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Hinter den Mauern chinesischer Klöster untersucht Leslie L. Lawrence eine uralte, vergessene Sprache. Doch wo immer der Abenteurer auftaucht, sterben Menschen. Nach Meinung des Vatikans steckt ein längst verstorbener Mönch dahinter. Lawrence glaubt aber nicht an Geister - und auch nicht an Zufälle. Seine Nachforschungen führen ihn zu einem alten Schamanenfriedhof und in ein verborgenes unterirdisches Reich, wo der Mörder bereits auf ihn wartet ...
Alle Romane um Prof. Lawrences Abenteuer:
Das Auge von Sindsche.
Der Turm des Schweigens.
Mutter Omoshis Pfeife.
Der Fluch des Huan-Ti.
Die Säulen des Narasinha.
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Seitenzahl: 631
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Leslie L. Lawrence ist eigentlich Professor für Insektenkunde und Spezialist für asiatische Kulturen an der Londoner Universität. Doch viel Zeit bleibt ihm dafür nicht, denn bevor er sich versieht, landet er Hals über Kopf in einem Abenteuer um Leben und Tod:
Verfolgt von zähnefletschenden Bestien, gekidnappt in der Fremde, von Göttern auf dem Himalaja verflucht – Lawrence weiß, wie man sich Freunde macht!
Auch wenn der Ausgang ungewiss ist, so steht doch fest:
»Wo Lawrence in Erscheinung tritt, steht mit hundertprozentiger Sicherheit kurze Zeit später alles auf dem Kopf. Er zieht Schwierigkeiten an, wie ein Magnet den Eisenstaub …«
Alle Romane um Prof. Lawrences Abenteuer:
Das Auge von Sindsche
Der Turm des Schweigens
Mutter Omoshis Pfeife
Der Fluch des Huan-Ti
Die Säulen des Narasinha
Hinter den Mauern chinesischer Klöster untersucht Leslie L. Lawrence eine uralte, vergessene Sprache. Doch wo immer der Abenteurer auftaucht, sterben Menschen. Nach Meinung des Vatikans steckt ein längst verstorbener Mönch dahinter. Lawrence glaubt aber nicht an Geister – und auch nicht an Zufälle. Seine Nachforschungen führen ihn zu einem alten Schamanenfriedhof und in ein verborgenes unterirdisches Reich, wo der Mörder bereits auf ihn wartet …
Leslie L. Lawrence ist das Pseudonym eines Professors für Orientalistik an der Universität von Budapest. Er hat zahlreiche Expeditionen in Asien durchgeführt und ist profunder Kenner der Kulturen Zentralasiens. Dieses Wissen fließt in seine Abenteuerromane mit ein und macht ihren besonderen Reiz aus.
Prof. Lawrences Abenteuer
Leslie L. Lawrence
Mutter Omoshis Pfeife
Aus dem Ungarischen von Roberto Kohlstedt
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe: © 1991 by Leslie L. Lawrence Titel der ungarischen Originalausgabe: »Omosi Mama Sípja«
Für die deutsche Erstausgabe: © 1997 by Bastei Lübbe AG Textredaktion: Wolfgang Neuhaus / Stefan Bauer
Für diese Ausgabe: Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln Projektmanagement: Nils Neumeier / Stefan Dagge Titelbild: Miklós Tabák E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-1798-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Hätte ich nicht im letzten Moment den Braten gerochen und mich zu Boden geworfen, wäre mein Kopf Augenblicke später von dem Zulu-Kriegsspeer ungefähr genauso durchbohrt gewesen wie die aus Kokosschale gefertigte Maske, die letzten Endes für mich herhalten musste. Die Kokosmaske zersplitterte mit vorwurfsvollem Knacken, was auf dem unbarmherzig kalten und ebenso unbarmherzig harten Steinboden beinahe auch mein Schicksal geworden wäre.
Der träge in der Wand schwingende Speer und die auf mich herunterprasselnden Kokosstücke entfachten schließlich mein inneres Feuer, das lediglich durch die kurz zuvor beendete Mitternachtsandacht ein wenig heruntergebrannt war. Mit friedvoller Zuversicht im Herzen schlenderte ich gerade durch den großen Ausstellungsraum auf meine Zelle zu, als ich spürte, dass etwas auf mich zuflog. Meine Sinne – nicht umsonst in den Dschungeln Südostasiens geschärft – ließen den Speer sein Ziel verfehlen, und so lag ich nun da auf den Steinplatten, mit aufgewühlten Urinstinkten.
Da ich nicht sicher sein konnte, ob derjenige, der mir diesen Liebesbeweis entgegengeschleudert hatte, nicht auch noch etwas anderes in petto hat, sah ich mich gezwungen, auch weiterhin engen Kontakt mit dem Boden zu pflegen. Dabei versuchte ich, die um mich herumtänzelnde Dunkelheit mit den Blicken zu durchdringen. Allerdings strengte ich meine Augen umsonst an; ich konnte niemanden in meiner Nähe entdecken.
Es war still im Saal, so still, wie es sonst nur in Ausstellungsräumen von Klöstern sein konnte, kurz nach Mitternacht. Und auch dort nur deswegen, weil die Besucher der Stätte den Atem dämpfen.
Ich dämpfte den Atem, gar keine Frage. Dies hinderte mich allerdings nicht daran, zuerst das eine, dann das andere Bein unter meinen Bauch zu ziehen und mich langsam, wie eine Raupe bewegend, der gegenüberliegenden Wand zu nähern. Nicht, weil ich mich dort in größerer Sicherheit gewähnt hätte, sondern weil ich mich zu erinnern glaubte, dass genau an der Stelle die von Bruder Gideon aus Borneo mitgebrachten Wurfäxte die Mauer zierten.
Ich war mir auch darüber im Klaren, dass derjenige, der versucht hatte, ein Loch in meinen Schädel zu bohren, es nicht bei einem einzigen missglückten Versuch belassen würde. Deshalb nahm ich all meinen Mut zusammen, erhob mich ein Stückchen, und zerrte keuchend und zähneknirschend den riesigen Schild aus Schildkrötenpanzer von der Wand, den einer der Ordensbrüder von irgendeiner pazifischen Insel mitgebracht hatte. Ich konnte den Kopf gerade noch hinter der benzinfassmäßig hohl klingenden Barrikade einziehen, als auch schon der zweite Speer heransauste. Zuerst zischte er wie ein Windzug durch die Luft, dann rutschte er mit einem ohrenbetäubenden Knirschen von der stahlharten Oberfläche des Panzers ab.
Ich zog den Kopf noch mehr ein und tastete nach den Wurfäxten, die direkt über mir hingen. Ich hatte zwar gespürt, wie der abgleitende Speer meinen Arm verletzte, konnte mich mit solchen Kleinigkeiten jetzt aber nicht aufhalten. Ich schnappte mir eine Axt, legte die Finger um den kühlen, breiten Stiel, und hob mit der anderen Hand den Schild hoch. Und obwohl der mir unbekannte ozeanische Häuptling, der diesen Panzer angefertigt hatte, sicherlich etwas an meinem Stil auszusetzen gehabt hätte, war mir in diesem Moment die Ästhetik meiner Bewegungen ziemlich egal. Ich sprang auf, stieß einen markerschütternden Naga-Kampfschrei aus und warf mich in die Dunkelheit. Und mähte dabei mit der Axt alles um mich herum nieder, wie ein besoffener Wikinger.
Da ich außer meinem friedlichen Gemüt auch das Zeitgefühl verloren hatte, konnte ich mich nicht daran erinnern, wie lange diese einseitige verzweifelte Schlacht schon andauerte. Schweißperlen liefen mir über die Stirn, das Blut floss an meinem Arm herunter – aber keine Spur von dem Feind. Möglicherweise hätte ich bis zum Morgengrauen so weitergekämpft, wäre nicht etwas vor meinen Augen explodiert. Dies stoppte mich, ließ mich den Schild vor mein Gesicht ziehen und so lange halbblind in der Mitte des Raumes herumtorkeln, bis ich bemerkte, dass die Detonation von dem eingeschalteten Licht des Kronleuchters stammte.
Vorsichtig ließ ich den Schildkrötenpanzer ein wenig sinken. Wenige Schritte von mir entfernt standen einige Mönche in der offenen Eingangstür und starrten mich entgeistert an. An ihrer Spitze konnte ich Pater Fernandez entdecken, den Leiter des Missionshauses. Falls ich es richtig erkennen konnte, bewegte er die Hand mit einem silbernen Kreuz hin und her.
»Hinfort mit dir, Satan! Hinfort mit dir, Satan!«
Ich rieb mir die Nase und musterte die Brüder, einen nach dem anderen. Pater Fernandez ließ die Hand sinken, das Kreuz hielt er aber immer noch fest umkrampft, während er die anderen Mönche um Verzeihung bittend anschaute. Ungefähr so, als hätte er während des Mittagessens Hundekot an meinen Schuhen entdeckt.
Hinter ihm stand ein hagerer, dürrer Mann mit goldener Brille. Ich kannte ihn nicht, war noch nie mit ihm im Gebäude zusammengetroffen. Den rundlichen Ordensbruder mit den Sommersprossen allerdings hatte ich schon ein paarmal gesehen, und ich glaubte, auch den grinsenden Chinesen schon mal beim Essen beobachtet zu haben.
Pater Fernandez zwang ein Lächeln auf seine Züge, ließ das Kreuz unter der Kutte verschwinden und deutete mit der ausgestreckten Hand vage in meine Richtung.
»Erlauben Sie, dass ich Ihnen … ähm … diesen Herrn … ich meine, unseren Bruder, äh …«
Es war eindeutig an der Zeit, die Initiative zu ergreifen. Da ich wieder genügend Kraft verspürte, etwas zu sagen, grinste und verbeugte ich mich tief, wobei ich die Wurfaxt aus Borneo noch immer in der Rechten hielt.
»Mein Name ist Lawrence. Leslie L. Lawrence.«
Man kann nicht behaupten, dass diese Neuigkeit – dem Kronleuchter gleich – ebenfalls wie eine Bombe eingeschlagen hätte. Die Brüder zuckten nicht einmal mit den Wimpern.
Scheinbar kannten sie keinen Heiligen dieses Namens.
Goldauge maß mich von oben bis unten mit einem prüfenden Blick, ließ dann elegant seine Ärmel nach hinten rutschen und winkte mir drängend zu.
»Ihre Waffe, Bruder!«
Die Anwesenheit von Pater Fernandez war mir Garantie genug, mich der Entmilitarisierung zu beugen, und so ließ ich die Axt friedvoll in seine Faust gleiten. Mit dem Stiel voran, natürlich. Der Pater hielt sie prüfend vor seine Augen. Als er diese Bewegung machte, ergab sich die Gelegenheit, seine zarte, beinahe schon schneeweiße Hand zu bewundern, an der man mit geübtem Blick sogar die feinen blauen Äderchen entdecken konnte. Ich seufzte, und da mir einfiel, dass ohne die Wurfaxt mein Schild reichlich wenig nützte, ließ ich ihn schön leise vor mir auf den Boden sinken.
Der Mann mit der goldenen Brille beendete seine Untersuchung und nickte zufrieden.
»Können Sie damit umgehen?«
»Womit?«, erkundigte ich mich.
»Na, mit der Axt natürlich. Wissen Sie überhaupt, was Sie da in den Händen gehalten haben?«
So langsam kam ich wieder zu mir. Ich öffnete den Hemdkragen und zuckte mit den Schultern.
»Ich glaube, Bruder Petersen hat mal erzählt, sie käme aus Borneo.«
Goldie nickte.
»So ist es. Eine Wurfaxt aus Borneo. Die Lieblingswaffe der Dajaken. Wissen Sie auch, wozu sie benutzt wird?«
Da ich noch nie auf Borneo gewesen bin und auch sonst wo keinen Dajaken getroffen hatte, konnte ich nicht gerade viel Sachverständnis mimen.
»Ich nehme an, sie wird geworfen.«
Verblüfft sah ich, wie der Pater den Mund zu einem Lächeln verzog, das in seiner Blutrünstigkeit eigentlich gar nicht zu dem Bild eines friedfertigen Missionsbruders passte. Und als sich dann die scharfe Waffe in seiner Hand auch noch zu drehen begann, als wäre sie plötzlich wild geworden, schrie ich entsetzt auf. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Wurfaxt seine zarte, schwache Hand verlassen und einen von uns wie ein Holzscheit halbieren würde.
Bestimmt war es eine Freude mit anzusehen, wie wir auseinandersprangen. Da Pater Fernandez mir am nächsten stand, riss ich ihn am Saum seiner Kutte mit hinter den Schildkrötenpanzer.
Ich hätte nie gedacht, dass Verrückte sich für ihren Freigang neuerdings sogar Missionshäuser aussuchen dürfen.
Die Wurfaxt aus Borneo wirbelte nur wenige Zentimeter über unseren Köpfen herum. Da Pater Fernandez ständig sein Haupt hob, um über den Schild zu spähen, musste ich ihn mit energischem Griff auf den Boden ziehen.
»Hinfort mit dir, Satan!«, flüsterte er mir ins Ohr, wobei er mit den Fingern nach dem Kreuz tastete. »Was, in Gottes Namen, soll das bedeuten, Mr. Lawrence?«
»Das werden wir schon noch erfahren«, antwortete ich. »Sofern wir es überleben …«
Die Waffe meldete sich noch eine Weile periodisch über unseren Köpfen an, dann verschwand sie plötzlich im Nichts. Als ich vorsichtig hinter dem Panzer hervorblickte, stand Goldauge mit vor der Brust verschränkten Armen zufrieden lächelnd in der Mitte des Raumes und beobachtete die gegenüberliegende Wand.
»Sehen Sie?« Er deutete mit unverhohlenem Stolz auf einen mit grellen Farben bemalten Strohschild. »Sehen Sie?«
Währenddessen hatten sich auch die anderen wieder hervorgetraut, teils hinter den Holzfiguren am Eingang, teils hinter irgendwelchen riesigen Tonkeramiken. Ich ergriff Pater Fernandez' Hand und half ihm auf die Beine. Der Pater erhob sich mit tiefen, unsicheren Seufzern und rieb sich die Augen, als würde er träumen.
Aber er träumte nicht. Die Axt, die der schlaff aussehende, hühnerbrüstige Pater weggeworfen hatte, zitterte genau in der Mitte des Schildes.
Ich schüttelte verwundert den Kopf.
»Gratuliere, Pater! Ein toller Wurf. Wo haben Sie das gelernt?«
Der Ordenspriester rieb sich die Hände.
»Auf Borneo. Ich verbrachte zwanzig Jahre auf der tausendfach gepriesenen und tausendfach verfluchten Insel … Obwohl ich so etwas wohl nicht sagen sollte … Auf jeden Fall lernte ich, wie man die Wurfaxt benutzt. Zu jener Zeit lebte dort ein Völkerkundler, ein gewisser Barry Mountjoy. Er war ein wahrer Meister. Überbot sogar die Einheimischen … genau wie sein Sohn. Wenn Sie die beiden gesehen hätten! Übrigens, ich bin Pater Ruggieri.«
»Sehr erfreut, Pater.«
»Und Sie? Verzeihen Sie, aber … ich habe Ihren Namen nicht verstanden. Wie heißen Sie noch einmal, mein … Freund?«
»Lawrence«, wiederholte ich. »Leslie L. Lawrence!«
Pater Fernandez sah sich verträumt um; dann schluckte er so laut, dass es sich in der Stille wie ein Donnern anhörte.
»Äh … ich glaube, ich schulde Ihnen eine Erklärung, was es mit Mr. Lawrence auf sich hat«, murmelte er unsicher. »Die Sache ist die … dass … Sie es sicher verstehen werden … aber der Erzbischof von Canterbury selbst … bat darum, und, nun ja …«
Ich hielt es für besser, das Wort zu übernehmen. Wenn ich es Pater Fernandez überließ, würde ich am Ende noch verdächtiger dastehen und vielleicht in hohem Bogen aus dem Benediktinerkloster fliegen – was ich unter allen Umständen vermeiden wollte.
Fast unmerklich schob ich den Pater beiseite. Fernandez winkte ab und überließ mir das Terrain.
»Meinen Namen kennen Sie ja bereits«, sagte ich den Brüdern und nickte ihnen höflich zu. »Auf persönliche Fürsprache des Erzbischofs hin hatte der Pater mich empfangen.«
Der Pater mit der goldenen Brille zog die Augenbrauen hoch.
»Wollen Sie etwa Ordensbruder werden?«
Ein Anflug von Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit.
Vorsichtig und sehr höflich verneinte ich.
»Sie haben wahrscheinlich noch nicht von mir gehört … Ich bin Professor an der Londoner Universität … Im Augenblick beschäftige ich mich mit den Felsenzeichnungen der Liao-Dynastie …«
»Du lieber Himmel«, unterbrach mich Pater Fernandez, »Sie sind ja verletzt! Was ist hier denn passiert?«
Scheinbar fiel ihm erst jetzt ein, dass ich wohl nicht aus Spaß mit der Axt herumhantiert hatte.
»Jemand verwechselte mich mit einer Zielscheibe«, antwortete ich und ließ meinen Blick wie aus Versehen auf Goldauge ruhen. »Jemand, der sich ziemlich gut mit Wurfäxten auskennt.«
Fernandez schnaubte wie ein erschrockenes Pferd.
»Wie meinen Sie das, Mr. Lawrence?«
»Ganz einfach.« Ich breitete die Arme aus und fuhr zusammen, als sich meine Wunde plötzlich mit einem dumpfen Schmerz bemerkbar machte. »Nach der Mitternachtsandacht wollte ich den Weg zu meiner Zelle abkürzen … Ich hatte keine Lust, den Kreuzgang entlangzutorkeln. Ich dachte mir, warum nicht durch den Ausstellungssaal gehen? Zu meinem Pech, denn jemand wollte mit diesem Speer Schaschlik aus mir machen …«
Damit drehte ich mich um und deutete auf die Zulu-Waffe, die in der Wand steckte.
Die Ordensbrüder bemerkten erst jetzt, dass die Ereignisse der letzten halben Stunde den Ausstellungsraum ein wenig umgeordnet hatten.
»Gütiger Himmel!«, stöhnte Pater Fernandez und bekreuzigte sich. »Gütiger Himmel! Das kann doch nur ein Versehen gewesen sein!«
Ich betastete meinen wunden Arm und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Selbstverständlich kann es Zufall gewesen sein. Obwohl die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering ist, dass ein Zulu-Speer von sich aus eine Bahn einschlägt, die direkt durch meinen Kopf führt, und dann nur deswegen ihr Ziel verfehlt, weil ich im letzten Moment spürte, wie etwas auf mich zufliegt …«
»Was sagen Sie?«, erkundigte sich der blonde Pater mit der goldenen Brille verblüfft. »Sie haben es gespürt?«
»In der Tat.«
»Sie hatten die Lanze nicht kommen sehen?«
»Wie denn? Es war doch dunkel.«
»Warum hatten Sie kein Licht angemacht?«
»Weil ich glaubte, mit wenigen Schritten den Raum durchqueren zu können.«
»Hatten Sie denn keine Angst, irgendwas umzustoßen?«
»In der Mitte des Raumes steht nichts. Nur an und neben den Wänden.«
»Hm. Sie haben also gespürt, wie ein Speer auf sie zufliegt. Könnten Sie uns etwas Näheres darüber sagen?«
Da es bereits weit nach Mitternacht war und ich außerdem nicht gern über Radsch Kumar Singh sprechen wollte, versuchte ich, das Thema unter den Teppich zu kehren.
»Ich habe viele Jahre in Südostasien verbracht, und dabei hat sich eine Art Instinkt in mir entwickelt, den ich nicht so richtig beschreiben kann. In manchen Fällen warnt mich irgendein siebter Sinn, dass ich in Gefahr bin.«
»Und so etwas passierte auch dieses Mal?«
»Genau.«
»Aha. Und was taten Sie?«
»Ich warf mich zu Boden. Der Speer flog über mich hinweg und bohrte sich in eine Kokosmaske.«
»Und dann?«
»Dann nahm ich diesen Schild von der Wand … und die Axt. In dem Moment kam der zweite Speer …«
Pater Fernandez stieß einen Wehlaut aus und begrub das Gesicht in den Händen.
»Ein zweiter Speer? Sie sagen, ein zweiter Speer?«
Seine Stimme klang vorwurfsvoll, als wäre ich dafür verantwortlich, dass man es nicht bei dem einen Mordversuch beließ.
»Ich konnte mich gerade noch hinter dem Schildkrötenpanzer in Sicherheit bringen. Der Speer prallte ab und riss dabei eine Wunde in meinen Arm.«
»Wo … ist er jetzt?«
»Irgendwo auf dem Boden. Wenn Sie wollen, kann ich ihn ja holen.«
Die Mönche zeigten zwar wenig Interesse, aber ich ging trotzdem zur Wand, hob den Speer auf und kam wieder zurück.
Pater Fernandez machte schon beim Anblick der Waffe unbewusst Anstalten, sich hinter dem Schild in Sicherheit zu bringen. Dann schluckte er und blinzelte beschämt.
»Ist sie nicht … vergiftet?«
Diese Frage hatte ich mir bereits auch schon gestellt, inzwischen hatte sie sich jedoch erübrigt. Wäre der Speer vergiftet gewesen, hätte ich schon längst nicht mehr mit den Brüdern plaudern können.
»Gütiger Himmel!«, stöhnte Pater Fernandez zum wiederholten Mal. »Ich will das nicht glauben … Das ist ja … ungeheuerlich!«
Ich verstand schon, worauf er hinauswollte. Falls wir nämlich die Annahme akzeptierten, dass die Speere nicht von sich aus auf mich zugeflogen kamen, müssten wir uns auch der Konsequenz stellen: Dass sich nämlich jemand innerhalb der Mauern des Ordenshauses befand, der durchaus fähig war, einen Menschen zu ermorden.
Fragt sich nur – warum gerade mich?
Die einsetzende Stille ließ uns allen etwas Zeit, gewisse Rückschlüsse zu ziehen.
Der Pater mit der goldenen Brille zog ernst die Augenbrauen zusammen und starrte mich eindringlich an.
»Was Sie da eben sagten, Mr. Lawrence – sind Sie sich ganz sicher?«
Mir fielen kurz die noch zu untersuchenden Bilder aus der Liao- beziehungsweise Kitai-Dynastie ein; dann seufzte ich theatralisch.
»Wer weiß? Vielleicht ist es auch anders passiert.«
Pater Fernandez sah mich befremdet an.
»Anders?«
»Vielleicht … hatte ich mich ja nur in der Dunkelheit verirrt und war gegen die Wurfaxt gerannt. Ich glaube, ich hätte doch besser das Licht anmachen sollen.«
»Und der Speer … in der Wand?«
»Möglicherweise … war ich etwas durcheinander … und wedelte damit herum … Wie gesagt, wer weiß? Ehrlich gesagt, war ich sehr verwirrt …«
Goldauge klopfte mir mit einem freundlichen Lächeln auf die Schulter.
»Es ist auch schon anderen Menschen passiert, dass sie sich im Dunkeln verirrt haben. Laut eines apokryphen Evangeliums war der heilige Paulus …«
Ich sollte nie erfahren, warum Sankt Paulus sich im Dunkeln verirrt hatte, da Pater Fernandez den Zipfel von Ruggieris Kutte erwischt hatte und kräftig daran zerrte.
»Aber Pater Ruggieri …«
Der Italiener klatschte daraufhin immer noch lächelnd die Hände zusammen.
»Ich denke, die Nacht ist eher zur Meditation denn für Mutmaßungen geeignet. Die Dunkelheit bedrückt den Geist und überlässt dem Bösen das Terrain. Nicht wahr?«
Wer irgendetwas aus dem Wirrwarr von Pater Ruggieris Worten verstanden hatte, weiß ich nicht.
Für mich jedenfalls lautete die Botschaft, dass wir uns endlich zum Teufel scheren sollen.
Ich nickte, sozusagen als Zeichen, vollkommen einer Meinung mit ihm zu sein, lächelte und folgte den Ordenspriestern zu meiner Zelle.
Leider war ich überhaupt nicht davon überzeugt, einer ruhigen Nacht entgegenzusehen.
Lange Zeit glaubte ich, mich getäuscht zu haben. Ich hatte meine Wunde gesäubert und wartete. Dabei war ich wohl ein bisschen eingenickt, denn das nächste, das ich wahrnahm, war eine Maus, die an meiner Tür um Einlass bettelte. So jedenfalls hörte es sich an.
Mit einem spitzbübischen Lächeln holte ich meine .38er Smith and Wesson unter dem Kopfkissen hervor, ließ die Waffe im Ärmel der geliehenen Kutte verschwinden und ging zur Tür. Ich zog den Riegel so vorsichtig beiseite, als würde ich mich nicht im würdevollsten Ordenshaus Deutschlands befinden, sondern im Hinterhofzimmer einer berüchtigten New Yorker Absteige.
Pater Ruggieri blinzelte beim Anblick des seltsam gewölbten Kuttenärmels und lächelte schließlich kaum wahrnehmbar.
»Ich sehe, Ihr Glaube im Bibelwort ist nicht sehr gefestigt«, sagte er, während er in meine Kammer trat. »Für uns hingegen ist es die wirkungsvollste Waffe überhaupt. Sie wird nie stumpf, wie die Wurfaxt, und verfehlt nie das Ziel, wie eine Kugel. Was meinen Sie dazu?«
Ich setzte mich und bedeutete ihm, es mir auf dem Stuhl neben dem kleinen Tisch gleichzutun. Bevor ich mich dazu äußerte, verstaute ich die Waffe wieder unter dem Kissen. Dann nahm ich den Bottich, setzte etwas Wasser im Schnellkocher an und machte erst einmal einen starken Tee. Pater Ruggieri starrte nachdenklich in die Bläschen auf der Oberfläche des Wassers und schien gar keine Antwort von mir zu erwarten.
Ich goss die Essenz in das kochende Wasser und zuckte schließlich mit den Schultern.
»Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich trenne mich nicht gern von meiner Pistole.«
»Sind Sie ein gläubiger Mensch, Mr. Lawrence?«
»Ich denke, ja.«
»Aber kein Christ?«
Ich musste zugeben, er hatte keinen schlechten Instinkt für so etwas.
Ich rührte den Tee um, nippte ein wenig daran und zwang mir einen verdrossenen Gesichtsausdruck auf. Sollte er wenigstens sehen, dass wir uns auf sumpfiges Gelände begaben.
»Nein«, antwortete ich schließlich bestimmt. »Von den derzeit kursierenden Religionen liegt mir der Buddhismus am nächsten.«
Er nickte und trank ebenfalls einen Schluck Tee.
»Sie denken jetzt wahrscheinlich, dass … ich Sie das nicht fragen sollte, nicht wahr?«
Er seufzte und ließ den freundlichen Ausdruck auf seinem Gesicht verschwinden, gekonnt wie ein erfahrener Zauberer mit seiner Häschen-aus-dem-Zylinder-Nummer.
»In Ordnung, Mr. Lawrence. Ich bin Paolo Ruggieri. Sagt Ihnen dieser Name etwas?«
»Ich möchte Sie ja nicht beleidigen, Pater, aber …«
»Das macht nichts. Übrigens können Sie ruhig aufhören mit diesem Pater!«
»Entschuldigung. Ich dachte, Sie wären … äh … Priester.«
»Das bin ich, nur merke ich, dass Sie sich nicht an die Anrede gewöhnen können.«
»Trotzdem würde ich gern dabei bleiben, wenn Sie erlauben.«
»Wie Sie meinen. Übrigens arbeite ich im Vatikan.«
Unwillkürlich fiel mir die Szene ein, als er mit blutrünstigem Lächeln die Streitaxt über uns kreisen ließ. Ich konnte mir nicht vorstellen, wozu man einen Mann wie ihn im Vatikan gebrauchen konnte. Sorgte er vielleicht im Keller des Papstes für das Brennholz im Winter?
»Diese Sache heute Nacht hat mich sehr verwirrt, Mr. Lawrence.«
»Sie werden lachen, mich auch.«
»Hm. Die letzte Stunde hatte ich im Ausstellungsraum verbracht.«
»Falls ich Ihnen etwas vorschlagen darf – tun Sie es lieber bei Tageslicht. Die Ausstellungsstücke sind dann viel schöner.«
Er beugte sich über seine Tasse und versuchte, mir in die Augen zu blicken. Erstaunt bemerkte ich, dass das leicht grausame Lächeln auf sein Gesicht zurückkehrte.
»Mr. Lawrence! Ich habe festgestellt, dass man heute Nacht tatsächlich einen Anschlag auf Sie verübt hat!«
Es wäre ziemlich billig gewesen, ihn darauf hinzuweisen, dass gerade er es war, der vor gut anderthalb Stunden meine diesbezügliche Paranoia in Frage gestellt hatte.
»Sie haben mich noch nicht gefragt, was ich im Vatikan tue.«
»Wahrscheinlich beten.«
Er seufzte, schnalzte mit der Zunge, und räusperte sich schließlich.
»Die Sache ist die … Ich bin direkt dem Papst unterstellt und habe die Aufgabe, gewisse … Dinge zu erledigen. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen …?«
»Ich fürchte, ja.«
»Gut. Nun, Mr. Lawrence, in der letzten Zeit … häuften sich Vorkommnisse in manchen unserer Klöster, die … um es mal so zu formulieren … die Aufmerksamkeit des Heiligen Vaters auf sich zogen … und zwar im negativen Sinne.«
Ehrlich gesagt, hatte ich überhaupt keine Ahnung, wovon er redete. Ich stellte in Gedanken eine Liste meiner Verfehlungen zusammen, fand aber nichts, was den Groll des Vatikans nach sich hätte ziehen können.
»Mr. Lawrence … ich möchte Ihre Zeit nicht umsonst vergeuden … bald dämmert es, und ich muss an der Morgenandacht teilnehmen. Also, wo waren Sie letztes Jahr im März?«
Plötzlich sah ich die Sterne wieder leuchten. Hoho, darum geht es also?
»Im Kloster San Lazaro«, antwortete ich ruhig.
»Darf ich erfahren, wonach Sie dort gesucht haben?«
»Ich habe das Gefühl, dass Sie das genauso gut wissen wie ich selbst.«
»Da irren Sie sich vermutlich. Also?«
Es machte wenig Sinn, etwas zu verbergen. Wozu auch?
»Forschungsarbeit«, antwortete ich folgsam und knapp.
»Aha. Und wonach haben Sie dort geforscht?«
»Nach denselben Dingen wie hier. Hauptsächlich Relikte der Kitai-Dynastie. Patschken.«
»Pa… was?«, fragte er schließlich, nachdem er seine vor lauter Überraschung heruntergerutschte Brille wieder zurechtgeschoben hatte.
»Wollen Sie damit sagen, Sie wissen nicht, was kitaiische Patschken sind?«
Ein Anflug von Röte überflog sein Gesicht, und er blickte mich hilfesuchend an.
»In Ordnung. Sie wissen doch sicherlich, wer die Kitaien waren?«
»Chinesen, glaube ich.«
»Weit gefehlt. Die vereinten Nomadenstämme der Kitaien eroberten in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts den Norden Chinas. Wir vermuten, sie sprachen mongolisch, und dass sie im gewissen Sinne die Vorfahren der heutigen Mongolen waren. Sie verjagten das chinesische Kaiserhaus und gründeten eine eigene Dynastie, die sie Liao nannten. So weit verstanden?«
»Bisher schon, aber …«
»Die Sprache der Kitaien ist bis heute nicht entschlüsselt worden. Obwohl es genügend Felsinschriften gibt, können wir sie nicht lesen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil wir die Bedeutung der Zeichen nicht kennen.«
»Zeichen?«
»Die Kitaien entwickelten aus den chinesischen Zeichen ihre eigene Schrift. Nun, mit dem Enträtseln genau dieser Schrift beschäftige ich mich seit einiger Zeit. Und es sieht so aus, als hätte ich eine Chance, bald ans Ziel zu kommen.«
»Und … was sind diese … Patschken?«
»Wie soll ich es erklären? Sagen wir mal, ein chinesischer Steinmetz fertigt eine Aufschrift an. Zum Beispiel auf einen Grabstein. Er hat einen Stein geschliffen und dann diese kitaiischen Schriftzeichen eingemeißelt. Tausend Jahre später habe ich dann die Ehre, die Inschrift untersuchen zu können. Ich kann sie nicht mit nach Hause nehmen, da der Stein sehr schwer ist. In so einem Fall fertigt der Wissenschaftler dann Patschken an.«
»Aha.«
»Er bestreicht die Oberfläche des Steins mit einer dunklen, aschehaltigen Farbe, wobei er sorgsam darauf achtet, dass nichts davon in die ausgemeißelten Zeichen fließt. Wenn der Stein schwarz ist wie des Teufels Allerwertester – Verzeihung, Pater! – legt er ein weißes Papier darauf, drückt es fest an und zieht es kurz darauf wieder ab. Auf dem Papier bleibt dann der negative Abdruck der Buchstaben. Das Papier wurde schwarz, die Zeichen aber blieben weiß. Verstehen Sie?«
»Ja, schon … Ich begreife nur nicht, warum man heute, in der Zeit der Infrarotfotografie …«
»Pater, diese Patschken wurden nicht heutzutage, sondern vor hundert oder zweihundert Jahren angefertigt. Zum Glück gab es bereits damals Forscher, die sich für die Vergangenheit Asiens interessierten und die, wenn sie die Aufschriften auch nicht entschlüsseln konnten, für die Nachwelt wenigstens Patschken davon anfertigten. Ich hatte gehört, einige sollen in San Lazaro sein … deswegen fuhr ich dahin.«
Ruggieri starrte nachdenklich in seine Tasse. Als ob er nach irgendwelchen kitaiischen Zeichen auf dem Grund des Tees suchen würde.
»Und? Hatten Sie Glück?«
»Ich fand nur ein Blatt. Die Grabinschrift eines kitaiischen Prinzen.«
Pater Ruggieri steckte den Daumen in den Mund und begann am Nagel zu knabbern.
»Hören Sie, Mr. Lawrence. Kurz nachdem Sie Ihre Studien in San Lazaro beendet hatten, erschien dort ein chinesischer Geistlicher, der zu der Kirche gehörte, die in enger Verbindung mit dem Vatikan steht.«
Ich nickte, da ich genau wusste, dass es in China zwei katholische Kirchen gibt – eine, die sich dem Vatikan unterstellt und eine, die nur den Staat und die chinesische Partei anerkennt.
Letztere hatte schon seit Langem die Verbindung zum Heiligen Stuhl abgebrochen.
»Und?«
»Dieser Geistliche, ein gewisser Pater Liu, zeigte eine Vollmacht des Pekinger Erzbischofs vor und deutete an, er wolle in der Bibliothek von San Lazaro seinen Forschungen nachgehen.«
Plötzlich interessierte mich die Sache. Als ob eine rätselhafte Macht mir raten würde, Augen und Ohren offenzuhalten. Ich griff nach der Kanne und schenkte uns beiden Tee nach.
»Forschungen? Auf welchem Gebiet?«
»Der Erlaubnis zufolge interessierte Pater Liu die Korrespondenz eines chinesischen Priesters, der sich in Deutschland zur Ruhe gesetzt hatte. In Wirklichkeit aber war er neugierig darauf, was … Sie dort gesucht haben, Mr. Lawrence!«
Ich spürte, wie mir der Hals eng wurde, sodass mir das Atmen schwerfiel. Ich stellte die Tasse auf den Tisch zurück und schaute Ruggieri ungläubig an.
»Was ich dort gesucht habe? Unmöglich! Es konnte doch gar keiner wissen …«
»In der Tasche von Pater Liu fand man die Zettel, die Sie ausfüllen mussten, wann immer Sie sich etwas aus der Bibliothek ausgeliehen hatten. Bücher oder diese …«
»Patschken.«
»Genau.«
»Hat man ihn wenigstens gefragt, warum er diese Scheine sammelte?«
Ruggieri schüttelte den Kopf.
»Dazu konnte es nicht mehr kommen.«
»Nicht mehr?«
»Pater Liu wurde ermordet, Mr. Lawrence.«
»Ermordet? Aber … wie …?«
Ruggieri stand auf, ging zum Fenster, zog die Gardinen beiseite und blickte hinaus in die Morgendämmerung.
»Sein Kopf wurde mit einer Wurfaxt gespalten. Könnten Sie mir bitte noch eine Tasse Tee geben?«
Als wäre ich ein Schlafwandler, ging ich mit mechanischen Bewegungen zum Wasserkessel und schenkte dem Pater Tee nach. Währenddessen drehten sich die Rädchen in meinem Gehirn mit irrsinniger Geschwindigkeit. In was zum Teufel war ich da schon wieder hineingeschlittert?
Ich setzte mich ans Bettende und versuchte, Kraft zu sammeln.
»Das hat mich jetzt ein wenig erschüttert«, sagte ich, der Wahrheit entsprechend. »Obwohl …«
»Ja?«
»Es könnte ja sein, dass das alles nur ein Zufall ist. Pater Liu wurde neugierig, womit ich mich beschäftige. Vielleicht hatte er irgendwo mal meinen Namen gehört, oder von den Kitaien …«
»Dieser Mann war niemals Pater Liu.«
»Wieso denn das?«
»Ich hatte Verbindung mit Peking aufgenommen. Dort kennt man keinen Priester mit diesem Namen, und man hat auch niemandem besagte Vollmacht gegeben. Der Brief des Unbekannten war eine Fälschung. Und wissen Sie, was das alles bedeutet?«
Natürlich wusste ich es. Wer auch immer dieser Liu war, er war nicht zufällig auf meine Spur gestoßen.
Unbeholfen breitete ich die Arme aus und wollte bereits weitere Einwände erheben, doch Ruggieri unterbrach mich.
»Wo waren Sie letztes Jahr im Dezember?«
»In Schwechat. Im Ordenshaus Sankt Emerich.«
»Warum?«
»Natürlich wegen der kitaiischen Patschken. Auch dort gibt es ein paar von ihnen. Ein österreichischer Pater hinterließ sie den Brüdern.«
»Das Ergebnis?«
»Wie bitte?«
»Ich meine, was haben Sie erreicht?«
»Wenn Sie fragen, ob ich die Inschriften dort übersetzen konnte, muss ich verneinen. Es hat nicht geklappt. Ich hatte zwar wieder einige neue Zeichen identifiziert, aber das war auch schon alles.«
»Sonst hat Sie nichts weiter in Sankt Emerich interessiert?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Todsicher.«
»Aber Sie haben doch bestimmt Bücher gelesen …«
»Natürlich. Um zu entspannen, hatte ich einige aus der Bibliothek ausgeliehen.«
»Was für welche?«
»Soweit ich mich erinnere, Schriften einstiger Missionare.«
»Ich verstehe, Mr. Lawrence. Nun, dann passen Sie mal gut auf! Kurz nachdem Sie abgereist waren, erschien dort ein Bruder aus Korea, ein gewisser Pak …«
»Nein!«
»Doch, Mr. Lawrence, o doch. Mit dem Brief eines spanischen Ordenshauses, der sich natürlich, das brauche ich wohl kaum zu erwähnen, im Nachhinein als Fälschung erwies. Der Mann erschien mit einer fadenscheinigen Erklärung in Schwechat … ich glaube, er sagte, er suche nach dem Testament eines koreanischen Paters.«
»Wenn Sie jetzt sagen wollen, dass auch dieser Bruder ermordet wurde …«
Pater Ruggieri blickte mich traurig an.
»Ich selbst würde am liebsten gar nichts sagen. Das hässliche Wort ermorden gar nicht in den Mund nehmen. Und doch muss ich es tun …«
»Er wurde umgebracht?«
»Leider, ja.«
»Und?«
»Erraten Sie es denn nicht?«
»Man fand in seiner Tasche die Scheine, die ich in der Bibliothek ausgefüllt hatte.«
»Bravo, Mr. Lawrence!«
»Mein Gott! Und … hatte er sich die Bücher auch angeschaut?«
»Vermutlich wollte er es. Die Zeit dazu fand er aber nicht mehr. Denn …«
»Wie wurde er getötet?«
»Mit einer Wurfaxt aus Borneo, Mr. Lawrence. Sein Schädel wurde halbiert.«
Pater Ruggieri blickte mich so mitleidsvoll an, als wäre ein naher Verwandter von mir gestorben.
»Nun?«
»Was nun?«
»Mich würde Ihr Kommentar dazu interessieren.«
Das hätte mich auch interessiert. Aber was zum Teufel konnte ich schon erwidern, als dass ich keine Ahnung hatte, worauf dieses Spiel hinauslief?
Nach kurzem Schweigen sah Ruggieri wohl ein, dass er die Morgenandacht verpassen würde, wenn er noch lange auf einer Antwort beharrte. Er blickte kurz auf die Uhr und schüttete sich noch etwas Tee nach.
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