jetzt? Ein mulmiges Gefühl macht sich in Caspars Magengrube breit und in dieser Sekunde fasst er den Entschluss, Joel nichts davon zu erzählen. Möglicherweise würde er die Einladung zurückziehen, da er ihn nicht für seetauglich hält, was nicht ferner von der Wahrheit entfernt sein könnte.

»Nichts«, wiederholt Caspar leise.

Seine Aussage lässt Joels Verwirrung in Sorge umschlagen. Er seufzt, bevor er spricht. »Aaron hat erzählt, Avino hätte wild mit Zaubern um sich geschossen. Du solltest mit Liv sprechen, vielleicht hat dich einer am Kopf erwischt.«

Das beruhigt ihn. Caspar hält sich die Brust, dort, wo sich die mittlerweile vollständig geheilte Wunde mit den blitzförmigen Ausläufern befindet. Ein Magier, der in der Lage gewesen ist, einen solchen Schaden zu verursachen, wäre auch fähig dazu, seinen Kopf zu verwirren. Und er hat es bereits in Elphorz getan, als er ihm jeglichen Widerstand genommen hat. Ja, der verschwundene Magier ist schuld.

»Ich begleite dich gleich morgen nach Entwerdar.«

»Hast du nicht vorhin noch gesagt, dass es noch zwei Wochen bis zu deiner Rückkehr sind?«

»Olivia muss sich das unbedingt ansehen und so kann ich auch die Trunker noch mal überprüfen. Den Winter über hatte ich dafür ja keine Zeit.«

»Wie du meinst. Seit der Rückkehr von Derestahren ist sie aber nicht viel gefahren.«

»Das ist trotzdem schon wieder ein halbes Jahr her. Normalerweise sehe ich alle paar Wochen nach Witterungsschäden«, sagt Caspar.

Joel legt die Hand auf seine Stirn, als hätte er Kopfschmerzen bekommen. »Dann muss ich dich schon zwei Wochen eher ertragen!«

»Das Problem hast du dir selbst eingebrockt, als du hier aufgekreuzt bist.« Caspar grinst und versetzt ihm einen letzten Schlag mit dem Kissen.

Noch vor Sonnenaufgang sammelt er alle wichtigen persönlichen Gegenstände zusammen. Als sie die knarzende Treppe hinabsteigen, sind sowohl Margarete als auch Theobald schon auf den Beinen. Caspar hat nie verstanden, wer freiwillig vor Sonnenaufgang über die Werft hetzen würde. Schon gar nicht, wenn es kalt im Winter ist.

Margarete lächelt, doch das schwindet, als sie die gepackte Tasche sieht. »Wohin gehst du so früh?«

Caspar sieht Hilfe suchend zurück über seine Schulter zu Joel. Der macht nur eine nickende Kopfbewegung, um ihn zum Antworten zu bewegen.

»Ich …« Er weiß genau, dass sie es für zu gefährlich halten, ihm vom Gelände der Werft zu lassen. Den Ausflug nach Fässtett, der ein jähes Ende genommen hat, hat er sich hart erkämpfen müssen. Caspar kramt in seiner Jackentasche und zieht den Brief vom Abend zuvor heraus.

Margarete überfliegt den Brief und reicht ihn dann an ihren Mann weiter.

»Das sind tolle Neuigkeiten.« Seine Mutter lächelt wehmütig.

»Aber bist du sicher, dass du schon gehen willst? Wartet doch noch einen Tag. Oder zwei.« Sie sieht Hilfe suchend zu ihrem Mann, der aber nur aufmerksam den Brief liest.

»Tut mir leid, aber die Wachen wechseln jeden Morgen so früh. Und der Wachwechsel ist unsere einzige Möglichkeit, uns ungesehen zum nächsten Hafen zu schleichen«, sagt Joel.

»Mutter«, sagt Caspar und nimmt ihre Hände in seine. »Ich verspreche dir diesmal vorsichtiger zu sein. Und außerdem bin ich nur einen Tag entfernt. Entwerdar liegt ebenfalls in der Delfbucht«, erklärt er. »Ihr könnt mich auch gerne besuchen kommen. Ich bin sicher, es findet sich ein freies Zimmer im Heringskopf.«

»Ich bin mir sicher, dass es nicht die Unterkunft ist, um die sich deine Mutter Sorgen macht«, sagt Theobald.

»Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass meine Crew wieder unversehrt an Land zurückkehrt. Und ich verspreche, dass ich alles tue, was in meiner Macht steht, um Caspar sicher zurückzubringen«, versichert Joel und verneigt sich.

Solch eine Diskussion hat Caspar immer vermeiden wollen. Deswegen hat er nie irgendwelche Details über die Nachtjacken preisgegeben, wann immer er die Zeit gefunden hat, der Werft einen Besuch abzustatten. Margarete lächelt schwach und will Caspar das zerzauste rotbraune Haar richten. Der Zimmermann jedoch weicht zurück und tätschelt stattdessen liebevoll ihre Hand. Wenn sie als Nächstes versucht, mit einem Taschentuch den Dreck von seinen Wangen zu reinigen, würde Joel ihn das niemals vergessen lassen.

»Aber du schläfst so schlecht, mein Schatz. Du solltest dich vorher ausruhen, bevor du fortgehst.«

»Mutter bitte«, sagt Caspar sanft. »Ich kenne jemanden, der mir dabei helfen kann. Ihr müsst mir einfach vertrauen.«

Margarete sieht unsicher zu ihrem Mann und Caspar folgt ihrem Blick. Theobald sieht ratlos aus, schnaubt dann aber ergeben.

»Aber du schreibst öfters. Hast du verstanden?«, sagt Caspars Vater und erhebt tadelnd den Zeigefinger.

»Natürlich!«, antwortet Caspar schnell. Dann drückt er beide Elternteile nacheinander. »Piratenehrenwort!«

»Vielleicht schaffen wir es sogar, das erste Fischerboot zu nehmen, um von Fässtett nach Heu-Hückbrülls überzusetzen. Dann kann uns erst recht keiner was«, wirft Joel ein.

»Wenn das so ist, sollten wir uns beeilen.« Voller Tatendrang eilt Caspar in Richtung der Haustür. Dann stoppt er und wirft einen letzten Blick zurück. Seine Eltern winken ihm zum Abschied zu, doch in den grünen Augen seiner Mutter schimmert ein leichter Tränenfilm.

»Ihr hört von mir. Versprochen!«, wiederholt er ein letztes Mal, bevor er gemeinsam mit dem Kapitän das Haus verlässt.

Morgendlicher Nebel kriecht die Hellinge entlang und Tau benetzt das Kopfsteinpflaster des Platzes. Auf den Feldern um die Werft herum ist keine Menschenseele. Es gibt nur die zwei Piraten, den Vogelgesang und das Rauschen des Windes in den Bäumen.

Sie wählen bewusst die Feldwege, um mögliche Begegnungen mit der Stadtwache Goltahnders zu vermeiden. Die Wache wurde aufgestockt, um die Nachtjacken aufzuspüren, und patrouilliert nun auf verstärkt in den umliegenden Dörfern.

Joel hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und trägt den abgenutzten roten, fast braunen Mantel, der sonst immer über dem Stuhl im Kapitänsquartier hängt.

»Ist etwas?«

»Ich frage mich nur, warum genau das Ding? Du achtest sonst doch immer darauf, was du trägst und wie du aussiehst.«

»Danke.«

Caspar verdreht die Augen. Er bereut so gleich, was er gesagt hat.

»Das war kein Kompliment. Das war eine Feststellung.«

»Komisch. In meinen Ohren klang es, als hättest du mich gut aussehend genannt.«

»Und meine Ohren bluten, wenn ich mir noch weiter dein selbstgefälliges Gesülze anhören muss.«

Joel lacht, erklärt dann aber geduldig den Grund. »Das Ding ist nicht besonders schön, da gebe ich dir recht. Aber es hält warm. Der Mantel hat mich schon manche Nacht auf See vor dem Kältetod gerettet. Außerdem«, sagt er und zuckt mit den Schultern, »wird die schicke Uniform gerade gereinigt. Du weißt schon, für Jyrgens Segen.«

Der Dreck knirscht unter ihren Stiefeln, während am Horizont langsam die Sonne aufgeht.

»Wie läuft das mit diesem Segen eigentlich ab?« Caspars Frage durchbricht die idyllische Stille.

»Das ist ganz einfach. Du bekommst einen Krug, den du selbst befüllen musst. Fülle ihn aber nicht zu voll, du musst ihn komplett austrinken. Dann lässt du dich von mir vom Schiff schubsen.«

Caspar verzieht zweifelnd das Gesicht. »Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich dabei sein möchte.«

»Wieso hast du Angst davor, deinen Kopf unter Wasser zu halten? Dafür finden wir schon eine Lösung. Iris kann das auch nicht leiden.«

»Nein, ich befürchte nur, du könntest Gefallen daran finden, mich von Dingen herunter zu schubsen. Also einfach nur vom Schiff ins Wasser springen und irgendein Bier trinken? Das ist alles?«

»Ich habe nicht gesagt, dass es Bier sein wird. Ich habe selbst keine Ahnung, was es sein wird, weswegen du den Krug nicht zu voll füllen sollst. Aber was den Segen betrifft, ja. Jyrgens Segen ist aber das prägendste Ereignis eines jeden Seefahrers und wird deshalb auch groß gefeiert. Es wird leckeres Essen geben und Musik.«

»Als du leckeres Essen gesagt hast, hast du mich wieder überzeugt«, scherzt Caspar. »Gibt es denn viele Anwärter für die Seefahrt?«

»Ja, aber die meisten geben schon in der anstrengenden Ausbildung auf. Sodass nur die übrig bleiben, die wirklich zur See fahren wollen«, antwortet Joel. »Die Kapitäne der Flotte übernehmen die Ausbildung der neuen Seeleute, aber es bleibt den Matrosen überlassen, von welchem Kapitän sie sich den Segen geben lassen. Das ist meist einfach nur eine Sache, welcher Person man sein Leben mehr anvertraut oder wen man sympathisch findet.«

»Gut, wenn es um Sympathie ginge, dann hätte ich mir auch wahrscheinlich jeden anderen Kapitän ausgesucht. Aber man nimmt, was man kriegen kann, richtig?«

Joel sieht empört aus und bleibt für einen Moment stehen. »Hey!«

Caspar lacht lauthals. »Hast du schon neue Seeleute ausgebildet?«

»Nein. Dafür habe ich den Kapitänstitel noch nicht lange genug inne. Ansgar übernimmt die Ausbildung daher alleine. Es ist auch das erste Mal, dass ich den Segen verteilen darf.«

»Verstehe«, antwortet Caspar. »Ansgar hält dir das sicherlich bei jeder Gelegenheit unter die Nase.«

Joel verdreht genervt die Augen. »Ich wünschte, du hättest Unrecht. Aber ja. Vielleicht sollte ich ihn fragen, ob er es als Nächstes in Versen vortragen möchte. Als Gedicht kenne ich es noch nicht.«

»Gibt es noch etwas, das ich darüber wissen muss?«

»Nein, das war so ziemlich alles. Wenn ich dir einen Hinweis geben darf, dann genieße es. Das ist ein einmaliges Ereignis im Leben eines Seefahrers.«

»Ja, ja. Ich habe es verstanden. Du wiederholst dich.«

Die Fischer in Fässtett bereiten sich auf ihren Arbeitstag vor, als sie im Ort eintreffen. Ein paar Goldstücke reichen aus, um einen von ihnen davon zu überzeugen, sie nach Heu-Hückbrülls zu bringen.

Der Steg knarrt, als sie in Richtung des Hafenplatzes der kleinen Stadt laufen. Ein paar Boote schwimmen verlassen im Hafen und es ist niemand zu sehen. Wie sicher kann er sich sein, dass ihnen wirklich niemand folgen würde? Ganz Derestahren muss voll mit Flugblättern mit den Gesichtern der Crew sein.

»Meinst du, Entwerdar ist sicher?«

Joel, der seinen Blick auf den nebligen Horizont gerichtet hat, sieht verwirrt aus. »Warum sollte es das nicht sein? Die Insel ist dieselbe, die du vor ein paar Monaten verlassen hast.«

Caspar seufzt. »Ich meine nur, die Kopfgeldjäger …«

»Ach die! Haben sie dich bis jetzt erwischt?«

»Wenn du die Wahrheit wissen willst: Ich bin ihnen mehrfach gerade so durch die Finger geglitten. Gestern Mittag hat irgendein Bediensteter des Rates einen Stapel Flugblätter mit Olivias Gesicht in der Werft abgeben und die Arbeiter gebeten, ihn zu verteilen.«

»Und du glaubst, man hätte uns nicht angegriffen, falls man uns entdeckt hätte?«

Caspar sieht unsicher über seine Schulter. Die Vorhänge vor den Fenstern sind zugezogen und nicht eine einzige Person ist zu sehen. Nicht einmal ein Hafenarbeiter, der zu früh mit seiner Arbeit beginnt.

»Vielleicht hat deine Mutter recht und du hättest dich wirklich erst ausschlafen sollen, bevor du nach Entwerdar segelst«, sagt Joel.

»Hast du noch nie schlecht geschlafen, weil der Mond zu hell war? Das ist alles, was in den letzten Wochen passiert ist. Ich schlafe einfach nicht mehr durch und ihr tut alle so, als würde ich wahnsinnig werden.« Caspar sieht grimmig drein. »Ich mache mir einfach nur Sorgen, weil die Liste an Leuten immer länger und die Kopfgeldsumme immer höher wird. Wie kannst du so ruhig bleiben?«

»Ich habe manches Mal darüber nachgedacht, mich selbst zu stellen und das Gold zu kassieren. Aber es ist zu viel Arbeit, dann wieder auszubrechen«, sagt Joel.

Caspar schüttelt als Antwort darauf nur mit dem Kopf.

»Außerdem hat Aaron an alles gedacht, als wir dich im Herbst abgesetzt haben.«

Im Nebel erscheint eine dunkle Gestalt. Die Umrisse werden immer größer, bis sie schließlich zwei Segelmasten ähneln und die Gestalt eines Schiffes annehmen.

»Ihr seid zu spät!«, brüllt Joel dem Schiff entgegen und lotst es in den Hafen ein.

»Wir wären schon eher da gewesen!«, ruft eine klare Stimme zurück, dann erscheint ein roter Haarschopf, der wie ein Signallicht wirkt. »Bedanke dich bei deinem Schiffsgeist.«

Iris wirft eine Planke von Bord.

»Du hast ihn hoffentlich am Leben gelassen«, sagt Joel, als sie das Schiff betreten haben.

»Wir haben ihn mit einem Besen vom Steuerrad gescheucht. Kümmere dich um ihn«, weist Iris den Kapitän an und Joel macht sich gleich auf den Weg ins Kapitänsquartier.

Veit hebt Caspar mühelos hoch, als er ihn umarmt und entschuldigt sich anschließend.

»Und? War der Ausflug gut?«, fragt Iris Caspar nach einem festen Händedruck zur Begrüßung. Im Kapitänsquartier poltert es und irgendetwas Goldenes fliegt umher.

»Wir sollten das auf nachher verschieben und lossegeln, bevor Joel wegen Hugo das Schiff auseinandernimmt.« Caspar klingt amüsiert, als er über ihre Schulter sieht.

Die Quartiermeisterin dreht sich ebenfalls um. »Vermutlich hast du recht. Liebling?« Iris deutet ihrem Mann, die Segel zu hissen, und geht zum Steuerrad.

Auf der Hälfte des Weges löst Joel sie ab. Caspar hat die Arme auf die Reling gestützt und lässt die kalte Luft durch sein Haar wehen. Solange er nicht nach unten zum Meer sieht, ist alles gut. Hugo erscheint neben ihm und setzt sich auf die Reling.

»Du siehst blass um die Nase aus. Kotzt du aufs Deck –«

Caspar deutet dem Geist, die Klappe zu halten. »Keiner erfährt ein Wort!«

Hugos Augenbrauen schnellen in die Höhe. »Oh? Und wieso nicht?«

Er bereut es sogleich. Der Schiffsgeist würde ihn so lange nerven, bis er die Wahrheit kennt. Und wenn er es weiß, würde es auch Joel wissen.

Hugo schnipst ihm gegen den Arm.

»Du sollst damit aufhören! Wie oft muss ich dir das noch sagen?«

»So 50 Mal? Dann kommt es erst mal bei mir an.«

Caspar sieht ihn grimmig an, antwortet aber auf die Frage nicht.

»Du verhältst dich, seltsam, seit ihr aus dem Götterreich zurück seid«, sagt Hugo.

So unrecht hat er mit dieser Vermutung nicht. Elphorz hat ihn mitgenommen und Avinos Zauber hat größere Folgen als gedacht.

Er schließt die Augen und reibt sich die Stirn. Dann antwortet er dem Schiffsgeist. »Tut mir leid. Das Ganze war anstrengend.« Als er die Augen wieder öffnet, fällt sein Blick direkt auf das Meer. Das Wasser ist dunkel und der Nebel, der sich über das Meer zieht, wirkt wie der Rauch aus dem Teich in der Bibliothek. Caspar konzentriert sich auf seine Atmung und redet sich ein, mit einem Zauber von Olivia würden die Folgen von Avinos Magie schnell behoben sein.

Als sie Entarnitz erreichen, hat sich der Nebel vom Morgen verzogen und die Sonne taucht die Pirateninsel in warmes, oranges Licht. Auf dem großen Hafenplatz der Stadt bauen die ersten Händler ihre Obstund Gemüsestände ab. Der Hafenmeister lotst sie in den Hafen und als Caspar die Insel zum ersten Mal seit Monaten wieder betritt, fällt ihm eine Last von den Schultern. Er nickt dem Rübenhändler zu, als dieser an ihnen vorbeigeht. Sein Blick schweift rüber zu den Lagerhallen und er findet das lackierte Lagerhaus, das als Durchgang zu den abgelegenen Stegen dient, verlassen vor. Ein Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit.

»Willkommen zu Hause!«, sagt Joel und klopft ihm auf die Schulter.

Sie gehen kaum einen Meter weit, als eine helle Stimme seinen Namen ruft und sich so über das Möwengeschrei hinwegsetzt.

Olivia reißt ihn mit einer stürmischen Umarmung zu Boden und sie landen im Dreck.

»Schön, dass du wieder da bist!«

Als der erste Schock überwunden ist, lacht er. »Ich freue mich auch wieder da zu sein.« Caspar klopft sich den Dreck von seinem Filzmantel, als die Magierin die Umarmung löst.

Schritte kommen auf sie zu und jemand hebt Caspars Tasche auf. »Freut uns, dass du wieder da bist, Matey.« Aaron lächelt und schultert die Tasche. Dann sieht er zu seinem Bruder. »Wolltest du nicht vor einigen Stunden schon wieder hier sein?«

Joel seufzt genervt und schließt die Augen. »Ein falsches Wort von dir vor dem Abendessen …« Mit diesen Worten geht er an seinem Bruder vorbei in Richtung des Heringskopfs.

Als die Crew das Gasthaus betritt, räumt das Wirtehepaar die Überreste und das dreckige Geschirr weg, säubert die Tische und stockt die Flaschen im Regal hinter dem Tresen auf. Sieht aus, als wären die Gäste schon zum Abendessen da gewesen. Auch wenn Caspar die Abläufe auf der Insel kennt, ist es eine Umstellung wieder auf Entwerdar zu sein und es würde ein paar Tage dauern, bis er sich eingelebt hat.

»Hereinspaziert, Herrschaften!«, sagt Jark, der eine Flasche in das Regal hinter ihm stellt.

Die Crew lässt sich an ihrem Stammtisch nieder.

In der Küche poltert es, dann streckt Hilla den Kopf aus der Tür. »Einen Moment.«

Als die Wirtin wieder erscheint, balanciert sie zwei Becher in der einen und zwei Schüsseln in der anderen Hand. Sie platziert ein paar Kartoffeln, geschmortes Wurzelgemüse und etwas Soße vor Joel und Caspar.

Der Zimmermann sieht fragend zu seinen Freunden.

»Wir haben schon gegessen«, antwortet Iris.

»Hattet ihr eine sichere Überfahrt?«, fragt Hilla und legt die Hand auf Joels Schulter.

»Viel wichtiger«, sagt Jark und zieht einen Stuhl heran, um sich zu ihnen zu setzen, die Arme auf der Rückenlehne verschränkt. »Was hat er gesagt? Ist er dabei?« Er sieht fragend in Caspars Richtung. Neugierige Blicke ruhen auf dem Zimmermann, der nur mit den Schultern zuckt und es abtut, als wäre es was ganz Normales.

»Natürlich. Warum auch nicht?«

Die Gruppe bricht in Jubel aus. Caspar verschluckt sich an einer Kartoffel, als Veit ihm freundschaftlich auf die Schulter klopft, um ihm zu gratulieren. Die goldenen Funken von Olivias Magie tanzen um den Tisch.

»Was ist mit dir, Liv?«

»Oh, ich bin durch den Göttereid ohnehin schon geschützt.«

»Hast du dir schon überlegt, welches Schiff du dafür nehmen willst?«, fragt Aaron.

Joel lässt den Löffel sinken. »Ich denke mal, eines der Trainingsschiffe. Die meisten Matrosen sind mit denen vertraut, aber ich weiß nicht, in was für einem Zustand Ansgar die hinterlassen hat.«

»Das finden wir heraus. Ich kann mir die Schiffe gleich nach dem Essen ansehen.«

»Du bist gerade angekommen und möchtest schon mit den Arbeiten an den Schiffen beginnen? Bist du sicher? Es ist schon spät.« Hillas Stimme ist fürsorglich. Die Wirtin ist wirklich eine gute Seele.

Caspar setzt die Schüssel an, um das restliche Essen herauszukratzen. »Ich kann mir nichts Besseres vorstellen!«

Und das ist nicht mal gelogen. Die Arbeit an der Trunker hat ihm gezeigt, wie gerne er Schiffszimmermann ist.

Als sich die Gruppe auflöst, bleiben Caspar und Olivia alleine im Heringskopf zurück. Die Tür zu dem Heilerzimmer auf der rechten Seite des Gasthauses steht offen und der Geruch von getrockneten Blumen mischt sich mit dem des Rauches aus dem Gastraum. Wie immer, wenn sich keiner ins Heilerzimmer verirrt, hilft die Magierin aus, um die Tische zu säubern.

»Liv? Kannst du dir das mal ansehen, bevor ich gehe?«, fragt Caspar, als Olivia wieder aus der Küche kommt. Sie deutet auf die offene Tür hinter ihm und er folgt ihrer Anweisung.

»Was gibt es denn?«

Caspar erzählt ausführlich über die Sache mit den Sirenen und über seine Vermutung, dass es von Avinos Zauber stammen muss. Das freundliche Lächeln auf Olivia ihrem Gesicht verschwindet und ihr Ausdruck wird ernst.