Das Austin Inferno - Udo Franzmann - E-Book

Das Austin Inferno E-Book

Udo Franzmann

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Beschreibung

Austin, Texas, in den 1960er-Jahren. Die Geschichte von Charles Brown, einem jungen, intelligenten Mann, der seit seiner Kindheit unter dem Autoritarismus, Rassismus und den Brutalitäten seines Vaters leidet, der Bigotterie seiner Mutter ausgeliefert ist, von einem Priester sexuell misshandelt wird und versucht, seinen Problemen durch die Ausübung von Gewaltfantasien zu entfliehen. Er meldet sich freiwillig zum Dienst beim Marine Corps der Vereinigten Staaten, um Offizier zu werden und aus dem Einflussbereich seines Vaters auszubrechen, heiratet und beginnt ein Studium. Aber das Leben verläuft nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Schließlich fasst er einen weitreichenden Entschluss: Rächt sich an seinen Vertrauten und besteigt am 1. August 1966 den Glockenturm der University of Texas in Austin. Was dann passiert, lässt Amerika den Atem anhalten. Der erste Amoklauf, über den im Radio und Fernsehen live berichtet wurde. Erst zwei Polizisten und ein ehemaliger Kamerad aus der Armee können ihn stoppen und ziehen daraus völlig unterschiedliche Konsequenzen für ihr weiteres Leben.

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Ähnliche


* Inspiriert von dem Fall: Charles Whitman, Austin 1966

A man´s gotta do what a man´s gotta do

-John Wayne

Inhaltsverzeichnis

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

Zwei Jahre später. Donnerstag, der 1. August 1968

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

Austin, der 16. August 1968

North Dakota, drei Monate später

Nachwort

I.

Er schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Einfach so, ohne sich etwas dabei gedacht zu haben. Darin war er geübt. Es war nicht das erste Mal.

Vielleicht hatte sie das Geschirr nicht ordentlich abgewaschen, die Fenster nicht geputzt oder sie stand einfach nur im Weg herum – irgendeinen Grund fand er immer.

Sie taumelte zu Boden und hielt sich das Auge. Volltreffer! Sie würde die nächsten Tage das Haus nicht verlassen können, bis die Schwellungen wieder abgeklungen waren. Reine Routine. Nichts Neues für sie.

Nur einmal war sie zu früh zum Einkaufen gegangen und hatte dabei prompt Nancy Willis, die Nachbarin von Gegenüber getroffen und sich schnell die Geschichte von dem Koffer ausgedacht, der ihr beim Staubwischen auf dem Schrank unerwartet heruntergerutscht sei und mit der scharfen Kante ihr Auge getroffen hätte.

„Schlimme Sache!“, bedauerte sie ihre Nachbarin.

„Ja, schlimme Sache!“, wiederholte Margret betroffen. „Beim Hausputz passieren die meisten Unfälle.“

„Das habe ich auch in der Zeitung gelesen.“

Er packte sie am Arm und zog sie brutal nach oben. Sie wankte wie ein Schiff bei schwerem Sturm. Ihr war schwindelig. Blut lief von ihrem Auge langsam die Wange herunter und tropfte auf das neue, weiße Kleid, dass sie sich mühsam vom Haushaltsgeld abgespart hatte und dass sie am Sonntag für den Kirchgang anziehen wollte.

Er starrte sie wutentbrannt an. Sie hatte vergessen die Zeitung ins Haus zu holen und ihm auf den Schreibtisch zu legen. So wie jeden Tag. Was sollten die Nachbarn jetzt denken? Das sie bis mittags schläft und sich nicht um ihre Familie kümmert? Ihren Mann vernachlässigt, der sich jeden Tag dafür abschuftet, dass seine Familie den amerikanischen Traum leben kann? In einem komfortablen Einfamilienhaus in den West Lake Hills, nahe einem großen Wald am Stadtrand von Austin, Texas.

Mit protzigem Garten, Pool, Doppelgarage, der mondänen Stars and Stripes Flagge im Vorgarten und einem Rasen, der jeden Greenkeeper in Wimbledon neidisch gemacht hätte.

In einem Stadtteil mit nur wenigen Einbrüchen, Vergewaltigungen oder Raubdelikten. Einer Kriminalitätsrate, die so niedrig war, dass die Gegend zu den sichersten im ganzen Land gehörte.

Von nichts kommt nichts! Das wusste sie. Eine liegengelassene Zeitung in der Hauseinfahrt war eine Einladung für jeden Einbrecher. Vermittelte die unbeachtete Postille des Wissens doch den Eindruck, die Hausbewohner seien nicht zu Hause. Zumindest, wenn sie nach 7 Uhr morgens noch herrenlos in der Einfahrt lag.

Er fasste sie am Hals und schubste sie brutal ins Badezimmer, schmiss die Tür zu – kam wieder herausgestürmt, drehte das Radio auf volle Lautstärke und verschwand erneut im Bad.

Charles hörte seine Mutter trotzdem wimmern, zu Kreuze kriechen, bevor ihm das Aufklatschen von Handflächen auf ihre Wangen deutlich zu Ohren kam und er betroffen zusammenzuckte.

So machte es sein Vater eigentlich immer, um möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Nur wenige Male hatte er die Beherrschung komplett verloren und derart hemmungslos auf seine Frau eingeprügelt, dass sie sich zwei Wochen nicht aus dem Haus traute.

Einmal musste sie sogar ins Dell Seton Medical Center gebracht werden, wo die Ärzte bei ihr zwei gebrochene Rippen, einen Jochbeinbruch und schwere Prellungen diagnostizierten.

Verursacht durch einen brutalen Raubüberfall afroamerikanischer Jugendlicher, nicht weit vom Haus entfernt und am helllichten Tag verübt. So die Aussage ihres Mannes bei der Polizei. Bestätigt von seiner malträtierten Frau in der Notaufnahme der Klinik.

„Nicht einmal in Lake Hills ist man vor den Schwarzen sicher! Überall treiben sie ihr Unwesen und schrecken auch nicht mehr davor zurück, selbst in gutsituierte Gegenden einzudringen und unbescholtene Bürger, sogar wehrlose Frauen, zu attackieren und auszurauben. Ich erwarte für meine Steuergelder den Schutz meiner Familie vor diesem kriminellen Gesindel! Sonst sehe ich mich dazu gezwungen, mit der Nachbarschaft eine Bürgerwehr zu bilden, um uns selber zu verteidigen“, drohte er Paul Atkin, dem Sheriff von West Lake Hills.

Und der sicherte Adolphus Brown zu, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Täter zu ermitteln, festzunehmen und der gerechten Bestrafung zuzuführen. Schließlich wollte er in wenigen Wochen wiedergewählt werden.

Adolphus stürmte aus dem Badezimmer, schaltete das Radio aus, den Fernseher ein, setzte sich erschöpft auf das Sofa, zündete sich eine Chesterfield Zigarette an und blies den Rauch genüsslich in Kringeln wieder aus.

Die Nachrichten berichteten über immer brutaler werdende Rassenkonflikte, Proteste gegen den Korea Krieg, ein neues Gesetz, das aktive Gegner des Krieges mit hohen Geld- und Haftstrafen von bis zu zwanzig Jahren bedrohte und der zurückliegenden Wahl von Dwight D. Eisenhower zum 34. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

„Gott sei Dank, gibt es noch ein paar aufrechte Patrioten in diesem Land, die nicht einfach dabei zusehen, wie alles vor die Hunde geht und immer mehr von den Bolschewisten infiltriert wird, sondern sich gegen Kommunistenfreunde und Spione wie diesen Robert Oppenheimer, mutig zur Wehr setzen.“

Es klingelte.

Nancy Willis stand vor der Tür und wollte Margret sprechen.

Adolphus schüttelte beklommen den Kopf.

„Raubüberfall – drei Schwarze mit Baseball-Schlägern bewaffnet – am helllichten Tag am Redbud Trail – brutale Schläge ins Gesicht – zwanzig Dollar gestohlen.“

Nancy hielt sich vor Schreck die Hände vor den Mund.

„Das ist ja furchtbar! Das zweite Mal innerhalb weniger Monate.“

Adolphus zuckte resigniert die Schultern.

„Jetzt sind wir nicht einmal mehr in einer weißen Gegend sicher. Sie breiten sich aus wie ein Krebsgeschwür. Zustände wie in der Bronx oder East-LA. Aber ich werde meine Familie vor diesen Berserkern zu schützen wissen.“

Er zeigte auf eine abgesägte Schrotflinte, die griffbereit an der Wand neben der Tür gelehnt war und hob drohend den Zeigefinger.

„Nicht mit Adolphus Brown! Ich glaube an die Werteordnung dieses Landes. An die Freiheit des Einzelnen, an den Erfolg, den man sich hart erarbeiten muss und die Chancengleichheit…vorausgesetzt, man gliedert sich in unsere Gesellschaft ein und ist auch arbeitswillig!“

„Bestell Margret viele Grüße und gute Besserung von mir. Kommt sie trotzdem am Sonntag mit in die Kirche?“

Er schüttelte den Kopf. „Das ist noch zu früh. Sie wird ein paar Tage brauchen, um das Erlebte zu verarbeiten. Sie ist regelrecht traumatisiert!“

Nancy winkte ihm noch kurz zu, als sie sich wieder auf den Rückweg machte.

„Schulterblick!“, rief er ihr hinterher. „Du musst nach hinten schauen. Sie kommen, ohne dass Du sie siehst. Einfach aus dem Nichts!“

Sie hob kurz den Daumen, ohne sich noch einmal umgedreht zu haben.

Die Badezimmertür öffnete sich zaghaft und Margret stand vor ihm. Blaugrünes Auge, geschwollenes Gesicht, verkrustetes Blut unter der Nase, blaue Flecken auf den Oberarmen, mit Blut bespritztes Kleid.

„Das Kleid musst Du waschen!“

„Ich weiß“, schluchzte sie leise.

„Was musst Du auch vergessen die Zeitung reinzuholen? Was sollen die Nachbarn von uns denken?“

„Ich weiß“, wiederholte sie schuldbewusst. „Es wird nicht noch einmal vorkommen, Adolphus.“

„Das will ich auch hoffen! Oder glaubst Du vielleicht, es macht mir Freude Dich zu bestrafen?“

Sie stand wortlos vor ihm und kühlte sich mit einem nassen Waschlappen die angeschwollene Augenbraue.

Er beachtete sie nicht weiter, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und stellte den Fernseher lauter.

Es lief eine Reportage über einen Prozess in Südafrika wegen kommunistisch eingestufter Aktivitäten gegen mehrere ANC-Mitglieder, darunter einen jungen Anwalt, namens Nelson Mandela.

„Warum denn nur Verbannung? Warum nicht gleich die Todesstrafe? Mit den Kommunisten zu paktieren ist das Schlimmste, was man seinem Vaterland antun kann. Das muss eine Regierung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen.“ Er winkte verächtlich ab. „Südafrika ist auch nicht mehr das, wofür es einmal stand und bewundert wurde.“

Das Brot vom Korn.

Das Korn vom Licht.

Das Licht aus Gottes Angesicht.

Amen!

Margret hatte das Tischgebet gesprochen. Wie jeden Abend vor der Mahlzeit. Sie liebte es, wenn sich die kleine Familie für einen kurzen Augenblick die Hände reichte und so der Anschein von Zusammenhalt entstand, den sie sich so wünschte, der aber meilenweit entfernt war. Sie wusste das. Und trotzdem gab sie die Hoffnung nicht auf, dass sich in Zukunft etwas ändern könnte. Das der liebe Gott ihr dabei helfen würde. Dafür ging sie jeden Sonntag in die Kirche und betete – still und leise, ohne dass man ihre Gedanken lesen konnte und die Fassade der vorbildlichen amerikanischen Familie in Gefahr war. Voller Überzeugung und Inbrunst.

„Wie hieß der 15. Präsident der Vereinigten Staaten, Charles?“, fragte Adolphus seinen Sohn.

„James Buchanan.“

„Parteizugehörigkeit?“

„Demokrat.“

Adolphus legte das Besteck zur Seite, wischte sich den Mund mit der Stoffserviette ab und überlegte kurz.

„Das war zu einfach. Das weiß jedes Kind.“ Er schaute angestrengt an die Decke und grübelte.

„Wer war der 19. Präsident?“

„Rutherford B. Hayes.“

„Partei?“

„Demokrat.“

„Bist Du sicher?“

Charles schaute irritiert. Er war sich nicht sicher. Wie so oft, wenn sein Vater das Abendessen in eine Fragestunde umwidmete und so lange nachbohrte, bis er die Antwort zu guter Letzt schuldig bleiben musste.

Er war schließlich erst zwölf Jahre alt.

„Bist Du sicher?“, wiederholte sein Vater ungeduldig die Frage.

Charles musste sich entscheiden. Immerhin standen die Chancen auf die richtige Antwort bei nahezu fiftyfifty. Er nahm allen Mut zusammen und antwortete beherzt: „Natürlich! Rutherford war Demokrat!“

Im nächsten Augenblick setzte es eine krachende Ohrfeige. Er hatte sie nicht einmal kommen sehen, so schnell ging alles. Trotz des fortgeschrittenen Alters seines Vaters von mittlerweile dreiundvierzig Jahren.

„Rutherford war lupenreiner Republikaner! Das muss man doch wissen als guter Amerikaner. Was lernt ihr eigentlich in der Schule?“

„Er ist doch gerade einmal in der Junior High School. Da lernen sie so etwas noch nicht“, mischte sich Margret empört ein.

Aber er beachtete den Einwand seiner Frau nicht.

„In Deinem Alter kannte ich nicht nur alle Präsidenten und deren Parteizugehörigkeit, sondern auch ihre Regierungszeit, Konfession und die Vizepräsidenten!“

Adolphus Brown war ein außergewöhnlicher Mann. Ohne Eltern in einem Waisenhaus in Savannah (Georgia) aufgewachsen, verließ er schon mit fünfzehn Jahren die Schule und begann eine Ausbildung zum Büchsenmacher, die er als Jahrgangsbester abschloss. Drei Jahre später zog er nach Austin, eröffnete ein Geschäft für Feuerwaffen und nannte es Adolphus Firearm Center & More.

Das Business lief wie geschmiert. Jeder in Texas besaß mindestens eine Handfeuerwaffe, die meisten außerdem Gewehre mit entsprechendem Zubehör, einige auch hochwertige Armbrüste.

Die Waffengesetze waren lax, die Waffenlobby bienenfleißig und die Kriminalitätsrate stieg von Jahr zu Jahr beständig an. Der ideale Nährboden für seinen Handel. Nach nur einem Jahr machte er ein weiteres Geschäft an der Walter Street auf und verdiente sich damit eine goldene Nase.

Er lernte Margret kennen, verliebte sich in die 17-jährige Schönheit aus der High School, die er drei Monate später zu seiner Frau machte, schwängerte und dazu bestimmte, ihm bei seinen prosperierenden Geschäften den Rücken freizuhalten.

„Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich mich mehr um Deine Erziehung kümmere. Sonst wirst Du womöglich noch so ein verweichlichter Demokrat wie dieser Senator aus Massachusetts…dieser John Fitzgerald Kennedy.“ Er lachte höhnisch. „Dann hätten wir als Eltern komplett versagt! Stimmts, Margret?“

Sie nickte verhalten und aß apathisch weiter. Aber das Brot blieb ihr im Hals stecken. Sie ahnte, was er damit meinte.

Charles Brown lebte nicht das Leben eines zwölfjährigen Teenagers im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber er hatte auch nicht das Leben eines Zehn- oder Neunjährigen gelebt, nicht einmal das eines Fünfjährigen.

Denn ab diesem Zeitpunkt setzte sein Erinnerungsvermögen ein. Solange er zurückblicken konnte, war er in einem goldenen Käfig der Fremdbestimmung seines Vaters gefangen, ohne jede Möglichkeit und Perspektive seinem Alter entsprechende Freiheiten zu bekommen. Cricket, Baseball, Football, Cowboy- und Indianerspiele; selbst die in seinem Alter beliebte Fernsehsendung Bonanza, kannte er nur von den Erzählungen seiner Mitschüler.

Es blieb ihm fremd.

Ausgelöst durch den krankhaften Autoritarismus seines Vaters und der grenzenlosen Bigotterie seiner Mutter. Zermahlen zwischen Gewalt und Gottesfurcht, Kadavergehorsam und dem unerschütterlichen Glauben seiner Mutter an eine irreale Welt, die sie ihm täglich vorlebte.

Sie war es auch, die ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Gottesdienst mitschleppte – in die Saint Mary Catholic Cathedral im Zentrum der Stadt. Einem neugotischen Bau aus Kalkstein, in dem sich nie etwas änderte. Alles gleich blieb. Für immer und ewig dieselbe Temperatur zu herrschen schien, egal ob Januar oder Juli, ob es draußen regnete oder die Sonne lachte. Immer derselbe modrige Geruch, dieselben hallenden Geräusche der hochhackigen Schuhe von gottesfürchtigen Frauen, die für eine Stunde ihrem Alltag entfliehen wollten. Sogar derselbe Klang beim Räuspern, singen oder der Predigt.

Ein Ort der Verlässlichkeit und Standhaftigkeit!

Wenn er durch das riesige Holzportal ging, trat er in eine Fantasiewelt ein.

Das Innere der Kathedrale erinnerte ihn während der Messe an ein Boot voller Fische, die der Apostel gefangen hatte, nachdem er den Befehl des auferstandenen Herrn erhielt die Netze ins Wasser zu legen.

Die Spitzbögen der Türen und Fenster symbolisierten für ihn hohe Berge und die mit Sternen übersäte, blaue Kuppel spiegelte für ihn den unendlichen Himmel wider.

Aber über allem thronte die pompöse Jesusfigur, die Charles magisch anzog und die er minutenlang bestaunen konnte, ohne das ihm langweilig wurde. Wie der Messias mit der Dornkrone auf dem Kopf und den durch Nägel durchbohrten Händen und Füßen tot am Kreuz hing, die Augen friedlich geschlossen, einen Lanzenstich auf der rechten Körperseite, aus dem imaginäres Blut ausgetreten war.

Ein Vorbild für Charles. Denn Jesus hatte sich geopfert, um die Menschheit von allen Sünden zu erlösen und wieder mit Gott zu versöhnen.

Seine Mutter war mehrmals in der Woche in der heiligen Messe, sein Vater kein einziges Mal.

Adolphus glaubte weder an Gott noch an eine göttliche Eingebung oder ähnliches. Er glaubte einzig und allein an sich selber, an seine uneingeschränkte Entscheidungsgewalt und dass ihn nur eine lückenlose Kontrolle vor bösen Überraschungen bewahren könnte.

Trotzdem ließ er es zu, dass sein Sohn schon in jungen Jahren Ministrant werden durfte.

Charles verstand sich gut mit Priester Saymon, einem in die Jahre gekommenen älteren Herrn, mit grau melierten Haaren, der ständig aufstoßen musste und fürchterlich aus dem Mund stank. Aber der Priester nahm sich Zeit für seinen Schützling, lud ihn manchmal noch auf eine Limonade in sein Büro ein, zog ihm dann die Hose aus, befummelte ihn und stöhnte dabei wie ein brunftiger Hirsch, bevor er ihm zum Schluss liebevoll über die Haare streichelte, wie man einem gelehrsamen Jack Russell nach erfolgreichem Apportieren über das Fell streichelt. Anschließend hielt er seinen gestreckten Zeigefinger pathetisch vor den Mund als Zeichen dafür, dieses Mysterium niemand anderem preiszugeben – es sollte die Triade zwischen Priester, Ministranten und Gotteshaus nicht verlassen!

Und das tat es auch viele Monate nicht.

Aber Charles beobachtete immer öfter, dass er nicht der Einzige blieb, mit dem der Priester dieses Geheimnis teilte. Bald wurde aus der Triade ein Quartett, Quintett, Sextett…mit Noah, Michael und Jacob. Alle älter als Charles, größer, stärker und aus gutem Haus.

Aber die Ministranten redeten untereinander nicht darüber. Sie gingen sich lieber aus dem Weg. Nur einmal trafen sich ihre beschämten Blicke, als während der Weihnachtsmesse das Lied: Ihr Kinderlein kommet gesungen wurde, die Stimme des Priesters von allen anderen deutlich herausragte und ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht zu erkennen war.

Charles fühlte sich von dem Diener Gottes hinters Licht geführt.

Von seinem Vater wusste er, dass man so etwas Geheimnisverrat nannte und von seinem Vater wusste er auch, dass es sich dabei um ein abscheuliches Verbrechen handelte, dass eigentlich mit dem Tod, zumindest aber mit gnadenloser Härte zu bestrafen war.

Darüber konnte es keine zwei Meinungen geben.

Als ihn der Priester nach dem Ministranten Unterricht noch einmal zu sich ins Büro rief, war Charles fest dazu entschlossen, dem Verräter die gerechte Strafe zuteil werden zu lassen.

Saymon saß auf seinem Schreibtischstuhl – Charles stand direkt vor ihm, leicht zitternd und aufgeregt, als der Priester ihm den Reißverschluss der Hose langsam öffnete, gierig in den Eingriff fasste und ihn dabei grinsend anstarrte.

Ein dumpfer Knall, ein Krachen von Knochen – ein lauter Aufschrei! Der schwere, gläserne Briefbeschwerer hatte dem Gottesmann die Nase zertrümmert. Überall Blut; auf dem Gesicht von Charles, seinem Hemd, dem Schreibtisch und an den Wänden.

Saymon hielt sich erschrocken die Hände vor sein Gesicht, stöhnte, schnappte nach Luft, torkelte zum Waschbecken, wusch sein Gesicht - das abfließende Wasser färbte sich dunkelrot, während es als stummer Zeuge den Weg in den Abfluss fand.

Er starrte seinen Ministranten entsetzt an, schüttelte ungläubig den Kopf und ließ sich zermürbt in einen Ledersessel fallen.

„Du undankbares Geschöpf des Satans“, nuschelte er, während er vergeblich versuchte die Blutung mit einem Handtuch zum Stillstand zu bringen. Seine Nase stand schief, war angeschwollen, die Haut gerissen und seine Augen verquollen wie die eines Boxers nach einem harten Kampf.

Er deutete wütend mit der Hand zur Tür.

„Fahr zur Hölle! Lass Dich hier nie wieder blicken!“

Charles zog seine Hose langsam hoch, während er Saymon weiter beobachtete. Er hatte kein Mitleid mit ihm. Im Gegenteil! Er verspürte Genugtuung. Ein Gefühl von Freiheit, wie er es vorher nicht kannte. Der Verräter hatte seine gerechte Strafe bekommen – nicht mehr und nicht weniger.

Er ging zum Waschbecken, seifte sich Gesicht und Hände ab und versuchte vergeblich, die Blutspritzer auf seinem Hemd und der Hose zu entfernen – er verschmierte sie nur.

Dann grinste er den Priester noch kurz an und verließ zufrieden das Büro.

Zu Hause erzählte er seinen Eltern von den Machenschaften des Schwarzrockes.

Aber seine Mutter glaubte ihm nicht – oder wollte ihm nicht glauben.

„Hast Du Dich mit einem der Jungs geprügelt? Um ein Mädchen? Das kannst Du uns ruhig sagen. Das ist völlig normal in Deinem Alter. Da brauchst Du Dir keine Märchen von einem Priester auszudenken, die Dir sowieso keiner glaubt. Und selbst wenn da etwas gewesen sein sollte, bist Du selber schuld. Du hast ihn bestimmt provoziert“, sagte sie trotzig.

„Gibt es dort auch schwarze Ministranten?“, mischte sich Adolphus neugierig ein.

„Nur Louis aus der Nachbarschaft.“

„Und Hispanics?“

„Rodriguez und Carlos.“

Adolphus lief rot an, schüttelte argwöhnisch den Kopf, zog seine Frau an den Haaren und brüllte sie wutentbrannt an.

„Da schickst Du unseren Sohn hin? Zu diesem Gesindel! Da wundert mich nichts mehr. Ein Geistlicher, der sich an Jungen vergeht. Das ist ekelhaft, der gehört erschossen!“

Er ließ von ihr ab, beruhigte sich und sagte zu Charles: „Ich werde Dich morgen bei den Pfadfindern in Lost Creek anmelden. Da gibt es weder Schwarze noch Hispanics und schon gar keinen pädophilen Pfaffen, der an kleinen Jungen rumfummelt. Den würden sie lebendig häuten und an die Kojoten verfüttern.“

Er lachte hämisch und legte seinem Sohn fürsorglich eine Hand auf die Schulter.

„Da machen sie aus Dir einen richtigen Mann, der sich zu wehren weiß und es nicht bei einer gebrochenen Nase belässt, wenn er begrapscht wird.“

Er zündete sich eine Chesterfield Zigarette an, trank einen Schluck Budweiser und rieb sich erwartungsvoll die Hände.

„Kommen wir jetzt zu etwas anderem! Wer war der 15. Präsident der Vereinigten Staaten?“

„James Buchanan“, kam es, wie aus der Pistole geschossen.

„Partei? Amtszeit?“

„Demokrat. Von 1857 bis 1861.“

„Hauptstadt von Minnesota?“

„Saint Paul.“

„Von Nebraska?“

„Lincoln.“

Er klopfte seinem Sohn anerkennend auf die Schulter. Einer der wenigen Augenblicke, an die sich Charles erinnern konnte, in denen der Patriarch mit dem Junior zufrieden zu sein schien.

„Komm, wir gehen noch eine Runde schießen!“

Adolphus Brown übte mit Charles seit dem fünften Lebensjahr jeden Tag das Schießen. Mit Revolver oder Pistole, Einzelladerbüchse, Sturm- oder Scharfschützengewehr. Auf bewegliche Ziele oder auf Scheiben. Die Auswahl an Schusswaffen war gigantisch. Der Waffennarr besaß mehr als einhundert davon in seinem Privatbesitz. Alle in einem separaten Raum im Keller verwahrt - inspiziert, gereinigt, geölt und jederzeit einsatzbereit.

Sie trainierten auf einer kleinen Anlage hinter dem Haus oder gingen in den benachbarten Wald, manchmal auch an einen See, wo es genügend lebendiges Kleingetier gab. Gürteltiere, Dachse, Schwarzbauch-Pfeifenten, Opossums und hin und wieder eine Texas-Klapperschlange, wenn sie sich durch ihren rasselnden Warnlaut verraten hatte.

Dann durfte sich Charles dem Reptil bis auf zwanzig Yards nähern. Er schoss ihr am liebsten zuerst auf die Schwanzrassel. Die Klapperschlange wurde kurz hochgeschleudert, das Gerassel war verstummt. Aber sie lebte noch und war mindestens genauso gefährlich wie vorher. Er musste sie ständig im Auge behalten, denn sie war hervorragend getarnt und ohne ihre typischen Warnlaute kaum auszumachen. Den zweiten Schuss setzte er meistens auf die Mitte des Körpers. Abermals wurde die Schlange durch die Wucht des Geschosses heftig hochgeschleudert und landete dumpf auf dem Boden. Die meisten Vipern waren anschließend tot. Die wenigen Überlebenden versuchten noch zu fliehen, waren aber zu langsam. Charles genoss es, sie durch einen gezielten Schuss in den Kopf von ihrem Leid zu befreien und das Lob seines Vaters für seine Schießkünste zu bekommen. Eine seltene Gelegenheit für ihn.

Er hatte auch schon an einem Schießwettbewerb in der Stadt teilgenommen und in seiner Altersklasse den 1. Preis gewonnen. Sein Vater hatte ihm daraufhin versprochen, im kommenden Jahr an der Texas Fire Gun Competition in Dallas teilnehmen zu dürfen, sollte er es schaffen fünfmal hintereinander seine Wissensfragen richtig zu beantworten.

Eine Zusage, von der sich Charles nicht sicher war, ob sie sein Vater jemals einhalten würde.

Am liebsten aber jagte er Grauhörnchen, die zu Dutzenden im Vorgarten ihr Unwesen trieben. Dann saß er auf einem Schaukelstuhl auf der Veranda, wippte gelassen hin und her, das Gewehr auf dem Schoß, ein Kaugummi im Mund - genauso, wie er es in einem alten Western mit John Wayne gesehen hatte. Das gefiel ihm. Das war cool.

Und wenn Lizzy, die nervige Tochter von den Nachbarn, ihn fragte, warum er diese niedlichen Nager einfach totschießt, antwortete er gelassen mit den weisen Worten von John Wayne: „Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.“

Anschließend legte er an und knallte ein paar der Tiere unter dem hysterischen Gekreische von Lizzy ab, sammelte die Kadaver ein und brachte sie zu John Etkon, der daraus ein hervorragendes Ragout kochte und als Special of the Day, für 1,95 Dollar auf die Speisekarte seines Lokals setzte.

Charles hätte daraus ein gut gehendes Business machen können, denn schon am nächsten Tag liefen wieder genauso viele Grauhörnchen im Vorgarten herum – ein sicheres Zeichen für ihn, dass es den Nagern an Intelligenz fehlte, sie Ignoranten waren oder ihre Kommunikation nicht funktionierte.

Selber schuld! Dumm geboren – nichts dazugelernt – dumm gestorben. Nicht schade drum! Peng!

Ab und zu erhielt er von Etkon den Auftrag, ihm für sein Lokal ein paar Pfeifenten zu schießen; vorzugsweise junge Tiere mit einem Gewicht von etwa einem Pound und nach Möglichkeit Erpel, von denen der Koch davon überzeugt war, dass ihr Fleisch wegen der Androgene aromatischer schmeckte.

Dann schlich er sich wie ein Indianer an den großen Tümpel im Wald, legte sich auf die Lauer, wartete ab und hörte dem ruffreudigen Federvieh zu.

Krr krkrr – Waa-Choo!

Er zielte am liebsten auf die hellbeige Blässe am rotbraunen Kopf. Ein kleines, bewegliches Ziel. Eine Herausforderung, selbst für einen so guten Schützen wie ihn.

Sobald er sein Opfer durch das Zielfernrohr des Gewehres anvisierte, war er die Ruhe selber. Sein Herzschlag verlangsamte sich auf ein Minimum, er atmete ruhig und gleichmäßig, war hochkonzentriert. Nichts und niemand konnte ihn in diesem Augenblick ablenken. Eine gottgegebene Eigenschaft, die man nicht erlernen konnte.

In diesem Augenblick war er der alleinige Entscheider über Leben und Tod der Geschöpfe Gottes, keiner konnte ihm reinreden, nicht einmal Adolphus. Ein gutes Gefühl.

Klick! Bumm!!!

Ein hoher, peitschenartiger Knall hallte durch den Wald. Ein heftiger Rückstoß des Gewehrs auf seine rechte Schulter, vielleicht ein paar blaue Flecken. Die Enten waren aufgescheucht, versuchten sich verzweifelt in die Lüfte zu erheben.

Waa-Choo!

Eine Pfeifente blieb regungslos im Sand am Tümpel liegen. Er vergewisserte sich. Sauberer Treffer, mitten durch den Kopf, vielleicht sogar genau zwischen die Augen. Aber das ließ sich nicht mehr feststellen, weil der größte Teil des Kopfes weggerissen war und der unansehnliche Rest nur noch in Fetzen herunterhing. Vielleicht sollte er zukünftig ein kleineres Kaliber benutzen.

Er freute sich. Prachtexemplar! Ein Erpel mit unbeschädigtem Torso. Dafür würde ihm Etkon mindestens einen Dollar zahlen.

Er fühlte sich stolz, geradezu euphorisch, selbstbestätigt!

In der Schule hatte Charles keine Probleme. Er war ein unauffälliger Pennäler, der sich weder positiv noch negativ hervortat. Manchmal spielte er den Clown, um den Mädchen in seiner Klasse zu imponieren – ohne Erfolg!

Seine Klassenlehrerin war der Ansicht, dass er sein Potential bei weitem nicht ausnutzte. Und Potenzial hatte er mehr als reichlich!

Bei seiner Einschulung hatte das Schulamt bei ihm einen IQ von 140 gemessen – er war hochbegabt und gehörte damit zu den wenigen Menschen, die diese intellektuelle Begabung besaßen. Aber er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. War freundlich, hilfsbereit und ließ seine Mitschüler bei sich abschreiben.

Mit zwölf Jahren verliebte er sich in Hellen, die Tochter des örtlichen Sheriffs, die ihn mit ihren langen, roten Haaren, dem Schmollmund und ihren sexy Sommersprossen tief beeindruckte.

Ab und zu besuchte er sie zu Hause, sie übten Mathematik oder tobten im Garten. Sie musizierte für ihn auf einer alten Violine, die sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt hatte und die sie über alles liebte und pflegte. Der melancholische und rauchige Klang des Chordophons ließen ihn innehalten, eine Gänsehaut bekommen, für einen kurzen Augenblick der Wirklichkeit entrücken und in eine imaginäre Traumwelt entschweben.

Mit ihrem Vater diskutierte er über Waffen, die Jagd und die sich krebsartig ausbreitende Gefahr der Straßengangs von Hispanics, die in Austin und Umgebung Zeitungsberichten zufolge ihr kriminelles Unwesen trieben, die aber noch niemand zu Gesicht bekommen hatte.

Einmal schossen sie mit einer alten Pistole 911, die der Vater noch aus seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg hatte, auf leere Cola Dosen im Garten. Ein Unterfangen, das einmalig blieb. Zu überlegen war Charles dem Sheriff, so dass der schnell die Lust an einer Fortsetzung des ungleichen Wettbewerbes verlor.

Als er Hellen einmal mit auf die Jagd in den Wald nahm, ein Eichhörnchen erlegte und es anschließend auf einem weißen Stofftaschentuch sorgfältig mit seinem Skalpell sezierte, wurde ihr schlecht, sie musste sich übergeben und lief einfach davon.

Seitdem trafen sie sich nur noch in der Schule. Sie mied seine Anwesenheit, schaute ihn verächtlich an und wollte nichts mehr von ihm wissen.

Sie interessiert sich fürs Cheerleading, Musizieren, Pferde und ich für die Natur, Pfadfinderei und Waffen. So ist das eben bei den Mädchen und Jungen. Aber ich werde ein Mann! Und ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss! Seine Familie beschützen, sein Eigentum verteidigen, auf die Jagd gehen und für Recht und Ordnung eintreten.