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Ein altes Antiquariat, ein Funken Magie und eine Reise quer durch Frankreich – perfekte Zutaten für fantastische Lesestunde Ein Traum geht für die 16-jährige Clara in Erfüllung als sie ein Praktikum in einem alten Antiquariat mitten in Lyon machen darf. Doch kaum angekommen, merkt sie, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht: Sobald Clara ein Buch findet, in dem ein Vorbesitzer einen Gegenstand vergessen hat, verhalten sich der grummelige Monsieur Mathis und die Antiquariatsbesitzerin Yvette Lombardäußerst merkwürdig. Noch dazu scheinen die Bücher selbst und die Dinge in ihnen Geheimnisse in sich zu tragen. Und ehe sie sichs versieht, befindet Clara sich auf einer Reise quer durch Frankreich, bei der sie den Rätseln zwischen den Seiten nachjagt und mit magischen Familiengeheimnissen konfrontiert wird. Das neue humorvoll-romantische Jugendbuch ab 12 Jahren von Daphne Mahr, der Autorin von "Booklove"
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Seitenzahl: 405
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Ein Praktikum in einem alten Antiquariat! Ein Traum geht für die 16-jährige Clara in Erfüllung. Doch kaum in Lyon angekommen, merkt sie, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht: Sobald Clara ein Buch findet, in dem ein Vorbesitzer einen Gegenstand vergessen hat, verhalten sich der grummelige Monsieur Mathis und die Antiquariatsbesitzerin äußerst merkwürdig. Noch dazu scheinen die Bücher selbst und die Dinge in ihnen Geheimnisse in sich zu tragen … Clara weiß nur eins: Sie wird den Dingen auf den Grund gehen!
Ein romantisch-magisches Buchabenteuer, das quer durch Frankreich führt!
Wunder kommenzu denen,die an sie glauben.
Sprichwort aus Frankreich
Bücher sind Schiffe, welchedie weiten Meereder Zeit durcheilen.
Francis Bacon
Über das Buch
Prolog: Fête des Lumières
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Das Ende der Mission …
Epilog: Fête des Lumières
Glossar
Nachwort
Merci
Es passierte in der letzten Nacht des Lichterfests. Die Einwohner Lyons hatten ihre Fenster mit Kerzen geschmückt, ein eisiger Wind trug den Geruch frischer Crêpes durch die schmalen Altstadtgassen und über dem Wasser der Saône hing eine dünne Nebeldecke. Vermutlich würde bald der erste Schnee fallen.
Noël hasste Kälte.
Das war allerdings nicht der Grund, warum er es so eilig hatte. Er grub die Hände in die Taschen seines dunkelgrauen Cordmantels, dessen Ärmel mit braunen Flicken übersät waren, und blickte konzentriert auf den uneben gepflasterten Boden der Rue Saint Jean. Die schwarze Strickmütze hatte er tief in die Stirn gezogen, als wollte er sich darunter verstecken. Mit aller Kraft versuchte er dem Drang zu widerstehen, zurück auf den Platz mit der hell erleuchteten Kathedrale, der Cathédrale Saint-Jean-Baptiste de Lyon, zu sehen. Obwohl Noël bereits einige Meter hinter sich gelassen hatte, spürte er immer noch die bohrenden Blicke in seinem Nacken. Er wusste, wieso sie das taten. Genauso wie er wusste, dass er sich nichts anmerken lassen durfte. Das hätte nur ihre Neugier geschürt. Ihren Verdacht gestärkt. Ihn interessanter gemacht. Besser war, sie hielten ihn für einen langweiligen Ahnungslosen. Einen jungen Mann von zwanzig Jahren, der seine Fähigkeiten nicht beherrschte. Der sich heute Abend mit Freunden getroffen hatte, um nichts anderes zu tun, als das prachtvolle Lichtermeer zu bewundern, in das Lyon sich jedes Jahr rund um den achten Dezember verwandelte. Der die vergangenen Stunden damit verbracht hatte, ziemlich viele Crêpes zu essen und ziemlich viel Glühwein zu trinken. Ein junger Mann, in dessen Manteltaschen steif gefrorene Finger steckten – doch kein Gegenstand von Wert –, und der sich auf dem Heimweg befand. Was der Realität entsprach. Das hier war Noëls Heimweg. Bis zu dem alten Buchladen seiner Familie fehlten nur noch fünfzig Schritte. Fünfzig Schritte, die Noël mit verbundenen Augen hätte gehen können, und dabei hätte er immer genau gewusst, an welchem der vielen kleinen Lokale mit Klappstühlen und rot-weiß-karierten Tischdecken er gerade vorbeikam.
Vor allem aber wies ihm die Geigenmusik des Puppenspielers die Richtung. Solange Noël sich erinnern konnte, war nie auch nur ein Tag vergangen, an dem der alte Mann mit der regenbogenfarbenen Ballonmütze, den buschigen Brauen und den weißgrauen Locken nicht an einer der Häuserecken seine Holzmarionetten hatte tanzen lassen. Und natürlich trotzten die Puppen und ihr Spieler auch in dieser Nacht Dunkelheit und Kälte, baten die Passanten um eine kleine Spende und füllten Kindergesichter mit Aufregung.
Als Noël sich näherte, hielt der alte Mann inne. »Guten Abend, Monsieur Lombard. Wie geht es dem Baby?«, fragte er durch die Gasse.
Noël verlangsamte seine Schritte, bis er schließlich direkt vor dem alten Mann stehen blieb und ihn freundlich anlächelte. »Guten Abend, Gaston! Ach, das Baby ist bald kein Baby mehr.« Er zog die Hände aus seinen Manteltaschen und rieb sie einige Male kräftig gegeneinander. Aber die gefrorene Luft war gnadenlos; sie kroch bis unter die Nägel, und er kam nicht gegen sie an. »Ich fürchte, Malou und ich müssen in den nächsten Wochen auf Schlaf verzichten. Die Zähne haben uns fest im Griff.«
»Ach weh, ach weh, das arme kleine Wesen …«, brummte der Puppenspieler, ehe er die Marionette mit der demolierten Nase aufgeregt springen ließ und mit glockenhell verstellter Stimme rief: »Die Zähne? Was hat das Kind denn an den Zähnen?« Nun warf er Noël einen entschuldigenden Blick zu und wandte sich dann mit seiner eigenen Sandpapierstimme an die Puppe: »Dummkopf! Das Kind hat nichts an den Zähnen, es bekommt welche! So ist das mit Menschenkindern, die sind nicht mit dem ersten Atemzug fertig geschnitzt.« Erneut sah er Noël an. »Bitte nehmen Sie es ihm nicht übel, Monsieur Lombard. Caillou ist entsetzlich vorlaut.«
Noël schmunzelte. »Ach, ich würde Cai…«
Doch weiter kam er nicht. Plötzlich war ihm, als habe sich in seinem Augenwinkel etwas bewegt. Kurz und flüchtig, wie ein Schatten, der eine Mauer entlanghuscht. Dennoch lange genug, um ihm eine Warnung zu sein. Er durfte keinesfalls unachtsam werden. Sie beobachteten ihn immer noch.
Noël atmete tief durch, beugte sich ein Stück vor und raunte: »Gaston, die Stadt leidet unter einer Bücherwurmplage.«
»Bücherwürmer?« Jetzt flüsterte auch der Puppenspieler und seine Stirn legte sich in Furchen. »Mon Dieu! Käfer oder Larven?«
»Käfer …« Noël richtete sich wieder auf – und noch im selben Moment entdeckte er die dunkle Gestalt am Ende der Gasse. Sie stand mit dem Rücken gegen eine Hausfassade gelehnt, die Beine überkreuzt von sich gestreckt. In einer Hand eine Zigarette.
Blauer Qualm.
Vorgetäuschtes Desinteresse.
Noël kannte diese Tricks.
Sie wollten ihn für dumm verkaufen.
Ihn in Sicherheit wiegen.
Sie wussten Bescheid.
Sie folgten ihm.
Er hatte gehofft, sie würden sich täuschen lassen und nichts weiter als Vermutungen anstellen. Aber dafür strahlte der Inhalt seiner Tasche wohl doch zu stark aus.
Noël hätte sich selbst ohrfeigen können! Wieso war er ausgerechnet an einem Abend wie diesem dermaßen nachlässig gewesen? In einer Nacht, in der die Stadt nur so wimmelte von Menschen! Wenn Malou herausfand, dass er heute den offensichtlichen Weg gewählt hatte, anstatt unbemerkt durch eine der versteckten Seitengassen zu schleichen, von denen es in Lyon mehr als genug gab, würde sie ihm den Kopf abreißen. Nein. Erst würde sie ihm natürlich die hellbraunen Haare verstrubbeln und ihn stürmisch küssen, wie sie es immer tat, wenn er mit allen Gliedmaßen am Leib von einem Auftrag zurückkehrte. Denn seit Malou ihn und die Besonderheit seiner Familie kannte, war eine ihrer größten Sorgen, die Aufträge, die er für den Laden durchführte, könnten ihn Arme oder Beine kosten. Was grenzenloser Unsinn war. Wenn man Pech hatte, konnten sie einen das Leben kosten, aber keine Körperteile. Das fürchtete Malou nur, weil Grand-père Antoine die leidige Angewohnheit hatte, Antiquarsanekdoten mit Details auszuschmücken, die er zuvor in irgendwelchen eingestaubten Piratenromanen gelesen hatte. Wie dem auch sei, Malou würde Noël, trotz aller vorhandenen Körperteile, einen waghalsigdämlich-leichtsinnigen Blödmann schimpfen, der sich endlich seiner neuen Verantwortung als Vater bewusst werden musste und niemals – Niemals! – wieder auf die Idee kommen sollte, diese skrupellosen Unwesen in die Nähe des Ladens zu locken.
Womit sie recht hatte.
Natürlich hatte sie das.
Aber Noël war mit diesen Dingen aufgewachsen.
Seine Tante, sein Großvater, sein Vater, sein Onkel – sie alle hatten ihn von klein auf gelehrt, wie man Bücherwürmer loswurde.
Ohne der Gestalt am Ende der Gasse weitere Aufmerksamkeit zu schenken, wandte Noël sich wieder dem Puppenspieler zu. »Ein gutes Spiel, Gaston«, sagte er. Hastig kramte er eine silberglänzende Münze aus seiner Manteltasche und schubste sie mit einem Fingerschnippen in den zerschlissenen Geigenkoffer. Dort drehte sie eine Pirouette, ehe sie zwischen zwei einsamen Fünfzig-Cent-Stücken erstarrte und keine Sekunde später umkippte.
Der Blick des alten Mannes streifte das Geldstück. Einen Wimpernschlag lang herrschte Stille, dann zog er mit einem kräftigen Ruck die Ballonmütze von seinem grauen Lockenkopf, presste sie fest gegen die Brust und deutete eine sachte, kaum wahrnehmbare Verbeugung an. »Es ist mir ein Vergnügen, Monsieur Lombard«, flüsterte er.
Noël nickte. »Danke, Gaston.«
»Ich danke Ihnen, Monsieur Lombard. Grüßen Sie Ihre bezaubernde Malou und den kleinen Schreihals.«
»Das mache ich.« Noël lächelte. »Bestimmt schaut Malou bald vorbei. Sie ist richtiggehend vernarrt in Caillou. Ich wünsche einen schönen Abend, Gaston.«
»Einen schönen Abend, Monsieur Lombard.« Der alte Mann schob die Mütze zurück auf seinen Kopf. »Auf dass die Regale Ihres Antiquariats heute Nacht frei von Bücherwürmern bleiben!«
»Das werden sie, Gaston.« Ein letztes Mal hob Noël die Hand zum Gruß, bevor er sich wieder auf den Weg machte.
Nur wenige Schritte später hörte er den Klang der Puppengeige durch die Rue Saint Jean hallen. Es war eine traurige Melodie, aber kräftiger als all die fröhlichen Lieder, die Gaston seine Holzmarionette an anderen Tagen spielen ließ. Sie war durchdringender. Sehnsüchtiger. Echter. Es war, als würden die Töne wie Efeuranken die Hausfassaden emporklettern. Als würden sie über den Boden bis in die kleinsten Mäuselöcher kriechen. Niemand konnte sich diesen Klängen entziehen. Noël musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Menschen, die normalerweise gleichgültig an dem bärtigen Mann mit Marionette vorbeigeschlendert wären, nun stehenblieben und ihn gebannt beobachteten. Genauso wenig musste Noël sich umdrehen, um zu wissen, dass die Schattengestalt am Ende der Gasse verschwunden war. Dass die Dunkelheit sie verschluckt hatte. Wie es immer passierte, wenn Gaston sein Lied spielte.
Der Anfang eines Buches ist ein Versprechen.
Ein winziger Vorausblickauf das, was einenzwischenden Seiten erwartet.
Es gibt unendlich viele Arten vonAnfängen.
Manche sind sanft und leise,andere halten dirgleichim ersten Satzdie Pistolevor die Nase.
Sie lassen ihren Lesern keine Zeit,es sich in ihrer Weltgemütlich zu machen. Sie wollen auch gar nicht,dass ihre Leser es gemütlich haben.
In ihnen stecken Nervenkitzel und Kanonenpulver, keinFeenstaub oder zu pink gerateneHimbeermacarons.Dennoch sind sie harmlos.Es gibt nur eine Art von Büchern, vor denen dudich in Acht nehmen musst, meine kleine Clara.Die verlorenen Bücher.Ihr Inneres kann einen kuscheligen Abend vor dem Kaminvon einer Sekundeauf die andere in eine Nacht voll lebendiger Schatten verwandeln.
Wie aus dem Nichts lassen siedunkle Gestalten in das milchige Licht der Laternen treten.
Geschlüpfte Bücherwürmer.
Falls dir das jemals passieren sollte, Clara, falls dir ein verlorenes Buchin die Hände fallen sollte und falls ein geschlüpfter Bücherwurm an deinFenster klopfen sollte, musst du mir eins versprechen:
Sei eine mutige kleine Chevalier. Zeig ihnen niemals deine Angst!
Philippe Gustave Chevalier
Bis zu meinem elften Geburtstag fuhr ich jedes Jahr Anfang August mit dem Zug von München nach Lyon. Meistens mit meiner Mutter, einmal mit Mama und Papa gemeinsam – und danach nie wieder. Dieses eine Mal vor dem Niewieder war die traurigste Frankreich-Sommerferienreise meines Lebens. Meine Eltern hatten mich nicht wie sonst einfach vom Gare de Lyon Perrache vorbei am Place Bellecour bis in die Rue Saint Jean in der Altstadt gebracht. Wir blieben nicht vor dem historischen Renaissancestadthaus stehen, in dessen Untergeschoss sich das Antiquariat der Familie Lombard befindet und wo im Dachgeschoss Papy Philippe wohnte. Mama drückte nicht den kleinen Messingknopf in der Steinmauer direkt neben dem winzigen Schild mit der verschnörkelten Aufschrift Atelier de relieur Chevalier, Buchbinderei Chevalier, und wartete nicht, bis Papy Philippe mit einer qualmenden Tabakpfeife im Mund und einem alten Buch in der Hand das Fenster öffnete, den Kopf herausstreckte und freudestrahlend rief: »Meine kleine Clara ist wieder da!« Und danach eilte mein französischer Großvater – mein lieber Grand-père, mein Papy Philippe – auch nicht so schnell wie möglich durch den Hinterhof bis zu der dunkelgrünen, schweren Holztür, um mit mir und Mama unsere traditionellen Begrüßungscrêpes in Raouls Crêperie zu essen. Ich glaube, diese eine Frankreichreise vor dem Niewieder war tatsächlich der Moment, in dem ich herausfand, dass man niemanden für immer hat. Vor allem nicht seinen Opa. Dass man jede Sekunde genießen muss, die gemeinsam bleibt, weil es irgendwann keine solchen gemeinsamen Sekunden mehr geben wird. Keine Schokoladencrêpes, keine Nächte in der Buchbinderwerkstatt mit den spannendsten Märchen der Welt, keine selbst gebundenen Glitzertagebücher, auf deren Einband mir mein Großvater in extragroßen Buchstaben CLARA CLAIRE BERNSTEIN geprägt hatte, keine Papy-Philippe-Croissants zum Frühstück und keine Frankreich-Sommerferien.
Das alles war gemeinsam mit Papy Philippe aus meinem Leben verpufft wie eine Seifenblase, die in den Himmel schwebt und in der Sonne platzt.
Nachdem wir also all die Dinge nicht taten, die für mich sonst zu jeder Lyon-Reise dazugehörten, fuhren wir zum Friedhof, und ich hielt die Hände meiner Eltern, während Papy Philippes Sarg in der Erde verschwand. Und die ganze Zeit lief keine einzige Träne über meine Wangen, weil es eine Art von Traurigkeit gibt, bei der man nicht einmal mehr weinen kann. Bei der einem einfach bloß ein dicker Kloß im Hals steckt und man glaubt, alle Gefühle hätten sich aus dem Körper verflüchtigt. Als hätte man sie verloren. Genauso wie den Menschen, von dem man dachte, man würde ihn niemals verlieren.
Inzwischen lag das fünf Jahre zurück.
Heute war der dritte August.
Gestern war ich sechzehn Jahre alt geworden.
Und heute hatte sich dieses Niewieder in ein Dochwieder verwandelt. Zum ersten Mal seit damals stand ich am Bahnsteig des Gare de Lyon Perrache. Nun jedoch ohne Mama und Papa, denn meine Eltern fanden, dass eine Sechzehnjährige das Recht hatte, die Welt allein zu erkunden. Sie stellten sich das wie in Büchern oder Filmen vor, in denen Jugendliche die verrücktesten Abenteuer erleben und darüber erwachsen werden.
Wäre das hier wirklich ein Film gewesen, dann würde das Bild nun langsam auf ein Mädchen mit von der Sonne ausgebleichten roten Chucks an den Füßen zoomen, das sich fieberhaft umsah. Dazu trug ich ein blaues Sommerkleid mit weißen Pünktchen, das weder cool noch neu noch praktisch noch sonst was war, denn von solchen Dingen hatte ich keine Ahnung, und das war auch noch nie anders gewesen. Meine rabenschwarzen Haare hatte ich zu einem unordentlichen Dutt hochgebunden – nichts ahnend, dass sie in diesem Sommer eine wichtige Rolle spielen würden. Genauso wie meine dunkelbraunen Augen und der viel zu große Leberfleck auf meiner linken Wange in diesem Sommer eine wichtige Rolle spielen würden.
Mein moosgrüner Trolley war ganz schön schwer, und ich hielt in der rechten Hand ein eierschalenfarbenes Papierkärtchen, das ich unter keinen Umständen verlieren wollte. Denn darauf stand eine mit schwarzer Tinte gekritzelte Nummer, die ich anrufen sollte, falls ich die Frau mit dem langen blonden Flechtzopf nirgendwo entdecken konnte. Und ich entdeckte sie nirgendwo. Was nicht daran lag, dass ich Yvette Lombard nicht gekannt hätte. Im Gegenteil. Ich hatte Tausende Erinnerungen an die Antiquarin aus der Rue Saint Jean. Obwohl wir kein bisschen miteinander verwandt waren, fühlte es sich so an, als wäre sie meine Tante. Sie schickte Weihnachtskarten, Geburtstagskarten und war stets zur Stelle, wenn man sie brauchte. So war sie zum Beispiel, als Mama die Zwillinge bekommen hatte, extra nach München gereist, um meine Eltern zu unterstützen. Wie eine richtige Tante das eben tat. Vor allem aber erinnerte ich mich an ihre Besuche in Papy Philippes Buchbinderwerkstatt und die vielen staubigen Bücher, die sie ihm immer gebracht hatte, damit er sie rettete. Und an die rosaroten Bonbons aus den Taschen ihrer Strickwesten, die sie mir, als ich noch ganz klein gewesen war, mit den Worten »Sieh mal, Clara, dir wachsen pinke Perlen hinter den Ohren. Ein eindeutiges Anzeichen für Feenblut!« aus dem Kragen gezaubert hatte.
Normalerweise hätte ich Yvette Lombard also ganz bestimmt nicht übersehen. Doch heute wimmelte es im Gare de Lyon Perrache so sehr von Menschen mit Koffern und Rucksäcken, die hinaus in die Stadt drängten, dass ich mich vor lauter Trubel kaum orientieren konnte. Es wurde gerempelt, gestoßen, geschoben und manchmal ein wenig geflucht. Doch nichts kam gegen das Herzklopfen an, das in meiner Brust polterte. Vielleicht war das hier der aufregendste Tag meines Lebens. Jedenfalls dachte ich das. Clara Bernstein, einen aufregenderen Tag wird es nie wieder geben!, schoss es mir andauernd durch den Kopf. Wahrscheinlich sind das normale Gedanken, wenn man zum ersten Mal alleine eine so weite Reise macht.
Gerade als ich dazu ansetzte, das Smartphone aus meiner Stoffumhängetasche zu nesteln, um die Tinten-Kritzel-Nummer zu wählen, hörte ich es.
»CLARA!!!«
Ein paar Leute drehten sich verwundert um. Ich sah von meinem Handy auf. Mit weit in die Höhe gereckten Armen stand Yvette neben dem Bahnhofseingang und winkte, als wäre sie ein überdimensionaler Scheibenwischer. »Clara! Clara! Clara!«, brüllte sie. Ganz ehrlich, hätte jemand wie meine Mutter irgendwo in der Öffentlichkeit eine ähnliche Show abgezogen, wäre ich vor Scham im Erdboden versunken. Aber bei Yvette war das anders. Bei ihr musste ich grinsen wie ein Honigkuchenpferd. Yvette gab es eben nur in speziell. Da genügte ein Blick auf ihre Klamotten. Obwohl die Augustsonne vom Himmel knallte, trug sie eine hellgrüne, hüftlange Strickweste zu einer knallgelben Bluse und einer kirschroten Leinenhose. Ihr Zopf hing locker nach vorn über die linke Schulter und mir fiel sofort wieder ein, wieso Mama und Papa ihr irgendwann heimlich den Spitznamen »Flip« verpasst hatten. Mit ihrem schlanken, hochgewachsenen Körperbau und den langen Beinen erinnerte sie wirklich an die nette Heuschrecke aus Biene Maja. Fehlte nur der Hut.
Vielleicht war es die Art, wie Yvette meinen Namen aussprach, mit den lang gezogenen A, genau wie Papy Philippe es immer getan hatte, sodass man hätte glauben können, ich würde Claaraa heißen, oder weil sie sowieso Französisch sprach und dann auch noch »Ma chère!« rief – jedenfalls wurde mir zum ersten Mal, seit ich heute Morgen um sechs Uhr in München in den Zug gestiegen war, so richtig bewusst, dass ich gerade nicht träumte. Ich war wirklich hier! In Frankreich! In Lyon! Und ich würde den ganzen Sommer bleiben!
Für einen Moment vergaß ich sogar, wie tonnenschwer mein Trolley war. Ich steckte mein Handy weg, packte den Koffergriff und bahnte mir, so schnell ich konnte, einen Weg durch die Menschenmassen.
Auf halber Strecke kam mir Yvette entgegengelaufen. »Clara!«, rief sie ein letztes Mal, dann zog sie mich ruckartig an sich, sodass der Trolley hinter mir mit einem Rums umkippte. »Es ist so schön, dich zu sehen!«, murmelte sie mir in die Haare.
»Es ist so schön, dass ich kommen durfte«, murmelte ich auf Französisch zurück. Und urplötzlich verwandelte sich das aufgeregte Flattern in meinem Bauch in einen brennenden Druck, der von meiner Brust bis in meine Augen wanderte. Ich blinzelte und blinzelte. Doch es ließ sich nicht mehr verhindern: Tränen kullerten mir über die Wangen. Ganz von selbst. Auch wenn das vielleicht ein bisschen verrückt klingt. Wahrscheinlich lag es an Yvettes Geruch, dieser Mischung aus Bleistift, Staub und alten Büchern, die sich in der Wolle ihrer Strickweste festgesetzt hatte, und die mich unendlich an Papy Philippe erinnerte. Mit dem Unterschied, dass Papy Philippe immer auch noch etwas nach Pfeifentabak gerochen hatte. Es war, als würde das alles – die lange Reise, die Aufregung, weil ich zum ersten Mal vollkommen allein unterwegs war, die Ankunft an einem Ort, den ich so schrecklich vermisst hatte, das Wiedersehen mit Yvette, diese Begrüßung – einen Knoten aus Gefühlen in mir lösen, der in den letzten Jahren immer fester geworden war. Der sich die ganze Zeit wie ein Stahlseil um mein Innerstes gewickelt hatte.
»Was heißt, dass du kommen darfst?«, empörte Yvette sich nun, schob mich mit ausgestreckten Armen ein Stück von sich und betrachtete mich prüfend. Dann strich sie mir mit dem rechten Daumen ein paar Tränen aus dem Gesicht. »Die Enkeltochter von Philippe Chevalier ist jederzeit willkommen. Du hättest mich gerne schon früher besuchen dürfen. Wenn ein junges Mädchen sich zum Geburtstag wünscht, die Sommerferien freiwillig in meinem stickigen alten Buchladen zu verbringen, werde ich sowieso schwach. Ich liebe Menschen mit kuriosen Wünschen! Also zumindest denke ich, dass das ein ganz schön ungewöhnlicher Wunsch ist. Möglicherweise verstehe ich aber auch einfach nur nichts mehr von Teenagern. Ich jedenfalls wollte in deinem Alter immer ans Meer und mich unsterblich verlieben! Das mit dem Verlieben habe ich auch getan, alle zwei Wochen neu, dafür jedes Mal unsterblich.« Sie lachte. Auf eine so ansteckende Weise, dass sich der dumpfe Druck aus meiner Brust verzog, und ich plötzlich ebenfalls lachen musste, obwohl Yvette meinen Wunsch seltsam genannt hatte. Doch bei ihr klang das überhaupt nicht böse. Anders als wenn meine Freundin Nele solche Dinge sagte. Sie fand es völlig crazy, dass ich freiwillig fünf Wochen zwischen eingestaubten Büchern in einem Antiquariat arbeiten wollte, anstatt mit ihr und unserem gemeinsamen Kumpel Jan ins Surfcamp nach Griechenland zu fahren, Cocktails zu schlürfen, knackbraun zu werden und den ganzen Tag mit irgendwelchen Jungs zu flirten. Genau genommen war sie sogar ziemlich sauer auf mich, weil ich nicht mitgekommen war. Sie kapierte nicht, wie mir die Bücher- und Frankreichsache nur wegen meines verstorbenen Opas wichtiger als unsere Triofreundschaftsgang sein konnte. Was Quatsch war. Ich hielt das nicht für wichtiger, sondern einfach für genauso wichtig. Okay, zugegeben, unter Umständen hielt ich die Frankreichreise doch für etwas wichtiger … also … nicht als unsere Freundschaft, aber als Surfen und Flirten in Griechenland. Zumal ich sowieso weder Ahnung vom einen noch vom anderen hatte. Außerdem sprachen wir hier über meinen Lebenstraum. Schon als Kind hatte ich mir vorgestellt, eines Tages wie mein Großvater mit alten Büchern zu arbeiten.
Manchmal, wenn ich die Augen schloss, kam es mir so vor, als wäre ich wieder das kleine Mädchen, das im Schneidersitz auf Papy Philippes Werkstattbank saß und stundenlang dabei zusah, wie er seine Hände über Leinen oder Leder streichen ließ. Wie er sich daranmachte, schöne Einbände von vollständig zerstörten Seiten zu befreien und sie mit neuen Seiten zu füllen – oder gute Seiten aus kaputten Einbänden löste.
»Am Anfang musst du fragen, was das Buch braucht, ma chère«, hatte Papy Philippe mir dabei jedes Mal erklärt und gezwinkert. Mit diesem typischen Papy-Philippe-Zwinkern, bei dem sich eine winzige Falte auf seinem Nasenrücken gebildet hatte. »Eine gute Buchbinderin versteht, dass sie den Büchern zuhören muss. Sie sagen dir selbst, was sie brauchen. Auf gar keinen Fall darfst du den Menschen zuhören. Mon Dieu, die haben ja keine Ahnung! Am Ende wollen sie pinkfarbene Lesebändchen. Non, ma chère, wenn sie reden, nickst du freundlich und lässt die Sätze an deinen Ohren vorbeiflattern, als wären sie Schmetterlinge.«
Und genau das wollte ich nach der Schule werden: eine gute Buchbinderin. Deshalb hatte ich mir zum Geburtstag ein Praktikum in Yvettes Antiquariat gewünscht. Natürlich wusste ich, dass die Arbeit dort relativ wenig mit Buchbinden zu tun hatte. Aber es war der einzige Ort der Welt, an dem ich das Gefühl hatte, Papy Philippe nahe zu sein und gleichzeitig zu lernen, auf die Art mit alten Büchern umzugehen, wie er es getan hatte.
»So, jetzt lass dich anschauen«, riss Yvette mich aus meinen Gedanken. »Mhm, mhm, mhm.« Bei jedem Mhm betrachtete sie mich von einer anderen Seite. »Groß bist du geworden! Sag bloß, einen Meter siebzig?«
»Achtundsechzig«, lachte ich und wischte mit den Handrücken meine Wangen trocken.
»Nein!« Yvette schüttelte den Kopf. »Das kann unmöglich die kleine Clara Bernstein sein! Warst du nicht eben noch so?« Sie klopfte sich an die Knie.
»Yvette!« Ich musste gleich noch mehr kichern. »Ich bin gestern sechzehn geworden. Das letzte Mal war ich mit elf hier. Ganz so klein war ich da aber auch nicht mehr«, erinnerte ich sie, während ich einen Schritt zurücktrat und den Trolley hinter mir aufhob. Gerade rechtzeitig, ehe ein Mann mit Nadelstreifenanzug und Aktentasche, der telefonierte und keine Sekunde auf den Boden guckte, darüber stolpern konnte.
»Stimmt.« Yvette nickte ernst. »Ach Gott, bei Philippes Beerdigung, nicht wahr? Er fehlt so sehr.« Sie seufzte tief und nahm mir ungefragt den Koffer ab. »Ich finde einfach keinen Buchbinder, der ähnlich viel von Büchern versteht wie dein lieber Grand-père. Als Antiquarin brauche ich aber jemanden, der das tut. Er darf nicht davor zurückschrecken, Lösungen für besonders schwierige Kandidaten zu überlegen. Du musst wissen, manche der Bücher, die zu mir kommen, sind in einem grauenhaften Zustand.« Sie seufzte ein weiteres Mal. »Das kannst du gleich selbst sehen. Heute ist eine Lieferung aus einer aufgelösten Bibliothek in Avignon bei mir angekommen. Monsieur Mathis hat sie ersteigert. Erinnerst du dich an ihn?«
»Äh, ja.« Ich nickte. Wie hätte ich Yvettes grummeligen Mitarbeiter mit den Segelohren und dem Schnauzbart bis über das Kinn jemals vergessen können? Als Kind hatte ich mir seinetwegen vor Angst regelrecht in die Hose gemacht. Vor allem, nachdem er mich einmal mächtig angemotzt hatte, weil ich im Hinterhof die Arkadenfenster entlanggeklettert war.
Anscheinend las Yvette meine Gedanken. »Keine Sorge, er hasst Kinder, aber ein Kind kann man dich jetzt ja wohl nicht mehr nennen. Und du wirst viel von ihm lernen! Der Mann ist zwar selten gut gelaunt, hat aber ein Händchen für das Aufspüren wundervoller Schätze! Unter den neuen Büchern sind zauberhafte Stücke. Beispielsweise eine nahezu zweihundert Jahre alte Ausgabe von La Belle et la Bête, neben den armen Wesen, bei denen ich noch nicht weiß, was ich mit ihnen machen soll. Vermutlich stecke ich sie hinunter ins Lager, bis mir ein fähiger Buchbinder über den Weg läuft. Oder du so weit bist.« Schmunzelnd knuffte sie mich in den Oberarm. »Komm jetzt, wir sollten los. Sonst wird Mathis doch noch ungemütlich. Er hasst es, wenn ich ihn allein arbeiten lasse. Obwohl …« Sie wog den Kopf hin und her. »Heute stimmt das gar nicht so ganz.«
»Ach?«, wunderte ich mich und folgte ihr ins Bahnhofsgebäude. Eigentlich glich es einem Wunder, dass Yvette mich überhaupt bei sich arbeiten lassen wollte. Sie war berühmt dafür, niemanden außer Monsieur Mathis zwischen ihren deckenhohen Regalen zu akzeptieren. Und Monsieur Mathis gehörte seit über zwanzig Jahren ins Antiquariat der Familie Lombard. Länger, als Yvette das Geschäft leitete. Noch ihr Großvater, Antoine Lombard, hatte ihn eingestellt. »Gibt es einen neuen Mitarbeiter?«, fragte ich neugierig.
Yvette warf mir einen Blick über die Schulter zu. »Mmm, das verrate ich später, ma chère! Es ist eine Überraschung!«
An besonders heißen Sommertagen riecht die Luft in Lyon nach Lavendel und Meer. Zumindest kommt mir das so vor. Auch wenn Papy Philippe früher immer nur lachend den Kopf geschüttelt hatte, sobald ich das sagte. »Non, Clara, das ist kein Lavendel, wir sind hier nicht in der Provence! Das sind die Kiefern! Und Meer sehe ich erst recht keines, nur die Rhône und die Saône«, hörte ich seine Stimme in meinem Kopf, während Yvette mich über die Pont Bonaparte in Richtung Vieux Lyon führte. Unter uns glitzerte das tiefgrüne Wasser der Saône, vor uns lagen die gelben, roten, braunen und orangefarbenen Altstadtfassaden mit ihren putzigen Gaubendächern und zahlreichen Schornsteinen. Wie dicht aneinandergereihte Schachfiguren streckten sie sich dem Himmel entgegen. Ich liebte diesen Anblick. Er war der perfekte Beweis dafür, dass Lyon seinen Ruf, eine hässliche Industriestadt zu sein, auf gar keinen Fall verdient hatte. Obwohl dieser Eindruck durchaus entstehen konnte, wenn man vom Zug oder von der Autobahn aus die Vorstadtsiedlungen sah. Dort begrüßten einen als Erstes trostlose Wohnblöcke, graffitibesprühte Lärmschutzwände und verglaste Bürokomplexe. Doch all das hatte nichts mit dem Lyon gemeinsam, das ich seit meiner Geburt kannte und aus dem meine Mutter stammte. Und mit Augenblicken wie diesem hier. Durch das laute Brummen der Motorroller, den fröhlichen Trubel entlang der Uferpromenade, Personen, die Fotos knipsten oder mit einem Getränk in der Hand an der Brüstung saßen und die späte Nachmittagssonne genossen, fühlte sich die ganze Welt nach Urlaub im Süden an. Am liebsten wäre ich einen Moment stehen geblieben, hätte die Augen geschlossen und meinen Dutt aufgeknotet, um die Haare in dem leichten, warmen Wind flattern zu lassen und mich währenddessen mit ausgestreckten Armen im Kreis zu drehen.
Aber natürlich machte ich das nicht. Erstens hatte Yvette ein ziemliches Tempo drauf – ihre Beine waren eindeutig länger als meine –, und ich wäre vermutlich nicht mehr hinterhergekommen, zweitens hätte ich mich das niemals im Leben getraut. Viel zu viele Leute waren auf den Straßen unterwegs, und ich fiel nicht gerne auf.
»Ich kann den Koffer wirklich selber ziehen«, sagte ich atemlos. »Der ist doch verdammt schwer!«
»Eben.« Yvette blieb vor dem Zebrastreifen stehen, über den man von der Brücke hinunter auf die Straße gelangte, und wartete, bis ich sie eingeholt hatte. Dann packte sie meine Hand, als wäre ich ein kleines Kind, und eilte mit mir auf die andere Seite. Gerade noch rechtzeitig erreichten wir den Bürgersteig, denn obwohl die Fußgängerampel Grün zeigte, rauschten hinter uns die Autos vorbei. Yvette schenkte dem Verkehr keine weitere Beachtung. Na klar. Für sie gehörte es zum Alltag, dass sich niemand an solche Dinge wie Ampeln hielt. Ich hingegen musste mich erst wieder daran gewöhnen: Mein Puls war augenblicklich in die Höhe geschnellt.
Yvette setzte den Weg zur Rue Saint Jean fort. »Du bist jetzt zehn Stunden mit dem Zug gefahren und einmal umgestiegen …«
»Zweimal«, warf ich ein. »Papa hat die günstigere Verbindung über Stuttgart und Straßburg gebucht.«
»Siehst du?!« Sie sah mich ernst an. »Wie anstrengend! Ich lasse dich nicht auch noch in der Hitze Koffer schleppen. Was würden deine Eltern von mir denken?«
»Meine Eltern würden sich gar nichts denken, die tragen mir nie den Koffer, und außerdem sind sie superdankbar, dass du mich den Sommer bei dir verbringen lässt«, sagte ich und warf im Gehen einen bewundernden Blick auf die hellgelb gestrichene Gebäudefassade zu meiner Rechten. Sie war Teil der imposanten Kathedrale. Saint Jean war eines der bemerkenswertesten Bauwerke Lyons, über das Papy Philippe oft mit Stolz gesagt hatte, dass die darin beherbergte astronomische Uhr eine der ältesten Spieluhren Frankreichs sei. Für mich hatte diese Kirche allerdings immer eine ganz andere, viel wichtigere Bedeutung gehabt. Von hier an waren es stets nur noch wenige Meter bis zum Zuhause meines Großvaters gewesen, denn direkt vor den breiten Treppen, die zu den rundgebogenen, dunkelroten Kirchentoren hinaufführten, lag der Place Saint Jean, ein von charmanten Häusern umrundeter Platz, mit einem Boden aus Kopfsteinpflaster und einem Brunnen in der Mitte. Und dieser Platz wiederum mündete geradewegs in die ebenso kopfsteingepflasterte Rue Saint Jean. Bei dieser schmalen Gasse handelte es sich nicht nur um eine der wahrscheinlich bekanntesten Altstadtgassen Lyons, durch die jährlich, vor allem in den Sommermonaten, Tausende Touristen strömten, sondern auch um die Gasse, in der sich das historische Renaissancestadthaus befand, in dem meine Mutter aufgewachsen war. Das imposante Haus mit seinen breiten Fenstern und der ockerfarben gestrichenen Fassade selbst gehörte seit vielen Generationen der Familie Lombard. Ich hatte als Kind deshalb immer gedacht, Yvette müsste steinreich sein. Das Gebäude glich mehr einer kleinen Burg oder einem Schloss als einem gewöhnlichen Wohnhaus. Es gab einen Innenhof mit efeuumwucherten Arkadenfenstern, einen Speicher voller uralter Möbelstücke und knarrende Wendeltreppen, die sich wie Bohnenranken durch alle vier Stockwerke schlängelten. Und in manchen der zahlreichen Zimmer existierten richtige Geheimtüren, von denen ich nur wusste, weil ich sie als Kind beim Spielen entdeckt hatte. Dabei hatte Papy Philippe mir eigentlich nie erlaubt, seine Mietwohnung unter dem Dach zu verlassen und in den anderen Teilen des Hauses herumzustromern. Aber ich hatte immer einen tollen Komplizen gehabt: Yvettes Grand-père Antoine, der mir jede Tür geöffnet hatte und der Ansicht gewesen war, ein solches Haus müsse von Kindern belebt werden, sonst würde es vor lauter Langeweile in sich zusammenfallen.
»Wie geht es dir denn in der Schule? Du hast ja noch gar nichts erzählt. Auch nicht, wie es deinen lieben Eltern geht. Und den Zwillingen?« Yvette ließ mir keine Zeit, über die Vergangenheit nachzugrübeln. Was gut war, sonst wäre wahrscheinlich ohnehin nur wieder dieses blöde Brennen in Bauch und Brust zurückgekehrt und hätte mir Tränen in die Augen gedrückt. Also ließ ich zu, dass sie mir Löcher in den Bauch fragte. Zum Beispiel ob es unseren Hund Asterix noch gab (ja, gab es), ob Mama ihre französische Heimat manchmal vermisste (ja, nicht ohne Grund sah unser Wohnzimmer mit all den Paris-, Provence- und Lyonfotos an der Wand und den lavendelblütenbestickten Kissen auf der Couch wie Minifrankreich aus), ob sie schöne Aufträge als Illustratorin hatte (ja, momentan ein Maulwurfbilderbuch, das sie richtig gerne mochte), ob Papa in letzter Zeit ein interessantes Buch aus dem Französischen ins Deutsche übersetzte (nö, nur einen lahmen Tomatenratgeber), was meine kleinen Brüder Maxim und Léon machten (in erster Linie schwachsinnige Sachen) und ob die Bernstein-Oma – das ist Papas Mutter – noch bei uns wohnte (klaro, das würde sich auch nicht mehr ändern, da sie sich letztes Jahr die Hüfte gebrochen hatte).
Bei jeder Antwort nickte Yvette, lächelte mich an und meinte »Wie schön, meine Hübsche«, oder, im Fall von Papas Tomatenratgeber, »Ach, wie schade, aber mir schmecken Tomaten«.
Zwischendurch deutete sie hier und da auf bestimmte Plätze und erzählte, was Mama und sie dort als junge Mädchen erlebt hatten. Denn dadurch, dass die beiden im selben Haus aufgewachsen waren, hatten sie früher richtig viel Zeit miteinander verbracht und jede Menge Quatsch angestellt. Bis meine Mutter mit zweiundzwanzig Jahren dem deutschen Sprachstudenten Paul Bernstein über den Weg gelaufen war, sich in seine witzige Art und die blonden Strubbelhaare schockverliebt hatte, und es relativ schnell zu mir gekommen war. Danach hatten meine Eltern sich für ein gemeinsames Leben in Papas Heimatstadt München entschieden, was sie nicht bereuten. Zum Glück! Ich war ziemlich happy, dass Mama und Papa sich bis heute liebten. Trotzdem fragte ich mich manchmal, wie es gewesen wäre, wären sie in Lyon geblieben. Ob ich dann eine andere Clara geworden wäre? Und nicht das schüchterne Mädchen, das in der Schule auffiel, weil es nicht auffiel? Das knallrote Ohren bekam, sobald ein Referat vor versammelter Klasse anstand? Das sich nie traute, fremde Leute auf der Straße nach dem Weg zu fragen? Das … ach … die Liste ließ sich endlos fortsetzen. Was nicht heißen soll, dass ich München nicht mochte. Ich liebte unser kleines Reihenhaus am Stadtrand, den Garten mit den vielen Tomatensträuchern und mein Zimmer mit dem Erkerfenster, in das ich mich gerne zum Lesen verkrümelte. Außerdem fand ich es schön, Weihnachten jedes Jahr mit der Bernstein-Oma zu feiern. Allein schon beim Weihnachtsessen zeigte sich, dass unsere Familie die perfekte Mischung aus Frankreich und Deutschland war. Während Mama immer Bûche de Noël zubereitete, eine superleckere Schokoroulade, die es in Frankreich Heiligabend traditionell als Nachtisch gibt, kochte Oma meist Klöße mit Rotkohl.
Aber egal, wie gut die Dinge zu Hause liefen, wirklich wie ich selbst hatte ich mich immer nur in Papy Philippes Buchbinderwerkstatt gefühlt.
Wir bogen in die Rue Saint Jean ein. Spätestens jetzt galoppierte mein Herz derartig schnell, dass ich sicher war, es würde demnächst mit einem riesengroßen Satz aus meiner Brust springen. Ich guckte nach links, nach rechts, nach oben und unten und versuchte herauszufinden, was sich in den letzten fünf Jahren verändert hatte.
Doch da war nichts. Der Kopfsteinpflasterboden unter meinen Schuhsohlen war uneben wie immer, die Häuser mit den breiten Fenstern standen eng beisammen und die Gitterbalkone waren verschnörkelt. Auch die Luft, in die sich neben dem würzigen Urlaub-im-Süden-Geruch nun auch noch eine leichte Note altes Gemäuer und der köstliche Duft frischer Crêpes mischte, war wie immer. Das Stimmengewirr aus allen möglichen Sprachen. Die kleinen Restaurants mit Tischen voll rotweiß-karierter Tischdecken, an denen lachende Menschen saßen und Kaffee tranken oder fröhlich ihre Weingläser klirren ließen. Alles war genau wie in meiner Erinnerung.
Je mehr wir uns der Mitte der Gasse näherten, desto schneller wurden Yvettes Schritte. Und auch ich erkannte den Laden von Weitem. Mit seinen breiten, rund gebogenen Schaufensterfronten und den etwas spooky aussehenden schmiedeeisernen Käferskulpturen links und rechts neben der dunkelgrünen Eingangstür ließ er sich allerdings schwer übersehen. Zwischen den vielen mit kitschigem Made-in-China-Krempel vollgestopften Souvenirshops und den teuren Boutiquen, in denen man Seidentücher, Seidenschals, Seidenblusen und gefühlt alles aus Seide bekam, stach er deutlich hervor.
Yvette blieb direkt unter dem Metallschild mit der verschnörkelten Aufschrift stehen.
Sie drehte sich zu mir um und lächelte. Als ich neben sie trat, legte sie mir einen Arm um meine Schulter. »Willkommen zu Hause, Clara! Ich freue mich sehr, dich im Antiquariat Lombard begrüßen zu dürfen. Bist du bereit für dein staubiges Sommerabenteuer?«
Ein Antiquariat ist mehr als nur ein Ort der staubigenBücher.
Ein Antiquariat ist ein Ort für Geschichten, die es verdient haben,niemals vergessen zu werden.
Ein Antiquariat ist ein Ort für alles, was das Leben zwischen die Seitenspült.
Es ist das Gedächtnis der Bücherwelt.
Der Erinnerungsgarten der
Leser.
Antoine Louis Lombard
Falls es irgendwo auf der Welt einen Ort gab, an dem man sich vorstellen konnte, dass solche Dinge wie Magie existierten, dann war das ohne Zweifel Yvettes Antiquariat. Ich kannte keinen anderen Laden, der ähnlich aus der Zeit gefallen schien wie diese Buchhandlung. Es war, als hätten die Uhren hier einfach beschlossen, nicht mehr weiterzuticken … bildlich gesprochen natürlich. In Wirklichkeit tickte die große Standuhr neben dem Kassentisch mit der altmodischen Registrierkasse ziemlich laut vor sich hin, während Yvette mir mit einer einladenden Geste die Eingangstür aufhielt, und ich in den vorderen Verkaufsraum trat. Die Luft, die von draußen mit hereinschlüpfte, wurde augenblicklich von einem Mix aus Leinen, Leder, Staub, Holz und altem Papier geschluckt.
Als die Tür ins Schloss fiel, verstummte der Gassentrubel. Mit einem Schlag waren da nur noch die Uhr und dieses leise Knarzen, das der dunkle Holzdielenboden bei jedem Schritt machte.
Kein einziger Kunde befand sich im Laden. Und anscheinend auch sonst niemand. Worüber Yvette sich offenbar nicht wunderte, obwohl nicht abgeschlossen gewesen war. Unbekümmert summte sie eine Melodie und nahm einen lose auf der Kasse herumliegenden Stapel Briefkuverts in Augenschein. »Ach, was will der denn schon wieder?«, murmelte sie vor sich hin. »Ich hab ihm tausend Mal gesagt, dass ich …«
Den Rest hörte ich nur noch beiläufig. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt, meinen Blick über die deckenhohen Regale schweifen zu lassen und mich zu fragen, wieso sich etwas, das so still wie ein paar goldverzierte Buchrücken war, derartig aufregend kribbelig anfühlte. Am liebsten hätte ich sofort jeden Einband einzeln berührt, um herauszufinden, aus welchen Jahrhunderten die Bücher stammten. Was Stunden gedauert hätte. Im gesamten Eingangsbereich des Ladens gab es kein Fleckchen Wand ohne Regal. Und auch der lange Korridor, in den der Raum sich am Ende wie in einem Schlauch verlor, war vollständig mit Büchern verkleidet. Es war wie in einem Märchenschloss aus Büchern. Dazu passte auch der alte, rostige Schlüsselbund, der unmittelbar über dem Eingang angebracht war, sodass die Kante der Tür dagegenstieß, sobald jemand eintrat. Als wären die Schlüssel Glöckchen, die neue Kundschaft ankündigten. Das Klirren, das sie erzeugten, war allerdings nicht laut genug, um bis in den hintersten Winkel des Ladens zu dringen, schon gar nicht bis in den weiteren, etwas kleineren Verkaufsraum, in den man über den schmalen Flur gelangte. Aber Yvette mochte Schlüssel einfach gerne. Sie hingen nämlich nicht nur über der Tür, sondern teilweise auch an den Regalen und sogar an der Uhr. Ich wusste nicht, was genau es damit auf sich hatte, doch ich vermutete, dass diese Begeisterung für Schlüssel eben auch eine von Yvettes Eigenheiten war. Außerdem musste ich zugeben, dass sie wirklich hübsch aussahen, total verschnörkelt und alt, als würden sie von Flohmärkten stammen. Nele hätte sie geliebt. Sie war mega verrückt nach Disneyfilmen mit Prinzessinnen in Glitzerkleidchen, und diese Schlüssel hätten einem solchen Film entstammen können.
Bei dem Gedanken wurde ich gleich wieder traurig. Ich hatte Nele mehrmals vorgeschlagen, mich nach Lyon zu begleiten und mit mir gemeinsam das Praktikum zu machen. Damit wir nächstes Jahr dann dafür zusammen ins Surfcamp nach Griechenland fahren konnten. Doch meine beste Freundin interessierte sich nun mal nicht für die Dinge, die ich gerne mochte.
»Um dein Gepäck kümmert sich nachher Théodore.« Yvettes Stimme holte mich zurück ins Hier und Jetzt.
Ich blinzelte und wandte mich zu ihr um. »Théodore?«, wollte ich wissen. Den Namen hatte ich noch nie gehört. Im Kopf ging ich schnell alle Mitglieder aus Yvettes Familie durch. Da wären Grand-père Antoine, der in der Zwischenzeit verstorben war, und Yvettes Eltern, die in der Normandie wohnten und höchstens ab und an mal auf Besuch kamen. Ansonsten wusste ich von niemandem. Yvette selbst war laut meiner Mutter alleinstehend, sie schien ihr Leben einzig der Arbeit im Antiquariat verschrieben zu haben.
»Oui, Théodore. Es ist gut, wenn er etwas tut.« Yvette riss einen der Briefe in winzige Fetzen, stopfte die Überreste in ihre Westentasche und machte sich daran, meinen Koffer hinter die Kasse zu ziehen. Sie verstaute ihn in einem kleinen Kabuff, das nur durch einen dunkelgrünen Samtvorhang vom Rest des Raumes abgetrennt wurde. »Übrigens habe ich in der Wohnung deines lieben Papy Philippe nichts angerührt, dachte mir aber, dass du trotzdem besser bei uns schläfst«, sagte sie. »Sonst bekommst du Heimweh. Du kannst in Grand-père Antoines ehemaligem Zimmer übernachten. Es ist eine gemütliche Kammer mit Blick hinaus auf die Gasse. Ich nutze sie schon seit einiger Zeit als Gästezimmer. Na ja«, sie lachte kurz auf, »theoretisch jedenfalls, praktisch habe ich nie Besuch. Théodore soll dir den Weg zeigen, wenn er deine Sachen nach oben bringt. Ich gebe ihm gleich Bescheid und bereite uns derweil Kaffee vor. Dann können wir uns zusammensetzen und ein wenig besprechen, was in den nächsten Wochen deine Aufgaben sind. Du trinkst doch Kaffee, oder?«
»Äh, nein«, antwortete ich und biss mir verlegen auf die Unterlippe. Ich konnte einfach nie verstehen, was an dem bitteren Geschmack lecker sein sollte. »Ist Théodore dein neuer Mitarbeiter?«, probierte ich es noch einmal.
»Kein Kaffee?«, staunte Yvette. »Hm, ich glaube, wir haben auch Zitronenlimonade.« Sie zog eine nachdenkliche Schnute. »Ich bin schlecht auf das Leben mit Teenagern vorbereitet. Möchtest du lieber Tee?«
Ich lächelte. »Mir reicht Wasser.«
»Wasser?« Yvette schnalzte mit der Zunge. »Mädchen, du musst doch nicht so schüchtern sein. Ich suche für dich nach einer Zitronenlimonade.« Schon war sie im Begriff, in den langen Flur zu verschwinden und mich einfach allein mitten im Verkaufsraum zurückzulassen. Ein Gedanke, den ich ziemlich gruselig fand. Ich hatte schließlich nicht den leisesten Schimmer, was zu tun wäre, falls auf einmal Kundschaft den Laden betrat. Und überhaupt war mein erster Arbeitstag offiziell erst morgen.
»Yvette?«, rief ich ihr besorgt nach.
»Ja, ma chère?« Mit Schwung wirbelte Yvette wieder herum und sah mich fragend an. »Doch einen Kaffee?«
»Nein. Danke … ähm …«
»Mon Dieu!« Jetzt schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Wo bin ich nur mit meinem Kopf? Selbstverständlich, ihr kennt euch nicht.« Sie lächelte mich an. »Théodore ist mein Neffe. Normalerweise wohnt er bei seinem Großonkel Sébastien in Paris. Das heißt, er hat bei ihm gewohnt. Es gab den einen oder anderen … kleineren … nun ja … vielleicht auch größeren … Zwischenfall. Wie auch immer, diesen Sommer verbringt der Junge bei mir. Er ist siebzehn, und ich denke, ihr werdet euch gut verstehen. Eine schöne Überraschung, nicht wahr? Das trifft sich doch perfekt! So musst du nicht die ganze Zeit mit uns alten Leuten zusammen sein. Stimmt’s, mein lieber Mathis, das wäre doch schrecklich langweilig für Clara!«
»In erster Linie wäre es schrecklich anstrengend für mich.« Eine tiefe Stimme von oben ließ mich zusammenzucken.
Als ich den Kopf in den Nacken legte und mich verwirrt im Kreis drehte, entdeckte ich unmittelbar hinter mir eine geöffnete Luke in der Decke. Eine der meterhohen Holzleitern stand dagegengelehnt, auf deren oberster Sprosse Monsieur Mathis balancierte. Es machte den Eindruck, als wäre er eben erst aus der Decke geklettert. In einer Hand hielt er ein Buch mit knallrotem Leineneinband, mit der anderen Hand drückte er die Klappe fest zu und kontrollierte anschließend gründlich, ob sie auch wirklich verschlossen war. Dann hangelte er sich vorsichtigen Trittes dem Boden entgegen. »Madame Lombard, dieses Exemplar hat sich zwischen die wertvollen Stücke geschmuggelt. Sie sollten es sich später dringend ansehen!«
Yvettes Augen wurden groß. »Ist es etwa eine …?«
»Oh oui.« Monsieur Mathis nickte. »Eine kleine Freude.«
Eine halbe Stunde später wusste ich zwar nicht, weshalb es in diesem Antiquariat Geheimluken in der Decke gab, was mit einer »kleinen Freude« gemeint war und wieso Yvette das Buch so aufgeregt mitgenommen hatte, verstand dafür aber, aus welchem Grund ich früher Bammel vor Monsieur Mathis gehabt hatte.
Yvette lag falsch. Er konnte mich nicht besser leiden, nur weil ich kein Kind mehr war.
Während ich neben der Kasse stand und auf diesen geheimnisvollen Neffen wartete (und angestrengt grübelte, ob Mama oder Papy Philippe jemals erwähnt hatten, dass Yvette Geschwister hatte), schnauzte Mathis mich mindestens fünfmal an. Erst war ich ihm im Weg, dann war ich angeblich einer Kundin im Weg, die nach einer bestimmten Ausgabe von Parzival suchte, danach störte ich Mathis mit meiner alleinigen Anwesenheit beim Einsortieren einiger Bücher und schließlich behauptete er, ich hätte mit meiner Schuhspitze einen der rappelvollen Bananenkartons, die sich überall am Boden stapelten, berührt und Victor Hugo mit Füßen getreten.
Irgendwann fand ich, dass sich Monsieur Mathis und dieser dicke Perserkater, der zusammengerollt auf einem Kissen in einem der Regale schlief und mich bedrohlich anfauchte, als ich ihn kraulen wollte, ziemlich ähnelten. Nicht nur, was den üppigen, grauen Schnurrbart betraf.
Als Yvette endlich zurückkehrte, atmete ich erleichtert auf.
Bis ich den Jungen hinter ihrem Rücken bemerkte. Mir stockte der Atem. Also, nicht wegen des Jungens an sich. Mir war schon klar gewesen, dass Yvettes Neffe ein Junge sein würde. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass er so süß aussah.
Ja. Er sah süß aus. Er sah sogar verdammt süß aus. Dunkelblonde Haare, verstrubbelt, als käme er direkt aus dem Bett. Eine Stupsnase, über die sich auffällig viele Sommersprossen zogen. Schlank und hochgewachsen, bestimmt mindestens einen Meter fünfundachtzig. Karamellbraune Augen, die einen hübschen Kontrast zu seinem hellgrauen Shirt bildeten. Darauf war komplett verwaschen der Name einer französischen Rockband abgedruckt. Oder Rapband. Oder was auch immer. Ich hatte keinen Schimmer von solchen Dingen. Ich wusste nur, dass Yvettes Neffe optisch eindeutig zu der Sorte Jungs gehörte, für die sich einige Mädchen aus meiner Klasse neue Hobbys zulegten – wie jedes Wochenende auf ein langweiliges Fußballturnier zu gehen und rein zufällig vor der Umkleidekabine zu warten. Aktionen, die mir selbst noch nie in den Sinn gekommen waren. Weshalb Nele behauptete, ich würde unter chronischer Unverliebtheit leiden, und das läge an den Büchern, die ich las. Unrealistische Geschichten über irgendwelche Kerle, wie es sie im echten Leben nicht gab und wie sie mir daher niemals begegnen würden. Die Damen galant die Tür aufhielten, auf Bällen tanzten, Gedichte vortrugen, die Hand küssten und im Regen glühende Liebesbotschaften ins Ohr hauchten. Was überhaupt nicht stimmte. Nur weil ich gern Klassiker las, dachte ich nicht, ein Junge müsste mir die Tür aufhalten. Ich konnte Türen ganz gut selbst öffnen. Die Hand musste mir auch niemand küssen. Gegen glühende Liebesbotschaften im Regen hätte ich hingegen nichts einzuwenden gehabt. Ebenso wenig gegen Jungs, die Gedichte zitierten oder, noch besser, selbst welche schrieben, um sie mir dann unauffällig in die Schultasche zu schmuggeln. Das stellte ich mir doch sehr romantisch vor. Und die Chancen, einem Menschen, der gerne Gedichte schrieb, in einem Antiquariat zu begegnen, standen ja eigentlich durchaus gut. Jetzt hoffte ich allerdings erst einmal, dass meine Wangen nicht so rot waren, wie sie sich gerade heiß anfühlten.
»Schön, ihr beiden«, sagte Yvette. »Théodore, das ist Clara.« Sie verpasste ihrem Neffen einen sanften Schubs in meine Richtung, den er mit leicht zusammengekniffenen Brauen hinnahm. »Clara, das ist Théodore. Ihr kommt zurecht, oder? Ich gehe mal in die Küche. Dort warten dann ein leckeres Essen und eine Zitronenlimo auf euch beide. Mathis, würden Sie den Laden bitte in einer halben Stunde schließen?«
»Natürlich, Madame Lombard«, brummte Mathis hinter einem Stapel Bücher.
»Wollen Sie bei uns essen?«
»Nein danke, Madame Lombard.«
»In Ordnung.« Yvette nickte zufrieden, zwinkerte mir zu und ging schließlich leise singend durch den Flur davon.
Zurück blieb der Junge. Schweigend. Und weil ich diese eigenartige Stille zwischen uns echt unangenehm fand, überwand ich mich und streckte ihm die Hand entgegen. »Hi.«
Er erwiderte mein Händeschütteln, wobei sich seine Lippen so verzogen, dass ich nicht sicher war, ob er lächelte oder irritiert grinste. »Salut«, grüßte er zurück.
»Ich bin Clara.«
»Hab ich mitgekriegt.« Jetzt zeigte er zum Kabuff. »Ist das dein Koffer?«
»Äh.« Ich drehte mich um. »Ja …«
»Okay.« Ohne ein weiteres Wort schritt er an mir vorbei, holte den Trolley und bedeutete mir dann mit einer knappen Kopfbewegung, ihm zu folgen.
Kurz blickte ich ihm betreten nach. Jemand, der derartig wortkarg war, schrieb ganz bestimmt keine Gedichte.