Das Auge von Sindsche - Leslie L. Lawrence - E-Book

Das Auge von Sindsche E-Book

Leslie L. Lawrence

4,9

Beschreibung

Eine Expeditionsgemeinschaft schlängelt sich über die schmalen Pfade des Himalaja zum Kloster Khangpa. Darunter auch Leslie L. Lawrence, Entomologe und Kenner zentralasiatischer Kulturen. Doch ganz wohl fühlt sich der Forscher in den eisigen Höhen nicht: Wo steckt der Auftraggeber der Expedition? Was soll ein Spezialist für Insekten in diesen Höhen untersuchen? Und vor allem: Was ist mit der anderen Forschungsgruppe geschehen, die hier vor Kurzem verschollen ist? Als dann ein Mitglied der Expedition unter rätselhaften Umständen erstochen wird, muss Lawrence das Schlimmste befürchten. Das Auge von Sindsche erscheint am Himmel und die ortskundigen Sherpas sind sich einig: Sindsche schickt einen Sturm, der alles Lebende mit sich in die eisige Hölle reißt ...

Alle Romane um Prof. Lawrences Abenteuer:

Das Auge von Sindsche.

Der Turm des Schweigens.

Mutter Omoshis Pfeife.

Der Fluch des Huan-Ti.

Die Säulen des Narasinha.

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Inhalt

CoverInhaltProf. Lawrences AbenteuerÜber diese FolgeÜber den AutorTitelImpressumDas Auge von Sindsche123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899

Prof. Lawrences Abenteuer

Leslie L. Lawrence ist eigentlich Professor für Insektenkunde und Spezialist für asiatische Kulturen an der Londoner Universität. Doch viel Zeit bleibt ihm dafür nicht, denn bevor er sich versieht, landet er Hals über Kopf in einem Abenteuer um Leben und Tod:

Verfolgt von zähnefletschenden Bestien, gekidnappt in der Fremde, von Göttern auf dem Himalaja verflucht – Lawrence weiß, wie man sich Freunde macht!

Auch wenn der Ausgang ungewiss ist, so steht doch fest:

»Wo Lawrence in Erscheinung tritt, steht mit hundertprozentiger Sicherheit kurze Zeit später alles auf dem Kopf. Er zieht Schwierigkeiten an, wie ein Magnet den Eisenstaub …«

Alle Romane um Prof. Lawrences Abenteuer:

Das Auge von Sindsche

Der Turm des Schweigens

Mutter Omoshis Pfeife

Der Fluch des Huan-Ti

Die Säulen des Narasinha

Über diese Folge

Eine Expeditionsgemeinschaft schlängelt sich über die schmalen Pfade des Himalaja zum Kloster Khangpa. Darunter auch Leslie L. Lawrence, Entomologe und Kenner zentralasiatischer Kulturen. Doch ganz wohl fühlt sich der Forscher in den eisigen Höhen nicht: Wo steckt der Auftraggeber der Expedition? Was soll ein Spezialist für Insekten in diesen Höhen untersuchen? Und vor allem: Was ist mit der anderen Forschungsgruppe geschehen, die hier vor Kurzem verschollen ist? Als dann ein Mitglied der Expedition unter rätselhaften Umständen erstochen wird, muss Lawrence das Schlimmste befürchten. Das Auge von Sindsche erscheint am Himmel und die ortskundigen Sherpas sind sich einig: Sindsche schickt einen Sturm, der alles Lebende mit sich in die eisige Hölle reißt …

Über den Autor

Leslie L. Lawrence ist das Pseudonym eines Professors für Orientalistik an der Universität von Budapest. Er hat zahlreiche Expeditionen in Asien durchgeführt und ist profunder Kenner der Kulturen Zentralasiens. Dieses Wissen fließt in seine Abenteuerromane mit ein und macht ihren besonderen Reiz aus.

Prof. Lawrences Abenteuer

Leslie L. Lawrence

Das Auge von Sindsche

Aus dem Ungarischen von Roberto Kohlstedt

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe: © 1983/89 by Leslie L. Lawrence and Gesta BT Titel der ungarischen Originalausgabe: »Sindzse szeme«

Für die deutsche Erstausgabe: © 1996 by Bastei Lübbe AG Textredaktion: Anke Schäfer / Stefan Bauer

Für diese Ausgabe: Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln Projektmanagement: Nils Neumeier / Stefan Dagge Titelbild: Miklós Tabák E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-1795-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Das Auge von Sindsche

1

Der Sturm legte sich mindestens genauso schnell, wie er aufgekommen war. Aus den Wolken, die mit Eilzuggeschwindigkeit auf die glitzernden Bergspitzen zurasten, erhob sich majestätisch die rotgelbe Scheibe der Sonne.

Die Jaks senkten ihre Köpfe und schnaubten leise. Dann blieben sie stehen und schüttelten den Schnee von ihrem Fell; dabei wäre auch ich beinahe runtergefallen, also griff ich mit beiden Händen nach den Zügeln, die ich beim Betrachten der Sonne unvorsichtigerweise gelockert hatte.

In diesem Moment tauchten zwei auf ihren Jaks zusammengesunkene, menschenähnliche Wesen neben mir auf, das Risiko außer Acht lassend, dass wir dadurch alle leicht von unserem schmalen Pfad einige Hundert Meter tief in den sicheren Tod fallen konnten. Einer der beiden zog die Fellkappe zurück, und unter der Kapuze lugte keck eine von der Kälte gerötete Nase hervor.

»Hey!«, meinte der Besitzer der Nase und winkte mir dabei zu.

»Hey!«, erwiderte ich, hütete mich aber davor, die Zügel auch nur mit einer Hand loszulassen.

Der Wind fing wieder an zu pfeifen, und bei der Gelegenheit verfluchte ich ungefähr zum fünftausendsten Mal den Moment, in dem ich mich auf diese blöde Reise eingelassen hatte. Rotgesicht konnte selbst den Wind überschreien.

»Sie auch?«

Wenn ich erreichen wollte, dass auch sie mich hörte, war ich gezwungen, ebenfalls zu schreien.

»Was, ich auch?«

»Hat man Sie auch übers Ohr gehauen?«

»Wie Sie sehen …«

»Also mich haben sie jedenfalls reingelegt. Mir wurde gesagt, ich könne die schönsten Berge der Welt bewundern und bekäme auch noch Geld dafür … Kein Wort von Kälte, Sturm und diesem verdammten Tier unter meinem Hintern. Wie war es denn bei Ihnen?«

»Ich glaube, ähnlich.«

Sie lenkte ihren Jak noch näher neben meinen und begutachtete misstrauisch mein Gesicht.

»Sie habe ich irgendwo schon mal gesehen!«

Sie können mir glauben, ich hatte wirklich keine Lust, mich in dieser eisigen Kälte zu unterhalten. Außerdem verschwand die Sonne gerade hinter den Wolken, sodass es jederzeit wieder schneien konnte.

Natürlich war dies kein Grund, unhöflich zu sein; also zwang ich ein Lächeln auf mein festgefrorenes Gesicht.

»Tatsächlich?«

»Da können Sie Gift drauf nehmen. Ich vergesse nie ein Gesicht …«

Sie hielt inne, und naiv wie ich bin, hoffte ich schon, die beiden würden Zurückbleiben.

Stattdessen starrte mich Rotgesicht weiter an, und ihre Stirn legte sich in Falten.

»Haben wir uns nicht letzten Sommer in der Schweiz getroffen?«

»Ich war letzten Sommer nicht in der Schweiz. Eigentlich war ich seit zehn Jahren nicht mehr in der Schweiz …«

Darauf musste sie seufzen.

»Schade. Es ist ein so schönes Land. Sie haben gar nicht richtig gelebt, wenn Sie noch nie Züricher Maronen gegessen haben … Übrigens, mögen Sie gebrannte Maronen?

»Ich hasse sie.«

»Weil Sie noch nie welche aus Zürich gegessen haben! Wissen Sie, die werden dort nicht einfach zusammengebrannt, sondern …«

Ein dichter, roter Nebel zog sich vor meinen Augen zusammen, und ich merkte, wie sich mein Blutdruck veränderte. Außerdem froren meine Füße ganz schön in den Stiefeln, und meine Finger umkrampften zitternd die Zügel.

Rotgesicht plapperte ungestört weiter:

»Dann haben wir uns sicher in London getroffen … Übrigens, Sie haben nicht zufällig einen Seidenpinscher?«

»Nein, ich hatte in meinem Gepäck keinen Platz mehr«, gab ich auf.

Sie lachte, klingelnd und schrill wie eine Weihnachtsglocke.

»Ach, wie lustig Sie doch sind! … Ich meinte nicht hier, sondern bei Ihnen zu Hause. Ich könnte schwören, dass ich Sie auf dem Kongress der Seidenpinscherzüchter in London getroffen habe. Ich glaube, Sie waren es, der dagegen gesprochen hat, den Hund abzurichten, wenn er im selben Moment …«

Zum Glück pfiff gerade der Wind vorbei, und so wurde ich für ein paar Momente verschont. Als ich sie wieder hören konnte, war sie schon ein paar Ecken weiter.

»Andere schwören natürlich auf die Chinesischen Schlosspinscher. Aber wenn Sie auf mich hören, lassen Sie sie links liegen! Kleine, hinterlistige Viecher sind das, die imitieren nur die Liebe … Wenn Sie nicht aufpassen, beißen sie Ihnen ins Hosenbein. Übrigens, wie heißen Sie doch gleich?«

Ich versuchte den Wind zu übertönen: »Lawrence!«

Ich sah meine Begleiterin lachen, hören konnte ich sie zum Glück nicht. Ihre Stimme schwebte irgendwo über uns, zusammen mit den Schneeflocken. Bis ich dann doch einige Worte vernahm.

»Und … sagen Sie … sind Sie … auch ein Spion?«

Fast wäre ich vom Jak gefallen.

»Was?«

»Na, wie Ihr Namensvetter.«

»Mein wer?«

»Oberst Lawrence. Haben Sie noch nie von ihm gehört? Was sind Sie bloß für ein Engländer …«

»Ich bin kein Engländer!«

»Dann eben Amerikaner. Ach ja, das Empire State Building! Wenn ich doch noch einmal den Ausblick von seinem Dach genießen könnte … Vor meinen Füßen liegt Manhattan …«

»Ich bin auch kein Amerikaner.«

»Oh, dann …«

Der Gedanke, sie könnte alle Staaten des ehemaligen British Empire aufzählen, erschreckte mich zutiefst. Also beugte ich mich näher zu ihr hinüber und schrie ihr ins Gesicht: »Ich reise unter einem falschen Namen!«

Vor lauter Schreck blieb ihr der Mund offen.

»Was zum Teufel … Und warum?«

»Damit sie mich nicht finden.«

»Wer, um Gottes willen?«

Ich versuchte, ein sehr ernstes Gesicht zu machen. Angesichts der Umstände fiel mir das auch nicht besonders schwer.

»Meine Frauen … Ich hatte keine andere Wahl. Entweder sie oder der Himalaja … Und Sie werden sicherlich verstehen, dass ich Letzteres vorgezogen habe. Kindergeld, Unterhaltszahlungen und so weiter … Hier gibt es nur die Einsamkeit, die fallenden Schneeflocken und den leichten Südwestwind …«

Der neu entfachte Sturm trieb faustgroße Schneeballen in unsere Gesichter und ließ dadurch auch mich verstummen. Von irgendwo aus der Ferne stürmte eisige Kälte zu uns herüber, als ob sie direkt aus der Hölle käme, um uns zu begrüßen. Ich meine natürlich aus der kalten Hölle der Buddhisten.

Als sich nach einigen Minuten der Sturm legte und ich meinen Kopf wieder heben konnte, sah ich mit Grausen, dass die beiden immer noch neben mir waren und die Dame mir gerade lächelnd zuwinkte.

»Ihr leichter Südwestwind … Und sagen Sie, was zum Teufel machen Sie hier eigentlich?«

Ich war nahe dran, ihr irgendeine Gemeinheit zu sagen, aber dann verließ mich doch die Kraft. Die Wahrheit schien die kürzeste und einleuchtendste Antwort zu sein. Da musste ich wenigstens nicht lange nachdenken.

»Ich bin Entomologe.«

»Insektenforscher?«

»Genau das.«

Jetzt schien sie wirklich entsetzt zu sein.

»Hier?«

»Wieso?«

Sie hob ihre Hand und deutete auf die paar Meter des Bergkammes, die wir sehen konnten.

»Wo um Himmels willen wollen Sie denn hier Käfer finden?«

Ich stöhnte innerlich und gab den Kampf auf. Meine Zehen brannten, als ob man sie mit feurigen Messern aufschlitzen würde, anstelle meines Gesichtes spürte ich nur noch eine eisige Maske, und ich war mir ziemlich sicher, dass langsam auch das Blut in meinen Adern gefror.

»Käfer gibt es überall«, presste ich aus meinen Mundwinkeln hervor.

Anstelle einer Antwort streckte sie mir ihre Hand entgegen.

So war auch ich gezwungen, mich hinüberzubeugen, wodurch sich der Schmerz in meinen Füßen natürlich nur vergrößerte.

»Baxter!«, sagte beziehungsweise schrie sie mit ihrer rauen Stimme: »Miss Baxter!«

Ich öffnete meinen Mund, und schon wurde er vom Wind mit einem Schneeball vollgestopft.

»Wie … bitte?«, brachte ich heraus, während ich verzweifelt versuchte, gleichzeitig den Schnee auszuspucken.

»Miss Baxter … Soll ich buchstabieren?«

Mit einem Wink versuchte ich ihr zu verstehen zu geben, dass dies überflüssig sei.

»Haben Sie noch nie von mir gehört?«

Ich nickte unbestimmt, in der Hoffnung, sie würde daraus machen, was ihr am besten gefiel.

Also blühte sie auf und lächelte stolz.

»Dabei habe ich das Kalifornit entdeckt! Wissen Sie, was das ist?«

Ich senkte meinen Kopf. Ich Armer hatte natürlich keine Ahnung, was das für ein Zeug war …

»Typisch Käfersammler! Sie kümmern sich nur um ihre kleinen Dinger, während die Welt in Riesenschritten an ihnen vorbeirennt«, stellte sie hochnäsig fest.

Ich hatte nicht das Gefühl, dass dies der richtige Zeitpunkt war, um die Ehre der Entomologen zu verteidigen, also schwieg ich lieber.

»Ich bin Miss Baxter, die Mutter des Kalifornits! Zumindest schrieb man so was Ähnliches in den Zeitungen, als ich es entdeckt hatte. Niedlich, nicht wahr?«

»Ja.«

Sie hielt für eine Weile inne und starrte mich wieder an.

»Wieso habe ich Sie nicht im Dorf gesehen?«

»Ich bin erst heute früh angekommen … So um sechs Uhr herum. Ich hatte gerade noch Zeit, in diese Maskerade zu schlüpfen …«

»Und wofür wurden Sie verpflichtet?«

»Gute Frage, natürlich um Käfer zu finden.«

»Was für welche?«

»Alle möglichen Arten … Was ich halt finde. Man kann ja nie wissen, was einem über den Weg läuft. Sind Sie Geologin?«

»Mhm.«

»Sehen Sie, Sie wissen ja auch nicht immer, was für ein Gestein Sie gerade mit dem Pickel bearbeiten. Oder doch?«

Sie gab keine Antwort, schob nur ungeachtet des eisigen Windes und der herumfliegenden Schneebrocken ihre Kapuze zurück.

»Wer hat Sie denn verpflichtet?«

Ich dachte darüber nach, ob ich mich ausfragen lassen wollte, und entschied mich letztlich dafür. Warum auch nicht? Unser Team-Kollege hinter Miss Baxter hörte uns schweigsam zu.

»Ein gewisser Sir Thompson …«

»Persönlich?«

»Aber nein. Per Brief, und was sehr überzeugend war, zusammen mit einem kleinen Barscheck.«

»Mhm. Und da haben Sie natürlich sofort zugesagt?«

»Wieso auch nicht? Schließlich ist es doch meine Arbeit, Käfer zu suchen.«

»Aber hier? Im Himalaja?«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass es Käfer überall gibt. Und was wäre, denken Sie mal nach, wenn ich wirklich eine neue Art entdecken würde … Der Himalaja wurde noch nicht intensiv erforscht. Und selbst in bekannten Gebieten findet sich so manche Überraschung.«

Als mein Blick auf ihr Gesicht fiel, bemerkte ich, wie sich ihre Augenbrauen zusammenzogen und sie nachdenklich wurde.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte ich laut, damit mich auch die andere Person hören konnte.

Sie schüttelte langsam ihren Kopf.

»Natürlich nicht.«

»Und was, wenn ich fragen darf?«

»Wozu man Sie hier braucht.«

Langsam verlor ich meine Geduld.

»Mein Gott, ich sage es Ihnen nun schon zum dritten Mal: Ich bin Entomologe; ich bin hier, um Insekten zu suchen!«

Sie schüttelte erneut ihren Kopf.

»Mein armer Freund, Sie werden hier keine Käfer sammeln.«

»Wie meinen Sie?«

»Sie werden gar keine Zeit dazu finden.«

»Das verstehe ich nicht. Würden Sie es mir ein wenig näher erklären?«

Wütend zog sie im aufbrausenden Wind ihre Kapuze herunter und schrie mir zu: »Weil wir alle erfroren sind, bevor wir dieses verfluchte Kloster erreichen …«

Zum Glück legte sich ein Schneemantel über uns und trennte mich damit endgültig von ihnen.

2

Sehen konnte ich zwar nichts, aber ich spürte, wie sich der Boden unter den Beinen des Jaks senkte, sofern man das glitschige Etwas, auf dem wir uns an ungemütlich tiefen Schluchten entlangbewegten, überhaupt Boden nennen konnte. Manchmal, wenn sich sogar die Sonne hervortraute, blitzte der Schnee auf den Felsbrocken unter uns.

Erleichtert stellte ich fest, dass Miss Baxter endgültig zurückgeblieben war. Lange konnte ich aber nicht die mit Schneestürmen untermalte Einsamkeit genießen; aus der dunklen Masse schälte sich jemand heraus und rutschte mit seinem Tier neben mich. Ich zog zur Seite, damit er mich wenigstens nicht mit sich riss, falls er in die Schlucht stürzte. Es war nicht Miss Baxter, aber Genaueres konnte ich nicht erkennen, da das Gesicht mit einer Pelzkapuze bedeckt war.

Er lenkte sein Tier neben meines, sodass sich die beiden schon fast berührten, und hob seinen Kopf. Selbst so konnte ich nur seine schmalen, zusammengepressten Lippen sehen.

»Habe ich die Ehre mit Mr Lawrence?«, fragte er mit starkem nepalesischen Akzent. Seine Lippen verzogen sich dabei zu einer Art Lächeln.

»Ja, der bin ich«, brummte ich als Antwort, achtete aber darauf, im richtigen Moment abspringen zu können, sofern mein Jak an den Rand der Schlucht torkeln sollte.

»Sehr erfreut«, kam es zurück, und er warf seine Kapuze in den Nacken. Ein schlitzäugiges, asiatisches Gesicht lächelte mich an. »Ich bin Sera. Hauptmann Sera, von der nepalesischen Polizei.«

»Wie geht es Ihnen?« fragte ich höflich.

Er murmelte etwas, worauf die Kapuze auf seine Nase fiel. Mit einer schnellen Bewegung schob er sie wieder zurück und schrie mich an: »Wie gefällt Ihnen die Reise?«

»Überhaupt nicht. Eben erst sagte jemand, wir würden sie nicht überleben … Was meinen Sie dazu, Hauptmann?«

Ich sah ihn zwar lachen, aber der Ton erreichte mich nicht. Darauf beugte er sich noch näher zu mir herüber, bis sein Mund fast an meinem Ohr hing.

»Hat Sie Miss Baxter erschreckt?«

»Oh, sie hat es höchstens schlimmer gemacht. Wissen Sie, ich bin nicht dazu geschaffen, über tibetischen Schluchten herumzuklettern.«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, Sie irren sich. Sie haben keinen Grund zur Sorge. In den letzten zehn Jahren bin ich mindestens dreißigmal über den Salu-Pass gekommen, und diese Reise ist noch die angenehmste.«

Ich wusste nicht, ob er mich damit nur beruhigen wollte, oder ob er es wirklich ernst meinte.

»Wütet der Wind in dieser Gegend immer so?«

Ein seltsames Lächeln überzog sein Gesicht.

»Nur, wenn Fremde kommen …«

»Wie?«

Einige Sekunden starrte er mich gedankenverloren an; wahrscheinlich fragte er sich, ob er mich mit der Wahrheit beleidigen würde.

Schließlich entschied er sich zu reden.

»Nur, wenn Fremde die Ruhe der Götter stören.«

»Fremde?«

»Ja. Europäer … So sagen es zumindest die Einheimischen. Die Götter dulden hier keine Eindringlinge. Zuerst versuchen sie, sie abzuschrecken.«

»Mit diesem Unwetter?«

»Zum Beispiel. Manche kehren dann um und halten nicht mehr an bis Katmandu.«

»Jetzt wo Sie es sagen, hätte ich auch nicht wenig Lust dazu …«

»Bald kommen wir in die Große Salu-Schlucht«, sagte er und zeigte in die graue Suppe vor uns. »Die Sherpas bauen die Zelte auf, und in einigen Tagen erreichen wir das Kloster von Khangpa. Sofern es die Götter zulassen.«

Ein komisches Gefühl regte sich in mir. Ich mag es irgendwie nicht, wenn sich ein Polizist andauernd auf Götter beruft …

»Hören Sie, Hauptmann«, schrie ich ihn an, »Sie sagten vorhin, dieses Wetter sei eine Warnung der Götter. Und auch nur die erste. Wollen Sie damit andeuten, es kommt noch mehr?«

Er wurde ernst und klopfte den Schnee vom Fell seines Tieres.

»Ich kenne die Legenden nicht sehr gut, Mr Lawrence«, antwortete er ausweichend. »Auf jeden Fall scheinen die Götter in der letzten Zeit ihre Geheimnisse immer widerwilliger preisgeben zu wollen.«

»Widerwilliger?«

»Schauen Sie«, sagte er und stülpte dabei seine Kapuze wieder über den Kopf, »ich bin nur Polizist, kein Mönch … Ich unterhalte mich nicht mit den Göttern. Obwohl es unumstritten ist …«, und beinahe verlegen wirkend, hörte er auf zu sprechen.

Der Wind zog wieder an, als ob wirklich die Götter ihrem Ärger Luft machen wollten. Scharfe Eissplitter bohrten sich in mein Gesicht, und lange Minuten wusste ich überhaupt nicht, in welche Richtung wir zogen. An mir lag es bestimmt nicht, dass wir nicht in der Schlucht neben uns landeten.

Als ich meine Augen wieder öffnete, waren nur noch bauschige Streifen am Himmel. Der Schneefall hatte so plötzlich aufgehört, als hätte jemand mit einem riesigen Stöpsel das Loch in der Decke von Frau Holle dicht gemacht.

Ich drehte mich im Sattel um, und der sich bietende Anblick ließ mich erschauern. Mein Atem stand still, als ob jemand meinen Hals zugeschnürt hätte. Der Schnee blitzte immer gleißender in den Strahlen der emporsteigenden Sonne, und zwischen diesem Funkeln zog sich eine endlose Schlange von Jaks auf dem schmalen Pfad am Hang des riesigen Berges hin. Hinter ihnen, entsetzlich weit weg, tobte der Schneesturm. Über uns stiegen die Spitzen des Kangchendzönga in den Himmel empor; die Luft schien sich nicht zu bewegen.

Ich schreckte auf, als neben mir jemand sein Tier tätschelte.

»Wahrlich ein herrlicher Anblick, nicht wahr?«, wandte sich lächelnd Hauptmann Sera zu mir.

Unfähig etwas zu sagen, konnte ich nur nicken.

»Achttausend und ein paar Hundert Meter.« Er zeigte auf die Spitzen. »Einer der schönsten Berge … und der blutrünstigste.«

Ich musste ungewollt lachen.

»Blutrünstig? Es ist doch die vollkommene Schönheit.«

Auch der Hauptmann lächelte.

»Manchmal ist das vollkommen Schöne am grausamsten. Denken Sie daran, auch Sir Cromwell hatte ihn so gesehen.«

Diese Bemerkung nahm mir sofort meine gute Laune.

»Wissen Sie … hierzulande sind die Berge Götter. Jeder Gipfel hat einen eigenen, der die Gläubigen schützt und die ungläubigen Eindringlinge tötet … So lehren es zumindest die Mönche.«

»Was wissen Sie über Lord Cromwell?«, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf.

»Nichts. Aber ich bin seinetwegen da; um herauszufinden, was passiert ist.«

»Ich hoffe, Sie haben ein paar Kollegen mitgebracht. Irgendwie glaube ich nicht daran, dass der Kangchendzönga seine Expedition verschwinden ließ.«

Er wandte sich ab und begutachtete die Reihe der herabsteigenden Jaks.

»Ich bin allein«, sagte er schließlich, ohne mich anzuschauen. »Sie werden verstehen, dass seine Exzellenz eine wissenschaftliche Expedition nicht mit Polizisten vollstopfen konnte. Das ist auch der Grund, dass ich mich mit Ihnen unterhalte, Mr Lawrence … Man erzählt, Sie waren früher bei der britischen Abwehr.«

Meine Stimmung sank weiter. Lässt einen denn seine Vergangenheit nie in Ruhe?

Er hatte wohl meine Reaktion aus den Augenwinkeln bemerkt, denn er fügte hinzu:

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will nichts von Ihnen … Was mich angeht, bin ich überzeugt, dass Sir Cromwell und seine Expedition einem Unfall zum Opfer fielen. Vielleicht eine Lawine … aber …«

»Aber?«

»Nun ja … Falls ich doch etwas Hilfe brauche, kann ich auf Sie zählen?«

Ich musste wohl oder übel nicken.

»Natürlich, Hauptmann.«

Scheinbar hatte ich ihn damit ungemein beruhigt.

»Danke, Mr Lawrence.«

»Nichts zu danken, Hauptmann.«

3

Als auch der letzte Jak den Bergkamm verlassen hatte, schien die Sonne schon so stark, dass ich meine Brille aufsetzen musste. Die hellblaue Tönung verschönerte zwar die Welt, verstärkte aber auch gleichzeitig das Schimmern. Heftig blinzelnd versuchte ich, mein Auge an die neuen blauen Strahlen zu gewöhnen, als mein Jak aufheulte; es war wohl als Begrüßung der fast hundert Artgenossen gedacht, die inzwischen gelangweilt im Sonnenschein badeten.

Ich war gerade dabei, vom Rücken meines Tieres zu rutschen, als jemand meinen Namen rief.

Mit einem leichten Druck meiner Füße lenkte ich den Jak in Richtung der sich rasch nähernden, winkenden Figur.

»Mr Stewart suchen dich«, vernahm ich eine Stimme.

Irgendwie gelangte ich durch die Reihe der Lasttiere und erreichte den Boten. Er trug die übliche Kleidung der Sherpas: mit Stickereien verzierte Wollmütze, Filzstiefel und einen dicken Seidenkaftan.

»Mr Stewart suchen dich«, wiederholte er aufgeregt und hob seine zum Gebet gefalteten Hände vor die Stirn. »Geh dahin!« Er deutete mit den Händen in Richtung des Gebirgspasses. In der gezeigten Gegend, vielleicht hundertfünfzig, zweihundert Meter von den Tieren entfernt, stand ein Mann und schaute auf die freundlich glitzernden blauen Bergspitzen. Ich sprang von meinem Jak, tätschelte seinen Hals und überließ ihn dem Sherpa. Dann ging ich auf Mr Stewart zu.

Schon beim Absteigen stach der Schmerz in meine Beine, sodass die darauffolgenden Schritte zur Qual wurden. Ich fühlte mich wie damals, in den schlimmsten Tagen des Krieges, als ich in der Mandschurei tagelang auf einem kleinen mongolischen Pferd vor den Japanern geflüchtet war. Auch damals hatte mein Knie so wehgetan, wie …

Der Mann drehte sich zu mir um und winkte freundlich.

Ich winkte zurück.

Er tat einige Schritte mit ausgestreckter Hand in meine Richtung, dann erreichte er mich, ergriff die meine und schüttelte sie kräftig.

»Ich grüße Sie, Mr Lawrence. Ich grüße Sie. Ich bin sehr froh, Sie kennenzulernen.«

»Sehr erfreut«, murmelte ich und versuchte dabei, sein Gesicht zu erkennen; angesichts der großen Sonnenbrille allerdings ohne viel Erfolg. Sein langer, nach unten hängender Schnauzbart war das einzig erkennbare Merkmal.

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie einfach so kommen ließ. Solange die Zelte nicht aufgebaut sind, können wir uns nirgendwo unterhalten. Bitte verzeihen Sie auch, dass ich Sie nicht schon gestern Abend aufgesucht habe, aber«, er winkte niedergeschlagen ab, »selbst im letzten Moment wird man noch mit den unmöglichsten Dingen konfrontiert. Auf jeden Fall freue ich mich, dass Sie das Angebot von Mr Thompson angenommen haben.«

»Ja, inzwischen freue ich mich auch wieder … Aber noch vor einer halben Stunde hätte ich ihn zum Teufel gewünscht.«

»Nun ja«, gab er besorgt zu, »es fing nicht gerade wie eine Vergnügungsreise an. Aber hoffen wir auf ein glückliches Ende. Mr Thompson wünscht, dass jeder hier sein Bestes gibt und wir mit guten Ergebnissen zurückkehren … Ich hoffe, es war nicht sehr unangenehm für Sie, Ihren Urlaub zu unterbrechen.«

»Wenn mir jemand vor einer Woche erzählt hätte, ich würde heute in Nepal am Salu-Pass mit den Göttern ringen, hätte ich ihn sicher für verrückt gehalten … Bedenken Sie mal, über mir der blaue Himmel, Palmen, in meinen Ohren das Rauschen der Wellen. Und jeden Abend die braun gebrannten Mädchen, nur mit einem Bastrock bekleidet …«

In hohem Bogen warf er seine Zigarette weg.

»Mir ging es genauso … Ich machte gerade Urlaub an der Costa Brava, da bekam ich ein Telegramm von Mr Thompson, wonach ich sofort nach Nepal reisen und die Führung der Expedition übernehmen sollte. Verstehen Sie? Einfach so.«

»Mhm.«

»Was sollte ich tun? Ich rief die besagte Bank in Madrid an, bei der ich laut dem Telegramm Erkundigungen einholen sollte. Und als man mir sagte, welche Summe für die Leitung der Expedition hinterlegt wurde, packte ich meine Sachen und fuhr los.«

»Ha. Und wer war in Katmandu für die Organisation zuständig?«

»Irgendein Reisebüro. Die Papiere sind zwischen der Ausrüstung. Zumindest die Vorbereitungen waren bereits getroffen.«

Er nahm die Sonnenbrille ab und rieb seine Augen. So konnte ich endlich sein Gesicht begutachten. Von seinem rechten Auge zog sich bis zum linken Teil des Kinns eine breite, weiße Narbe, die sein knochiges, dürres Gesicht noch markanter machte. Der herabfallende Schnauzer gab seinem Aussehen einen eigenartigen asiatischen Zug.

»Und Mr Thompson?«, fragte ich und sog nebenbei genüsslich die frische Luft ein.

Er zuckte mit den Schultern.

»Normalerweise müssten wir uns in einigen Tagen im Kloster treffen … Obwohl ich keine Ahnung habe, wie er da raufkommen will. Vielleicht mit einem Hubschrauber.«

»Haben Sie sich nicht abgesprochen?«

»Ich?«

»Sie sind doch sein Vertreter, oder? Der Leiter der Expedition.«

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

»Ja, der bin ich. Nichtsdestotrotz auch nur ein Angestellter wie Sie.«

Ein seltsamer Verdacht machte sich in mir breit.

»Sagen Sie … Mr Stewart. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

»Ich? Wen?«

»Ihren Mr Thompson.«

Kindliches Staunen spiegelte sich auf seinem Gesicht.

»Ich? Noch nie im Leben! Ich habe ihn noch nie gesehen. Ich sagte doch schon, das Angebot kam per Telegramm zu mir.«

Ich spürte, wie sich neben der kalten Luft der herannahenden Dämmerung auch noch etwas anderes, kälteres unter meinem Anorak breitmachte und langsam meinen Rücken hinaufkroch.

»Und Sie haben angenommen? Ohne zu wissen, wer er ist? Wer das Angebot gemacht hat?«

Verstört schüttelte er den Kopf.

»Na, und Sie? Sie haben doch das gleiche getan!«

»Nur hat man mich nicht als Leiter angeheuert, sondern um Insekten zu finden. Das scheint mir ein kleiner Unterschied zu sein, oder?«

Nachdenklich streichelte er seinen Schnauzer.

»Vielleicht war ich etwas voreilig«, brummte er. »Aber Sie wären an meiner Stelle auch nicht misstrauisch geworden. Dem Telegramm war eine Liste der Teilnehmer beigefügt … Alles Dozenten, bekannte Forscher. Eine erlesene Gesellschaft sozusagen. Warum sollte ich da an etwas Schlechtes denken? Und außerdem … Alle sind da, wir haben das Unwetter überlebt, mit einem Wort, alles läuft prima. Oder?«

»Nun ja, eigentlich schon«, sagte ich unbestimmt. »Und dieser rätselhafte Mr Thompson wird auch schon noch auftauchen. Aber, Sie wollten mit mir reden, Mr Stewart …«

»Ich wollte eigentlich nur den Tagesbericht abgeben und die Route für Morgen festlegen.«

Ich war so verdutzt, dass ich beinahe vergaß, Luft zu holen.

»Mit mir?«

»Mit wem denn sonst, um Himmels willen! Sie sind doch der Bevollmächtigte von Mr Thompson!«

Wäre ich vor Überraschung nicht sprachlos gewesen, hätte mein lautes Lachen sicher den Gott des Kangchendzönga empört.

»Ich? Wo nehmen Sie denn diesen Blödsinn her?«

Nervös fuhr er mit der Hand in seine Tasche, zog ein zusammengefaltetes Papier hervor und hielt es mir vor die Nase.

»Bitte sehr!«

Ich nahm es und trat einen Schritt zurück.

»Was zum Teufel ist das?«

»Lesen Sie nur, wenn Sie mir nicht glauben wollen.«

Ich entfaltete das feine, handgeschöpfte Papier, auf dem drei mit roter Tinte geschriebene Zeilen standen. Mit einem Blick überflog ich den Text, dann blickte ich auf, und mein Gesicht dürfte dabei wohl kaum an das eines griechischen Weisen erinnert haben.

»Was zum Teufel soll das sein?«

Er nahm das Schriftstück wieder an sich und versenkte es in seiner Tasche.

Bekam ich heute Morgen, kurz vor unserem Aufbruch … Hat übrigens ein Bote gebracht. Bevor ich ihn weiter befragen konnte, war er schon wieder verschwunden.

Es dauerte eine Weile, bis ich den Inhalt verdaut hatte. Die drei Zeilen besagten, dass Mr Thompson Mr Lawrence als seinen persönlichen Bevollmächtigten dem Expeditionsleiter gleichstelle; außerdem sei dieser jeden Abend verpflichtet, dem Bevollmächtigten über den Tagesverlauf sowie die bevorstehende Route einen Bericht abzugeben. Unterschrift: P. Thompson.

Ich versuchte, damit klarzukommen.

»Sehen Sie, Mr Stewart, ich habe keine Ahnung, wieso mich Mr Thompson als seinen Stellvertreter auserkoren hat. Ich habe ihn noch nie gesehen oder jemals von ihm gehört … Auf jeden Fall finde ich das äußerst seltsam. Überhaupt, warum ist er nicht hier bei uns?«

Stewart zuckte nur mit den Schultern.

Und dann fiel mir etwas ein.

»Mr Stewart …«

»Ja?«

»Sagen Sie, haben Sie eine Ahnung, wieso Mr Thompson gerade Sie mit der Leitung der Expedition beauftragt hat?«

Er breitete seine Arme aus.

»Nun … eigentlich nicht. Vielleicht nur, weil ich Bergführer in den Alpen bin … Die letzten zehn Jahre lebte ich in Österreich. Ich verstehe etwas vom Bergsteigen.«

»Aber der Himalaja ist etwas anderes als die Alpen.«

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Natürlich. Aber auch dieses Gebiet ist mir nicht ganz unbekannt. Im Krieg habe ich in fast jedem Gebirge Asiens gekämpft. Damals hat man sogar viel über mich geschrieben. Major Stewart der Held der Berge und so weiter. Die Japaner glaubten schon, ich wäre unverwundbar.«

In dem Moment hob lautes Geschrei hinter uns an, und wir drehten uns beide um. Im trüben Dämmerlicht konnten wir die fertigen orangefarbenen Zelte erkennen; die Sherpas waren mit den Jaks beschäftigt. Aus den Tragsätteln streuten sie eine gelbe Substanz vor die Tiere, die diese gleichmütig verzehrten.

»Die Zelte stehen schon«, sagte Stewart, und deutete auf das Tal.

»In einer halben Stunde muss ich meine erste Ansprache halten … Wie sagt man das unter Zivilisten?«

»Vielleicht Sitzung«, sagte ich lustlos.

»Nun denn … auf zur Sitzung«, sprach unser Leiter, und wir gingen auf das Lager zu.

4

Mindestens zwanzig Leute drängten sich im größten Zelt. Wer keinen Stuhl ergattert hatte, saß auf den Gepäckstücken an der Wand. Einige scharten sich um den leise summenden Ölofen. Nachdem die Sonne hinter dem Salu-Pass verschwunden war, fegte ein eisiger Wind durch das Tal. Die Temperatur sank innerhalb einer halben Stunde um zehn Grad, und die aufleuchtenden Sterne schickten ihre eisigen Strahlen in das Tal.

Hinter einem Campingtisch saß Stewart, der nachdenklich in seinen Papieren blätterte. Dann endlich hob er einen Stift und klopfte damit an sein Glas.

»Meine Damen und Herren!«, begann er und streichelte sorgenvoll seinen Schnauzbart. »Zuerst möchte ich vorschlagen, von gewissen Formalitäten abzusehen. Ich bleibe sitzen, und auch Sie können es sich bequem machen. Also: Viele von Ihnen kennen mich schon, mein Name ist Kevin Stewart. Mein Beruf ist Bergführer, und ich bin nach dem Willen von Mr Thompson der Leiter dieser Expedition. Natürlich bin ich nur für die Organisation verantwortlich, nicht für die wissenschaftliche Arbeit … Die bleibt Ihnen überlassen.«

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